„ Auf Grund der aktuellen klimatischen, globalen Lage ist es nötig neue Perspektiven einzunehmen, sich mit den schmutzigen Dingen auseinanderzusetzen, Fürsorge zu leisten und Vorstöße zu wagen, auch mit dem Wissen zu scheitern und morgen wieder von Neuem zu starten.“
MARMELADE AUF DEM HEMD

PLURAL REALITIES
WS 2022/23, FAKULTÄT ARCHITEKTUR
TECHNISCHE HOCHSCHULE NÜRNBERG GSO
LUISA SAMFAß
Marmelade auf dem Hemd. Haare auf dem Boden. Verbranntes Erdöl in der Luft. Exkremente auf dem Grünstreifen. Fingernägel im Waschbecken. Auf dem Brot war die Marmelade eben noch süß und lecker. Die Haare auf dem Kopf waren gerade noch gestylt zu einem Pferdeschwanz. Das Erdöl war vor einem Monat noch unter der Erdkruste. Das Hundefutter war vor 3 Stunden noch in dem Ton Napf und die Fingernägel an meinem Finger. Jetzt aber ist alles Dreck, entstanden durch eine räumliche und zeitliche Transformation von Dingen.
Schmutz ist aber nicht einfach Schmutz, er ist definiert durch Ideen, Normen und Regeln, die von Gesellschaft und Kultur geschaffen werden und unser Verständnis und Verhalten in Bezug auf bestimmte Phänomene beeinflusst. Geschaffen durch gesellschaftliche Interaktionen und Übereinkünfte, formulieren sie eine Erwartungshaltung an das Individuum und an die Gesellschaft.1 Dreck ist also neben vielem Weiteren eine Kategorie für Materie nicht festgelegt durch Form oder Farbe, sondern durch ein soziales Konstrukt.
Dieses Konstrukt formt die Architektur, prägt das menschliche Verhalten bis ins kleinste Detail und beeinflusst die Beziehung zwischen Menschen zueinander. 2 Durch die Klassifizierung von Dreck als etwas Negatives und Unordentliches werden wir sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene durch ein komplexes und oft widersprüchliches Geflecht wissenschaftlicher und kultureller, rationaler und emotionaler, physiologischer und psychologischer Anreize dazu getrieben, Schmutz zu beseitigen, fernzuhalten und nach Möglichkeit zu vermeiden. 3 So gibt das gesellschaftliche Konstrukt nicht nur die Definition von Schmutz vor, sondern verbindet mit ihr auch sogleich eine Handlungsanweisung - die Reinigung.
Die Anthropologin Mary Douglas 4 definiert Schmutz im engl. „dirt“ als „matter out of place“ 5 übersetzt als „Materie am falschen Platz“. Ihre Formulierung macht deutlich, dass Materie durch die Art und Weise, wie sie in Beziehung zu anderen Dingen steht und in welchem bestimmten Kontext sie platziert ist, zu Dreck wird. Auch argumentiert sie, dass Sauberkeit und Verunreinigung, Verschmutzung und Verbote Teil eines Klassifizierungssystems sind. Sie erweitert die Überlegungen von Schmutz durch die Betrachtung des Adjektivs schmutzig. Schmutzige Dinge, so argumentiert sie, sind solche, die etablierte Grenzen der Ordnung überschreiten und gesellschaftliche Nor -
1 vgl. https://www.hsu-hh.de [Normen] 2023.01.23
2 vgl. Campkin, 2007, S.4, Übersetzt aus dem Englischen
3 vgl. Campkin, 2007, S.2-4, Übersetzt aus dem Englischen
4 vgl. https//link.springer.com [Mary Douglas] 2023.01.23
5 Douglas, 1966, S.36
men durcheinanderbringen. 6
Das geologische Zeitalter des Anthropozäns ist ein Zeitalter des Mülls, des Abfalls, der Schadstoffe und des Drecks. Wir stecken wortwörtlich im Dreck und der Dreck von Mikroplastik bis zu Insektiziden, steckt in uns.7 Er ist Teil unserer gebauten Umgebung. Infrastrukturen werden erschaffen, um ‚matter out of place‘ an einen neuen, scheinbar richtigen Platz zu verlagern: in Mülltonnen, auf Müllkippen, in Kläranlagen, in Waschräumen 8. Auch in der Planung von Gebäuden spielt Dreck eine Rolle, Abwasserleitungen werden versteckt, Reinigungsgänge werden eingeplant, Abläufe von öffentlich zu privat, von dreckig zu sauber werden etabliert. So durchschreite ich bei Betreten eines Gebäudes immer erst einen Eingangsbereich mit dem nahezu festen Bestandteil eines Fußabstreifers, um anschließend über einen Flur einzutreten und ein Zimmer aufzusuchen. Der Ablauf des Betretens von dreckig zu „sauber“ spiegelt unsere Wahrnehmung wieder, denn eigentlich ändert sich nur die Form des Drecks von öffentlichem Dreck zu privatem Dreck. Wie dreckig wir etwas empfinden, hat Einfluss auf unser Verhalten und am wohlsten fühlen wir uns daheim in unserem eigenen Dreck. Er suggeriert ebenfalls Identität, so riechen für einen selbst die Häuser anderer Leute fremd, weil sie nicht wie zu Hause riechen. 9 Mit Dreck stecken wir also Territorien ab, sei es als Individuum das WG-Zimmer oder als Gesellschaft ganze Viertel und Städte.
In der architektonischen Ausformulierung von Stadtquartieren spielt Dreck ebenfalls eine Rolle. Viertel werden teuer revitalisiert, die Häuser saniert und befreit von schief hängenden Balkonen und abplatzenden Fassaden. Diese Art von Reinigung verlässt die materielle Ebene an dem Punkt, an dem frei von Dreck zu Wohnen mehr kostet. Mieten sowie Eigentumswerte der Wohnungen und Häuser steigen an und einkommensschwächere Haushalte werden durch wohlhabendere Haushalte verdrängt. Dies passiert häufig im Rahmen einer Gentrifizierung.10 Dreck bleibt also nicht materiell, sondern wird zum politischen und ökonomischen Machtmittel, um soziale Struktur in Quartieren auf dreckige Art und Weise zu entwickeln.
Auch bei Lohnarbeiten mit Dreck kann man eine Verbindung zu sozialen Strukturen erkennen. Menschen werden in Bezug auf ihre Nähe zum Schmutz eingeordnet, sowohl in Bezug auf die wahrgenommene persönliche Verschmutzung als auch auf die Verantwortung für die Beseitigung von Schmutz aus unserer Umwelt. Der Umgang
6 vgl. Campkin, 2007, S.4, Übersetzt aus dem Englischen
7 vgl. Frichot, 2019, S.25, Übersetzt aus dem Englischen
8 vgl. Frichot, 2019, S.37, Übersetzt aus dem Englischen
9 vgl. Frichot, 2019, S.14, Übersetzt aus dem Englischen
10 https://www.bpb.de [Gentrifizierung] 2023.01.23
mit physischem Schmutz ist sowohl alltäglich als auch unordentlich. Das Entfernen von Schmutz als Arbeit geht häufig mit der Marginalisierung von ethnischen Gruppen, sozialen Schichten und Geschlecht einher. Die Fähigkeit des Schmutzes, als ein Mittel der sozialen Klassifizierung zu fungieren, zeigt sich sehr anschaulich in der Organisation der bezahlten Hausarbeit.11 Die Bezahlung von Personen, meist Frauen 12, für die Beseitigung der intimsten Verschmutzungen, macht deutlich, dass Reinheit als Mittel dienen kann, um bestimmte Gruppen von Menschen zu privilegieren, wiederum andere zu diskriminieren.
In der materiellen, sozialen, politischen Verflechtung gibt es mehr und weniger profanen Schmutz, es gibt Schmutz, der symbolisch zugeordnet ist, und es gibt Schmutz, den wir nicht immer selbst beseitigen. Zwischen dem Symbolischen, dem Semiotischen und dem Materiellen gibt es Beziehungen, die verbunden sind, die aneinanderkleben, Spuren und Flecken hinterlassen.13 Das Konstrukt Schmutz durchdringt alle Bereiche unseres Lebens, geht wirre Verbindungen ein und schottet sich nicht ab. Es steht symbolisch für Normen und Ordnung, die gebrochen wurden.
In dem Buch ‚dirty theory: troubling architecture‘ beschreibt die Architekturtheoretikerin und Philosophin Hélène Frichot wie sich die ‚dirty theory‘ und die ‚dirty theorists‘ gegenüber Schmutz verhalten. Sie fordert dazu auf, unseren Ekel gegenüber Dreck zu überwinden und anzufangen, mit Schmutz zu arbeiten. Die ‚dirty theory‘ ist eine Erinnerung daran, dass Theorien zu nichts gut sind, wenn sie nicht mit dem Dreck der alltäglichen Beziehungen und Orte verbunden sind. Denn nur durch das Brechen von gesellschaftlichen Normen, das kreuz und quer denken, das ungeordnete Sammeln, das schusslig sein, das unkonventionelle Herangehen, das Ertasten und Versuchen schafft man es, neue Verknüpfungen zu schließen. Im besten Fall, so schreibt sie, können neue Formen des Miteinanders gefunden werden, die über die menschlichen Beziehungen hinaus gehen.14 Denn die ‚dirty theory‘ befindet sich genau wie der Schmutz an disziplinären Grenzen.15 Das Versprechen, eine ‚dirty theory‘ zu entwickeln, zielt darauf ab, genau das zu ermöglichen: Reorganisationen, bei denen der Rand zum Zentrum wird.16 Um jedoch neue Verknüpfungen und Beziehungen zu bilden, müssen wir uns als ‚dirty theorist‘ genau an diesen Rändern der Disziplinen bewegen.17 Wir müssen anfangen uns zu kümmern nicht nur des Schmutzes wegen, sondern der Verbindungen
11 vgl. Campkin, 2007, S.5-6, Übersetzt aus dem Englischen
12 vgl. International labour Office, S.55-90, Übersetzt aus dem Englischen
13 vgl. Frichot, 2019, S.45, Übersetzt aus dem Englischen
14 vgl. Frichot, 2019, S.5-12, Übersetzt aus dem Englischen
15 vgl. Frichot, 2019, S.31, Übersetzt aus dem Englischen
16 vgl. Frichot, 2019, S.53, Übersetzt aus dem Englischen
17 vgl. Frichot, 2019, S.6, Übersetzt aus dem Englischen
wegen, die er eingeht. Während Formen der Fürsorge identifiziert, erforscht und konkret empirisch verstanden werden können, bleibt sie in ihrer Bedeutung und Ontologie ambivalent. Diese Tragweite zu erfassen ist von entscheidender Bedeutung, denn es ist unbestreitbar geworden, dass die Lebensgrundlage und Schicksale so vieler Arten und Entitäten auf diesem Planeten unweigerlich miteinander verbunden sind.18 Eins dieser Bindeglieder sind schmutzige Dinge in jeglichen Ausformulierungen. Auf Grund der aktuellen klimatischen, globalen Lage ist es nötig neue Perspektiven einzunehmen, sich mit den schmutzigen Dingen auseinanderzusetzen, Fürsorge zu leisten und Vorstöße zu wagen, auch mit dem Wissen zu scheitern und morgen wieder von Neuem zu starten.
Das Projekt ‚Fitting‘ von Prof. Dr.in Gabu Heindl und Willi Dorner ist aus Anlass der immer zunehmenden Einschränkung der Nutzung des öffentlichen Raumes entstanden. Die unmenschlichen städtischen Strukturen werden als Landschaft und als bebaubare Formationen verstanden. Die performative Intervention setzt genau dort an. Dabei verwenden sie als Grundelement ein Holzbrett, ein Teil eines Hauses, das zum Bauen von Abtrennungen genutzt wird.19 Durch das Platzieren des Bretts zwischen Geländer und Wand im halböffentlichen und öffentlichen Bereich entsteht ein neuer Raum. Genau in diesen Zwischenraum klemmen sich die Performer*innen . Betrachtet man das Projekt aus der Perspektive der ‚dirty theory‘ beschreibt der Umgang mit Raum die eines ‚dirty theorist‘. Weiche Körper pressen sich gegen harte, dreckige Fassaden. Sogar das Gesicht als intimstes Körperteil ist ungeschützt gegen den rauen Putz gerichtet. Menschliche Körper stehen, sitzen oder laufen normalerweise die Position des starr auskragenden Körpers und die des überkopf gekrümmten erscheint jedoch deplatziert im Raum. Mit ihrer Intervention überschreiten sie Grenzen, platzieren ihre eigene Materie neu und nehmen eine bisher unbekannte Perspektive ein. Ohne Hemmung kleben sie wie Dreck an der Fassade, stören die uns bekannte Ordnung und hinterfragt damit ihre Funktion. Der Mensch ist sich seiner eigenen Architektur zu wider.
Was zählt, sind die Versuche, sich mit Dreck und den schmutzigen Dingen auf unterschiedlichsten Ebenen zu beschäftigen, sich zu lösen von gesellschaftlichen Normen, um neue Strukturen zu entwickeln, Verflechtungen nachzugehen und sich immer an den Grenzen der Disziplinen zu bewegen. Menschen, die an Fassaden hängen. Menschen, die sich auf Straßen kleben. Menschen, die auf Autos sitzen. Menschen, die von Ampeln hängen.
18 vgl. Puig de la Bellacasa, S.9, Übersetzt aus dem Englischen
19 vgl. http://www.gabuheindl.at [Projekt: ‚Fitting‘] 2023.01.23
“ Fitting“ , Wien, Paris, Graz, uvm., 2011-2013
http://www.gabuheindl.at [Projekt: ‚Fitting‘] 2023.01.23

Abb.2:Prof. Dr.in Gabu Heindl; Willi Dorner.
“ Fitting“ , Wien, Paris, Graz, uvm., 2011-2013
http://www.gabuheindl.at [Projekt: ‚Fitting‘] 2023.01.23

Bibliografie
Ben Campkin; Rosie Cox: Dirt. new geographies of cleanliness and contamination. London: I.B. Rauris & Co Ltd, 2007; S.4-6
Hélène Frichot: Dirty Theory: Troubling Architecture.Baunach: Spurbuchverlag,2019, S.5-53
International Labour Office: Women and Men in the Informal Economy: A Statistical Picture. Geneva: International Labour Office, 2013, S.55-90
Mary Douglas: purity and danger. an analaysis of concepts of pollution and taboo. New York: Routledge & Kegan Paul Ltd, 1966, S.36
Maria Puig de la Bellacasa: Maters of care. Speculative Ethics in More than human worlds. Minneapolis: university of Minnesota Press, 2017, S.9
https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-531-92056-6_13 [Mary Douglas] <2023.01.23>
https://www.bpb.de/themen/stadt-land/stadt-und-gesellschaft/216871/gentrifizierung-ursachen-formen-und-folgen/#node-content-title-1 [Gentrifizierung] <2023.01.23>
http://www.gabuheindl.at/de/uebersicht/oeffentlicher-raum/fitting. html [Projekt: ‚Fitting‘] <2023.01.23>
https://www.hsu-hh.de/soziale-normen [Normen] <2023.01.23>
Weiterführende Literatur
Donna J.Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. aus dem Englischen von Karin Harrasser. Frankfurt am Main: Campus Verlag GmbH, 2018
Abb. Titelbild: https://www.pinterest.de/pin/491033165611961125/ <20 23.01.23>
Abb. 1-2: Prof. Dr.in Gabu Heindl; Willi Dorner. “ Fitting“, http:// www.gabuheindl.at/de/uebersicht/oeffentlicher-raum/fitting. html <2023.01.23>