Das Kleine Pilz-Manifest - Diana Dinkel

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„Sie sind nicht nur bloße Organismen, sondern mächtige Partner, die den Schlüssel für die Existenz der menschlichen Zivilisation in sich tragen. Sie sind das Rückgrat unserer Vergangenheit, die Säulen unserer Gegenwart und das Versprechen für unsere Zukunft. “

DAS KLEINE PILZ-MANIFEST

PLURAL REALITIES

WS 2022/23, FAKULTÄT ARCHITEKTUR TECHNISCHE HOCHSCHULE NÜRNBERG GSO

DIANA DINKEL

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Wenn wir uns über die Anthropologie, die „Wissenschaft des Menschen” 1, unterhalten, ist es relevant das zeitliche Vorkommen des Homo Sapiens in der Erdgeschichte, die 4,5 Milliarden Jahre umfasst, zu begreifen. Wenn diese mit 24 Stunden gleichsetzt werden, vergehen in einer Sekunde drei Millionen Jahre. In rasendem Tempo entstehen und vergehen dann Ökosysteme sowie die Arten, die Teil davon waren. Das Massensterben, dem die Flugsaurier, Plesiosaurier und alle Nichtvogeldinosaurier zum Opfer fallen, findet in diesem Beispiel genau 21 Sekunden vor dem Ende statt. Die aus Schriftquellen erschlossene Menschheitsgeschichte beginnt erst in den letzten zwei Tausendsteln einer Sekunde. 2 Dies verdeutlicht, dass die Menschen erst sehr kurze Zeit in der Erdgeschichte vorkommen, anders als in unserer subjektiven Wahrnehmung, in der ca. 2000 Jahre eine sehr lange Zeit bedeuten. Bei den aktuellen Ereignissen wie dem Artensterben, den Wetterextremen und dem zu frühen Ausschöpfen der Erdressourcen ist es eine Notwendigkeit sich mit dem Einfluss des Menschen auf die Umwelt auseinander zu setzen. Jakob Johann von Uexküll hat 1909 in seinem Buch Umwelt und Innenwelt der Tiere , den zuvor kaum alltagssprachlich geläufigen Begriff Umwelt terminologisch eingeführt. Nach ihm hat jedes Lebewesen seine eigene Umwelt, die es aktiv gestaltet. 3 2018 spricht Umweltwissenschaftler Erle C. Ellis in Anthropozän das Zeitalter des Menschen - eine Einführung von sogenannten „Ökosystemingenieuren“ 4, die ihre Umwelt darüber hinaus beeinflussen. Menschen sind die ultimativen Ökosystemingenieure. Keine andere Spezies hat das Vermögen für ein so breites Spektrum an effizienten Vorgehensweisen zur Veränderung der Umwelt entwickelt – von der Rodung mit Feuer, über die Domestizierung anderer Arten bis hin zur Kultivierung von Anbauflächen. Die außergewöhnliche Fähigkeit, sich seine eigene ökologische Nische zu schaffen, ermöglicht es der menschlichen Bevölkerung sich außerhalb der natürlichen Umweltbedingungen zu entwickeln. Dies wird als ein Grund gesehen für den Übergang in das, von Geologen so bezeichnete, Anthropozän. 5 Laut ihnen definiert sich das Anthropozän als eine Epoche, „in der die Störungen des Menschen alle anderen geologischen Kräfte übersteigen”. 6

Die Umwelt zu gestalten und darüber hinaus zu verändern wird auch als welterzeugend bezeichnet. Diese Fähigkeit ist nicht alleine der menschlichen Population vorenthalten. Biber verändern beispielsweise Bäche, indem sie Dämme und Kanäle erstellen. Anna Tsing macht darauf aufmerksam, dass welterzeugende Bestrebungen aus der Praxis des Lebens entstehen und diese unseren Planeten verändern und formen. Ohne das Schaffen eines individuellen und funktionierenden Lebensumfeldes, dem Verändern des Bodens, der Luft und des Wasser würden viele Organismen schlichtweg aussterben. Bakterien haben un -

(1) https://lexikon.stangl.eu <03.01.2023> [Anthropologie – Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik.] 03.01.2023

(2) vgl.Halliday, 2022, S.12

(3) vgl. https://www.bionity.com <03.01.2023> [Jakob Johann von Uexküll Definition Umwelt] 03.01.2023

(4) Ellis, 2020, S. 108

(5) vgl. Ellis, 2020, S. 108-109

(6) Tsing, 2020, S. 34

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sere Sauerstoffatmosphäre geschaffen und Pflanzen helfen sie aufrechtzuerhalten. Pflanzen können an Land überleben, weil Pilze den Boden für sie bereiten, indem sie Gestein zersetzten. 7 „Wie diese Beispiele darlegen, können sich welterzeugende Bestrebungen überlappen und Raum für mehr als nur eine Art bieten.” 8, meint Tsing in ihrem Buch Der Pilz am Ende der Welt . Im Grunde genommen ist das Ziel ein gemeinschaftliches Überleben, dabei gilt es herauszufinden, welchen Beitrag die menschliche Population leisten muss bzw. kann. Der Anstoß eines radikalen Umdenkens der Menschheit ist von Nöten, welches vielseitig interpretiert werden kann. Es zielt jedoch vor allem drauf ab, dass der Wille besteht neue Denkansätze zu verfolgen. Dazu gehört auch sich von anthropologischen Definitionen und Sichtweisen zu lösen und die Perspektive anderer Arten einzunehmen, beispielsweise von Pilzen.

Pilze sind eine unterschätze Spezies, sie sind jedoch dafür verantwortlich, dass aus dem blauen Planeten Erde ein grüner wurde. Sie sind weder Pflanzen noch Tiere und es gibt 4-6 Mio. Arten auf der Erde. Pilze haben alle fünf großen Aussterbeereignisse auf der Erde überstanden, bei denen jeweils 75-90% aller Arten ausgelöscht wurden. Beim Letzten schlug ein Meteorit ein, welcher das vorherige genannte Massensterben vieler Arten auslöste. Es wurden allerdings nicht nur die Dinosaurier ausgelöscht, sondern ebenfalls ein großer Teil der Wälder zerstört. Das tote Holz stellte eine passende Nahrungsquelle für viele Pilze dar, woraufhin deren Vorkommen enorm anstieg. 9 Der Pilz selbst ist nur der Fruchtkörper des eigentlichen Mycels, welches durch das Verzweigen und Verschmelzen von Pilz-Hyphen, fadenförmigen Zellen von Pilzen, die der Nährstoff- und Wasseraufnahme dienen, entsteht. 10 Mit Hilfe des Mycels konnte das Holz als Nahrungsquelle genutzt werden, denn Pilze betreiben weder Photosynthese, wie Pflanzen, noch führen sie die in der Umwelt gefunden Nahrung zu sich, um sie zu verdauen und zu resorbieren, wie Tiere und Menschen. Pilze “verdauen ihre Umwelt an Ort und Stelle und nehmen sie erst dann auf.” 11

Genauer erläutern lässt sich das anhand eines Experimentes von Paul Staments zusammen mit Battelle Laboratories. In dem besagten Experiment gab es vier Haufen durchsetzt mit Diesel und anderen Ölabfallprodukten. Der erste stellte den Kontrollhaufen dar, der zweite wurde mit Enzymen behandelt, der dritte mit Bakterien und der vierte mit Pilz-Mycelen. Das entsprechende Mycel war dazu fähig Öl zu absorbieren und Enzyme zu produzieren, welche Kohlenstoff-Wasserstoff-Bindungen (C m H n) zerstören, die wiederum Kohlenhydrate (C m(H2O) n) zusammenhalten. Nach sechs Wochen hatte das Mycel das komplette Öl aufgenommen. Außerdem wuchsen auf dem Haufen über Hundert Pfund Austernpilzen, denn die vom Mycel produzierten Enzyme konnten die Kohlenwasserstoffe in Kohlenhydrate, genauer

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vgl. Tsing, 2020, S. 38-39 Tsing, 2020, S. 36 vgl. Sheldrake, 2022, S. 272 vgl. https://www.pflanzenforschung.de <19.01.2023> [Pilz-Hyphen| 19.01.2023
Sheldrake, 2022, S. 81

gesagt Zucker, umwandeln und als Nahrungsquelle nutzen. Die Pilze hatten daraufhin Sporen gebildet, die Sporen hatten Insekten angezogen, die Insekten hatten Eier gelegt und aus den Eiern wurden Larven. Die Vögel kamen, haben Samen gebracht und aus dem verdrecktem Haufen wurde nach einiger Zeit eine kleine Lebensoase. 12

Vergleichbar ist dieses Experiment mit dem was nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945 passiert war. Das Ereignis ist in diesem Zusammenhang gerade relevant, weil es von Geologen auch als Golden Spike betitelt wird und den Beginn des Antropozäns darstellt. 13 Die Atombomben haben Spuren von Plutonium in der Umwelt hinterlassen. Ein radiotropher Pilz kann die abgegeben Energie dieser radioaktiven Teilchen als Energiequelle nutzen. Berichten zufolge waren die ersten Organismen, die in den Ruinen Hiroshimas wuchsen, Matsutake-Pilze 14, auch wenn diese Art nicht als radiotroph bekannt ist. Der Matsutake ist in Japan, aber beispielsweise auch in Oregon, USA, zu finden, wo die Holzindustrie Wälder gerodet, ausgenommen und Brachen zurückgelassen hat. Er trägt auch dort zur Regenerierung des Bodens bei und ist, im Gegensatz zu uns Menschen, ein postapokalyptischer Super-Performer. Er gehört damit zu den Arten der Erde, die dort wachsen, wo Tod und Zerstörung gewütet haben. Einige Forscher*Innen sehen auf Grundlage der Pilzvorkommen in z.B. Hiroshima das Potential Pilze zur Säuberung der Umwelt zu nutzen. Sie glauben daran, dass eine auf Pilzen basierenden Technologie der menschlichen Population dabei helfen kann mit einigen Umweltproblemen fertig zu werden. 15 Das entsprechende Fachgebiet im Bereich der Pilzforschung, der Mykologie, nennt sich Mykoremediation. In diesem Forschungsbereich gibt es jedoch auch einige Herausforderungen, denn wie alle Organismen müssen auch Pilze geeignete Bedingungen vorfinden um zu wachsen. Das vorher beschriebene Experiment und das Vorkommen des Matsutakes in den Ruinen Hiroshimas vermitteln zwar den Eindruck, dass Pilze es scheinbar mit allem aufnehmen können, doch die Pilzforschung steckt noch in den Kinderschuhen. Was feststeht ist jedoch, dass das Handeln der Menschheit auch die Umwelt von Pilzen beeinflusst hat und mit den Auswirkungen und der Verantwortung zu handeln muss sich befasst werden. 16

Pilze prägen die Zukunft unserer Erde schon mehreren Millionen Jahren. Sie sind im Laufe der Evolution auf eine Sache getrimmt worden - den Verzehr. Sie sind weltschaffende Ökosystemingenieure. Sie sind die Grundlage für eine Pflanzenvielfalt und einen biologisch fruchtbaren Boden. Sie sind essentiell in der Umwelt der Menschen und die Zukunft der Menschheit ist von ihnen abhängig.

Ob bewusst oder unbewusst, sie haben immer eine Rolle in den menschlichen Ernährung

(12) vgl. TED Conferences: Paul Stamets. 2008 <08.01.2023>

(13) vgl. https://www.yourdictionary.com <08.01.2023> [Golden Spike]

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vgl. Sheldrake, 2022, S. 272 vgl. Sheldrake, 2022, S. 22 vgl. Sheldrake, 2022, S. 275-278

gespielt. Seit Tausenden von Jahren zielen traditionelle Anbaumethoden in vielen Teilen der Welt auf gesunde Böden ab und fördern damit automatisch die Beziehungen der Pflanzen zu den Pilzen. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der Menschheit ihre Achtlosigkeit durch industrielle Landwirtschaftsmethoden zum Verhängnis, indem der Boden als mehr oder weniger unbelebt behandelt wurde. Dieses Handeln hatte zur Folge, dass Pilz-Mycele teilweise vernichtet wurden, obwohl sie im Grunde alle landwirtschaftlich erzeugten Nahrungsmittel beim Wachstum natürlich unterstützen hätten können. Das Eingreifen der Menschen und die daraus folgende Veränderung der Umwelt kann unvorhersehbare Folgen haben, die Einflüsse solcher Ereignisse summieren sich und greifen auf ganze Ökosysteme über. 17 Es erfordert ein gestärktes Bewusstsein dafür, dass die Mikrotransaktionen zwischen Pflanzenwurzeln und ihren Pilzpartnern durch Faktoren wie die steigende Konzentrationen des atmosphärischem Kohlendioxid, dem Klimawandel und der Umweltverschmutzung beeinflusst werden. Pflanzen und Pilze bilden eine innige Partnerschaft, sie sorgen für ein kollektives Gedeihen. Sie sind nicht nur bloße Organismen, sondern mächtige Partner, die den Schlüssel für die Existenz der menschlichen Zivilisation in sich tragen. Sie sind das Rückgrat unserer Vergangenheit, die Säulen unserer Gegenwart und das Versprechen für unsere Zukunft. Ohne sie würde das Leben, wie wir es kennen, aufhören zu existieren. Das rücksichtslose Handeln der Menschen fügt dieser lebenswichtigen Allianz Schaden zu. Die Kosten unserer Achtlosigkeit werden immer deutlicher und es ist höchste Zeit, dass wir erkennen, dass die Fortsetzung dieses Weges zu unserem eigenen Untergang führen wird. Es ist unerlässlich, sich der entscheidenden Rolle der Pilze bewusst zu werden. Wir müssen daran arbeiten diese symbiotische Beziehung zu erhalten und zu schützen, bevor es zu spät ist. So weiter zu machen wie bisher, können wir Menschen uns nicht leisten.

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(17) vgl. Sheldrake, 2022, S. 215-217
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REALITIES
KLEINE PILZ-MANIFEST DIANA DINKEL
PLURAL
DAS
ABB.1: OIL BEING ABSORBED BY MUSHROOM MYCELIUM https://paulstamets.com/mycorestoration/the-petroleum-problem <21.01.2023> ABB. 2: OYSTER MUSHROOMS PRODUCING ON OIL CONTAMINATED SOIL (1–2% = 10,000–20,000 ppm) We do not recommend eating food crops from contaminated soils. Photo credit: Susan Thomas. https://paulstamets.com/mycorestoration/the-petroleum-problem <21.01.2023>

ABB. 3: SOIL TOXICITY REDUCED IN 16 WEEKS TO LESS THAN ~ 200 PPM allowing for plants, worms and other species to inhabit whereas control piles remained toxic to plants and worms

https://paulstamets.com/mycorestoration/the-petroleum-problem <21.01.2023>

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REALITIES
KLEINE PILZ-MANIFEST
DINKEL
PLURAL
DAS
DIANA
Photo credit: Susan Thomas.

Ellis, Erle C.: Das Anthropozän - Das Zeitalter des Menschen. München: oekom Verlag, 2020

Halliday, Thomas: Urwelten. Eine Reise durch die ausgestorbenen Ökosysteme der Erdgeschichte. München: Carl Hanser Verlag, 2022

https://mylo-unleather.com <21.01.2023> [Titelbild]

https://paulstamets.com/mycorestoration/the-petroleum-problem <21.01.2023> [Abb. 1-3]

https://www.yourdictionary.com/golden-spike <08.01.2023> [Golden Spike]

https://lexikon.stangl.eu/2022/anthropologie. <03.01.2023> [Anthropologie – Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik.]

Sheldrake, Merlin: Verwobenes Leben. Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH, 2022

TED Conferences: Paul Stamets - 6 ways mushrooms can save the world. USA. 2008.

https://www.ted.com/talks/paul_stamets_6_ways_mushrooms_can_save_the_world. <08.01.2023>

Tsing, Anna Lowenhaupt: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Berlin: Matthes & Seitz Berlin, 2020

Weiterführende Literatur

Hathaway, Micheal J.: What a mushroom lives for: Matsutake and the worlds they make. Princeton: Princton University Press, 2022.

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Bibliographie
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