Der Vernetzte Atemzug - Özlem Yüce

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„und einatmen … ausatmen … einatmen … ausatmen ... Zuhören.“

DER VERNETZTE ATEMZUG

PLURAL REALITIES

WS 2022/23, FAKULTÄT ARCHITEKTUR

TECHNISCHE HOCHSCHULE NÜRNBERG GSO

ÖZLEM YÜCE

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Das Atmen – Der Mensch atmet konstant ein und aus, denn die Luft, die wir einatmen, ist das existenzielle Element, das jedes Lebewesen auf der Erde braucht. Wir verbinden uns somit mit der Atmosphäre, die uns Lebewesen und Nicht-Lebewesen umgibt. Somit zeigt sich auch, dass der Mensch mit seiner ganzen Umwelt verknüpft ist –allein schon durch das Atmen. Doch wieso versuchen Menschen der Moderne sich von dieser Umwelt abzugrenzen – gar sich hierarchisch wichtiger zu sehen – wenn doch alle in derselben Atmosphäre leben?

Nach der Ethnologin Amélie Schenk kennen Tuwiner, eine Nomadengruppe in der nordwestlichen Mongolei, den Begriff der Umwelt gar nicht. Für sie sei der Mensch ein Teil der Natur bzw. dieser „Umwelt“. Genauer definiert sei es eine „Mitwelt“, da für Mongolen alles miteinander verwandt sei. Die Naturgesetze seien maßgebend, denn sie folgen der „Kraft des Stärkeren“. (Kees, 2020) Der Mensch kann sich weder über die Natur noch gegen sie stellen. Es gibt die Natur mit ihren Gesetzen und dann gibt es alle Art der Lebewesen, die miteinander verbunden sind. Dies kennen auch die Fans der Filmreihe „Avatar“ von James Cameron. Die fiktiven Filme zeigen die komplexe Vernetzung, auch genannt „Eywa“, zwischen allen Lebewesen auf dem Planeten Pandora. Jede Art von Leben ist mit „Eywa“ verknüpft, auch untereinander, und vor ihr sind sie gleichgestellt. Nach ihrem Tod kehren sie zu „Eywa“ zurück und ihre Nachfahren können am Baum der Seelen, der heiligste Ort für die dort lebenden „Na‘vi“, die Erinnerungen ihrer Ahnen erhalten, die nun dort fortleben. (vgl. Trutt, 2018) Bei der Betrachtung dieser Beispiele fällt eine Gemeinsamkeit auf: die Verwobenheit aller Wesen auf der Welt. Der Zusammenhang zwischen den Beispielen ist ganz simpel: der Mensch kann sich von der vernetzten Umwelt nicht abwenden und das Atmen dient als eine Metapher, die darstellen soll, dass es auch in der Realität nicht anders abläuft.

Alle Lebewesen der Erde, inklusive Menschen, Tiere, Pflanzen und sogar einige Bakterien, brauchen Luft. „Luft einziehen und ausströmen lassen“, so lautet die Definition von „atmen“ im Duden. Und wer bestimmt, wer atmet und wer nicht atmet? Der Mensch atmet. Tiere atmen. Und wer hat die Macht zu definieren, dass man bei Pflanzen den Begriff des Atmens nicht verwenden darf?

Der Mensch atmet Luft durch die Nasenhöhlen oder die Mundhöhle ein und diese Luft strömt durch die Atemwege in die Lungen. Dort findet der Gasaustausch statt, bei dem Sauerstoff von dem Blut aufgenommen wird. Im Blutkreislauf gelangt er in die Zellen, woraufhin sie Kohlenstoffdioxid in das Blut abgeben. Somit wird diese chemische Verbindung von dort aus wieder über die Lunge und die Atemwege des Menschen in die Umgebungsluft ausgeatmet. So funktioniert das Atmen

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bei Menschen. (vgl. DRK)

Es ist klar, dass Pflanzen keine Nase oder keinen Mund haben, wo die Luft hineinströmen kann – jedoch funktioniert der Luftaustausch auch bei ihnen im Prinzip ähnlich. Über Spaltöffnungen der Epidermis, die sogenannten Stomata, tauschen Pflanzen „Wasser in Form von Dampf und Kohlenstoffdioxid sowie Sauerstoff mit der Atmosphäre aus“.

(Lexikon Pflanzenforschung) Sie nehmen also unter anderem Kohlenstoffdioxid ein, die zum Teil von anderen Lebewesen stammen, und geben nach der Photosynthese unter anderem Sauerstoff in die Atmosphäre ab, die wir Menschen ebenso zum Leben brauchen.

Dieser Vorgang allein schon zeigt, dass der Mensch sich von seiner Umgebung nicht vollständig entkoppeln kann. Wie kann man sich von der Umgebung trennen, wenn doch alle Lebewesen dieselbe Luft ein- und ausatmen?

Um die Verbundenheit Mensch-Natur deutlicher zu verstehen, muss man zunächst untersuchen, wie es in den Vorstellungen der zeitgenössischen Moderne zu einer Trennung kommen konnte. Nach Klaus K. Loenhart, dem Architekten des Expo Pavillons „Breathe“ in Mailand 2015, begann die Trennung der Natur mit dem „Dualismus der Moderne in seiner romantischen wie aufklärerischen Ausprägung“.

(Loenhart, 2021, S. 42)

Dass der Mensch sich als freies Wesen sah, begann schon während der Aufklärung. Auch nach Immanuel Kant hatte der Mensch seine eigene Natur. Der Mensch war jedoch das einzige Lebewesen, das frei denken und ein eigenes Bild machen konnte – alles andere an Lebewesen und Nicht-Lebewesen waren den Naturgesetzen unterworfen. Da der Mensch die Möglichkeit hat, frei zu denken und zu bestimmen, habe sie mehr Würde als der Rest der Umwelt. (vgl. Valpione) Bereits im 17. und 18. Jahrhundert mit dem Beginn der Industrialisierung und der fortschreitenden Wissenschaft fingen Menschen an, sich von der Natur zu entkoppeln. Man hatte die Vorstellung, Naturkatastrophen mit der Technik und Wissenschaft vermindern zu können. Als eine Gegenbewegung zu den aufklärerischen Gedanken ist die Romantik zu betrachten. Während die Aufklärung nach Lösungen und Selbstbestimmung strebte, sehnten sich die Menschen der Romantik nach Rätseln und Freiheit. Sie sahen die Natur als den Ort, an dem sie ihre Träume und Sehnsüchte ausleben konnten. Die Städte wurden durch die Industrialisierung immer voller, woraufhin die Menschen der Romantik sich von ihr immer mehr entfernten. Hiermit erkennt man auch das Dilemma. Der Mensch grenzt sich nicht nur von der Natur, sondern auch von seiner Umgebung stark ab. Die meisten Menschen neigen dazu, Probleme erst zu erkennen, wenn sie direkt davon betroffen sind.

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Die Wirklichkeit jedoch ist, dass alles auf der Welt verwoben miteinander ist. Auch für Loenhart dient die Luft „sowohl [als] Signifikant als auch Medium“, (Loenhart, 2021, S. 44) das Natur und Kultur verbindet, denn wenn man sich Gedanken über die zwei Begriffe macht, versteht man, dass Natur nicht gleich Natur ist. Es gibt kaum eine Sphäre, die der Mensch nicht berührt hat. Sei es durch eine direkte Berührung oder indirekte, verursacht durch Stoffe oder Chemikalien in der Luft, der Mensch hat seine Umwelt so weit beeinflusst, dass die Schwelle zwischen Kultur – also der Natur, die vom Menschen beeinflusst und geschaffen wurde – und Natur – der Natur, die nicht vom Menschen erzeugt wurde – kaum zu erkennen ist. Zu dem Thema des Atmosphärenbewusstseins hebt Loenhart die Aussage von dem französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty hervor: „Nichts bestimmt mich von außen, doch nicht, weil nichts mich in Anspruch nähme, sondern im Gegenteil, weil ich je schon außer mir und in der Welt erschlossen bin.“. (Loenhart, 2021, S. 47) Und trotz all dem versuchte man, sich von einer Realität zu trennen, die von Natur aus nicht zu trennen ist.

Luft ist ein Beispiel dafür, das das menschliche Handeln stets seine Konsequenzen hat. Luftverschmutzung, Klimakrise oder Pandemie – es sind Themen, die den Menschen direkt betreffen und mit denen er noch Jahre zu kämpfen haben wird.

Das Atmen in der Luft …

Allein die letzten drei Jahre schon waren eine große Lehre für die Menschheit – soziale Distanzen, Kontaktsperre und Masken. Was wurde während dieser Zeit am meisten vermisst? Ist es die Nähe zu seinen geliebten Menschen, mit denen man sich nicht treffen durfte? Sind es die Arbeits- und Bildungsstätten, die man zum Teil nicht besuchen durfte? Oder ist es auch die Luft, in der man ohne Maske nicht mehr atmen durfte? Die Ausbreitung der Pandemie konnte man auch nicht durch das Tragen der Masken vollständig verhindern. Schweinegrippe, Vogelgrippe oder Influenza ebenso nicht … Doch was bedeutet das für den Menschen? Es ist der vernetzte Atemzug. Nach Jakob Johann Baron von Uexküll, der 1909 schon den Begriff der Umwelt prägte, haben alle Lebewesen der Welt ihre „eigene Umwelt“. Jedes Tier, inklusive der Mensch, erfährt nur das, was er mit seinen eigenen Sinnesorganen wahrnimmt. (vgl. Meichsner)

Und mit den vorher genannten Beispielen kann man erkennen, dass diese „Umwelten“ mittels Atmen schon miteinander stets verschmilzt – nur wenn etwas Schlimmes passiert, wird man darauf direkt aufmerksam.

Doch wie schafft man es, darüber hinaus zu denken? Diese Folgen der menschlichen Ignoranz haben einen einzigen Vorteil: man kann die Wechselbeziehung

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Mensch-Natur nicht mehr leugnen. Sie zeigen, dass die Umwelt uns nicht nur umgibt, sondern wir ein Teil dieser Umgebung sind. Und die Erde reagiert auf alle menschlichen Entscheidungen. Dazu greift Loenhart die Fragestellung des Philosophen Peter Sloterdijk auf. „Wo ist dies Darin?“ ist die Frage, die man sich stellt, wenn man versucht die Umwelt von „da draußen“ in die Realität zurückzuholen, die genau hier stattfindet. Die planetare Atmosphäre sei schon immer der große Innenraum gewesen, man solle jedoch die Präposition „in-“ neu verstehen. (vgl. Loenhart, 2021, S. 51) Es gibt die Umwelt und in dieser Umwelt leben auch Menschen. Wie bei den Tuwinern ist es eigentlich nur eine „Mitwelt“, in der es keine Hierarchie g. Selbstverständlich kann der Mensch im Gegensatz zu seinen Mitwesen frei entscheiden und handeln, was man jedoch genauso als Vorteil nutzen könnte. Wäre es nicht besser, wenn wir dieses freie Denken dafür nutzen, Verantwortung zu tragen und für unsere Mitwelt zu agieren, die nicht frei handeln kann?

Vielleicht sollte man die eigenen vier Wände verlassen und einen Ort besuchen, der einen an die Natur erinnert. Sich einmal umsehen und die Augen schließen ...

und einatmen … ausatmen … einatmen … ausatmen ...

Zuhören. Und schon merkt man, dass man bei den Atemzügen nicht alleine ist.

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Weiterführende Literatur

Kees, Peter. (2020): Mitwelt statt Umwelt. In: Süddeutsche Zeitung, 02.12.2019. [online] https://www.sueddeutsche.de/muenchen/ebersberg/spannender-abend-in-moosach-mitwelt-statt-umwelt-1.4706458 <21.01.2023>

Trutt, Markus. (2018): Hinweise zum Inhalt? Das könnten die Titel von „Avatar 2“, „Avatar 3“, „Avatar 4“ und „Avatar 5“ sein. 02.11.2018. [online] https://www.filmstarts.de/nachrichten/18521870.html <06.01.2023>

Duden. atmen. Bedeutungen. [online] https://www.duden.de/rechtschreibung/atmen

DRK. (2023): Funktionen der Atmung. [online] https://www.drk.de/hilfe-in-deutschland/erste-hilfe/ atmung/funktionen-der-atmung/#:~:text=Bei%20der%20Einatmung%20str%C3%B6mt%20 Luft,diese%20abgegeben%20(innere%20Atmung). <06.01.2023>

Lexikon Pflanzenforschung. Stoffaustausch. [online] https://www.pflanzenforschung.de/de/pflanzenwissen/lexikon-a-z/stoffaustausch-373#:~:text=%C3%9Cber%20die%20Stomata%20 tauscht%20die,der%20Wurzel%20durch%20einen%20Unterdruck. <06.01.2023>

Loenhart, Klaus K. (2021): Breathe. Erkundungen unserer atmosphärisch verflochtenen Zukunft. Basel/Berlin/Boston.

Valpione, Giulia. Mensch und Natur in der Romantik. Eine romantische Ökologie. [online] https:// www.praefaktisch.de/romantik/mensch-und-natur-in-der-romantik-eine-romantische-oekologie/ <21.01.2023>

Meichsner, Irene. Jakob Johann Baron von Uexküll. Wegbereiter der Ökologie. In: Deutschlandfunk, 08.09.2014. [online] https://www.deutschlandfunk.de/jakob-johann-baron-von-uexkuell-wegbereiter-der-oekologie-100.html <21.01.2023>

Weber, Elena. (2022): Romantik: Epoche der großen Gefühle (1795–1835). Weltflucht, Mystik und die Blaue Blume. [online] https://abi.unicum.de/abitur/abitur-lernen/romantik-epoche#:~:text=Die%20Natur%20spielt%20in%20der,Geheimnisvollen%20und%20Sch%C3%B6nen%20 aussch%C3%B6pfen%20konnten. <21.01.2023>

Utopie Kreativ. (2004): Immanuel Kant. Was ist Aufklärung?. [online] https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/159_kant.pdf <21.01.2023>

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