2 minute read

Tour de Suisse

Pörtner in Grenchen

Surprise-Standorte: Bahnhof Grenchen Süd Einwohner*innen: 17 915 Anteil Ausländer*innen in Prozent: 37,4 Sozialhilfequote in Prozent: 6,6 Stärkste Partei: SVP (5 Sitze von 15)

Wer in Grenchen am Bahnhof abmacht, gerät leicht in die Bredouille, gibt es doch einen Bahnhof Nord und einen Bahnhof Süd. Der Weg vom ersten zum zweiten führt durch grosszügige Parkanlagen, vorbei an imposanten Häusern aus dem vorigen und vorvorigen Jahrhundert. Kaum so lange stehen bleiben wird der einstöckige Pavillon, der schon einen recht verfallenen Eindruck macht. Er steht im Schatten einer mächtigen nackten MännerStatue. Es ist die des Bundesrats Hermann Obrecht, «In Dankbarkeit gewidmet». Ob für heutigen Bundesrät*innen eines Tages auch so grosse Standbilder erbaut werden, ist fraglich. Noch fraglicher ist, ob sie unbekleidet dargestellt würden. Gerade der Kanton Solothurn hat zwei populäre Bundesräte gestellt, Willi Ritschard und Otto Stich, die sich nackt vorzustellen befremdlich ist. Überhaupt hat die Dankbarkeit Mitgliedern der Landesregierung gegenüber dramatisch abgenommen, nicht erst seit der Pandemie. Der Platz, dem der Bundesrat seinen halben Hintern zuwendet, ist am Mittwoch ab 14.00 Uhr der Platz der PetanqueFreunde. Wie er den Rest der Woche heisst, ist nicht angeschrieben.

In Grenchen wird viel Wert auf Kultur gelegt. Auf der kurzen Strecke gibt es ein Theater, eine Bibliothek, das Kulturgeschichtliche Museum, eine «Musig Bar», die allerdings verwaist wirkt, im Gegensatz zum belebteren «Feel Good Music Bistro». Zum Kino führt eine Passerelle, eine selten gewordene städtebauliche Errungenschaft. Die Kulturnacht wird beworben. Verwittert sind hingegen die Pingpongtische. Die Bahnhofstrasse ist deutlich weniger nobel als andernorts, es hat Platz für ein indisches Lebensmittelgeschäft und einen Fernsehhändler, anstelle der sonst dominierenden internationalen Modeketten. In grossen blauen Buchstaben, die aus Knetmasse gefertigt scheinen, steht das Wort JETZT auf einer Mauer, dahinter gruppieren sich lebensgrosse Holzfiguren um eine Kugel aus Metallleisten. Die Ruhe wird nur durch das Geräusch schnell beschleunigter, tiefgelegter Sportkarossen gestört, in denen junge Menschen sitzen. Wahrscheinlich wollen sie das Jetzt oder zumindest das Hier möglichst schnell hinter sich lassen.

Mehr Zeit haben die Leute, die sich am Südbahnhof und auf dem Vorplatz des Kunsthauses aufhalten. Hier wird Dosenbier getrunken, Hunde knurren sich an und sorgen für heitere Aufregung. Es wird geplaudert und verweilt, die Busse kommen und gehen, die Leute bleiben. Vom Imbissstand weht Dönerduft herüber. Kinder studieren die abgebildeten Speisen und vergleichen ihre Favoriten. Sogar ein Flughafenbus hält und bringt die Leute an den Flughafen Biel oder Solothurn, wer weiss.

Im Imbiss läuft MTV, die Autos, die durch die Videos brausen, sind einiges schicker als jene, die draussen auf der Strasse vorbeifahren.

Zwischendurch, wenn kein Zug und kein Bus fährt, ist es sonntäglich still an diesem frühen Samstagabend in der Kleinstadt. Wenig kümmert das zwei innig knutschende Teenager gegenüber der Mütterberatungsstelle, die sie hoffentlich nicht so bald aufsuchen werden.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.