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Flucht auf die Strasse

In Zürich wird niemand gezwungen, im Freien zu übernachten. Dennoch schlafen Menschen auf der Gasse. Warum?

TEXT ANDRES EBERHARD FOTO MIRIAM KÜNZLI

Ein dunkler, unbeleuchteter Park nahe einer Autobahnauffahrt. Es ist 23 Uhr, eine kühle, windige Oktobernacht bahnt sich an. Mit einer Taschenlampe erkundet Milos Micanovic die Umgebung: Parkbänke, Kiosk, Kinderspielplatz. Auf zwei der Bänke liegt ein Mensch – tarngrün und raupenförmig eingepackt. «Schlafsäcke der Armee», erklärt Micanovic. «Die haben sie vermutlich bei einer Anlaufstelle bekommen.» Seine Kollegin Fatima Aeschbacher geht langsam auf eine der Gestalten zu und stupst sie an. «Grüezi, Hello!»

Micanovic und Aeschbacher haben Spätschicht bei sip züri, der Sozialambulanz der Stadt Zürich. Sie suchen Obdachlose auf, bieten Hilfe an, begleiten sie zur Notschlafstelle oder informieren, wo es einen warmen Gratis-Znacht gibt. Sobald die Temperaturen unter null Grad sinken, gehen sie auf Kältepatrouille. In dieser Nacht begleitet Surprise ein Team auf einem der täglichen Rundgänge.

«Niemand muss in der Stadt Zürich unfreiwillig unter freiem Himmel übernachten.» Das hatte Nadeen Schuster, Sprecherin der Sozialen Einrichtungen und Betriebe, am Telefon angekündigt. Es gebe genügend Plätze in städtischen sowie privaten Notunterkünften. «Es gibt in der Stadt keine strukturelle Obdachlosigkeit.»

Wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, sieht die Obdachlosen trotzdem – sie lassen sich an einigen bekannten Schlafplätzen nieder. Die Stadt weiss von «etwa zwei Dutzend Menschen», die das ganze Jahr über draussen schlafen. Die Sozialwerke Pfarrer Sieber sprechen von «mehreren Dutzend». Warum ziehen diese Menschen die kalte Parkbank dem warmen Bett in der Notschlafstelle vor?

Die Frau, die im Militärschlafsack auf der Parkbank schläft, schält sich verärgert aus ihrem Schlafsack. Seit mehreren Wochen gibt es Reklamationen, weil die Frau sich auch tagsüber auf dem Kinderspielplatz aufhält. Darum soll sip züri herausfinden, wer die Frau ist. Das gelingt vorerst nicht. «Very rude» sei es, sie zu wecken. Informationen gibt es von ihr keine, und auch ein Treffen am nächsten Morgen lehnt sie ab. «I understand», sagt Aeschbacher. «Then sleep well.» Sie geht ein paar Schritte zur Seite. Dann ruft sie die Polizei. Sie sorge sich um den psychischen Zustand der Frau, erklärt sie danach.

Der Park bei der Autobahnauffahrt gehört zu den beliebtesten Schlafplätzen von Obdachlosen. Derzeit übernachten hier vier Menschen regelmässig. Das ist nicht verboten. Solange niemand reklamiert, werden sie in Ruhe gelassen. Bei Konflikten versucht sip züri erst zu vermitteln. «Zu Problemen kommt es meist, wenn Obdachlose sich auch tagsüber an einem Platz einrichten», sagt Micanovic. Um Konflikten vorzubeugen, rät sip züri Betroffenen, ihren Schlafplatz immer wieder mal zu wechseln. An diesem Abend tun sie das bei einem israelischen Mann, der im Schneidersitz zwischen Restaurant und Coiffeur inmitten der Einkaufsmeile sitzt: «Du darfst in der Stadt schlafen. Aber du musst woanders hin.»

Obdachlose sollen unsichtbar bleiben

Steckt hinter dieser Haltung eine Doppelmoral? Einerseits werden Obdachlose geduldet und durch sip züri sozial betreut. Andererseits sollen sie wenn möglich unsichtbar sein. «Die Nicht-Beachtung ist vielleicht die tragischste Form einer gesellschaftlichen Geringschätzung. Es bedeutet, dass Obdachlose nicht einmal wahrgenommen werden», kritisiert Walter von Arburg, Sprecher des Sozialwerks Pfarrer Sieber (SWS). Allerdings ist es wohl auch zu ihrem Vorteil, wenn Obdachlose unsichtbar und damit nicht ausgesetzt sind: So werden sie zumindest nicht zur Zielscheibe von weitergehenden Aggressionen. Die sip züri bezeichnet das Vorgehen als Konfliktvermittlung. «Menschen mit exponiertem Schlafplatz besetzen einen Raum, den andere mit gleichem Recht beanspruchen», so Sprecherin Schuster. Es sei einfacher über einen Raum zu diskutieren, bevor er von Betroffenen eingenommen wird und ihnen quasi gehört.

Fatima Aeschbachers Handy klingelt. Auf dem Trottoir einer vielbefahrenen Strasse in Zürich-Wiedikon stehe ein rotes Sofa. Darauf liege eine Frau um die siebzig, ohne Decke und nur mit dünner Jacke bekleidet. Sie wirke verwirrt und brauche Hilfe. So schildert es der junge Mann, der sip züri angerufen hat. «Wir kommen gleich», sagt Aeschbacher.

Erst einmal muss aber die Polizei den Fall mit der Frau auf der Parkbank klären. Diese zeigt sich nun, vier Uniformierte vor sich, deutlich kooperativer. Wie sich herausstellt, stammt sie aus Finnland und hält sich schon einige Tage zu lange in der Schweiz auf. Sie verspricht, sich am nächsten Tag beim Migrationsamt zu melden. «Last chance», sagt einer der Polizisten.

Hier im Gemeinschaftszentrum Bachwiesen verbrachte Ruedi seine Nächte. Blumen erinnern an seinen Tod.

«Obdachlosigkeit hat primär soziale, nicht materielle Ursachen. Wichtig ist ein tragfähiges Beziehungsnetz.»

WALTER VON ARBURG, SOZIALWERK PFARRER SIEBER Viele Menschen, die in der Nacht im Freien anzutreffen sind, seien Tourist*innen, die kein Geld für ein Hotel hätten oder aufwenden wollten, erzählt Aeschbacher, als sie wieder in den Kleinbus von sip züri steigt. Sie kämen in der Hoffnung hierher, Arbeit zu finden. Klappe es nicht, würden sie wieder gehen. Oder aber sie bleiben hier – etwa weil ihnen das Geld für die Rückreise fehlt. Dann vernetzt sip züri die Menschen mit dem Sozialdepartement, das den Weg zurück ins Heimatland organisiert.

Verwirrte Frau auf rotem Sofa

Daneben gibt es auch Menschen, die permanent draussen übernachten. Warum diese den Schlafplatz auf der Gasse einer Notunterkunft vorziehen, kann sip züri nicht abschliessend beantworten. «In 99 Prozent der Fälle handelt es sich um Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen», sagt Aeschbacher nur. Einige würden sich zudem nicht legal in der Schweiz aufhalten und deswegen die Behörden meiden.

Genaueres weiss Surprise-Stadtführer Hans Peter Meier, der selbst eineinhalb Jahre obdachlos war. Er sagt: «Es gibt Leute, für die sind die Ämter ein rotes Tuch. Sie wollen sich nicht abhängig machen. Oder sie sind zu stolz.» Und Walter von Arburg vom Sozialwerk Pfarrer Sieber weist daraufhin, dass Obdachlosigkeit primär soziale, nicht materielle Ursachen habe. Wer Job oder Wohnung verliere, Schulden habe, süchtig sei oder um einen geliebten Menschen trauere, dem könne zwar finanziell geholfen werden. «Von fundamentaler Wichtigkeit» sei aber ein tragfähiges Beziehungsnetz. «Wer nicht darüber verfügt, steht plötzlich allein da.» Die Flucht auf die Strasse geschehe dann aus einer Überforderung heraus. «Um sich von allen Verpflichtungen und Problemen zu lösen.» Und warum meiden manche selbst Notschlafstellen? «Betroffenen ist es häufig nicht wohl unter vielen Menschen», sagt von Arburg. Im Wald, in einem Hinterhof oder unter der Brücke hofften sie, in Ruhe gelassen zu werden.

Micanovic betätigt den Zündschlüssel, steuert den Bus von sip züri zum roten Sofa an der Birmensdorferstrasse. Die Frau, eine rote Brille auf der Nasenspitze, hat sich mittlerweile aufgesetzt, sie schlottert. Erst setzt sich Aeschbacher neben die Frau, dann hilft sie ihr in den vorgewärmten Bus. Der junge Mann, der sip züri gerufen hat, verabschiedet sich und fährt mit seinem Tandem-Velo davon. Die Frau kann sich zwar an ihren Namen und ihr Geburtsdatum erinnern. Nicht jedoch, wo sie hin soll. «In meiner Wohnung lebt jetzt jemand anders.»

Auf der nahen Polizeiwache gibt es eine wärmende Rettungsdecke sowie die aktuelle Meldeadresse. Doch die Fahrt dahin ist vergebens, dort hängt kein Schild mit ihrem Namen. Was jetzt? Aeschbacher und Micanovic beraten sich: in die Notschlafstelle oder ins Triemli-Spital, wo die Frau gemäss eigenen Angaben eben noch gewesen war? Sie entscheiden sich für Letzteres. Tatsächlich findet die Mitarbeiterin der Notaufnahme sie in der Datenbank: Erst gestern entlassen, behandelt wegen Darmproblemen. Sie solle heute Nacht hierbleiben, schlägt die Frau am Empfang vor. Morgen schaue man weiter. Müdes Nicken. Ein Bett für eine Nacht, immerhin.