Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Gut betucht und sozial schwach Berlin. Ein Verkäufer des Berliner Strassenmagazins berichtet: «Wer täglich vor einem Supermarkt steht, kann viele Menschen beobachten. Dabei habe ich gelernt, deren finanzielle Situation anhand von Kleidung, Auto sowie Häufigkeit und Grösse der Einkäufe einzuschätzen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen, die nach wenig Geld aussehen, mich meist beachten und ein Magazin kaufen. Die meisten derjenigen, denen 1 Euro 20 wohl am wenigsten weh täten, schauen hingegen demonstrativ weg.»
Muslimische Mädchen fördern Manchester. «Muslimische Mädchen werden in Grossbritannien nicht als potenzielle Arbeitskräfte angesehen», kritisiert Haleh Afshar, eine der wenigen Musliminnen im englischen Oberhaus und Dozentin an der Universität von York. «Viele Schulen scheinen anzunehmen, dass muslimische Mädchen ohnehin mit 16 verheiratet werden und daher keine Karrierestruktur benötigen.» Bereits ein muslimischer Name reiche aus, um bei der Lehrstellensuche benachteiligt zu werden, so die gebürtige Iranerin.
Gewalt im Alter Wien. Ältere Menschen werden immer wieder Opfer von Gewalt in der Familie. Zwar wurden bisher keine Zahlen erhoben. Die Frauenabteilung der Stadt Wien vermutet aber, dass der Anteil der älteren Bevölkerung, der von Gewalt betroffen ist, bei über zehn Prozent liegt. Was es besonders erschwere, Gewaltdelikte ans Licht zu befördern, sei die Abhängigkeit in Pflegebeziehungen. «Bitte sagen Sie nichts», hören Helferinnen oft, wenn die Patientinnen und Patienten sich mit ihren Nöten vertrauensvoll an sie wenden.
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Zugerichtet Diagnose: Liebeswahn «Wollen Sie nicht ablegen?», fragt der Richter. «Vielleicht dauert es ja länger.» Dieter B.* hat sich bis zum Kinn in seine Lammfelljacke verkrochen. «Ich fühle mich völlig unschuldig», sagt der mollige Mann zum Richter. Die Liebe brachte den 42-jährigen ITSupporter auf die Anklagebank, denn die Gefühle basierten nicht auf Gegenseitigkeit. Seit sechs Jahren stellt Dieter B. der Frau seiner Träume nach. Er wartet vor ihrer Haustür, fängt sie an der Bushaltestelle ab, schreibt ihr Liebesbriefe, ruft an, zehn, 15 Mal am Tag, taucht an ihrem Arbeitsplatz auf, überhäuft sie mit Geschenken, schickt ein SMS nach dem anderen. Zu 307 Kontaktversuchen allein innert der letzten zwei Monate sei es gekommen, steht in der Anklageschrift. Clérambault-Syndrom heisst das Krankheitsbild gemäss psychiatrischem Gutachten, auch Paranoia erotica, affektvolle Paraphrenie oder einfach Liebeswahn genannt. Er hatte sich bereits während der dritten Englisch-Lektion in seine Klassenkameradin verliebt. Er sagte es ihr. Sie sagte ihm, dass sie seine Gefühle nicht erwidere. Er war nicht bereit, das zu akzeptieren. Sie beendete den Sprachkurs. Seitdem ist der Mann aus dem Leben der Frau nicht mehr wegzudenken. Nicht aus dem ihres Ehemannes, der Familie, ihrer Arbeitskollegen. Obschon, es gab auch Zeiten himmlischer Ruhe, da trat er nur ein Mal pro Monat in Erscheinung. Doch dann kam es vor, dass er sie auf der Strasse traf – und es ging von vorne los. Sie schaltete einen Anwalt ein. Zweimal erging auf zivilrechtlichem Weg eine einstweilige Verfügung – es hat nichts genützt.
«Ich hatte mich verliebt, ja», sagt er zum Richter. «Aber ich hatte auch Anhaltspunkte, dass sie meine Gefühle erwidert.» «Welche denn?», will der Richter wissen. «Wenn ihre Familie nicht dagegen wäre, wären wir schon längst ein Paar», gibt er zur Antwort. «Kann es sein, dass Ihr Gefühl Sie betrogen hat?», fragt der Richter. Nein, es habe zwar keine direkte, gelebte Liebesbeziehung gegeben, aber ein Angebot und ein Versprechen, ein sehr verbindliches. «Das hat definitiv so stattgefunden», sagt er. Der Richter blickt ratlos in den Saal. «War Ihnen klar, wie sehr das Leben von Frau W. und ihrer Familie von Ihren Nachstellungen beeinträchtigt wird?» Das Gegenteil sei der Fall, sagt Dieter B., sein Leben wurde massiv beeinträchtigt, schliesslich sitze er ja vor Gericht. Und er hoffe, dass die Wahrheit hier endlich ans Licht komme. Der Verteidiger sagt in seinem Plädoyer, dass man bei der Vorgeschichte anfangen müsse und fragt, ob die Frau seinen Mandanten vielleicht einmal zu viel angelacht habe? Er schliesst sich zwar der Argumentation des Staatsanwalts an, will aber das Strafmass reduzieren. Dieter B. habe sich der Nötigung, des Missbrauchs einer Fernmeldeanlage und des Hausfriedensbruchs strafbar gemacht, auch wenn er es nicht einsehe. Doch sei die Einbildung ein unkorrigierbarer Teil der Wahnvorstellung, zitiert er das Gutachten. Eine hoffnungslose Diagnose. Dagegen kann eine Geldstrafe von 2200 Franken vermutlich auch nichts ausrichten. * alle Namen geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 201/09