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Obdachlosigkeit

Obdachlosigkeit Seit Jahren lebte ein Obdachloser im Zürcher Quartier Albisrieden – geschätzt und geduldet. In einer Samstagnacht Mitte September wurde er ermordet.

Gedenkstätte vor dem Einkaufszentrum Letzipark: Hier verbrachte Ruedi, †67, seine Tage. Sein Traum war, nach Thailand zurückzukehren.

Einsichten am Grab

Ruedi lag auf einer Parkbank, als er in Zürich getötet wurde. Die Anteilnahme war gross. Bei seiner Beerdigung wurde aber deutlich, wie wenig er zu Lebzeiten beachtet wurde.

TEXT ANDRES EBERHARD FOTOS MIRIAM KÜNZLI

Mit lauter Stimme schrei ich zum Herrn, laut flehe ich zum Herrn um Gnade. Ich schütte vor ihm meine Klagen aus, eröffne ihm meine Not.

Dreissig Menschen haben sich vor dem Grab von Ruedi versammelt. Sie bringen Blumen, einen Schutzengel, ein Holzkreuz. «Es ist ein Tod, der viele Fragen aufwirft», sagt der Priester im weissen Gewand an diesem sonnigen und windigen Oktobernachmittag. «Unverständlich für uns alle.»

Der Psalm, den er von seinem Tablet vorliest, handelt von einem Hilferuf in Not. Er endet mit der Bitte, dass den Gerechten Gutes getan werde. Ein Wunsch, der für Ruedi zu spät kommt: In einer Samstagnacht im September wurde der 66-jährige Obdachlose von einem Passanten totgeprügelt. Angeblich lag er in seinem Schlafsack auf einer Bank im Gemeinschaftszentrum Bachwiesen, als der 20-Jährige rund 25 Mal auf ihn eintrat. Dieser filmte die Tat und stellte sie auf Snapchat. Ob es ein Warum gibt, wird derzeit geklärt. Der Täter, ein bei den Eltern wohnhafter Arbeitsloser mit psychischen Problemen, ist geständig. Es wird zum Prozess kommen.

Die Geschichte von Ruedi wurde in der Folge in den Medien ausgebreitet. Der Blick sprach mit seinem Stiefsohn, 20 Minuten traf Freund*innen, der Tages-Anzeiger publizierte einen Nachruf. Auch die Anteilnahme im Zürcher Quartier Albisrieden, wo Ruedi zuhause war, war gross: Vor dem Letzipark, wo er seine Tage verbrachte, deponierten Bekannte Blumen, Briefe und Bierdosen. Mitarbeitende des Einkaufszentrums formten ein Herz aus rosaroten Kerzen, sie schrieben «Du wirst uns fehlen» auf Trauerkarten. Und im GZ Bachwiesen, wo Ruedi seit Jahren schlief, zeichneten Kinder Postkarten, legten Plüschtiere nieder, dazu Gedichte, rote Rosen, Kerzen. Bei der Abschiedsfeier im GZ, mit Reden und einem Feuer, waren Hunderte da, zum Gedenken wurde eine Wand mit Ruedis Namen besprayt. Viel Aufmerksamkeit für jemanden, der zu Lebzeiten kaum beachtet wurde.

Ich blicke nach rechts und schaue aus, doch niemand ist da, der mich beachtet. Mir ist jede Zuflucht genommen, niemand fragt nach meinem Leben.

Bei der Beerdigung knapp drei Wochen nach Ruedis Tod ist die Empörungswelle vorbeigezogen. Nun geht es nicht mehr darum, sich gegen die grundlose Gewalt an Schwachen zu solidarisieren. Jetzt geht es Ruedi.

Es zeigt sich, dass die wenigsten ihn wirklich kannten, oder aber nur einen Teil von ihm. Manche, die nun Abschied nehmen, wussten einzig um sein lange vergangenes Leben als ausgebildeter Jurist bei der UBS, mit Frau und Sohn zuhause. Sie erinnerten sich an ihn als einen neugierigen, reiselustigen Menschen, der vier Sprachen sprach. Es sind ehemalige Freund*innen, denen eines gemein ist: irgendwann, vor zehn oder fünfzehn Jahren, verloren sie den Kontakt.

Tod der Frau als Wendepunkt

Andere kannten nur jenen Ruedi, der in den letzten rund sieben Jahren als Obdachloser in Zürich lebte. Von seiner Vergangenheit wussten sie wenig. Ruedi war kein Mann der grossen Worte. «Er war ruhig. Manchmal zu ruhig», so sagt es der Priester bei der Beerdigung. Vermutlich schottete sich Ruedi bewusst ab. Und die Leute, die er traf, liessen ihn in Ruhe.

Der Wendepunkt in Ruedis Leben, darauf deutet alles hin, war der Tod seiner ersten Frau im Jahr 2005. Sie starb nach jahrelangem Kampf an Krebs. Wenig später zog der Stiefsohn aus, der Kontakt zwischen den beiden verebbte. Den Job als Jurist bei der UBS gab Ruedi auf, eine Zeit lang machte er als Selbständiger weiter, bis er nach Thailand ausreiste. Dort heiratete er ein zweites Mal. Warum kam er zurück? Weshalb zog er das Leben auf der Gasse einem bescheidenen Leben unter einem Dach vor? Darauf weiss kaum jemand eine Antwort. Dass die zweite Ehe offenbar noch nicht geschieden ist, erfuhren die meisten nebenbei an der Beerdigung – vom Pfarrer.

Einer kannte Ruedi und dessen neues Leben besser als alle anderen: sein bester Freund Božo Andrijević. Seit sieben Jahren sah er ihn fast täglich, trank mit ihm Bier, brachte ihm Kleider oder Essen. Immer wieder übernachtete Ruedi auf dem Sofa in der Wohnung von Andrijević und dessen Frau gleich gegenüber dem Letzipark. Zweimal nahm das Paar Ruedi mit in die Ferien ins eigene Ferienhaus in Kroatien. «Es ist brutal», sagt Andrijević, vor sich eine Büchse Quöllfrisch, eine Zigarette in der Hand. «Es tut so weh.» Er beschreibt seinen Freund als ruhigen, intelligenten und korrekten Menschen. Ruedi wusste, dass er nicht auffallen durfte, um als Obdachloser geduldet zu werden. Sein Bier füllte er in Petflaschen ab, seinen Schlafplatz verliess er jeden Morgen in aller Früh.

Doch auch seinem besten Freund erzählte Ruedi nicht alles – etwa, was in Thailand genau passiert war. Andrijević weiss aber, dass Ruedi zurückwollte. Die AHV-Rente von 1680 Franken hätten für ein schönes Leben in Thailand gereicht. Als Andrijević ihm einmal eine Einzimmerwohnung organisierte für 450 Franken pro Monat, habe Ruedi abgelehnt. «Er wollte das Geld sparen.» Zuletzt wartete Ruedi darauf, dass sein Visum eintraf. Offenbar rechnete er jederzeit damit. Bevor Andrijević in diesem Sommer für vier Wochen in die Ferien nach Kroatien verreiste, holte Ruedi seine Wertsachen ab. Diese hatte er zuvor in einer Schublade in Andrijevićs Wohnung verstaut, darunter Pass, Postcard und den Ring aus der ersten Ehe.

Als Andrijević aus den Ferien zurückkehrte, war Ruedi noch da – ohne Papiere. Sein Rucksack war geklaut worden, das neue Leben in Thailand plötzlich wieder weit weg. Das erfuhr Andrijević am Abend vor Ruedis Tod. Er hatte mit ihm und einem anderen Freund vor dem Letzipark ein paar Bier getrunken. Um etwa 22 Uhr bot ihm Andrijević, wie so oft, die Couch bei sich zuhause an. Ruedi lehnte ab. «Er befürchtete, dass er sonst seinen Schlafplatz einbüsst.» Sie verabschiedeten sich – für immer, wie sich herausstellen sollte.

Gewalt an Obdachlosen

Die Stadt Zürich sieht Gewalt an Obdachlosen nicht als grosses Problem. «Tätliche Gewalt gegenüber Randständigen und Obdachlosen kommt glücklicherweise selten vor», schreibt Sprecherin Nadeen Schuster. Einen Fall wie Ruedi habe man noch nie erlebt. Betroffene betonen aber die hohe Dunkelziffer. «Unter Obdachlosen ist bekannt, dass es gefährlich ist, wenn du in der Nähe der Partyszene gesehen wirst», sagt SurpriseStadtführer Hans Peter Meier. Auch Walter von Arburg vom Sozialwerk Pfarrer Sieber (SWS) hörte schon von mehreren Obdachlosen, die von Gruppen zumeist junger Männer, häufig Partyvolk, an ihrem Schlafplatz überrascht, provoziert, angepöbelt und geschlagen worden sind. «Es kam schon vor, dass solcher Pöbel auf am Boden liegende Obdachlose uriniert hat.» Betroffene würden jedoch ungern davon erzählen oder sich bei der Polizei melden. EBA