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Culturescapes Amazonia

«Wir müssen den Kampf gemeinsam austragen»

Culturescapes Amazonia Festivaldirektor Jurriaan Cooiman und die indigene brasilianische Aktivistin Alessandra Korap, Angehörige der Mundurukú, erklären, wie Kultur zum Nachdenken und Handeln anregen kann.

TEXT MONIKA BETTSCHEN

Herr Cooiman, das Kulturfestival Culturescapes beschreitet neue Wege: Ihr Fokus richtet sich nicht mehr auf ein einzelnes Land wie bisher, sondern auf eine ganze Weltregion, zum Auftakt auf den Amazonas. Wie kam es zu dieser Neuausrichtung?

Jurriaan Cooiman: Wir als Menschheit stehen vor gewaltigen ökologischen und sozialen Herausforderungen. Um diese anzupacken, müssen wir grenzübergreifend denken. Culturescapes will dem mehr Rechnung tragen. Auf über 40 Bühnen und Häusern zeigen nun Kulturschaffende aus Brasilien, Kolumbien, Peru, Ecuador und Bolivien Werke, in denen sie sich unter anderem mit ihrem von Umweltzerstörung und sozialen Unruhen bedrohten Lebensraum auseinandersetzen und auch aufzeigen, welchen Anteil die westlichen Länder daran haben.

Frau Korap, Sie haben an der Eröffnung von Culturescapes eine Rede gehalten. Wie kann Kultur einen Beitrag leisten, um Ihre Heimat vor weiterer Zerstörung zu bewahren?

Alessandra Korap: Kulturveranstaltungen ist ein wunderbares Mittel, um die Vielfalt unserer Völker zu zeigen. Es gibt nicht DIE Indigenen, sondern allein in Brasilien über 300 indigene Völker. Die Unterschiede zeigen sich zum Beispiel in der Gesichtsbemalung. Meine eigene ist die einer Kriegerin. Wir drücken so auch unsere Individualität aus. Ihr Europäer*innen seid euch dieser Vielfalt nicht bewusst, deshalb ist es gut, dass Culturescapes sie zeigt. In der Kunst sind die Weissen offener für andere Denkweisen als zum Beispiel in der Wirtschaft oder Politik. Erst wenn ihr unseren Kampf versteht, könnt ihr auch selber Teil davon werden. Dann wird euch klar, welche negativen Folgen es für uns hat, wenn ihr Tropenholz, Rindfleisch oder Soja aus dem Amazonas kauft. Wir haben taube und blinde Feinde und wir müssen ihnen beibringen, was sie nicht hören oder sehen.

Sie haben die Vielfalt der indigenen Völker angesprochen. Wie herausfordernd ist es, für ihren Kampf eine gemeinsame Stimme zu finden?

Alessandra Korap: Seit Pedro Álvares Cabral im Jahr 1500 Brasilien entdeckte, gab und gibt es bei uns unterschiedliche Meinungen, wie man mit den Weissen umgehen soll. Soll man auf sie zugehen oder sich besser von ihnen fernhalten? Es gibt Gemeinschaften, die aus Angst vor Rassismus und Tränengas nicht an Demonstrationen teilnehmen. Aber bliebe jeder für sich, gäbe es keinen Zusammenhalt unserer Völker. In unseren Territorien sind wir verwund-

«Erst wenn ihr unseren Kampf versteht, könnt ihr auch selber Teil davon werden.»

ALESSANDRA KORAP

Alessandra Korap ist Angehörige der indigenen Gemeinschaft der Mundurukú im brasilianischen Amazonas und Preisträgerin des Robert F. Kennedy Human Rights Award. Sie reiste auf Einladung der Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz in die Schweiz.

«Um den Amazonas zu begreifen, müssen wir uns vom Denken in westlich geprägten Begriffen distanzieren.»

JURRIAAN COOIMAN

Jurriaan Cooiman ist Direktor des 2003 von ihm gegründeten interdisziplinären Kulturfestivals Culturescapes.

bar. Bewaffnete Banden vertreiben uns, um den Wald auszubeuten. Die Zerstörung betrifft uns alle, deshalb müssen wir unsere Stimme erheben. Es ist ein Stellvertreterkampf, den wir gemeinsam austragen müssen. Wenn wir für Proteste zusammenkommen, ist das ein starker Ruf der Natur, eine Bewegung, die uns neue Kraft gibt. Jurriaan Cooiman: Um den Amazonas in seiner ganzen Vielfalt zu begreifen, müssen wir uns vom Denken in westlich geprägten Begriffen wie Kultur oder Natur distanzieren. Denn für die indigenen Völker Amazoniens gibt es keine Trennung, beide Ebenen bedingen einander. Trennen wir die Begriffe trotzdem, geschieht bereits eine Wertung. Für die Indigenen ist Kultur ein Ort der Stärkung mitten im Leben. Wenn man sagt, wir müssen die Kultur der Indigenen schützen, tappen wir bereits wieder in die Falle der begrifflichen Hoheit, indem wir die Kultur losgelöst von der Umwelt einordnen, in der sie gelebt wird. Wenn man lediglich den Naturschutz anspricht, wird die Lebenswelt der Indigenen erneut verneint. Seit der Ankunft der Europäer wurden 90 Prozent der indigenen Völker ausgerottet. Trotzdem gibt es in Amazonien immer noch eine bemerkenswerte Vielfalt. Culturescapes will diese Vielfalt zeigen, denn sie wird im Diskurs rund um den Schutz des Amazonas oft vergessen.

Unser westliches Weltbild steht uns also ziemlich im Weg?

Jurriaan Cooiman: Wir können erst einen wertfreien Blick auf unsere Umwelt entwickeln, wenn wir auch andere Wissensformen anerkennen und gelten lassen. Erst, wenn wir diese Wissensherrschaft nicht mehr alleine für uns beanspruchen, kann auch ein Wissensaustausch stattfinden. Diesen möchten wir mit Culturescapes fördern. Der Film «El abrazo de la serpiente», in welchem Forscher im Amazonas Heilpflanzen suchen, aber Heilung in der Begegnung mit den Indigenen erfahren, zeigt eine solche Annäherung. Und in den Gesprächen im Fotomuseum Winterthur und im Museum Tinguely Basel zwischen Iba Sales, einem Schamanen der Huni Kuin, und dem Anthropologen Jeremy Narby, Autor des Buches «Can Plants Teach?», wird eine Brücke zwischen Schamanismus und Molekularbiologie geschlagen. Alessandra Korap: In den Städten und bei den Weissen möchte man nicht über den Wald sprechen. Aber er geht uns alle an: Der Amazonas ist die grüne Lunge dieser Welt, egal, wo man lebt.

Die Indigenen tragen den Kampf gegen die Zerstörung bis jetzt praktisch alleine aus. Dabei tragen doch ganz andere die Verantwortung dafür.

Alessandra Korap: Wir fühlen uns für den Wald verantwortlich, nehmen Schmerz und Schuld auf uns, denn wir sind ja jeden Tag dort. Zuerst glaubten wir noch, die Geister seien wütend, weil wir die Zerstörung nicht aufhalten konnten. Dann aber erkannten wir, dass mächtige Feinde in der ganzen Welt dahinterstecken, nicht nur die Holzfäller oder Grossfarmer bei uns. Wir schätzen den Wald für seine Lebenskraft. Für die Weissen aber bekommt er erst einen Wert, wenn er tot ist und sie ihn zu Geld machen können. Wenn ihr euch aber selber ein Bild macht, dann könnt ihr unseren Schmerz fühlen, einen Teil der Schuld mit uns tragen und euch unserem Kampf anschliessen. Jurriaan Cooiman: Wenn die Indigenen demonstrieren, wird ihnen oft ein Anspruchsdenken unterstellt. Dabei kennen sie gar kein Eigentumsprinzip und haben deshalb auch nie gesagt, dass der Amazonas ihnen gehört. Sie verstehen sich nicht als Eigentümer*innen, sondern als Pfleger*innen des Waldes. Es braucht bei uns eine Dekolonialisierung des Denkens und daran anknüpfend eine Dekolonialisierung des Handelns. Wir müssen uns verabschieden vom Eigentumsdenken und davon, allem eine Wertigkeit geben zu wollen. Bei den Indigenen geht es darum, auf einer zutiefst philosophischen Ebene Teil von etwas zu sein und in diesem Zustand jedem Menschen, jedem Tier und jeder Pflanze die gleiche Daseinsberechtigung zuzugestehen.

«Culturescapes», interdisziplinäres Schweizer Kulturfestival mit Schwerpunkt Basel, analog und digital bis Mi, 1. Dezember. www.culturescapes.ch