Porträt Verletzlich wie ein Schmetterlingsflügel Lisa Huber wurde als «Schmetterlingskind» geboren. Sie leidet an einer genetisch bedingten Krankheit, durch die ihre Haut bei der kleinsten Belastung reisst. Ihr Leben lang kämpfte sie um Selbstbestimmung, heute kann sie zu sich stehen und sagt: «Ich fühle mich schön.» VON KARIN FREIERMUTH (TEXT) UND ANNETTE BOUTELLIER (BILD)
sen zu stehen. So entschied sie sich beispielsweise, eine Ausbildung in Kunst- und Ausdruckstherapie zu absolvieren, als die Situation an ihrem damaligen Arbeitsplatz unerträglich wurde. Anstelle ihrer ursprünglichen kaufmännischen Tätigkeit näht sie heute Kleider, malt und macht zeitgenössischen Tanz. Zwar bekommt sie davon manchmal Blasen, insgesamt tut ihr das Tanzen jedoch gut. «Ich fühle mich frei, wenn ich mich bewege. Das Tanzen ist wie Sauerstoff, ohne den ich nicht leben kann.» Als elementar betrachtet Lisa Huber auch ihre Eigenständigkeit – im Wissen darum, dass diese nicht selbstverständlich ist, denn ihre Hände sind permanent versehrt: Sie sind vollständig eingebunden und zusätzlich mit Handschuhen geschützt. Zu erkennen sind nur je ein Zeigefinger und ein Daumen. Die anderen Finger sind im Verlaufe der Jahre zusammengewachsen, eine typische Verwachsung bei Menschen, die an einer starken EB-Form leiden. Lisa Hubers Finger sind zwar beweglich, aber nicht grifffähig. Wenn sie etwas halten möchte, klemmt sie den Gegenstand zwischen ihre Handgelenke. Beim Autofahren steckt sie die Hände in zwei Ringe eines speziell angefertigten Steuerrads. Lisa Huber ist froh um ihr Auto, denn sie ist viel unterwegs: «Ich gehe gerne unter Leute, ich mag Menschen. Aber ich schütze mich vor ihnen. Ich trage immer lange Kleidung, damit ich ihren Blicken nicht so stark ausgesetzt bin. Denn die Leute schauen – manchmal angewidert. Wenn man mir sagt, dass man sich vor mir ekle, fühlt es sich an, als würde mir jemand die Luft abdrehen. Man ist so anders als die anderen. Man wird stigmatisiert, gerade als Frau, wenn man überhaupt nicht dem Bild einer attraktiven, potenziellen Partnerin entspricht. Die Chance auf eine Partnerschaft ist gleich null.» Wenn Lisa Huber dies sagt, hat das nichts mit Selbstmitleid, sondern mit Erfahrung zu tun. Zu oft wurde sie enttäuscht, zu oft wurde bloss ihr Äusseres taxiert und ihr Inneres übersehen: ihre fröhliche, witzige, interessierte und direkte Art; ihre Eloquenz und ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion. Noch nie hatte sie einen Freund, verliebt war sie allerdings schon mehrmals. «Das geht bei mir sehr schnell. Es ist wie eine Explosion. Aber ich kann meine Sehnsucht nach körperlicher Nähe nicht ausleben. Lieben und geliebt zu werden, das ist ein tiefer Wunsch. Berührungen mit einem Menschen zu teilen, der einen bedingungslos annimmt – mit Haut und Haar.»
Es riecht nach Desinfektionsmittel und fetthaltigen Salben; Pflaster, Kompressen und Kosmetiktücher liegen herum. Vorsichtig sticht Lisa Huber eine Blase an ihrem Bein auf, tupft die herausquellende Flüssigkeit ab, legt einen Verband. Mit einer Schere entfernt sie verkrustete Hautstücke an ihrem Arm, behandelt offene Wunden, immer wieder wischt sie Blut ab – Lisa Huber macht ihre tägliche Wundpflege. Jeweils zwei Stunden pro Tag kümmert sie sich um ihren versehrten Körper, setzt sich mit ihrer Haut auseinander, welche ausserstande ist, ihren Organismus zusammenzuhalten, ihn vielmehr offen legt. Die eigentlich schützende Barriere zwischen Innen- und Aussenwelt ist schutzbedürftig. Lisa Huber leidet an Epidermolysis bullosa (EB), einer seltenen, erblich bedingten Hautkrankheit, bei der aufgrund eines Gendefekts ein bestimmter Eiweissbaustoff gar nicht oder nur mangelhaft gebildet wird. Dies führt dazu, dass die einzelnen Hautschichten nicht richtig zusammenhalten. Schon eine schwache Reibung oder ein leichter Druck kann zu Blasen, Verletzungen und blutenden Wunden führen. Die Krankheit äussert sich bereits bei der Geburt oder in den ersten Tagen danach, eine Heilung ist nicht möglich. In der Regel ist der gesamte Körper betroffen. Besonders gefährdet sind die Hände und Füsse, weil sie im täglichen Leben am stärksten belastet werden. Lisa Huber ist nicht die einzige in ihrer Familie, die mit EB geboren wurde. Zwei ihrer insgesamt neun Geschwister litten auch an der Krankheit und sind unterdessen an Hautkrebs gestorben, die Todesursache Nummer eins bei EB-Betroffenen. Lisa Huber dagegen hat ein aussergewöhnlich hohes Alter erreicht: 45 Jahre. «Ich kann nicht erklären, warum ich so alt bin. Aber ich schaue gut zu mir. Ausserdem habe ich gelernt, meinen Körper anzunehmen. Die tägliche Pflege ist nicht nur eine Wundversorgung, sondern auch eine Annäherung an meinen Körper. Es braucht eine grosse Eigenliebe, um mit dieser Haut zu leben und sie gerne zu bekommen. Heute fühle ich mich schön.» Bis es so weit war, musste Lisa Huber einen langen, schmerzhaften Prozess durchleben. Aufgewachsen in einer ärmlichen Bauernfamilie in der Innerschweiz, wurde ihr der Besuch der normalen Schule verwehrt, weil man damals über EB kaum etwas wusste. Sie wurde in ein Kinderheim gesteckt, fast zehn Jahre lang, war stets umgeben von Leichtbis Schwerstbehinderten. «Ich lernte nicht, mit der normalen Welt umzugehen und meine Bedürfnisse zu äussern. Nie wurde ich gefragt, was ich will. Ich steck«Ich verliebe mich sehr schnell. Ausleben kann ich die te immer nur ein, und stets wurde über mich Sehnsucht nach körperlicher Nähe aber nicht.» bestimmt.» Dabei war Lisa Huber eine gute Schülerin und machte einen Sekundarabschluss. Die letzten drei Jahre ihrer Schulzeit verbrachte sie an einer Die Scheu, EB-Betroffenen zu begegnen, ist gross. Doch Lisa Huber Volksschule in Zürich – emotional eine desaströse Zeit: Gruppenarbeifühlt sich im Zusammensein mit vielen Leuten am wohlsten. «Ich ten wollte niemand mit ihr machen; geplagt wurde sie permanent – möchte meine Gedanken hinaustragen, davon erzählen, wie es ist, mit subtil oder brutal direkt. «Ich war das ideale Opfer.» dieser Hypothek zu leben. Möchte teilen und geniessen können, will Erst im Erwachsenenalter und nur dank einer Psychotherapie lernte gefordert werden und mich aufrütteln lassen. Nur so kommt man weiLisa Huber, ihre eigenen Wünsche zu äussern und zu ihren Bedürfnister im Leben und kann sich entwickeln.» ■ SURPRISE 241/11
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