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Migration

9. August 1991: Tausende geflüchteter Menschen aus Albanien drängen sich im Hafen von Bari, nachdem sie von Bord des Frachters «Vlora» gegangen sind.

Migration ist kein Ausnahmezustand

TEXT RANDO DEVOLE

Exodus. Wenn man dieses Wort in ein einziges Bild fassen wollte, wäre keines so treffend wie jenes der in Bari anlegenden «Vlora», ein Schiff voller Menschen. 20 000 Albaner*innen fliehen aus dem «Land der Adler» auf der Suche nach ihrem Amerika. Dreissig Jahre sind seither vergangen. Es war ein starkes und wichtiges Symbol, das den Beginn der Einwanderung in unser Land markierte. Die Geschichte der albanischen Einwanderung mit ihrer Symbolkraft sollte uns als Kompass und Wegweiser dienen, um uns auf der rauen See der Gegenwart zu orientieren und die Realität der heutigen Migration zu verstehen. Sie wird als eine der historischen Herausforderungen für Italien und Europa insgesamt angesehen. Aus diesem Migrationsereignis lassen sich viele Lehren ziehen.

Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs war Albanien für die italienische Bevölkerung ein Rätsel. Es gab ein paar verblasste Erinnerungen von Grossvätern, die Soldaten gewesen waren, und ein paar neugierige Hörer*innen von Radio Tirana, das über Kurzwellenradio in einer fast gänzlich fremden Sprache sendete. Abgesehen davon muss man konstatieren, dass Albanien in der kollektiven Vorstellung Italiens kaum existierte. Es war ein unbekanntes Land, umgeben von einer Aura des Geheimnisvollen. Die Ankunft der Albaner*innen in Italien auf der Flucht vor dem letzten totalitären Regime Europas war eine Lektion in Geografie. Sie erinnerte alle daran, dass die italienische Halbinsel im Mittelmeerraum ein Bezugspunkt ist, eine Art natürliche Plattform. Die geografische Lage Italiens bringt eine Verantwortung mit sich, der sich das Land nicht entziehen kann. Zum ersten Mal wurden Fragen zu den Umständen, zur Geschichte und Identität unserer Nachbar*innen jenseits der Adria gestellt.

Wo sind die Albaner*innen?

Geschichtskundige wissen, dass die Migration der Albaner*innen eigentlich nur eine Fortsetzung der historischen Wanderbewegungen der Menschen an der Adria ist. Es versteht sich von selbst, dass Migration schon immer ein normaler menschlicher Zustand war. In unserem Fall sind die verschiedenen italoalbanischen Gemeinschaften (Arbëresh) in den Abruzzen, im Molise, in Kampanien, in der Basilicata, in Apulien, Kalabrien und Sizilien klare Beispiele dafür. Sie liessen sich zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert nach dem Tod des albanischen Nationalhelden Giorgio Castriota Scanderbeg und der anschliessenden Besetzung durch das Osmanische Reich dort nieder. In den Jahren 1991 und 1997, als der albanische Staat zusammenbrach und es zu grossen Unruhen kam, machte der Exodus der Albaner*innen allen klar, dass niemand Menschen aufhalten kann, die fliehen, um zu überleben. Damals wie heute sind Kriege, Verfolgung, innenpolitische Konflikte, Finanzkrisen, Hungersnöte, Natur und Umweltkatastrophen, korrupte oder diktatorische Gesellschaften gute Gründe, kommen heute nur noch wenige aus Albanien nach Italien. Tatsächlich gehe die Tendenz in Richtung Rückwanderung. Aber stimmt das? Es ist richtig, dass die Zahl der albanischen Staatsbürger*innen in Italien von Jahr zu Jahr abnimmt, aus mehreren Gründen: dem Erwerb der italienischen Staatsbürgerschaft, der

ROM

ITALIEN

NEAPEL

TYRRHENISCHES MEER

DUBROVNIK

ADRIATISCHES MEER

BARI

BRINDISI

VLORË TIRANA

ALBANIEN

KORFU

IONISCHES MEER

Auswanderung in andere Länder und dem Ausbleiben neuer Migrant*innen aus Albanien. Auch die Gründe für den weiteren Aufenthalt von Albaner*innen in Italien sind vielfältig. Sie hängen von den Umständen und dem Zeitraum ab, in dem sie nach Italien kamen. Es gibt diejenigen, die eingebürgert wurden oder eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten haben – aus politischen, humanitären, familiären, wirtschaftlichen, erzieherischen oder gesundheitlichen Gründen. Heute kann uns ihre Situation dazu anregen, die Bedingungen von Migration und die Bedürfnisse von Migrant*innen zu erkennen und zu verstehen. Dies muss innerhalb des bestehenden europäischen Rahmens und unter Beibehaltung einer offenen Haltung geschehen. Schliesslich waren die Albaner*innen 1997 nicht auf der Flucht vor einem totalitären Regime, sondern vor anderen Bedrohungen. Bei der heutigen Migration aus Afrika oder Syrien zum Beispiel wird die Lektion, die wir gelernt haben, ein wenig übersehen, da immer noch unsinnige Fragen über Migrant*innen gestellt werden, die immerhin den Tod riskieren, um das Meer zu überqueren, wie etwa: «Warum kommen sie überhaupt hierher?»

Ressource für beide Länder

Abgesehen von der spontanen und bewegenden Aufnahme durch die Einheimischen traf der albanische Exodus von 1991 in Richtung der apulischen Häfen auf ein Land, das in organisatorischer und kultureller Hinsicht unvorbereitet war. Denn niemand hatte bemerkt, dass sich Italien von einem Land der Auswanderung in ein Land der Einwanderung gewandelt hatte. Die beiden Phänomene haben schon immer nebeneinander existiert; durch die Wirtschaftskrise wurde dies aber noch deutlicher. Die albanische Migration verhalf den Behörden zur Erkenntnis, dass sich Italien definitiv als Zielland für Migrationsströme verstehen muss. Die albanische Krise von 1997 enthielt eine wichtige Lektion: Die Migrationsströme verstetigen sich, und die Anwesenheit von Einwander*innen führt zu strukturellen Auswirkungen. Schon zu diesem Zeitpunkt gab es also keinen Grund mehr, Migration als Ausnahmesituation zu interpretieren. Wobei diese Betrachtungsweise noch immer die italienische Politik behindert. Wir erinnern uns an die dramatischen Szenen, als nur wenige Jahre zuvor die

Brindisi, 17. März 1997. Ein Mann übergibt seinen Sohn einem Matrosen der italienischen Marine. Sie sind auf einem Fischerboot von Vlorë nach Italien gefahren.

Geflüchteten von der «Vlora» im Fussballstadion eingesperrt wurden – was eine Massenflucht auslöste und dazu führte, dass etliche Menschen gewaltsam nach Albanien zurückgebracht wurden.

Heute bilden die Albaner*innen in Italien eine der grössten Gemeinschaften. Viele Faktoren tragen dazu bei, dass sie auch eine der am besten integrierten Gemeinschaften im sozioökonomischen Gefüge Italiens sind: das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern, ihre Verbreitung im ganzen Land mit einer relativen Konzentration im Norden, ihre Präsenz auf dem Arbeitsmarkt mit Schwerpunkt im Industriesektor, ihr wachsender Unternehmergeist sowie ihre Italienischkenntnisse und langfristige Stabilität. Der Verlauf der albanischen Migration zeigt auch, dass sie ein Bindeglied, ein Kreuzungspunkt, ein Entwicklungsfaktor und eine grosse Ressource für beide Länder ist.

In diesem Sinne bedarf es, jenseits schöner Reden, einer echten und aufrichtigen Anerkennung ihrer Rolle. Wir brauchen eine integrativere und gerechtere Welt, in der der Beitrag von Migrant*innen als Menschen anerkannt wird, und zwar unabhängig vom wirtschaftlichen Nützlichkeitsdenken. Das gilt sowohl für Italien als auch für Albanien. Dazu müssen wir uns nur daran erinnern, wie der Kapitän der «Vlora», Halim Milaq, sein 1961 in den Werften von Genua gebautes Schiff beschrieb: «Ein wunderschönes italienisches Schiff».

Wie das Fernsehen unser Bild prägt

TEXT MARTA ZANELLA

Vor ihm der schmale Streifen von Lichtern, der sich entlang der gesamten apulischen Küste zog. Hinter ihm die Dunkelheit der albanischen Küste. In der Mitte ihr Fischerboot, das das Meer überquert und die Kluft zwischen dem Leben, das sie hinter sich lassen, und dem, das ihre Zukunft sein wird, markiert.

Leonard Berberi war zehn Jahre alt, als er 1994 zusammen mit seiner Familie Albanien verliess und in den Jahren des grossen Exodus aus dem Balkanland südlich von Bari landete. Das Lichtermeer der Stadt ist seine erste Erinnerung an Italien, zusammen mit den gepflasterten Strassen, die so perfekt und modern zu sein schienen, auch wenn sie es gar nicht waren. Seine Eltern hatten die Migration nach Italien beschlossen, um Leonard und seiner Schwester bessere Chancen zu bieten, und sie bemerkten sofort den Unterschied in den kleinen Dingen, wie dem Strom, der hier nie ausfiel. Ihre erste Station war Portocannone, eine kleine Stadt im Molise, die grösstenteils von Nachkommen albanischer Einwander*innen aus dem 15. Jahrhundert bewohnt wird. Leonard erinnert sich: «Dort wurde noch altes Albanisch gesprochen, man wurde nicht als Fremder behandelt. Es war ein kleines Dorf, und Migration wurde nicht als Gefahr angesehen. Im Jahr 2000 sind wir wieder umgezogen. Meine Eltern hatten sich für Italien entschieden, damit ihre Kinder studieren konnten, doch Molise bot keine guten Möglichkeiten. Also zogen wir nach Mailand, um meiner Schwester und mir den Schulabschluss und den Besuch der Universität zu ermöglichen.»

Eine Haltung wird gefordert

Heute ist Leonard Berberi Journalist beim Corriere della Sera, nachdem er zuvor bei der Wirtschaftszeitung Sole 24 Ore tätig war. «Ich habe früher für die Einwanderungsseite gearbeitet, aber so sehr ich mich auch bemühte, bei brisanten Themen wie der Frage der Staatsbürgerschaft objektiv zu sein, wurde mir doch klar, dass meine Berichterstattung als Einwanderer als parteiisch angesehen werden könnte. Oder im Gegenteil: Man erwartete von mir, dass ich mich auf eine Haltung festlege, und warf mir dann vor, dass ich zu distanziert sei.» Es war jedoch von Vorteil, dass er in beiden Welten und Kulturen einen Fuss hatte: «Ich habe immer mitbekommen, was in Albanien passierte, einschliesslich der sozialen Veränderungen, bevor es andere bemerkten.» Vor einigen Jahren berichtete Leonard Berberi über das Phänomen der Rückwanderung. Viele der frühen Einwanderer*innen oder ihre Kinder kehren in ihre Heimat zurück, um sich dort neue Möglichkeiten zu schaffen. Heute ist die Anwesenheit von Albaner*innen in Italien nichts Aussergewöhnliches mehr. «Die albanische Präsenz hat sich normalisiert. Das Fernsehen, das anfangs

massiv dazu beitrug, Ängste vor Albaner*innen zu schüren, trug später dazu bei, das Stigma zu beseitigen. In den Neunzigerjahren war der Albaner ein gewalttätiger Krimineller, der in ihr Haus einbrach, ein Dieb. Im Laufe der Jahre wurde er zum Tänzer oder Entertainer.» Berberi weiter: «Natürlich gab und gibt es das Problem der albanischen Kriminalität, aber es wird nicht mehr als direkt und unmittelbar wahrgenommen. Heute bewegt es sich in Untergrundkreisen, im Drogenhandel und in der Geldwäscherei. Kurz gesagt, so wie der ehrliche Albaner sich an sein neues Land anpasste und lernte, hier zu leben, tat dies auch der kriminelle Albaner.»

Messe auf Albanisch

TEXT ANDREA CUMINATTO

Es war Ende Sommer 1993, als sich zwei junge Männer – der eine 25 Jahre alt, der andere 16 – auf den Weg von Fier nach Italien machten. Sie waren sich sicher: Jenseits der Adria würden sie eine Zukunft finden. Der jüngere der beiden, Bledar Xhuli, ist heute Priester und steht der Pfarrei Santa Maria in Campi Bisenzio in der Provinz Florenz vor. «Ich bin mit 16 Jahren auf ein Schiff gegangen, weil ich in Albanien keine Zukunft sah. Meine Eltern arbeiteten beide für den Staat und verloren mit dem Zusammenbruch des Regimes ihre Arbeit. Ich musste meine Familie überzeugen, mich gehen zu lassen. Sie verschuldeten sich, damit ich einen gefälschten Pass kaufen und mit einer Fähre nach Otranto fahren konnte. Dort – so hoffte ich – würde ich Arbeit finden und bald mit viel Geld nachhause zurückkehren.»

Der erste Eindruck von Italien war jedoch ein anderer als die Erwartungen, die das Fernsehen geweckt hatte. Bledar fährt fort: «Ich kannte die Sprache ein wenig, ich hatte sie im Fernsehen gelernt, aber ich war minderjährig und illegal im Land – zwei Eigenschaften, die mir die Suche nach Arbeit erschwerten. So fand ich mich auf der Strasse wieder. Man sagte mir, ich solle nach Norden fahren. Ich folgte dem Rat und machte in Florenz Halt. Hier hatte ich Kontakte, aber vor allem sagte man mir: ‹In Florenz kannst du umsonst essen und schlafen.› In Wirklichkeit hiess das, unter der Brücke am Fluss Mugnone zu schlafen und in der Kantine der Caritas zu essen.»

«Ich stieg mit 16 Jahren allein auf das Schiff.»

BLEDAR XHULI

1993 kam er nach Italien. Heute ist der 44-Jährige (im Bild mit Papst Franziskus) Priester in der Provinz Florenz. Ein verrostetes Frachtschiff aus Durrës legt am 18. März 1991 mit etwa 500 Menschen an Bord im Hafen von Brindisi an.

Schliesslich veränderte aber eine zufällige Begegnung die Aussichten des jungen Bledar und gab ihm Hoffnung auf eine Zukunft in der Hauptstadt der Toskana. «Eines Tages klopfte ich an die Tür von Pater Giancarlo Setti, und anstatt mir das gewünschte Wechselgeld zu geben, öffnete er mir die Tür zu seinem Haus. Er gab mir ein Dach über dem Kopf und verschaffte mir Arbeit als Bahnhofsvorsteher. Er gab mir meine Würde zurück. Also habe ich wieder angefangen, zur Schule zu gehen, mein Studium im Rechnungswesen abgeschlossen und mich dann für Politikwissenschaften eingeschrieben.» Die Berufung kam mit der Zeit und mündete im Jahr 2000 in den Eintritt in das Priesterseminar.

«Ich vergesse nicht, wo ich herkomme»

«Ich habe im Pfarrhaus gewohnt. Unter der Woche arbeitete ich und verbrachte meine Zeit mit den Kindern aus der Gegend. Aber sonntags gingen die Kinder in die Kirche und ich ging mit, um nicht allein zu sein, obwohl ich nicht getauft war. In der Kirche fand ich dann die Antwort auf die Unruhe, die ich in mir trug. Eines Sonntags stellte ich mich an, um die Kommunion zu empfangen, aber der Priester konnte sie mir nicht geben. Also bat ich ihn, mich zu taufen, und so begann meine Reise in die christliche Gemeinschaft.» Heute ist die albanische Gemeinschaft vollständig in die florentinische Gesellschaft integriert. Pfarrer Bledar ist der einzige albanische Priester und führt die Messe manchmal auf Albanisch. Er erklärt: «Mehr noch als um die Messe bitten

mich Menschen um eine Beichte auf Albanisch, besonders die ältere Generation, die im Moment der Versöhnung lieber in unserer Muttersprache sprechen möchte.»

In der Toskana gibt es vier albanische Priester, die anderen drei sind in den Diözesen Prato, Pistoia und Fiesole tätig. Heute betreibt Pfarrer Bledar eine Anlaufstelle für Menschen in Not, viele von ihnen sind Ausländer. «Die Aufmerksamkeit auf der individuellen Ebene ist entscheidend. Wir möchten verstehen, wer da vor uns steht, und diejenigen, die an unsere Tür klopfen, nicht einfach mit ein paar Groschen wegschicken, sondern ihnen eine Chance geben. Ich kann nicht vergessen, wo ich herkomme.»

Anxhela fährt übers Meer zurück

TEXT MARTA ZANELLA

Sie ist eine Mitarbeiterin der Caritas Italiana und wurde an die Caritas Albania «ausgeliehen». Die vernetzte Zusammenarbeit sowie die Mischung aus Italienisch und Albanisch sind beides perfekte Symbole für ihr Leben und ihre Kultur. Anxhela Zeneli – «so wird es geschrieben, aber es wird ‹Angela› ausgesprochen, wie im Italienischen», sagt sie. Sie wurde vor dreissig Jahren in Vlorë auf dem Balkan geboren und wanderte 1997 mit ihrer ganzen Familie nach Italien aus.

Ihr Vater reiste bereits seit einigen Jahren hin und her. In Albanien war er Koch für Hochzeiten und Grossveranstaltungen. Um seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen, kam er 1992 wie Tausende andere auf der Suche nach Arbeit nach Italien, erzählt Zeneli. «Der Anfang war hart, er lebte in einem illegal bewohnten Haus, er hatte keine ordentlichen Papiere und er war gezwungen, kleine Arbeiten wie Tore streichen, Fahrräder reparieren, Gemüse auf den Feldern pflücken zu erledigen, um Vertrauen und das Geld zu verdienen, das er uns schicken musste. Dann gelang es ihm 1994 dank einer Amnestie, seine Papiere zu bekommen, und die Person, für die er arbeitete, stellte ihn legal als Gärtner ein.»

Auf Fischerbooten in die neue Heimat

Aber das Glück dauerte nicht lange. Im Jahr 1997 löste der Konkurs der Banken in Vlorë – wo die meisten Menschen ihre Ersparnisse aufbewahrten – einen Volksaufstand aus. Zeneli erinnert sich: «Wieder standen wir mit leeren Händen da, aber zu diesem Zeitpunkt beschlossen meine Eltern, dass sie dieses Mal zusammenbleiben würden. Und während der Rest der Verwandtschaft in Albanien blieb, beschloss meine Mutter, mit ihrer Familie wegzugehen.» Damals wurden für die Überfahrten nicht Schlauchboote, sondern Fischerboote benutzt. Es gab immer diesen einen Verwandten oder Bekannten, der gegen eine grosszügige Gebühr pro Passagier sein Boot füllte und über die Strasse von Otranto fuhr. Die Reise fand im März statt, und Zenelis Kindheitserinnerungen wecken Bilder von rauer See, kranken Menschen und dem Gefühl von Kälte. Und dem Schiff der Küstenwache, riesig in ihren kleinen Augen, das ihnen zu Hilfe gekommen war. Sie erinnert sich an die ersten Tage in Apulien, als die Frauen und Kinder auf die einen Unterkünfte, und die Männer, ihr Grossvater und ihre Onkel, auf die anderen aufgeteilt wurden. Und sie erinnert sich daran, wie sie in eine Kirche gebracht wurden. Dort hatte man Betten und Kleidung für sie vorbereitet und jeder half, wo er konnte.

Kinder passen sich schnell an. Ein Sommer reicht aus, um die Sprache zu lernen, wenn sie (wie es bei Zeneli und ihrem Bruder der Fall war) dabei auf hilfsbereite Nachbar*innen treffen. «Die Eltern meiner Klassenkameraden schenkten uns Kleidung, der Bäcker gab uns immer Pizza. Wir waren die Ersten, die ankamen. Es gab keinen Rassismus, man hat sich immer um uns gekümmert.» Doch obwohl Zeneli nur sechs Jahre in Albanien lebte und seit 24 Jahren in Italien lebt, in Italien Freunde hat, dort zur Schule gegangen ist, ein Studium in Wirtschaftswissenschaften abgeschlossen und vor einigen Monaten die italienische Staatsbürgerschaft erhalten hat, sind die kulturellen Unterschiede nie ganz verschwunden. Sie erinnert sich: «Wer mich in Italien nicht gut kannte, wusste nicht, dass ich Albanerin war; ich habe sowohl die Gewohnheiten als auch den Akzent übernommen. Aber ich fühle mich nicht vollkommen, manchmal ist es, als hätte ich mir die Staatsbürgerschaft noch nicht genug verdient.» Heute ist sie als Italienerin für eine Arbeitsstelle über das Meer zurückgekehrt, und sie fühlt sich wie eine Fremde in ihrem Geburtsland. «Wenn ich Albanisch spreche, erkennen die Leute den italienischen Akzent und antworten mir auf Italienisch. Ich trage meinen albanischen Pass in der Tasche, aber sie sehen mich als Ausländerin. Man fühlt sich immer ein bisschen fehl am Platz auf beiden Seiten. Das hat mein ganzes Leben geprägt.»

«Man hat sich immer um uns gekümmert.»

ANXHELA ZENELI

Die Albanerin kam als Kind nach Italien und wuchs in Pavia auf.

Nach ihrem Abschluss wirkte Zeneli in verschiedenen internationalen Kooperationen mit. Sie kam Anfang 2020 in Tirana an, kurz vor dem Ausbruch der Pandemie. Momentan arbeitet sie für die Caritas als Koordinatorin eines grenzüberschreitenden Projektes zwischen Albanien und Montenegro. «Gesundheitsfürsorge existiert hier nicht. Es gibt nur ein paar private Krankenhäuser, die Menschen verdienen aber im Durchschnitt nur 250 Euro im Monat und haben kaum genug zum Leben, geschweige denn genug für eine Behandlung in einem Krankenhaus. Es ist ein schwieriges Umfeld.»

Übersetzt ins Deutsche von Translators without Borders Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Scarp de’ tenis /INSP.ngo