Spielzeit 2024/25
4. Philharmonisches Konzert
Werke von Leonard Bernstein, Serge Koussevitzky und Samuel Barber

„Ich glaube fest daran, dass
der Tag kommen wird, an dem nicht nur kleine Gruppen, sondern die breite Öffentlichkeit sich an der Organisation des Lebens so beteiligen wird, dass die Kunst von den Menschen unterstützt und von den Künstlern kontrolliert wird.
Das würde Demokratie in ihrer höchsten Ausprägung bedeuten.“
Serge Koussevitzky
4. Philharmonisches Konzert
zum 150. Geburtstag von Serge Koussevitzky
Leonard Bernstein (1918-1990)
Divertimento für Orchester
Sennets and Tuckets. Allegro non troppo, ma con brio
Waltz. Allegretto con grazia
Mazurka. Mesto
Samba. Allegro giusto
Turkey Trot. Allegretto ben misurato Sphinxes. Adagio lugubre
Blues. Slow blues tempo
In Memoriam; March: „The BSO Forever“. Andante
Serge Koussevitzky (1874-1951)
Konzert für Kontrabass und Orchester fis-Moll op. 3
1. Allegro
2. Andante
3. Allegro
Pause
Samuel Barber (1910-1981)
Sinfonie Nr. 2 op. 19
1. Allegro ma non troppo
2. Andante, un poco mosso
3. Presto, senza battuta
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Solist: Dominik Wagner, Kontrabass
Philharmonisches Orchester Vorpommern
Dirigent: Alexander Mayer
Öffentliche Generalprobe
Mo 13.01.2025, Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal
Konzerte
Di 14.01.2025, Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal
Mi 15. & Do 16.01.2025, Stralsund: Großes Haus
Dominik Wagner
Der 1997 in Wien geborene Dominik Wagner wurde zunächst als Cellist ausgebildet, bevor er 2007 zum Kontrabass wechselte. Mit gerade einmal Mitte 20 ist Wagner Stipendiat der Anne-Sophie-Mutter-Stiftung und ECHO-Klassik-Gewinner. 2022 wurde er mit dem Opus Klassik als Nachwuchskünstler ausgezeichnet. Zudem ist er Preisträger bei nahezu allen Kontrabasswettbewerben, wie u. a. der Bradetich Foundation International Double Bass Solo Competition, dem Internationalen Musikwettbewerb der ARD sowie dem Eurovision Young Musicians Wettbewerb.
Dominik Wagner trat bereits mit renommierten Orchestern wie dem Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem WDR-Sinfonieorchester, der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, dem Zürcher Kammerorchester und der Camerata Salzburg in großen Konzertsälen wie in Wien (Musikverein und Konzerthaus), Berlin (Konzerthaus und Philharmonie), München (Herkulessaal und Gasteig), Hamburg (Elbphilharmonie) und New York (Carnegie Hall) auf. Dem Württembergischen Kammerorchester ist er als WKOYoung-Artist verbunden.
2021 erschien seine erste Solo-CD „Giovanni Bottesini – Revolution of Bass“ bei dem Label Berlin Classics. Seither veröffentlichte er zwei weitere CDs beim gleichen Label: „Chapters – A Double Bass Story“, Duo-Repertoire mit Lauma Skride, und „Double Bass Rhapsody“, Eigenarrangements für Kontrabass Solo und Kontrabass Ensemble.
Neben seinen solistischen Aktivitäten ist Dominik Wagner ein leidenschaftlicher Kammermusiker und gefragter Pädagoge. Er ist seit 2023 Professor an der Hochschule für Musik Würzburg und Teil des Professional Studies Programmes der Kronberg Academy.
„Wenn so ein kleiner Ort wie Vyšnij Voločëk das Glück hat, die Wiege eines Visionärs, eines Künstlers, eines Gelehrten oder sogar eines musikalischen Wegbereiters zu sein, wird sein Name dem Vergessen entrissen und er wird in all den Enzyklopädien erscheinen …“
Arthur Lourié
Der Name Serge Koussevitzky ist aus dem kulturellen „Who is Who“ des 20. Jahrhunderts nicht wegzudenken. Es ist nicht zuletzt seiner Mehrfachbegabung als Künstler und Geschäftsmann zu verdanken, dass Koussevitzky in den unterschiedlichsten Bereichen der Musik reüssierte. Sicher ist er in erster Linie bekannt und berühmt als langjähriger Leiter und Dirigent des Boston Symphony Orchestra. In dieser Zeit, von 1924 bis 1949, avancierte nicht nur das Orchester zu Weltruhm, sondern Koussevitzky setzte sich auch vermehrt für die Förderung junger Talente sowie der zeitgenössischen Musik ein. Zahlreiche Werke, die heute längst zum musikalischen Kanon zählen, wurden von Koussevitzky in Auftrag gegeben und unter seiner Leitung uraufgeführt, so Arthur Honeggers „Pacific 231“ (1924), Igor Strawinskys „Psalmensinfonie“ (1930) oder Maurice Ravels Orchesterbearbeitung von Modest Mussorgskijs „Bilder einer Ausstellung“ (1922). Nicht zuletzt wurde auch Samuel Barbers 2. Sinfonie vom Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von Serge Koussevitzky 1944 uraufgeführt.
Das 1937 von ihm ins Leben gerufene Tanglewood Music Festival zählt bis heute zu den herausragenden Musikveranstaltungen Amerikas.
Koussevitzkys Bedeutung als Musikpädagoge lässt sich anhand der berühmten Schüler und Studenten, die bei ihm in die Lehre gingen, ermessen. Zu ihnen zählt nicht zuletzt Leonard Bernstein.
Bei all diesen Superlativen, die Koussevitzky als Dirigenten, Lehrer, Impresario und Förderer neuer Musik beschreiben, wird leicht übersehen, dass es einen Serge Koussevitzky vor der Dirigentenlaufbahn gab, der bereits in jungen Jahren als Kontrabasssolist internationale Aufmerksamkeit erregt hatte.
Noch weniger ist sein Wirken als Komponist bekannt, ist es doch im Wesentlichen auch nur ein einziges größeres Werk, das bis heute in den Konzertsälen aufgeführt wird, und auch bei diesem – dem Konzert für Kontrabass und Orchester op. 3 – wird die Urheberschaft in Teilen angezweifelt. Denn so minutiös Koussevitzkys Wirken spätestens seit
seinen amerikanischen Jahren dokumentiert ist, so sehr verschwinden seine jungen Jahre in einem Nebel aus Fakten und Fiktion. 1874 in Vyšnij Voločëk geboren, verbrachte Serge eine unspektakuläre, aber bereits von Musik geprägte Kindheit. Beide Eltern waren Musiker – sein Vater war Klezmer, seine Mutter Pianistin. Der Vater brachte Serge wohl vorwiegend Streichinstrumente wie Violine und Cello nahe. Die Mutter starb, als Serge 3 Jahre alt war. Von einer Lehrerin aus dem Ort, die nun an Mutters statt für den Jungen sorgte, erhielt er Klavierunterricht.
Ansonsten war Koussevitzky weitgehend autodidaktisch unterwegs – und das im wörtlichen Sinne: Reisende Musikanten- und Theatertruppen, die im ca. 250 Kilometer nordwestlich von Moskau gelegenen Vyšnij Voločëk Station machten, weckten seine Leidenschaft sowohl für die Bühne als auch für die große weite Welt. Mehrfach reiste er eine Weile mit den Wanderkünstlern mit, komponierte kleine Bühnenmusiken und verdiente sich ein bisschen Geld, indem er mal in den Pendelzügen zwischen Moskau und St. Petersburg – Vyšnij Voločëk liegt auf der Strecke – die Reisenden musikalisch unterhielt, mal in einem Wanderzirkus Tuba spielte. Koussevitzky selbst erinnerte sich, dass er damals wie „hypnotisiert“ gewesen sei „von dem Zauber ihrer wunderbaren Musik“.
Mit 17 Jahren schließlich (manche Quellen sprechen von 14 Jahren, was eher unwahrscheinlich erscheint) machte sich Koussevitzky allein nach Moskau auf, fest entschlossen, dort Musik zu studieren. Da das Semester bereits begonnen hatte, wurde er sowohl vom Staatlichen Konservatorium als auch von der Moskauer Philharmonischen Gesellschaft zunächst abgelehnt. Es war wohl seiner Hartnäckigkeit zu verdanken und der Tatsache, dass er fast ohne Geld in der Tasche der Provinz und dem autoritären Vater entflohen war, dass er doch noch ein Stipendium bei der Philharmonischen Gesellschaft erhielt. Dies allerdings zu den Konditionen der Hochschule, die ihm die Förderung nur unter der Bedingung in Aussicht stellte, dass er eines der „ungeliebten“ aber für ein Orchester notwendigen Instrumente studieren müsse. Also hatte er die Wahl zwischen Posaune und Kontrabass. Er wählte letzteren. Aufgrund seiner Kenntnisse im Cellospiel lernte er schnell auf das größere Streichinstrument um und beherrschte den Kontrabass schon nach kurzer Zeit meisterhaft, sodass er nicht nur in Moskau Furore machte, sondern als Solist 1903 bis nach Berlin tourte, wo ihn die Kritiker feierten und mit den großen barocken Kontrabassvirtuosen Giovanni Bottesini und Domenico Dragonetti verglichen: „Der junge Russe mit dem aristokratischen Aussehen übertraf so-
gar seinen großen italienischen Vorgänger in einem Punkt, denn er spielte auf einem regulären Orchesterbass, während Bottesini seinerzeit einen dreisaitigen Bass spielte, der in Quinten gestimmt war.“ Eine Tatsache stand der Solistenkarriere jedoch im Wege: der Mangel an Literatur. Es existierten kaum originäre virtuose Kontrabasswerke,
und diejenigen, die es gab, waren meist barocker Natur. Es fehlte an größeren zeitgenössischen Stücken. Also stellte sich Koussevitzky selbst der Aufgabe, Literatur für sein Instrument zu schaffen. Kleinere Stücke hatte er bereits komponiert, doch sollte das Kontrabasskonzert op. 3 sein erstes größeres Werk werden.
Serge Koussevitzky: Konzert für Kontrabass und Orchester
Wahrscheinlich begann er mit der Komposition bereits im Jahr 1902, doch da es weder eine Partitur in Koussevitzkys Handschrift noch Unterlagen über die Entstehung gibt, kamen und kommen immer wieder Zweifel über die Entstehung und sogar die Urheberschaft dieses Werkes auf. Sicher ist aber, dass das Konzert am 2. Februar 1905 in Moskau im Rahmen eines Konzertes der Philharmonischen Gesellschaft uraufgeführt wurde. Längst tobten dort die politischen Unruhen der Revolution, doch Komponist und Orchester schienen davon unberührt zu sein. Koussevitzky selbst spielte den Solopart und wurde im Anschluss sowohl als Solist wie als Komponist von der Fachpresse gefeiert. Frühe Schellackplattenaufnahmen aus den Jahren 1928/29 dokumentieren
seine solistischen Fähigkeiten, die einen ganz eigenen Charakter aufweisen. „Koussevitzkys Spiel war, im Vergleich zu dem seiner Vorgänger, modern; er spielte zartere Töne und brachte so die für den Orchesterbass typische Sonorität in die Nähe des Celloklangs“, fasst der Komponist und Koussevitzky-Biograf Arthur Lourié in Worte, ein Klangideal, das sich auch in der Partitur des Kontrabasskonzertes niedergeschlagen hat.
Klassisch dreisätzig angelegt, ist das Konzert ganz dem romantischen Ton verpflichtet. Deutliche Anklänge an Tschaikowskij und Rachmaninow ziehen sich durch das Werk, das mit einem auftrumpfenden „Motto“ beginnt, welches das gesamte Konzert bestimmt
und mit dem folgerichtig nicht nur der erste, sondern auch der dritte Satz beginnt. Bei aller motivischer Klarheit versucht Koussevitzky aber die Dreisätzigkeit durch Attacca-Übergänge zwischen den Abschnitten zu verschleiern, sodass der Gesamteindruck eines einsätzigen Konzertstückes überwiegt. Klassisch ist auch die Anlage mit zwei markanten Außensätzen und einem lyrischen Mittelteil, dessen kantabler Charakter im Zusammenhang mit dem sehr hell timbrierten Solopart Reminiszenzen an Dvořáks Cellokonzert aufkommen lässt. Insgesamt bewegt sich

Serge Koussevitzky, um 1901
das Soloinstrument überwiegend in den höheren, sanglichen Lagen. Auch trägt die Partituranweisung, das Soloinstrument einen Ganzton höher als üblich zu stimmen, zu diesem Eindruck bei. Dem lyrisch-sanglichen Mittelteil stehen zwei virtuose Ecksätze gegenüber, die mit enormen technischen Schwierigkeiten gespickt sind. Dies und die Gesamtanlage des Konzertes machen eine Solistenkadenz überflüssig, sodass das Konzert ohne die sonst obligate solistische Verzögerung temporeich dem brillanten Ende entgegenrauscht.
„Und was am wichtigsten ist und sonst sehr selten zu hören ist: Dieses Konzert vermittelt gleichzeitig echtes Gefühl und lebhaftes Temperament.“
Kritiker Ivan Lipaev in der „Moskauer Musikzeitung“, 1905
Noch während der Entstehung dieses Konzertes heiratet Koussevitzky mehrfach. In seiner Zeit als Solobassist im Orchester des Bolschoi-Theaters lernt er die Tänzerin Nadežda Galat kennen. Bereits drei Jahre später wird die Ehe geschieden und Koussevitzky heiratet erneut. Diesmal Natalie Uškova, die Tochter eines reichen Teehändlers. Ob diese erneute Ehe etwas mit dem Vermögen zu tun hat, das Koussevitzky gleich mit ehelichte, bleibt Spekulation. Tatsache aber ist, dass es ihm der Geldsegen ermöglichte, mit seiner Ehefrau nach Berlin zu ziehen, um dort ab 1905 bei Arthur Nikisch Dirigieren zu studieren. Hier wird der Grundstein für seine neue, große Karriere als Dirigent gelegt.
„Es war in Russland, als ich zum ersten Mal vom Boston Symphony Orchestra hörte von meinem guten Freund Arthur Nikisch, der mir sagte, dass ich eines Tages das Boston Symphony dirigieren sollte. Ich empfand diese Bemerkung als seltsam, weil ich nicht daran dachte Russland zu verlassen. Ich erinnerte mich ihrer aber in den frühen 1920er Jahren, als ich Einladungen erhielt, zwei führende Orchester in Amerika zu dirigieren. Mit Boston im Hinterkopf lehnte ich ab. … Zu dieser Zeit dirigierte ich meine eigenen Konzerte praktisch in allen europäischen Ländern. Erst als die Einladung aus Boston kam für die Saison 1924/25, beschloss ich nach Amerika zu reisen, um Dirigent des Boston Symphony Orchestra zu werden.“
Serge Koussevitzky in einem Interview mit George Hamilton, 1943
Koussevitzkys Ernennung zum Dirigenten des Boston Symphony Orchestra 1924 stellte den Beginn einer goldenen Ära nicht nur für das Orchester, sondern auch für die amerikanische Musik dar, die Koussevitzky durch Auftragsvergaben und Uraufführungen intensiv förderte.



Samuel Barber: Sinfonie Nr. 2
So rückte auch der junge Samuel Barber 1939 in den Fokus von Koussevitzkys Interesse. Barber, der schon früh eine musikalische Karriere angestrebt hatte und mit 13 Jahren begann, am Curtis Institute of Music in Philadelphia Klavier, Gesang und vor allem Komposition zu studieren, hatte im Alter von 26 Jahren, 1936, sein bis heute bekanntestes Werk geschrieben: das Adagio für Streicher –zunächst als Teil eines Streichquartetts, später dann in der bekannten Fassung für Streichorchester. Diese Komposition brachte ihm seinen Ruf als Komponist spätromantischer Ausrichtung ein, der sich hartnäckig halten sollte, obwohl sich Barbers musikalischer Ausdruck maßgeblich weiterentwickelte. Auch Serge Koussevitzky wurde durch das Adagio auf Barber aufmerksam. Bereits im Sommer 1940 führte er drei weitere Kompositionen Barbers im Rahmen des Tanglewood Musikfestivals auf.
Mit Amerikas Eintritt in den Zweiten Weltkrieg 1941 wurde Barber in die Armee eingezogen und 1942 wurde er der Luftwaffe zugeteilt. Seine Hoffnung, der Armee eher musikalisch als an der Front dienen zu können, erfüllte sich. Nach einem „Abhärtungskurs“, bei dem er in einem moskitoverseuchten „Hundezelt“ mit einem „1,80 Meter großen Sonderling“ biwakierte, den Umgang
mit einem M1-Gewehr gelernt und auf den langen Wanderungen in voller Ausrüstung sowohl seine Uhr als auch seine Brille zerbrochen hatte, kam der erlösende Bescheid, dass er im Rahmen eines Musikauftrages zur Air Force versetzt werde. So gelangte er 1943 auf den Luftwaffenstützpunkt Tarrant Field unweit von Fort Worth mit dem Auftrag, seinen patriotischen Beitrag in Form eines „sinfonischen Werks über Flieger“ zu leisten.
Schon bald erhielt Barber einen Anruf von Koussevitzky: „Er rief mich an und sagte: ‚Mein Lieber, du wirst eine neue Sinfonie für mich schreiben und sie wird wunderbar seinʼ. Ich bin nicht besonders religiös, aber ich glaube doch daran, dass aus der Kombination von Enthusiasmus und Schicksal Werke entstehen können …“
Und so machte sich Barber zunächst an die eingehende Recherche zum Thema seiner Auftragsarbeit: Er unterhielt sich eingehend mit Kampffliegern und nahm an einem sechsstündigen Flugtraining teil.

„Wir gingen in Schräglage, wir überschlugen uns, wir machten Sturzflüge und dann flogen die jungen Piloten, die fast zu jung und zu klein für diese riesigen Maschinen waren – sie waren erst 25 – im Blindflug. Es hat auf eine wilde Art Spaß gemacht und mir ist nicht einmal schlecht geworden.“
Doch auch die Schattenseiten des Einsatzes kamen ihm zu Ohren.
„Viele Piloten sprachen mit mir über ihre Gefühle beim Fliegen, das Fehlen eines musikalischen Höhepunkts beim Fliegen, die unaufgelöste Spannung, das Crescendo, das sich erstaunlicherweise beim Sinkflug einstellt und nicht beim Aufsteigen und das Erkunden neuer Dimensionen. Wie ich das in Musik ausdrücken soll, weiß ich nicht, aber die Gespräche, die ich mit ihnen führte, waren wunderbar. Irgendwie werde ich versuchen, einige ihrer Gefühle auszudrücken.“
Überflüssig zu erwähnen, dass er bereits bei diesen Interviews in Musik gedacht haben muss. Jedenfalls setzte sich Barber umgehend an die Komposition, die er überpünktlich, im Januar 1944, abschloss. Die Uraufführung fand am 3. März 1944 in der Symphony Hall mit den Bostoner Sinfonikern unter der Leitung von Serge Koussevitzky statt.
Das Allegro ma non troppo beginnt maximal dissonant: mit wiederholten Sekundakkorden im Septimabstand.
Das erste, darauf basierende Thema wird sodann von den Streichern vorgestellt. Eine weitere, sechzehntelbasierte Figur leitet zum dritten, lyrischen Thema über, das zunächst in der Oboe erklingt. Nach dieser Exposition eröffnet die Durchführung mit einer kontrapunktischen Passage, die sich allmählich bis zum Tutti steigert und zur Reprise führt, in der alle drei Themen erneut aufgegriffen werden, zuletzt die harschen Sekunden vom Beginn. Der sonst sehr rhythmisch prägnante Satz, der nicht zuletzt durch den markanten Klavierpart seinen Charakter erhält, endet ruhig verklingend.
Das Andante wird zunächst bestimmt von einem ostinaten, gedämpften 5/4tel-Rhythmus, über dem sich eine Englischhorn-Melodie im 4/4tel-Takt entfaltet, was ein rhythmisches „Oszillieren“ zur Folge hat. Barber erläuterte später annährend programmatisch, dass hier eine „einsame volksliedartige Melodie vor einem Hintergrund von Streicherwolken“ erklingt, „man könnte es einen nächtlichen Soloflug“ nennen. Tatsächlich sollte Barber nach Revision der gesamten Sinfonie diesen Mittelsatz als Einzelwerk unter dem Titel „Nachtflug“ op. 19a herausgeben.
Nach einer musikalischen Steigerung in den Streichern setzt unvermittelt die Es-Klarinette mit einer Art „Morsecode“ ein. Bei der Uraufführung hatte Barber an dieser Stelle ein eigens von den Bell Laboratories entwickeltes Zielfluggerät eingebaut, das bei Nacht- oder Blindflügen zum Einsatz kam, um den Piloten akustisch den Kurs zu signalisieren. Nach der Überarbeitung der Sinfonie im Jahr 1947 übernahm die EsKlarinette den Part des Zielfluggerätes. Dieser akustische Leitstrahl zieht sich im weiteren Verlauf des Satzes durch die gesamte Partitur, bis zwei gedämpfte Trompeten schließlich den Satz sowie die akustische Landebefeuerung ausklingen lassen.
Presto und im freien Rhythmus präsentiert sich der Finalsatz. Die thematische Streicherfigur scheint sich im trudelnden Freifall zu befinden, der immer wieder durch Einwürfe von den Blechbläsern unterbrochen wird. Es folgt eine Reihe von Variationen und ein kurzes Fugato über einem ostinaten „Walking Bass“, der sich im Verlauf der Variationen durch das gesamte Orchester zieht. Nach einem erneuten Aufgreifen des anfänglichen Streicherthemas wird die Sinfonie zu ihrem glanzvollen Ende gebracht.
„Und so, wach im Herzen der Nacht wie ein Wächter, entdeckt er plötzlich, dass die Nacht den Menschen offenbart: diese Lichter, diese stummen Rufe, diese Unruhe. Der einzelne Stern dort
Die Uraufführung geriet zu einem allseitigen Erfolg. Serge Koussevitzky erklärte gegenüber General Yount, einem Befehlshaber der US Army Force und Mitinitiator der Sinfonie: „Nur ein genialer Mensch konnte seinen Auftrag so brilliant erfüllen, die Seelen von tausenden von Zuhörern so rühren und die Mission unserer fliegenden Helden so sehr zum Leben erwecken.“ Auch Barber erinnert sich gleichermaßen zufrieden und amüsiert an die Uraufführung, nach der ihn die Gattin eines Generals gefragt haben soll: „Sagen Sie, Corporal, haben Sie das Schreiben von Sinfonien in der Air Force gelernt oder hatten Sie schon etwas mit Musik zu tun, bevor sie der Armee beitraten?“
Trotz der Revision seiner Sinfonie 1947
und einer Einspielung auf Schallplatte 1951 blieb das Werk in den Folgejahren jedoch eigenartig resonanzlos. Barber führte dies auf den unmittelbaren Zusammenhang mit der Air Force zurück und auf die Tatsache, dass er sie nicht nur im Auftrag sondern unter Druck geschrieben habe. In einer Kurzschlusshandlung und nach einigen Gläsern Sekt bei seinem Verlagshaus Schirmer beschloss Barber, die Sinfonie nicht nur zurückzuziehen, sondern sie zu vernichten. Glücklicherweise konnte Barber nicht aller Kopien mehr habhaft werden, sodass die Sinfonie das Autodafé überstand und heute als das wahrgenommen werden kann, was sie tatsächlich ist: eine der zukunftsweisendsten Kompositionen Samuel Barbers.

Leonard Bernstein: Divertimento
Als der junge Leonard Bernstein 1940 erfuhr, dass Serge Koussevitzky einen Dirigierlehrstuhl in Massachusetts einzurichten beabsichtigte, schrieb er sofort an Koussevitzkys Assistenten – ein Empfehlungsschreiben von Aaron Copland legte er bei –, dass er unbedingt bei den ersten Dirigierschülern sein wolle. Koussevitzky sagte zu und so begann eine langjährige Lehrer-Schüler-, Mentor-Protegée-, ja beinahe VaterSohn-Beziehung, die bis zu Koussevitzkys Tod 1951 ungebrochen fortbestand – und darüber hinaus, denn Bernsteins Verbundenheit zu Koussevitzkys Orchester, den Bostoner Sinfonikern, hielt weiter an. 1980 feierte das Boston Symphony Orchestra sein 100-jähriges Bestehen und bat Bernstein um eine Komposition zu diesem Anlass. Bernstein sagte gerne zu, sollte doch sein Divertimento Ausdruck seiner großen Liebe zu diesem Orchester und ein Werk voller Erinnerungen an Boston, die Stadt seiner Jugend, werden.
Die acht Miniaturen, aus denen das Divertimento besteht, basieren thematisch alle auf genau zwei Tönen: B – für Boston und C – für „Centennial“ („Hundertjahrfeier“), wobei B in der angloamerikanischen Nomenklatur unserer Notenbezeichnung H entspricht.
Aus diesen kleinsten musikalischen Bausteinen – zwei Noten – speist sich das gesamte thematische Material des Divertimentos. Inhaltlich ist das Werk gespickt mit Erinnerungen, Anspielungen und musikalischen Scherzen, die im Zusammenhang mit dem Boston Symphony Orchestra, aber auch mit Serge Koussevitzky und schließlich mit Bernstein selbst stehen.
Als ihn der Auftrag ereilte, hatte Bernstein zunächst nur an eine fanfarenhafte Introduktion gedacht, denn eigentlich befand er sich in einer schöpferischen Pause, doch einmal begonnen, weitete sich die Komposition dann doch noch zu acht kleinen Sätzen aus, die pünktlich am Vorabend des Festkonzertes, das am 25. September 1980 stattfand, fertiggestellt waren.
Den Auftakt dieses launigen Werkes bilden „Sennets and Tuckets“ – wörtlich übersetzt Sonaten und Toccaten – ein Shakespeare-Theaterausdruck für Fanfaren anlässlich des Auftritts einer hochgestellten Persönlichkeit. Neben dem kurzen B-(bzw. H)C-Motiv hat Bernstein bereits in dieser ersten Miniatur ein musikalisches Zitat versteckt, eine Anspielung auf Igor Strawinskys „Dumbarton Oaks“-Konzert.
Tänzerisch geht es weiter. Die folgenden Sätze Walzer und Mazurka sowie die siebente Miniatur, Blues, sind jeweils einzelnen Instrumentengruppen des Orchesters gewidmet. Bei dem Walzer (Waltz) handelt es sich um ein reines Streicherstück. Es mutet harmlos leichtfüßig an, doch ist dieser Walzer im 7/8tel-Takt gehalten, in dem aus schlichter Leichtfüßigkeit schnell ein augenzwinkernder Stolperstein werden kann. Gleichzeitig stellt dieser 7/8telWalzer eine Anspielung auf den 5/4telWalzer in Pjotr Tschaikowskijs Sinfonie Nr. 6 („Pathétique“) dar, der eines der Lieblingsstücke Koussevitzkys war.
In der Mazurka, die, mit Ausnahme der begleitenden Harfe, den Doppelrohrblatt-Holzbläsern (Oboen, Englischhorn, Fagotte und Kontrafagott) vorbehalten ist, schlägt Bernstein einen eher nachdenklichen Ton an. Dennoch erzeugte die Mazurka bei der ersten Probe mit den Bostoner Sinfonikern große Heiterkeit, als diese, sozusagen als „Kuckucksei“, inmitten der Komposition die Kadenz wiedererkannten, die Ludwig van Beethoven für seine Fünfte Sinfonie geschrieben hatte.
In der temperamentvollen Samba trumpft das Schlagwerk auf – und Bernstein selbst. Innerhalb kürzester Zeit fühlt man sich in die musikalische Welt von „On the town“, der „West Side Story“ oder „Candide“ zurückversetzt.
Der „Turkey Trot“ spielt auf den beliebten amerikanischen Volkslauf an, der im gesamten Land um die ThanksgivingTage Menschen auf die Straßen bringt, die, teils in aberwitzigen Verkleidungen, einen Langstreckenlauf absolvieren, bei dem nur entscheidend ist, irgendwie anzukommen. Das eine oder andere Glas Alkohol mag bei dieser Veranstaltung auch im Spiel sein, denn dieser Tanzsatz steht rhythmisch auf äußerst unsteten Beinen. Sphinxes ist die kürzeste der acht Miniaturen, basiert auf einer Zwölftonreihe, bleibt bewusst rätselhaft und entspricht so dem Titel. Nahtlos geht Sphinxes über in den Blues, der erneut eine bestimmte Instrumentengruppe in den Fokus nimmt, diesmal die Blechbläser und das Schlagwerk. Auch hier scheint Bernstein sich selbst zu zitieren, bzw. sein „Prelude, Fugue and Riffs“. Der Schlusssatz trägt den zweiteiligen Titel In Memoriam; March: „The BSO Forever“. Ebenso zweigeteilt präsentiert sich auch das Stück selbst. Der Andanteteil „In Memoriam“ ist all jenen „Dirigenten und Mitgliedern des Boston Symphony Orchestra, die nicht mehr unter uns weilen“ gewidmet; eine stille, nachdenkliche Meditation. Umso größer ist der Gegensatz zum anschließenden „The BSO forever“. Denn nun folgt ein Triumphmarsch, der vor nichts zurückschreckt, nicht vor Anklängen an den Radetzky-Marsch oder Stars and
Stripes forever, auch nicht vor der Anweisung an die Posaunen, ihre Trichter in die Höhe zu halten – und der damit verbundenen Anspielung an Mahlers Dritte Sinfonie.
Bernstein widmete das Divertimento dem Boston Symphony Orchestra, seiner Mutter und der Stadt Boston, seiner alten Heimatstadt.

Vorschau
5. Philharmonisches Konzert
„Musik ist die gemeinsame Sprache der Menschheit. Sie verbindet uns und lässt uns gemeinsam fühlen und träumen.“
Leonard Bernstein
Zoltán Kodály
Tänze aus Galánta
Franz Liszt
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 A-Dur
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 Es-Dur
Béla Bartók
Tanz-Suite
Solist: Dominic Chamot, Klavier
Philharmonisches Orchester Vorpommern
Dirigent: GMD Florian Csizmadia
Öffentliche Generalprobe
Mo 24.02.2025, 19.00 Uhr Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal
Konzerte
Di 25.02.2025, 19.30 Uhr Greifswald: Stadthalle / Kaisersaal
Mi 26. & Do 27.02.2025, 19.30 Uhr Stralsund: Großes Haus
Impressum
Herausgeber: Theater Vorpommern GmbH
Stralsund – Greifswald – Putbus
Spielzeit 2024/25
Geschäftsführung: André Kretzschmar
Textnachweise:
Redaktion: Katja Pfeifer
Gestaltung: Wenzel Pawlitzky
1. Auflage: 500
Druck: Flyeralarm www.theater-vorpommern.de
Bei den Texten handelt es sich um Originalbeiträge von Katja Pfeifer für dieses Heft unter der Verwendung von u. a. folgenden Quellen:
Tobias Glöcker: Vorwort zur Partitur des Kontrabasskonzertes von Serge Koussevitzky, München 2022
Moses Smith: Koussevitzky. New York 1947
Arthur Lourié: Sergei Koussevitzky and His Epoch. New York 1931
Peter Dickinson: Samuel Barber Remembered. A Centenary Tribute. Rochester 2010
Howard Pollack: Samuel Barber. His Life and Legacy. Urbana, Chicago, Springfield 2023
Allen Shawn: Leonard Bernstein: An American Musician. Yale 2014
Programmhefte der Uraufführungen von Samuel Barbers 2. Sinfonie, 1944 und Leonard Bernsteins Divertimento, 1980 mit dem Boston Symphony Orchestra https://www.bso.org/about/history/online-exhibits/koussevitzky-150
Antoine de Saint-Exupéry: Nachtflug. Frankfurt a. M. 1999
Bildnachweise:
Umschlagfoto: Peter van Heesen; S. 2: Dominik Wagner. Foto von Maria Frodl. S. 7: Serge Koussevitzky, um 1901, Library of Congress; S. 9: Serge Koussevitzky, um 1920-1950, Library of Congress; S. 10/11: Edward Hopper, Nighthawks, 1942, Art Institute of Chicago; S. 13: Samuel Barber und Serge Koussevitzky, 1943, Library of Congress; S. 16: Keith Haring: Ohne Titel, 1980, S. 19: Heinz Weissenstein: Leonard Bernstein, Serge Koussevitzky und Lukas Foss, Tanglewood 1948, Library of Congress
Das Theater Vorpommern wird getragen durch die Hansestadt Stralsund, die Universitäts- und Hansestadt Greifswald und den Landkreis Vorpommern-Rügen
Es wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und EU-Angelegenheiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
„Wenn man ein Orchester leiten will, muss man der Menge den Rücken zukehren.“ Serge Koussevitzky
Theater Vorpommern
Stralsund – Greifswald – Putbus www.theater-vorpommern.de