Der Streit

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Spielzeit 2024/25

Der Streit

„Die Liebe ist ein Aufruhr, man weiß nicht, was man redet, wenn man liebt.“
Pierre Carlet de Marivaux

Der Streit

(La dispute)

Komödie von Pierre Carlet de Marivaux

Aus dem Französischen von Lothar Ehrlich

Bearbeitung von Horst Hawemann

Hermiane

Fürst / Mesrou

Carise

Eglé

Azor

Adine

Mesrin

Dina

Meslis

Christiane Schoon

Hannes Rittig

Anjo Czernich

Paula Dieckmann

Jakob Schleert

Nora Hickler

Franz Warnek

Greta Hatting

Richard Käding

Inszenierung

Bühne & Kostüme

Musikalische Leitung

Choreografie

Licht

Dramaturgie

Regieassistenz & Abendspielleitung

Inspizienz

Soufflage

Hannes Hametner

Eva Humburg

Andreas Dziuk

Stefano Fossat

Christoph Weber

Nadja Hess

Wolf-Dietrich Stückrad

Stefano Fossat

Kerstin Wollschläger

Premiere in Greifswald am 21. Juni 2025 Klosterruine Eldena

Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden, inkl. einer Pause

Aufführungsrechte: henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin

Uraufführung durch die Comédiens Français am 19. Oktober 1744.

Ausstattungsleiterin: Eva Humburg Technischer Direktor: Christof Schaaf Bühnentechnische Einrichtung: Jens-Uwe Gut Toneinrichtung: Samuel Zinnecker, Robert Hoth Leitung Bühnentechnik: Robert Nicolaus Leitung Beleuchtung: Kirsten Heitmann Leitung Ton: Daniel Kelm Leitung Requisite: Alexander Baki-Jewitsch Bühne & Werkstätten: Produktionsleiterin: Eva Humburg Tischlerei: Stefan Schaldach, Bernd Dahlmann, Kristin Loleit Schlosserei: Michael Treichel, Ingolf Burmeister Malsaal: Anja Miranowitsch, Fernando Casas Garcia, Sven Greiner Dekoration: Paul Gebler Kostümwerkstätten: Gewandmeisterinnen: Carola Bartsch, Annegret Päßler Modisterei: Elke Kricheldorf Assistenz: Dorothea Rheinfurth, Maisa Franco Maske: Tali Rabea Breuer, Jill Dahm, Antje Kwiatkowski, Kateryna Maliarchuk, Ilka Stelter, Bea Ortlieb, Philipp Gielow Ankleiderinnen: Ute Schröder, Petra Hardt

Liebe Gäste, wir möchten Sie darauf aufmerksam machen, dass Ton- und/oder Bildaufnahmen unserer Aufführungen aus urheberrechtlichen Gründen untersagt sind. Vielen Dank.

„Wenn

die Liebe sich richtig verhielte, hätte man nur einen Geliebten oder eine Geliebte in zehn Jahren; aber es liegt im Interesse der Natur, dass man in der Zeit zwanzig hat und mehr. Und gewiss deshalb kümmert sich die Natur nicht darum, Liebende einsichtig zu machen; sie würden einander zu sehr lieben, und dabei käme sie nicht auf ihre Kosten.“

Pierre Carlet de Marivaux

Unbeständigkeit wohin man schaut –Marivaux, das Rokoko & die Liebe

Wer erliegt zuerst der Versuchung zur Untreue in der Liebe – sind es die Männer oder die Frauen? Genau diese Frage steht am Anfang der 1744 uraufgeführten Komödie von Pierre Carlet de Marivaux. Vor versammelter Hofgesellschaft sind der Fürst und die von ihm begehrte Hermiane darüber in einen Disput geraten und nun soll ein mehr als fragwürdiges Experiment diese Frage abschließend klären: Sechs Kinder – drei Jungen und drei Mädchen – wurden unmittelbar nach ihrer Geburt separiert und achtzehn Jahre lang von der Welt abgeschieden und getrennt voneinander aufgezogen. Sie wurden ernährt und gekleidet, in Sprachen, Musik und Tanz unterrichtet. Aber über sich selbst und ihre Gefühle wissen sie wenig. Nun werden diese so paradiesisch-unschuldigen jungen Menschen zum ersten Mal ihre begrenzte Welt verlassen und kontrolliert mit dem anderen Geschlecht zusammentreffen.

Diese Versuchsanordnung hat der französische Früh-Aufklärer und „Anatom des menschlichen Herzens“ Pierre Carlet de Marivaux entworfen. Er kam 1688 auf die Welt und war ein sensibler Mensch, der ein unauffälliges Leben führte. Während seines wohl eher halbherzigen Jurastudiums hat er nicht nur seine ersten Bühnenwerke geschrieben, sondern auch gleich mehrere Romane. Den größten Teil seiner Komödien verfasste er für die Theatertruppe der Comédiens Italiens und ihre Stars. Für sie verzichtete Marivaux auf Versdichtung und entwickelte eine moderne Sprache im natürlichen Konversationston. Seine Stücke siedelte er meistens in einem abgelegenen Landhaus an, wo sich stets eine ähnliche Figurenkonstellation versammelt. Die Liebe mit all ihren Gefühlsspektren ist sein immer wieder neu durchgespieltes Hauptthema. Marivaux war unfassbar produktiv, denn neben seinen fast 40 Komödien und sechs Romanen schrieb er auch zahlreiche Essays und philosophische Betrachtungen zu Themen des menschlichen Zusammenlebens. Aus heutiger Sicht zeichnet ihn seine ebenso humorvolle wie scharfsinnig genaue Beobachtungsgabe und psychologische Analyse menschlichen Verhaltens aus. Der Erfolg seiner Werke verschaffte ihm Zutritt zu den Literaturkreisen und renommiertesten Salons von Paris. 1743 wurde er sogar Mitglied und Sekretär der Académie Française.

Dennoch war Marivaux nicht unumstritten. Zeitgenossen warfen ihm vor, seine Schriften seien zu banal, zu leichtgewichtig und seine Sprache „gewollt preziös“ – was Marivaux selbstironisch kommentierte: „Aber warum verfällt er auch darauf, so viel zu denken und selbst in den Dingen, die jedermann kennt Sachen zu entdecken, die nur wenige sehen… Man sollte ihm raten, weniger zu denken.“ 1763 starb Marivaux in Paris. Bis heute gehören einige seiner Bühnenwerke zu den meistgespielten französischen Komödien.

Die Lebenszeit von Marivaux fällt in die Epoche des fürstlichen Absolutismus, während der am Hof des Sonnenkönigs Ludwigs XIV. die adlige Gesellschaftsschicht ein verschwenderisches Leben auf Kosten des unterdrückten Volkes führte. Um 1730 verlagerte sich das gesellschaftliche Leben vom Versailler Hof in private Stadtpalais und Salons. Der pompöse Stil des Barock wurde allmählich von der neuen so wirkungsvollen wie verspielten Eleganz des Rokoko abgelöst, die auch das gesellschaftliche Miteinander beeinflusste. Wie im Barock ging es zwar weiterhin ums Repräsentieren, ums Posieren und die beständige Kontrolle des eigenen äußeren Erscheinungsbildes, aber nun rückte das Individuum in den Vordergrund. Der Spiegel war das Must-have der damaligen Zeit – sei es um die

eigenen Wohnräume so großzügig wie möglich erscheinen zu lassen, sei es, um die eigenen Reize permanent zu überprüfen oder zu optimieren. Sogar über den Betten sollen Spiegel gewesen sein, um sich auch im Moment der Hingabe noch korrigieren zu können. Aufrichtige, tiefe Liebesgefühle entsprachen nicht dem Zeitgeist – vielmehr wurde die Liebe zur reinen Galanterie, zu einem Spiel, das auf die Leidenschaft des Augenblicks ausgerichtet war. In der Kunst der Verführung wurden von Männern und Frauen alle Register gezogen, um das Begehren und die Lust zu steigern.

Untreue gehörte zum Kalkül – und konnte natürlich nur für die Frauen existentielle Folgen haben. Marivaux hat dieses Gebaren seiner Zeitgenossen scharfsichtig unter die Lupe genommen und sich selbst aus Affären und Skandalen herausgehalten.

Seit dem 18. Jahrhundert hat sich in den Liebesbeziehungen viel verändert – im Zuge der wachsenden Gleichberechtigung und Unabhängigkeit der Frauen werden heutzutage traditionelle Rollenbilder aufgebrochen, Beziehungen neu ausdiskutiert und alternative Strukturen

ausprobiert. Zugleich versuchen Evolutionspsychologen und Neurobiologen, dem Phänomen der Liebe rein wissenschaftlich auf die Spur zu kommen: Hat unser Sex- und Gefühlsleben noch einen weiteren Zweck, als die eigenen Gene in die nächste Generation zu bringen? Und zwar mit dem biologisch passenden Partner? Ist das Verliebtsein ein hormonell gesteuertes Suchtverhalten? Ist es allein das Zusammenspiel von Hormonen, das die Fixierung auf die eine angebetete Person auslöst – und beim Liebesbruch schreckliche Entzugserscheinungen mit sich bringen kann?

Ungeachtet naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ist die Sehnsucht nach dem einen Menschen, dem Gegenüber, mit dem wir in ewiger Harmonie geistig und körperlich verschmelzen, fest im Bewusstsein westlich geprägter Gesellschaften verankert. Dieses Ideal der romantischen Liebe, das emotionale Erfüllung und Lebenssinn verspricht, ist allerdings erst vor ungefähr 250 Jahren entstanden. Und ungeachtet der schönen Ideale ist die Untreue in der Liebe noch immer in der Welt…

Drei Fragen an Regisseur Hannes Hametner

„Der Streit“ ist in der Zeit des Rokoko vor bald 300 Jahren entstanden. Seitdem hat sich vieles verändert – welche Parallelen kann man dennoch zu unserer Gegenwart entdecken?

Man entdeckt viel Gegenwart in Marivaux’ „Der Streit“ – das hat sicherlich damit zu tun, dass das Rokoko das Zeitalter war, in dem die Gefühle und Empfindungen ins Zentrum des Lebens rückten. Dabei darf man natürlich nicht vergessen, dass das Stück innerhalb der aristokratischen Gesellschaft spielt. Da die Adligen nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten mussten, hatten sie unendlich viel Zeit. Diese Zeit füllten sie mit Müßiggang und einer fortwährenden Beschäftigung mit sich selbst hinsichtlich der äußeren Attraktivität und der eigenen Liebesgefühle. Heutzutage

haben wir tatsächlich auch sehr viel Zeit, um uns selbst und unsere Gefühle zu befragen und die Suche nach dem Liebesglück zu einem zentralen Lebensthema zu machen.

Die andere Analogie ist der Spiegel, der ein äußerst wichtiges Accessoire in der Zeit des Barock und Rokoko gewesen ist. Der Spiegel war perfekt, um zu repräsentieren – man denke nur an den Spiegelsaal in Versailles – und um sich selbst in seiner äußeren Wirkung immer wieder zu überprüfen. Heute haben die sozialen Medien diese Funktion des Spiegels übernommen – weltweit präsentieren sich die Menschen mit unzähligen Fotos bzw. Selfies im Netz, um die eigene Wirkung zu gestalten und bewundert zu werden.

„Der Streit“ steckt voller ernster und streitbarer Themen – wo offenbart sich da die Komödie?

Da muss ich an Thomas Bernhard denken, der sich fragte „Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?“. Die Grenzen sind immer fließend. Komisch sind die Momente, in denen uns auf der Bühne der Spiegel vorgehalten wird. In der Überforderungssituation der in Liebesdingen noch völlig unerfahrenen jungen Menschen in „Der Streit“ erkennen wir uns wieder. Überwältigende Gefühle, Neugier, Versuchung – diese ganzen Zwickmühlen und Ungeschicklichkeiten des Liebeslebens. So lachen wir über unsere eigenen Abgründe, über unsere Gefühle, die uns so oft in kuriose Situationen hineintreiben. Es ist ein erkennendes und zugleich befreiendes Lachen!

Ausgangspunkt für die manipulative Versuchsanordnung in „Der Streit“ ist die Schuldfrage hinsichtlich der Untreue in der Liebe. Wird die Frage im Stück bzw. in deiner Inszenierung beantwortet?

Zunächst muss man noch mal festhalten, dass Frankreich eine andere Kultur in den Liebesdingen pflegt. Wo gibt es das sonst, dass die Liebesbriefe eines verheirateten Präsidenten (François Mitterrand) an seine Geliebte in Buchform veröffentlicht werden. Oder denken wir an Brigitte Bardot im Film

„Die Pariserin“, die lernen muss glaubhaft zu lügen, um den Ehemann nicht zu verletzen. Es gäbe unzählige Beispiele.

Ich finde, wir können von der französischen Kultur etwas lernen über Leidenschaft, Raffinesse, Verführungskunst und Begehren. Interessant ist, dass man eher die Männer mit der Untreue in Verbindung bringt, aber offensichtlich sind es doch beide Geschlechter, die die Untreue leben – auch die Frauen. Dies ist zu betonen und stellt die Frage nach den Rollen, die wir im Leben einnehmen und der Freiheit, die wir uns gestatten. Die Franzosen haben ein Wort dafür: Libertinage. Das heißt in etwa: ein freies Leben ohne die Schranken der Moral. Meint Marivaux vielleicht das, wenn der Fürst am Ende sagt: die Geschlechter haben sich gegenseitig nichts vorzuwerfen? Da die Moral immer ein Herrschaftsinstrument der Männer über die Frauen war, möchte ich hinzufügen, dass Marivaux auch darin aktuell ist, dass er den Frauen die gleiche Freiheit wie den Männern zugesteht.

Marivaux und

die ach so kleinen

Unterschiede

Die Männer behaupten, Schwäche sei ein natürliches Erbteil der Frauen. Das mag an sich richtig sein. Aber haben wir ein Recht dazu, das zu sagen, oder sogar zu glauben?

Man nenne uns einen einzigen Punkt, wo wir nicht benachteiligt sind (fügen sicherlich die Frauen hinzu, denn diese lasse ich sprechen). Wenn sich eine Frau schlecht verhält, Liebhaber hat, die eheliche Treue bricht, dann gibt es keine Gnade für sie: Sie wird eingesperrt, ihr Vermögen beschlagnahmt, man zwingt sie zu einem harten, kargen Leben, sie wird entehrt, und sie verdient es. Was aber tut man mit einem treulosen Ehemann? Wir dürfen nicht vergessen, dass die Frau ihre Ausschweifungen so heimlich gemacht hat wie möglich; sie war sogar scheinheilig, aus Angst, Anstoß zu erregen. Ihr Laster war zurückhaltend, es verkroch sich im Dunkeln, sie hat es kaum genossen. Betrachtet einen treulosen Ehemann. Gibt es etwas Dreisteres als seine Ausschweifungen? Unternimmt er etwas, um sie vor seiner Frau zu verbergen? Ach, was macht das schon, wenn sie es weiß? Wird er die Ausschweifungen vor seinen Freunden verbergen? Die würden nur lachen. Ist

er nicht Herr seiner Handlungen? Wo sind die Ehemänner, die man einsperrt, deren Vermögen beschlagnahmt wird? Sind sie wenigstens in der Gesellschaft entehrt? Keineswegs!

Wir sagten, dass man ihm, dem Ehemann, verzeiht. Aber das ist noch nicht alles! Was denn! Seine Ausschweifungen, oder besser seine Liebesaffären machen ihn berühmt; sie machen ihn zu einem Helden, auf den neugierig ist.

He, für wen hält man uns eigentlich? (sagen die Frauen wieder). Die Männer sollen das einmal erklären: Wollen sie uns die Ausübung der Tugend als eine leichte Sache überlassen, die unsere Kräfte nicht übersteigt? Oder ist diese Tugend so schwer auszuüben, dass nur wir das können? Sind dagegen die Männer nicht würdig, tugendhaft zu sein? Ist ihre Würdelosigkeit ohne Bedeutung?

Aber dass die Männer die Dreistigkeit haben, uns als schwach zu verachten, während sie für sich die ganze Bequemlichkeit der Laster in Anspruch nehmen und die ganze Schwierigkeit der Tugenden uns überlassen – ist das nicht widersinnig?

Wir werfen den Frauen vor, kokett zu sein, hinterhältig und schlecht. Lassen wir sie dazu etwas sagen. Wenn unsere Koketterie ein Fehler ist, ihr Tyrannen (werden sie uns sagen), wen anders müssen wir dafür anklagen als euch Männer? Habt ihr uns andere Möglichkeiten gelassen als die elende Beschäftigung, euch gefallen zu müssen? Wir sind schlecht, sagt ihr? Wagt ihr es, uns das vorzuwerfen? Da ihr uns jeden Einfluss entzieht, jede Tätigkeit, die uns beschäftigt, jedes Mittel, uns Respekt zu verschaffen, so wie ihr euch welchen verschafft, mussten wir uns da nicht mit Geist und Einfallsreichtum für das von eurer Tyrannei uns angetane Unrecht entschädigen? Sind wir nicht eure Gefangenen, und seid ihr nicht unsere Kerkermeister? Was bleibt uns in dieser Lage anderes als List? Als ein unwirk-

samer Mut, den ihr zu der schändlichen Notwendigkeit zwingt, Schlauheit zu werden? Unsere Falschheit ist nur die Frucht unserer Abhängigkeit. Unsere Koketterie ist unser einziges Gut. Wir haben keine anderen Möglichkeiten als die, Gnade vor euren Augen zu finden. Unsere eigenen Eltern werden uns nur zu diesem Preis los; wir müssen euch gefallen, oder wir altern unbeachtet in ihren Häusern. Nur so entgehen wir eurem Vergessen, eurer Missachtung; nur indem wir uns den Schimpf antun, unsere guten Eigenschaften und Tugenden, die ihr nicht weiterentwickelt, sondern unterdrückt, durch demütigende Taktiken und sogar Laster zu ersetzen, treten wir aus dem Dunkel, bringen wir euch Achtung bei und sind wir etwas.

Die Liebe, das Begehren und die Verführung

Ich bevorzuge die Form der Verführung, denn sie geht von einer rätselhaften, dual/duellhaften Beziehung, einer werbenden, starken und geheimnisvollen Anziehung zwischen den Lebewesen und Dingen aus. Sie ist keine Form der Antwort, sondern eine Herausforderung, ein Duell, eine geheime Distanz und ein ständiger Antagonismus, worauf auch die Spielregeln basieren – ich ziehe diese Form der Verführung mit ihrem Pathos der Distanz der universellen Form der Liebe in ihrem pathetischen Verständnis von Aneinanderklammern vor.

Übrigens ist das „ich liebe dich“ glücklicherweise nicht so gemeint wie es gesagt wird. Es meint etwas anderes und man muss es anders wahrnehmen, und zwar in seinem verführerischen Modus.

In jedem Diskurs findet sich ein grundlegendes Moment von Verführung, so

auch in der Liebe (jedenfalls muss man das hoffen); er spielt dabei mit der Äußerung und trifft den anderen im Gegenteil seiner Aussage. So bedeutet das „Ich liebe dich“ nicht, dass man Dich liebt, sondern dass man Dich verführen will, was eben gerade nicht dasselbe ist.

Die meisten wollen statt verführt lieber geliebt werden. Sie bevorzugen den Liebesbeweis in einer Art Dienstleistung. Vielleicht beruht der Anspruch, geliebt zu werden auf der Angst vor dem Verführtwerden und wahrscheinlich muss man lieben, um nicht mehr verführen zu müssen.

Lieben bedeutet eine Art psychologischer Inzest, ein pathetisches Verschmelzen und Aneinanderklammern, das gegen das grausame Spiel der Verführung gerichtet ist.

Jean Baudrillard, 1983

Jede Frau versteht, dass man sie begehrt, wenn man ihr sagt: Ich liebe Sie, und weiß dir nur darum Dank für dieses

Ich liebe Sie, weil es bedeutet: Ich begehre Sie.

Pierre Carlet de Marivaux, 1734

Die Marquise de Merteuil an den Vicomte de Valmont: Wie groß die Lust sich hinzugeben auch immer sein mag, so sehr es uns auch damit eilt, – man muss doch immer noch einen Vorwand haben, und gibt es denn einen bequemeren für uns als den, so zu tun, als ob man der Gewalt wiche? Ich bekenne, dass ein schnell und geschickt ausgeführter Angriff das ist, was mir am meisten schmeichelt; ein Angriff, der auch bis in die Dinge hinein, die wir gewähren, den Anschein der brutalen Überwältigung behält und so geschickt unseren zwei Hauptpassionen schmeichelt –: dem Ruhm der Verteidigung und dem Vergnügen des Unterliegens. Ich gebe zu, dass dieses Talent der Attacke bei den Männern seltener ist, als man denken sollte, und dass es mir immer Freude machte, auch da, wo es mich nicht verführt hat; es ist mir passiert, dass ich mich ergab nur aus dem Gefühl der Belohnung heraus.

Choderlos de Laclos, 1782

Nur mit Liebe

Wir suchen die Liebe, aber was wollen wir von ihr?

Jeder Mensch auf der Welt hat eine Vorstellung von Liebe. Selbst die, die sagen, dass sie die Liebe nicht verstehen, wissen, dass da etwas ist, das sich ihnen entzieht, und die, die sagen, es gibt keine Liebe, haben eine Idee davon, was fehlt. Sogar die, die noch so klein sind, dass Wörter für sie nur Geräusche sind, spüren: Einsamkeit ist keine Option, wenn man groß werden will. Was immer Menschen über Liebe sagen, sie werden wohl zustimmen, dass Liebe zu erfahren uns stärkt und uns weitermachen lässt. Liebe erweitert unser Selbst, sie lässt uns mit einem anderen Menschen so nah zusammenkommen wie nur möglich. Es entsteht ein Wir.

Es wird manchmal so dargestellt, als seien Feminismus und das Ringen um Gerechtigkeit eine Bedrohung für heterosexuelle Beziehungen: Als wenn es darum ginge, welches Geschlecht am Ende gewinnt, und als würden wir die Liebe, die Romantik und die Erotik gefährden und im Grunde komplett killen, wenn wir darüber diskutieren, wer das Geld nach Hause bringt, den Müll rausträgt oder ab wann etwas für uns eine Grenzüberschreitung ist. Ich glaube, es ist genau andersum: Beziehungen le-

ben davon, dass wir sie beständig erneuern, dass wir Fragen immer wieder neu stellen und Kompromisse aushandeln, dass wir uns im Blick behalten und aufeinander aufpassen. Das beinhaltet auch, darüber zu sprechen, wo wir hinwollen und wer dabei wofür zuständig ist.

In unseren Beziehungen können wir sehen, wie viel Freiheit uns tatsächlich möglich ist, aber sie sind auch der Ort, an dem wir besonders schmerzhaft scheitern können.

Unsere Denkmuster und Gewohnheiten, all die Kategorien, innerhalb derer wir unseren Alltag leben, sind durchzogen von den Hierarchien, in denen wir uns befinden. Macht wirkt in unserer Sprache, unseren Ängsten, unseren Fähigkeiten, und niemand kann das auf einmal ändern. Das Entlernen bedeutet gleichzeitig immer ein neues Lernen. Leute, die so grundlegende Fragen stellen wie die, was eigentlich Liebe ist, finden wir naiv, nervig oder halten sie für abgedrehte Möchtergernphilosoph*innen. Aber genau darin besteht manchmal Philosophie: hinter Sätze, die in Stein gemeißelt sind, ein Fragezeichen zu malen.

Margarete Stokowski, 2016

Der Mythos vom Kugelmenschen

Zuerst gab es drei der menschlichen Geschlechter, nicht nur zwei wie jetzt, männlich und weiblich; es gab ein drittes dazu, das zu beiden gehörte. Damals sah der Mensch aus wie eine Walze, rund herum Rücken und Rippen; vier Arme hatte er, ebenso viel Beine und zwei Gesichter auf rundem Hals; aber nur einen Schädel über den beiden einander abgekehrten Gesichtern, und vier Ohren und zwei Geschlechtsteile. Der Mensch marschierte aufrecht wie jetzt, vorwärts und rückwärts. Aber wenn sie sich aufmachten, um schnell zu laufen, da stemmten [sie] sich auf ihre acht Gliedmaßen und rollend sausten sie dahin. Sie hatten gewaltige Kraft und

wollten hoch hinaus; sie griffen die Götter an und hätten den Aufstieg zum Himmel versucht und seien gegen die Götter gestürmt.

Da saßen Zeus und die anderen Götter zu Rate. Endlich kam Zeus auf einen Gedanken: „Ich habe ein Mittel, dass es weiter Menschen gibt, aber geschwächt werden sie von ihrem wüsten Wesen lassen. Ich schneide jeden mitten durch.“ Sprach’s und schnitt die Menschen durch.

Da nun das ursprüngliche Wesen entzweigeschnitten war, ging jede Hälfte sehnsüchtig auf die Suche nach der

anderen, sie umschlangen sich mit den Armen, verflochten sich miteinander im Verlangen zusammenzuwachsen und sie starben vor Hunger und Nichtstun, denn getrennt voneinander mochten sie nichts unternehmen. Wenn dann eine Hälfte starb und die andere übrigblieb, so suchte diese wieder eine andere und nahm sie in den Arm, ohne Unterschied die einer Frau (also was wir jetzt Frau nennen) oder die eines Mannes. So verkamen sie. Da erbarmte sich Zeus und schaffte abermals Rat: Er versetzte ihre

Geschlechtsteile nach vorn und schuf, dass die Begattung ineinander geschah, durch das Männliche im Weiblichen, damit in der Umarmung von Mann und Frau aus der Zeugung Nachkommenschaft entspringe.

Seither ist die Liebe zueinander den Menschen eingepflanzt; Eros führt zum Urwesen zurück, er will aus zweien eins machen und die Menschennatur heilen.

Platon

„Meine Maxime ist: wenn ich die Liebe erhalten will, die man für mich empfindet, muss ich ab und zu die Gewissheit erschüttern, die man von meiner zu haben glaubt.“
Pierre

Carlet de Marivaux, 1734

Impressum

Herausgeber: Theater Vorpommern GmbH

Stralsund – Greifswald – Putbus

Spielzeit 2024/25

Geschäftsführung: André Kretzschmar

Textnachweise:

Redaktion: Nadja Hess

Gestaltung: Pawlitzky, ÖA TVP

Druck: Flyeralarm

1. Auflage: 500

Der Text auf den Seiten 4-7 ist ein Originalbeitrag für dieses Heft von Nadja Hess.

Baudrillard, Jean: Laßt euch nicht verführen! Berlin 1983.

Choderlos de Laclos, Pierre Ambroise François: Gefährliche Liebschaften. Zürich 1985.

www.theater-vorpommern.de

Marivaux, Pierre Carlet de: Betrachtende Prosa. Hg und übersetzt von Gerda Scheffel. Frankfurt/Main 1979.

Marivaux, Pierre Carlet de: Die Kunst in den Köpfen der Menschen zu lesen. Hg. und übersetzt von Gerda Scheffel. Frankfurt/Main 1990.

Pascal, Blaise: Gedanken. Berlin 1987.

Platon: Das Gastmahl, in: Sokrates im Gespräch. Vier Dialoge. Übersetzt und herausgegeben von Bruno Snell. Frankfurt/Main 1986.

Stokowski, Margarete: Untenrum frei. Reinbek bei Hamburg 2018.

Bildnachweise:

Die Fotos sind auf der Probe am 7. Juni 2025 entstanden und stammen von Peter van Heesen.

Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen

Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.

„Wenn ein Mensch in irgendeinem Punkte seines Geistes empfindlich ist, dann ist er es in der Liebe.“

Blaise Pascal

Theater Vorpommern

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