Nicht aller Tage Abend TEXT MILENA MOSER
Das Holzklötzchen und die Fusssohle. Ein fieser Schmerz. Ein Schmerz wie kein anderer. Jenny kannte diesen Schmerz von frĂŒher. Als die Kinder noch klein waren. Sie fluchte, bĂŒckte sich und hob es auf. Auf dem Tisch stand noch die Box mit dem Schiebedeckel. Sie stellte sich vor, wie Martin am Nachmittag hier gesessen hatte. Wie er versuchte, das viereckige Klötzchen in die runde Ăffnung zu zwĂ€ngen, das runde in die viereckige. Karla musste ihm dabei geholfen haben, sie hatte heute frei gehabt und Jenny abgelöst. «Geh du mal in Ruhe einkaufen, Mama», hatte sie gesagt. «Oder noch besser, ins Schwimmbad. Wann warst zuletzt schwimmen?» Martin liess sich nicht gerne helfen, das wusste Jenny. «Das mĂŒsste ich doch können», sagte er in solchen Momenten immer. Dann musste sie sich abwenden. Sie ertrug es nicht. Immer noch nicht. Sie sah ihn vor sich, wie er frustriert aufgab, das Klötzchen wegschleuderte, quer durchs Zimmer, wo es auf dem gemusterten Teppich liegen blieb. Sie war tatsĂ€chlich schwimmen gegangen. Das Eintauchen ins kĂŒhle, nach Chlor riechende Wasser fĂŒhlte sich vertraut an und gleichzeitig verkehrt. Das war nicht mehr sie, die dreimal die Woche hier ganz ruhig ihre Runden zog, einen Kilometer hinter sich legte und dann noch einen. Seit dem Unfall war sie nicht mehr hier gewesen. Sie gehörte nicht mehr hierher. Nach wenigen hundert Metern gab sie auf. Und nur weil sie sich noch nicht gleich nach Hause zurĂŒck traute, weil sie Karlas enttĂ€uschtes Gesicht nicht sehen wollte, hatte sie in der Cafeteria eine Portion Pommes frites gegessen und durch die grosse Scheibe den Schwimmern zugeschaut, den spielenden Kindern, den waghalsigen Turmspringern. Sie hatte Karla umarmt und ihr versichert, wie toll das Schwimmen gewesen sei, der freie Nachmittag. «Wenn du willst, kann ich jeden Mittwochnachmittag auf Papa aufpassen.» So weit kommtâs noch, dachte sie jetzt. Sie warf das Klötzchen in die Box und schloss den Deckel, sie rollte den Sitzball unter den Tisch, sie rĂŒckte die BĂŒcher zurecht. «Mein allerschönstes Buch vom Backen, Bauen und Flugzeugfliegen» lag noch aufgeschlagen da, und sie sah, dass Martin auf seinem Heft mit sorgfĂ€ltiger Schönschrift Wörter geĂŒbt hatte. Der Feuerwehrmann. Die BuchhĂ€ndlerin. 18
Erinnerte er sich, dass sie vor dem Unfall in einer Buchhandlung gearbeitet hatte, oder hatte er die Seite nur zufĂ€llig aufgeschlagen? Sie blĂ€tterte die Seite um und entdeckte eine neue Zeichnung, eine detailgetreues Abbild der Aussicht aus ihrem Wohnzimmerfenster: die Fassade des gegenĂŒberliegenden Hauses, die Nachbarn in den Fenstern, der kleine Oskar mit seinem Modellflugzeug, Saskia in ihrer KĂŒche, der alte Herr Steiner mit der Zeitung. Wenn man genau hinschaute, konnte man sogar den Namen der Zeitung lesen. Von rechts ragte der Ast einer Buche ins Bild, die im Hof stand, man konnte die Rippen jedes einzelnen Blattes erkennen. Mit unendlicher Geduld hatte er jede Einzelheit festgehalten, mit dem billigen blauen Kugelschreiber, den er auch fĂŒr seine SchreibĂŒbungen benutzte. Sie riss die Seite aus dem Heft und strich sie sorgfĂ€ltig glatt. Dann legte sie das Heft auf den BĂŒcherstapel. Wie gut, dass sie alles aufbewahrt hatten, dachte sie. Wie gut, dass sie solchen Wert auf QualitĂ€t, auf pĂ€dagogischen Nutzen gelegt hatte. Damals, als die Kinder noch klein waren, hatte Martin sie stĂ€ndig damit geneckt. «Was sollen sie denn in der Schule noch lernen?», sagte er immer. Manchmal hatte er dann auch ein ferngesteuertes Auto fĂŒr Joshi nachhause gebracht, eine Barbiepuppe fĂŒr Karla, Wasserpistolen fĂŒr beide. All diese Plastikteile waren irgendwann zerbrochen, auseinandergefallen, hatten ihren Reiz verloren. Aber die Klötzchen und die dreidimensionale Kugelbahn und die zusammensteckbaren Holzschienen fĂŒr die Eisenbahn leisteten ihnen jetzt unschĂ€tzbare Dienste. Nach einem Jahr hatte die Krankenkasse die Ergotherapie auf ein Minimum reduziert. Martin machte nicht genĂŒgend Fortschritte, war die Argumentation. Das leuchtete Jenny nicht ein: Sollte er dann nicht mehr gefördert werden, statt weniger? Plötzlich fröstelte sie. Die TĂŒr zum KĂŒchenbalkon stand offen. Eigentlich wollte sie sie nur schnell schliessen, doch dann trat sie hinaus, schaute in den Himmel hinauf und ĂŒber die DĂ€cher der Siedlung. Irgendwoher klangen Stimmen, die WG von schrĂ€g gegenĂŒber sass wohl noch am grossen Tisch im Hof. Die Luft war regengeschwĂ€ngert, sie roch nach frisch geschnittenem Gras und Grillkohle. Heute Mittag, als kurz die Sonne schien, sassen sie da auch, sie und Martin und Karla. Saskia von nebenan setzte sich zu ihnen, und als Martin kurz aufstand, um sich noch ein Glas Wasser aus der GemeinschaftskĂŒche zu holen, Surprise 503/21