Surprise Nr. 466

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Strassenmagazin Nr. 466 03. bis 16. Januar 2020

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Rassismus

«Woher kommst du?» Rahel Bains möchte, dass sich ihre Tochter nicht erklÀren muss. Seite 8 Surprise 466/20

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Kultur Kultur

SolidaritÀtsgeste SolidaritÀtsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

UnterstĂŒtzung UnterstĂŒtzung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE SURPRISE WIRKT WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefĂŒhl gefĂŒhl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstĂŒtzt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstĂŒtzt seit 1998 sozial benachteiligte MenschenïŹnanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht ïŹnanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

GESCHICHTEN GESCHICHTENVOM VOMFALLEN FALLEN UND UNDAUFSTEHEN AUFSTEHEN Kaufen KaufenSie Siejetzt jetztdas dasBuch Buch«Standort «StandortStrasse Strasse––Menschen MenschenininNot Notnehmen nehmen das dasHeft Heftinindie dieHand» Hand»und undunterstĂŒtzen unterstĂŒtzenSie Sieeinen einenVerkĂ€ufer VerkĂ€uferoder odereine eine VerkĂ€uferin VerkĂ€uferinmit mit1010CHF. CHF. «Standort «Standort Strasse» Strasse» erzĂ€hlt erzĂ€hlt mitmit den den Lebensgeschichten Lebensgeschichten von von zwanzig zwanzig Menschen, Menschen, wie wie ununterschiedlich terschiedlich diedie GrĂŒnde GrĂŒnde fĂŒrfĂŒr den den sozialen sozialen Abstieg Abstieg sind sind – und – und wie wie gross gross diedie SchwierigSchwierigkeiten, keiten, wieder wieder aufauf diedie Beine Beine zuzu kommen. kommen. PortrĂ€ts PortrĂ€ts aus aus frĂŒheren frĂŒheren Ausgaben Ausgaben des des Surprise Surprise Strassenmagazins Strassenmagazins ergĂ€nzen ergĂ€nzen diedie Texte. Texte. Der Der Blick Blick aufauf Vergangenheit Vergangenheit und und Gegenwart Gegenwart zeigt zeigt selbstbewusste selbstbewusste Menschen, Menschen, diedie es es geschafft geschafft haben, haben, trotz trotz sozialer sozialer und und wirtschaftliwirtschaftlicher cher Not Not neue neue Wege Wege zuzu gehen gehen und und einein Leben Leben abseits abseits staatlicher staatlicher Hilfe Hilfe aufzubauen. aufzubauen. Surprise Surprise hathat siesie mitmit einer einer Bandbreite Bandbreite anan Angeboten Angeboten dabei dabei unterstĂŒtzt: unterstĂŒtzt: Der Der Verkauf Verkauf des des Strassenmagazins Strassenmagazins gehört gehört ebenso ebenso dazu dazu wie wie derder Strassenfussball, Strassenfussball, derder Strassenchor, Strassenchor, diedie Sozialen Sozialen StadtrundgĂ€nge StadtrundgĂ€nge und und eine eine umfassende umfassende Beratung Beratung und und Begleitung. Begleitung. 156156 Seiten, Seiten, 3030 farbige farbige Abbildungen, Abbildungen, gebunden, gebunden, CHF CHF 4040 inkl. inkl. Versand, Versand, ISBN ISBN 978-3-85616-679-3 978-3-85616-679-3 Bestellen Bestellen beibei Verkaufenden Verkaufenden oder oder unter: unter: surprise.ngo/shop surprise.ngo/shop Weitere Weitere Informationen Informationen T +41 T +41 6161 564 564 9090 9090 | info@surprise.ngo | info@surprise.ngo | surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: | Facebook: Surprise Surprise NGO NGO

Erlebnis Erlebnis


TITELBILD: AUS DEM FAMILIENALBUM VON RAHEL BAINS

Editorial

Ähnlich, aber nicht gleich Niemand mag es, doch alle tun es: Wir stecken einander die ganze Zeit in Schubladen, achten peinlich genau darauf, wie er oder sie denkt, redet, isst, liebt, sich kleidet. Dabei haben Stereotypen auch ihr Gutes. Sie ­helfen eine Welt zu vereinfachen, die immer komplexer wird. Doch manchmal haben Stereotypen ein hĂ€ssliches Gesicht. Dann geht es nur darum, im GegenĂŒber einen «Anderen» zu sehen, von dem man sich abgrenzt und den man abwertet. Rassismus ist so eine widerliche Fratze. «Damals meinten manche Leute, einige Menschen seien mehr wert als andere. Deshalb teilte man sie in Rassen ein. Manchmal habe ich das GefĂŒhl, dass sie das auch heute noch tun.» Rahel Bains schreibt diese Zeilen in einem Brief an ihre Tochter (ab Seite 8). Sie weiss zu gut, wie es ist, die «Andere» zu sein – allein wegen ihres Aussehens. Und wie man zum blossen Stellvertreter fĂŒr eine ganze Gruppe wird. Wer nur in Stereotypen denkt – «die Schwarze», «der Muslim» –, verliert den Menschen

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

NestlĂ© natĂŒrlich 6 Moumouni 


... und die Gier 7 Die Sozialzahl

Care-Arbeit fĂŒr Angehörige 8 Woher kommst du?

Brief an meine Tochter

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16 Grundeinkommen

Geschenktes Geld

aus dem Blick. Und wer den Menschen nicht mehr sieht, dem verkĂŒmmert sein MitgefĂŒhl. So gefĂ€hrlich einfach ist das. Wie anders? Wir mĂŒssten wohl mehr das «Wir» vor Augen haben und auf Gemeinsamkeiten achten, statt auf Differenzen zu pochen. Grosse Worte, ja. Zum GlĂŒck gibt es von diesen Gemeinsamkeiten viele. Unsere Verwundbarkeit zum Beispiel. Egal woher du kommst, wie ich aussehe, was er denkt oder wofĂŒr sie einsteht, wir alle sind verletzlich. Das ist kein statisches, gleichförmiges «Wir», sondern eines der Vielfalt: Wir alle Ă€hneln einander, doch niemand gleicht dem anderen. Auch davon ist in Rahel Bains’ Brief die Rede, der am Ende, finde ich, an uns alle ge­ richtet ist. Doch lesen und schauen Sie selbst. KL AUS PETRUS

Redaktor

22 Kino

Schnitt fĂŒr Schnitt 24 Kino

Sternenstaub auf Kollisionskurs 26 Buch

Mal Held, mal Störenfried 26 Schweiz schreibt

Ein letzter Gruss fĂŒr Einsame

27 Tour de Suisse

Pörtner in Baden 26 Veranstaltungen 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-PortrÀt

«Meine Tochter fand ich auf der Strasse»

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ILLUSTRATION: BEA DAVIES

Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 LÀndern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Der «König der Vagabunden» Gregor Gog (1891–1945), GrĂŒnder der Internationalen Bruderschaft der Vagabunden und Chefredaktor der wohl ersten deutschsprachigen Strassenzeitung Der Kunde, war eine schillernde Figur der Weimarer Republik. Nun hat der Avant-Verlag die Lebensgeschichte des Organisa­ tors des Ersten Internationalen Vagabundenkongresses als Comic herausgebracht. Nachdem er von den Nazis kurz nach der MachtĂŒbernahme in ein Konzentrations­lager gesteckt worden war, floh Gog am Heiligabend 1933 in die Schweiz, reiste aber ĂŒber Paris weiter in die Sowjetunion. In sein Tagebuch schrieb er: «Die Landstrasse verlor sich im Dschungel faschistischer Barbarei (
). Konzentrationslager, Zwangsarbeit und PrĂŒgel: Die deutsche Bourgeoisie hat uns das schon immer gewĂŒnscht.» Gog verstarb 1945 in Taschkent.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Historisch

In der DDR wurden Obdachlose und andere sogenannte Asoziale zwangs­untergebracht. Besonders ab 1961 nahm die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit zu, man orientierte sich an den sowjetischen «Parasiten­ paragraphen». Demnach wurde ­Betteln, sogenannte Arbeitsscheu, Prostitution oder die BeeintrĂ€chtigung der öffentlichen Ordnung «durch asoziale Lebensweise» mit Erziehungs­aufsicht, GefĂ€ngnis oder AufenthaltsbeschrĂ€nkungen sanktioniert. Unangepasste Jugendliche wurden in ­«Jugendwerkhöfe», also Umerziehungslager fĂŒr Jugendliche, gesteckt.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Steigende Altersarmut

2006 waren 10,3 Prozent der deutschen Rentner von Armut betroffen, heute sind es 15,6 Prozent. Das ist eine Steigerung von 51 Prozent. Allein die Zahl der Empfangenden von ­Alters-Hartz-IV stieg innerhalb von zehn Jahren um 40 Prozent. Wird jetzt nichts unternommen, um den Trend aufzuhalten, könnte laut ­Bertelsmann-Stiftung in zwanzig Jahren jeder fĂŒnfte Rentner von ­Armut betroffen sein. FIFTYFIFTY, DÜSSELDORF

Rigide FlĂŒchtlingspolitik

Ungarn hat einen 175 Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Serbien hochgezogen, um Migranten davon abzuhalten, in das EU-Land zu gelangen. Die Abschottungspolitik von Staatschef Viktor OrbĂĄn scheint aufzugehen: Immer weniger GeflĂŒch­tete versuchen ĂŒber Serbien nach Ungarn zu kommen. Trotz sinkender Zahlen verfolgt die Regierung nach wie vor eine rigide FlĂŒchtlingspolitik. 2018 wurden 608 AsylantrĂ€ge gestellt, anerkannt wurden nur 9 Prozent.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

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Vor Gericht

NestlĂ© natĂŒrlich Schweiz, Land der Schokolade. Elf Kilo gönnt sich die durchschnittliche Schweizerin pro Jahr; nur die Deutschen sind noch grössere SchoggimĂ€uler. Viele fĂŒhrende Player im Markt sitzen in der Schweiz. Barry Callebaut zum Beispiel, der weltgrösste Kakaoverarbeiter, dessen Erzeugnisse sich in einem Viertel aller Schokoladenprodukte finden. Lindt & SprĂŒngli ist im Hochpreissegment die globale Nummer eins. Und NestlĂ©: Der grösste Lebensmittelkonzern der Welt stellt einige der meistverkauften Marken her wie KitKat, Smarties, Cailler. Ein sĂŒsses MilliardengeschĂ€ft. In bitterer Armut, von unter zwei US-Dollar pro Tag, leben hingegen die Kakaofarmer in Westafrika. Von dort stammen 70 Prozent der globalen Ernte. Die Farmer bekommen weniger als 10 Rappen pro Tafel, wie NGOs berechnet haben. Das reicht den Bauernfamilien nicht, um die Produktion zu modernisieren oder HilfskrĂ€fte anzuheuern. Die Folge: Hunderttausende Kinder arbeiten in den Plantagen. RegelmĂ€ssig decken Journalisten FĂ€lle von verschleppten Kindern auf. Wobei «aufdecken» das falsche Wort ist – man braucht nur hinzusehen. Dass es in der Wertschöpfungskette von Kakao zu Menschenrechtsverletzungen kommt, ist unbestritten. Auch die Schokoladenkonzerne rĂ€umen dies ein. Sie sollen von den illegalen Praktiken aber nicht nur wissen, sondern sie fördern. Das sagen sechs ehemalige malische Kindersklaven, die NestlĂ© 2005 in den USA verklagt haben. Sie waren 10 bis 14 Jahre alt,

als sie in den 1990ern entfĂŒhrt und in die ElfenbeinkĂŒste verkauft wurden. Die Anklageschrift schildert, wie sie jahrelang bis zu vierzehn Stunden am Tag sechs Tage die Woche ohne Bezahlung schufteten. Beaufsichtigt von bewaffneten WĂ€chtern, verprĂŒgelt, ausgepeitscht, eingesperrt. Gegessen haben sie nur Reste, schlafen mussten sie auf dem nackten Boden. Man zwang sie, den eigenen Urin zu trinken. NestlĂ© & Co. könnten durch ihre Marktmacht den Bauern die Preise diktieren, so die KlĂ€ger. Wer besonders gĂŒnstig produziere, werde belohnt. Damit schaffe NestlĂ© die Voraussetzungen dafĂŒr, dass es ĂŒberhaupt zu Zwangsarbeit, unmenschlicher Behandlung und Folter komme. DafĂŒr mĂŒsse der Konzern zur Verantwortung gezogen werden. Das ist in den USA aufgrund des «Alien Tort Statute» möglich. Dieses besagt, dass Verstösse gegen das Völkerrecht vor einem US-Gericht eingeklagt werden können, auch wenn die Beteiligten nicht US-BĂŒrger sind und die Ereignisse im Ausland stattgefunden haben. Seit nunmehr fĂŒnfzehn Jahren hĂ€lt Menschenrechtsanwalt Terence Collingworth der Übermacht der KonzernanwĂ€lte stand und erstreitet den malischen GeschĂ€digten durch alle Instanzen das Recht auf einen Prozess. In seinen Rechtsschriften erinnert er die Konzerne an ihre eigenen Versprechen, freiwillig fĂŒr fairen Kakao zu sorgen. Er ist der Ansicht, dass es nur mit gesetzlichem Zwang geht. So wie es die Konzernverantwortungsinitiative verlangt, ĂŒber die wir bald abstimmen. Die Sorgfaltspflicht wĂŒrde dann explizit genau solche strukturellen Risiken umfassen. Unsere Pralinen wĂ€ren dann vielleicht teuer. Aber wetten, sie wĂŒrden besser schmecken? Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in ZĂŒrich 5


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

Der hier schwitzt, die hier isst, der hier hat Schuppen, die ist möglicherweise nett, aber 
 Endlich hier, ein Platz, also vier PlĂ€tze nur fĂŒr mich. Gier ist das stĂ€ndige Fragen nach dem WLAN-Code. Oder, noch schlimmer, gar nicht angewiesen sein auf den WLANCode, weil man grenzenlos Datenvolumen abonniert hat. Gier ist alles haben und alles wollen, und alles haben zu können und wollen zu dĂŒrfen, ohne zu merken, dass die Welt einem nicht gehört. Gier ist die Romantisierung von armen KĂŒnstler*innen, von kranken KĂŒnstler*innen. Gier ist das Furzen der KĂŒhe, das Grapschen der MĂ€nner und noch schlimmer: Altherrenwitze. Weil zum Grapschen, zum Paygap, zum unsicheren Heimweg dann auch noch nach einem Lachen verlangt wird. Lach doch mal, MĂ€dchen! Gier ist, alles sagen dĂŒrfen zu wollen, ohne als Arschloch zu gelten. Wenn ich Gier höre, denke ich an die ­Sachen, auf die ich verzichten will. Vielleicht, um im Himmel dann so richtig zu völlern und zu vögeln. Oder auch, um nicht so gierig zu wirken. Wenn ich an Gier denke, vergesse ich manchmal, dass sich meine Gier an ganz anderen Orten materialisiert. Meine Gier findet in Bangladesch in einer Kleiderfabrik statt, in einer kongolesischen Coltanmine, im ­Lager von Zalando, im Starbucks, in meiner Cola, in meinem NestlĂ©-Joghurt.

Moumouni 



 und die Gier Ich habe letztens eine Kollegin gefragt, was ihre VorsĂ€tze fĂŒrs neue Jahr sind, und sie sagte mir, sie wolle «etwas asketischer, nicht mehr so gierig» leben. Dann zeigte sie mir Bilder von einem ­Yoga-Retreat, und ich kam irgendwie nicht umhin, das nicht auch ein bisschen gierig zu finden: Es war sehr teuer und versprach ein «authentisches Erlebnis». Und doch: «nicht mehr so gierig» sein ist eigentlich ein schöner Vorsatz. Jetzt musste ich mir also Gedanken ĂŒber die Gier machen. Wenn ich Gier höre, denke ich als Allererstes an Essen. An Essen und essen. Ans Happy Meal mit dem Spielzeug, das niemand braucht, an einen Burger mit extra KĂ€se und grossen Pommes und einer rieeesigen Cola. An all den Zucker, auch im Ketchup – und unbedingt Mayo dazu, vielleicht auch noch den geilen BBQ-Dip. Ich denke an den Doppelwhopper, den 6

ich nie esse, ausser ganz selten, und dann hab ich auch ein schlechtes Gewissen, ich schwöre! Ich denke an den Big Mac, der mir geschmeckt hat, bis mir schlecht geworden ist und ich mir dachte: Was ist noch schlimmer, als einen Burger zu ­essen? – Einen Burger zu kaufen und nicht mal aufzuessen. Also wegen des toten Tiers oder so. Dann denke ich an «ich darf mir doch mal was gönnen», dann an ­einen Brownie, an zwei Brownies, und morgen vielleicht noch einen. An tropfende Eiscreme und das ewige «sich zu fett finden» im Schwimmbad, auf der Sommerwiese, am Strand.

Und wir gieren nach Sicherheit. Wir ­machen uns zwar ĂŒber das Klima Gedanken, hoffen dann aber doch lieber, Elon Musk erfindet uns was Krasses, das gleichzeitig megacool designt ist UND die Welt rettet. Etwas, das wir kaufen können, weil wir megaviel Geld haben. Gier ist ein Privileg. Gier ist die Sucht nach unseren Privilegien. Gier ist, seine Sucht nicht zu kennen. Gier ist die Völlerei in Ignoranz. «Man wird ja wohl noch völlern dĂŒrfen.»

Aber Gier ist auch: jeden Tag eine Avocado essen. Wenn ich Gier höre, denke ich daran, wie ich durch den Zug streife auf der Suche nach einem Viererabteil fĂŒr mich allein.

FATIMA MOUMOUNI  wĂŒnscht ein frohes Neues und eine magere Avocado fĂŒr die weniger fetten Jahre!

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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BEDÜRFNISSE UND BEDARF VON BETREUENDEN ANGEHÖRIGEN NACH UNTERSTÜTZUNG UND ENTLASTUNG  . BUNDESAMT FÜR GESUNDHEIT, BERN, 2019

Die Sozialzahl

Care-Arbeit fĂŒr Angehörige Immer mehr Menschen in der Schweiz werden immer Ă€lter. Diese «Gesellschaft des langen Lebens» stellt in ihrer Dynamik zwei grosse gesellschaftliche Herausforderungen dar: Zum einen geht es um die Sicherung der materiellen Altersvorsorge, zum an­ deren wĂ€chst der Bedarf an Betreuung und Pflege. Seit langem wird ein Mangel an Pflegepersonal beklagt, der sich in den nĂ€chsten Jahren weiter zuspitzen wird. Wenig Beachtung findet bis heute die Betreuung Ă€lterer Menschen. Dabei wird sie von vielen Betroffenen frĂŒher benötigt als eine medizinische Pflege. Diese Betreuung wird vor allem von Angehörigen geleistet. Eine erste gesamtschweizerische Umfrage zeigt, dass rund 543 000 Personen ab 16 Jahren ihnen nahestehende Menschen betreuen, was einem Anteil von 7,6 Prozent der Gesamtbevölkerung ­entspricht. Am stĂ€rksten engagieren sich die 50- bis 64-JĂ€hri­ gen, in dieser Altersgruppe steigt der Anteil auf 12,2 Prozent. Überproportional hoch ist auch der Anteil der Rentnerinnen und Rentner mit 8,6 Prozent. Hier geht es um die UnterstĂŒtzung der Lebenspartnerinnen und Lebenspartner. Betreuung kann vieles bedeuten. Am hĂ€ufigsten gaben die Be­ fragten an, dass sie finanzielle und administrative Aufgaben fĂŒr ihre Angehörigen ĂŒbernehmen (38 Prozent), gefolgt von Koor­ dinations- und Planungsarbeiten (23 Prozent), Hilfe im Alltag und Haushalt (23 Prozent) sowie emotionale und soziale Unter­ stĂŒtzung der Angehörigen (21 Prozent). Dabei werden in vie­len BetreuungsverhĂ€ltnissen verschiedene Aufgaben gleichzeitig wahrgenommen, weshalb Mehrfachnennungen möglich waren.

Das ĂŒberraschendste Ergebnis der Befragung ist der geringe Un­ terschied zwischen den Geschlechtern. Der Anteil der Frauen an allen, die Angehörige betreuen, betrĂ€gt «nur» 54 Prozent. Zwar betreuen Frauen ihre Angehörige mit einer etwas höheren zeit­lichen IntensitĂ€t als MĂ€nner. Doch selbst bei den verschie­ denen Aufgaben liegen die Anteile von betreuenden Frauen und ­MĂ€nnern erstaunlich nahe beieinander. So bieten 50 Prozent der MĂ€nner und 55,5 Prozent der Frauen ihren Angehörigen hĂ€ufig oder fast immer emotionale und soziale UnterstĂŒtzung. Finanzielle und administrative Hilfe leisten 51 Prozent der MĂ€nner und 52,1 Prozent der Frauen. Die Betreuung von Angehörigen kann zu neuen Erfahrungen fĂŒhren, stolz und zufrieden machen. Doch fĂŒr viele ist sie auch eine Belastung. Die Betreuenden schĂ€tzen ihre Gesund­heit ein wenig schlechter ein als die durchschnittliche Bevölkerung. Weil viele ihr Arbeitspensum reduzieren, kommen finanzielle Sorgen dazu. Zudem fehlt Zeit fĂŒr die eigene Familie und fĂŒr Freunde. Die Betreuung Ă€lterer Menschen ist ohne Angehörige nicht denkbar. Heute nicht und auch morgen nicht. Deshalb gebĂŒhrt diesem Engagement dringend mehr gesellschaft­liche Aner­ kennung zu widmen. Verbales Schulterklopfen reicht da nicht. Wir sollten uns ĂŒber eine bessere VergĂŒtung dieser unentgelt­ lichen Care-Arbeit Gedanken machen.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule fĂŒr Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Anzahl betreuende Angehörige nach Alter 250 000

215 000

200 000

166 000

150 000

134 000 100 000

50 000

0

28 000 Alter:

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16 – 15

26 – 49

50 – 64

65 plus

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FOTOS: ZVG

Rahel Bains als kleines MÀdchen mit ihrem Papa beim Iglu bauen. Dieses und auch alle folgenden Bilder stammen aus ihrem Familienalbum. Surprise 466/20


Nie wieder Wurzel-Smalltalk Rassismus Rahel Bains hat einen Brief an ihre Tochter geschrieben. Er handelt von Herkunft und Heimat, von Ausgrenzung und Zugehörigkeit – und ist an uns alle gerichtet. TEXT  RAHEL BAINS

Weisst du noch, als wir neulich das alte Buch ĂŒber Pippi Lang­ strumpf gelesen haben, das wir am Strassenrand gefunden hat­ ten? Plötzlich musste ich kurz innehalten, weil da stand, Pippis Papa sei der «König aller Neger». Das fĂŒhlte sich – aus vielen GrĂŒnden – nicht richtig an. Aber ich wusste nicht, wie ich dir das erklĂ€ren sollte. Darum habe ich Pippis Papa kurzerhand zum «König des Dschungels» ernannt. Und deshalb schreibe ich dir diesen Brief. Du lebst in einer Blase. Einer Blase aus rostroten Tonziegeln, blassgelben Fassaden, TĂŒrmchen, Erkern und grĂŒnen HolztĂŒren, vor denen im FrĂŒhling die MagnolienbĂ€ume blĂŒhen – dazwischen breite Wiesen, auf denen dein kleiner Bruder laufen gelernt hat. Dein, unser kleiner Kosmos. Ein Kosmos, in den du nach einem langen Tag in der Schule hineinschlĂŒpfst und mit deiner besten Freundin um die hundertjĂ€hrigen, verwinkelten HĂ€user ziehst und wo wir an lauen Sommerabenden gemeinsam mit unseren Nach­ barn im Garten an langen Holztischen sitzen. Wo alles gut ist. Doch seit rechte KrĂ€fte wieder erstarken und die Hemm­ schwelle immer mehr sinkt, fremdenfeindliches Gedankengut in aller Öffentlichkeit kund zu tun, mĂŒssen sich vor allem junge Menschen mit Migrationsgeschichte mit der Ambivalenz von Hei­ mat und Herkunft, Zugehörigkeit und Ausgrenzung auseinan­ dersetzen. Und das noch mehr als vor wenigen Jahren. Eine von ĂŒber 8000 Schweizer Rahels Es ist von Alltagsrassismus die Rede und von «Racial Profiling». Weisst du, Alltagsrassismus bedeutet, dass manche Menschen an­ dere nur aufgrund ihres Aussehens oder eines anders klingenden Nachnamens beurteilen und ausschliessen. Doof, nicht? Manchmal weiss ich gar nicht, wie ich das alles erklĂ€ren soll. Auch wenn man immer denkt, MĂŒtter wĂŒrden alles wissen und erklĂ€ren können. FrĂŒher habe ich im Bus ab und zu bewusst ganz laut Schwei­ zerdeutsch gesprochen, um in letzter Sekunde dem Stempel, dem man als Frau mit brauner Haut aufgedrĂŒckt bekommt, zu entwi­ schen. Ich frage mich, ob auch du einmal das GefĂŒhl haben wirst, fehl am Platz zu sein. Und eine Beklommenheit spĂŒren wirst, die sich breitmacht, wenn im Bus alle Augen auf dich gerichtet sind – und das wohlgemerkt nicht in jenem kleinen Toggenburger Dorf, wo ich die ersten Jahre meines Lebens verbracht habe, sondern in der Stadt. Und ich frage mich, ob du hoffen wirst, dass du nicht im negativen Sinne stĂ€ndig in den Fokus deiner Mitmenschen rĂŒckst. Surprise 466/20

Als du an der letzten Fasnacht mit schwarzen TĂŒpfchen auf den Wangen und einem PlĂŒschanzug mit Leomuster losgezogen bist, marschierte keine fĂŒnfzig Kilometer entfernt eine Gruppe in weissen Kutten mit der Aufschrift «KKK» und brennenden Fackeln in der Hand umher. «KKK» steht fĂŒr einen Geheimbund mit Namen Ku-Klux-Klan. Er wurde vor mehr als 150 Jahren im SĂŒden der Vereinigten Staaten mit dem Ziel gegrĂŒndet, Dun­ kelhĂ€utige zu unterdrĂŒcken. Moment, das war jetzt untertrieben, denn eigentlich haben sie noch viel schlimmere Sachen mit ihnen angestellt. Aber dazu ein anderes Mal mehr. Ein paar Tage spĂ€ter, da war die Fasnacht lĂ€ngst vorbei, nannte ein alter Mann ein MĂ€dchen mit Kopftuch «eine beschis­ sene Muslimin, die man verbrennen soll». Sie erwiderte ruhig: «Ich bin in der Schweiz geboren und Schweizerin.» Ich kenne diesen Satz. Also den Letzteren. Auch ich musste mich schon so erklĂ€ren. Und das, obwohl nicht nur ich, sondern alle unmittelbaren Vorfahren meines Vaters in der Schweiz ge­ boren sind. Obwohl ich Rahel heisse und eine von 8283 Frauen in der Schweiz bin, die diesen Namen tragen. Dennoch spre­ chen viele Leute, die mich kennenlernen, zuerst einmal Hoch­ deutsch mit mir, danach wollen sie wissen, woher ich «wirklich» stamme. Sie fragen das, weil ich – so wie du – schwarze Augen habe, dunkle Haare und eine Hautfarbe, fĂŒr deren Beschrei­ bung den meisten nicht viel anderes in den Sinn kommt als: Milchschokolade. Was dann folgt, ist eine komplexe ErklĂ€rung, die ich mitt­ lerweile wie ein Roboter immer und immer wieder nach dem gleichen Muster abspule. «Also», sage ich dann, «meine Mutter kam in den Siebzigerjahren als vierjĂ€hriges Waisenkind aus Vietnam zu einer gut situierten Schweizer Familie nach St. Gal­ len. Es wird jedoch vermutet, dass ihr biologischer Vater auf­ grund ihrer dunklen Haut und dem krausen Lockenkopf Afro­ amerikaner war. Vietnamkrieg und so, du weisst schon. Er war wahrscheinlich Soldat. Ja genau, nicht wirklich romantisch, im Gegenteil. Und nein, sie kann kein Vietnamesisch und war seit ihrer Flucht auch nicht mehr dort. Ein BedĂŒrfnis, das Ganze aufzuarbeiten? Hat sie nicht. Mein Vater? Der stammt aus dem Toggenburg.» Ein «Negerdörfli» mitten in ZĂŒrich Ich bin froh, dass du noch nie Wurzel-Smalltalk fĂŒhren muss­ test. In unserer Siedlung nahe dem Waldrand, in jenem Stadtteil, 9


wo die Sonne am lĂ€ngsten scheint und sich abends der Fuchs in die Gartenbeete setzt, weiss jeder, wer du bist. So wolltest du im Gegensatz zu deinem kleinen Bruder auch noch nie wissen, weshalb deine Hautfarbe so ist, wie sie ist. Doch stell dir vor: Dort, wo heute das Letzigrund-Stadion steht, das du nachts von deinem Fenster aus leuchten siehst, war vor fast hundert Jahren nur eine Wiese. Die Letziwiese. Auf ebendieser standen im Sommer 1925 rund zwanzig notdĂŒrftig eingerichtete HolzhĂŒtten mit DĂ€chern aus Stroh. 74 Frauen, Kin­ der und MĂ€nner aus Westafrika gewĂ€hrten neugierigen Schwei­ zern Einblick in ihren Alltag. Das «Negerdörfli» war mit ĂŒber 50 000 Eintritten ein Publikumsmagnet und nicht das einzige seiner Art. Solche «Völkerschauen» waren damals nichts Unge­ wöhnliches und grĂŒndeten – wenn auch in erster Linie auf Sensationslust – in vielen FĂ€llen wohl auch auf echtem Interesse. Wahrscheinlich beruht mindestens die HĂ€lfte aller Anfragen bezĂŒglich meiner Her­ kunft ebenfalls darauf und nicht auf dem bewussten Willen, die Nichtzugehörigkeit oder sogar meinen Ausschluss aus der Ge­ sellschaft deutlich zu machen – auch wenn es am Ende den gleichen Effekt hat. Und auch wenn also die Neugierde und Faszination am Fremden und Exotischen scheinbar tief im Menschen verwurzelt ist, schlagen sie letztlich oft in Ablehnung um. «Geht zurĂŒck nach Hause!» ist zum Beispiel so ein Satz, der gerne und oft von Menschen verwendet R AHEL BAINS wird, die andere Menschen ausgrenzen. Jene «Völkerschauen» standen in direktem Zusammenhang mit der Kolonialzeit, diesem unschönen und teils in Vergessen­ heit geratenen Kapitel in der Geschichte der Menschheit. Auch die Schweiz spielte darin eine Rolle. Selbst wenn sie nie eigene Kolonien besass, haben Schweizer Unternehmer trotzdem vom Sklavenhandel profitiert und dabei ein Vermögen verdient. Man besass aber nicht nur schwarze Liftboys und gelangte wie ein Wunder an Kakao, den du so gerne magst, sondern pflegte auch das «Bastrock»-Stereotyp, sprich den ideologischen Rassismus. Weisst du, manche Leute meinten damals, einige Menschen seien mehr wert als andere. Deshalb teilte man sie in Rassen ein. Manchmal habe ich das GefĂŒhl, dass sie das – und sei es unbe­ wusst und ohne böse Absicht – auch heute noch tun.

mutter gibt dir ein GefĂŒhl von Geborgenheit. Und erinnerst du dich noch daran, wie wir auf Grosspapis Insel deinen sechsten Geburtstag gefeiert haben? Wie wir in Grosstante Marbas Wohn­ zimmer Kuchen und Eiscreme gegessen und am Ende alle zu Shakira getanzt haben, wĂ€hrend draussen die Sonne auf die MangobĂ€ume brannte? Kurze, aber kostbare Szenen sind das. Was denkst du: Ist Heimat zwingend an einen Ort gebun­ den? Oder bloss an Erinnerungen und Erfahrungen? Gibt es vielleicht sogar mehrere Zuhause? Und wer bestimmt, wer welchen Ort sein Zuhause, seine Heimat nennen darf? Der Wunsch nach Geborgenheit und Zugehörigkeit scheint ein menschliches GrundbedĂŒrfnis zu sein. Schon in den frĂŒÂ­ hesten indogermanischen Sprachen existierten Wörter, welche die Bedeutung von Zuhause, Siedlung, materieller und spiritueller Sicherheit um­ fassen. Eine Philosophin nannte die Ver­ wurzelung das wohl «wichtigste und gleichzeitig am meisten verkannte GefĂŒhl der menschlichen Seele». Der Wunsch nach einem Zuhause sei nicht nur tief in jedem einzelnen von uns verankert, son­ dern auch in unserem kollektiven Unbe­ wussten. Dieser Wunsch bestimme, wer wir sind und wie wir die Gesellschaft se­ hen, in der wir leben. Manchmal macht es mich traurig, dass in meiner und damit auch in deiner zwei­ ten «Heimat» Vietnam keine Grossmutter mit tiefen Runzeln im Gesicht auf uns war­ tet und auch keine Onkel oder Cousinen, die uns Geschichten von vergangenen Zeiten erzĂ€hlen. WĂŒrden wir nach Vietnam reisen, was noch keiner von unserer Familie getan hat, dann wohl wie all jene Backpacker, die sich von Glo­ betrotter eine Reiseroute zusammenstellen lassen.

«Pantone 59-5 C: das ist deine Hautfarbe. Nicht braun, carameloder milchschokoladenfarben, sondern einfach nur: 59-5 C.»

Was ist Heimat? Dank einer Mutter aus dem Muotathal und einem Vater, der sein Leben lang als Rastafari auf einer winzigen Insel im karibischen Meer lebte, nennen alle deinen Papa ebenfalls eine «interessante Mischung». Als ich mit ihm neulich am Fluss entlang spazierte, zeigten zwei Jungs, wohl so alt wie du, mit dem Finger auf uns: «Guck mal, das sind Asylanten.» Das macht mir Angst. Angst, dass die Spirale niemals enden wird. Dass auch du dich in eini­ gen Jahren mit einem «ÄxgĂŒsi, ich cha imfal SchwizerdĂŒtsch» erklĂ€ren musst. Dass sich das GefĂŒhl, fremd zu sein im eigenen Land – dem einzigen Land, das man wirklich kennt – auf die nĂ€chste Generation ĂŒbertrĂ€gt. Unsere Siedlung ist 37 408 Quadratmetern gross. Jeder ein­ zelne Quadratmeter bedeutet fĂŒr dich Heimat, ist dir ein Zuhause. Aber auch der wild wuchernde Garten vor dem Haus deiner Gross­ 10

Zu Hause wartete Oma mit dem Nachtisch auf uns Die einzige Verbindung zu unserem asia­tischen Hintergrund, der durch deinen ­Urgrossvater – du weisst schon, den unbe­ kannten Soldaten – zu einem afroamerikanischen Hintergrund mutierte, ist die Erinnerung meiner Mutter, wie sie in Vietnam als dreijĂ€hriges MĂ€dchen alleine auf einer Schaukel sitzt und an einer Bananenschale knabbert. Über ihr sind Leuchtkörper – wohl Raketen –, die durch den Himmel rauschen. Den Rest bezeichnet sie als grosses schwarzes Loch. «Ich hĂ€tte vergan­ genes Jahr die Chance gehabt, zum ersten Mal nach fast fĂŒnfzig Jahren nach Vietnam zu reisen. Und was habe ich gemacht? Ich bin nach Hawaii geflogen», erzĂ€hlte mir sie neulich. Manchmal muss man wohl verdrĂ€ngen, um zu ĂŒberleben. Was mir bleibt, das ist die Schweiz. Und dieses GefĂŒhl. Ein GefĂŒhl, das ich als Kind nicht kannte. Als ich so alt war wie du, besuchte ich oft die Eltern meines Vaters in jenem kleinen Dorf, in dem man sich an sonnigen Tagen gleich unterhalb des SĂ€ntis wĂ€hnt. In jenem Tal, in dem unsere Vorfahren seit Generationen lebten. Einmal durfte ich Opa in die Berge begleiten. Durchs Fernglas beobachteten wir GĂ€mse und Hirsche und suchten den mit Laub ĂŒbersĂ€ten Waldboden nach abgeworfenen Hirsch­ geweihen ab. «Schau, das sind die sieben Churfirsten», sagte er auf der Heimfahrt, wĂ€hrend der Fahrtwind meine schwer zu Surprise 466/20


zĂ€hmende LockenmĂ€hne durcheinanderwirbelte. «Hinterrugg, Schibenstoll, Zuestoll, Brisi, FrĂŒmsel, Selun.» Zuhause wartete Oma mit dem Nachtisch, den gab es immer. Ich schlich oft ins Schafzimmer von Opa und Oma, um in der schwarzen, mit einem goldenen Rand verzierten Schmuck­ schatulle zu stöbern. Wenn ich dann vor dem ovalen Spiegel stand, sah ich keine Hautfarbe, sondern ein ganz normales MĂ€d­ chen mit Perlenketten um den Hals und dunkelgrĂŒnen Plastik­ clips an den Ohren, die immer ein wenig zwickten. Das war meine Blase. WĂ€hrend in deiner Blase Vögel zwit­ schern und Blumen blĂŒhen, herrschen draussen Wut und Angst. Wut ĂŒber kriminelle AuslĂ€nder. Angst vor ungebremster Migra­ tion. Wut darĂŒber, dass man als ĂŒber 50-jĂ€hriger Stellensuchen­ der keinen Job mehr findet. Angst vor der Digitalisierung und den Folgen des Klimawandels. Wut ĂŒber die Lethargie der Politiker. Oder ĂŒber einen 27-JĂ€hrigen, der in einer neuseelĂ€ndischen Mo­ schee ĂŒber fĂŒnfzig Muslime erschiesst. Angst vor einem weiteren Angriff der «Gegenseite». Ein GefĂŒhl der Ohnmacht angesichts der allseits verhĂ€rteten Fronten. Und ĂŒber allem schwebt die Tatsache, dass es uns hier in der Schweiz doch ganz gut geht. Eigentlich.

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Weder Groll noch Wut «Ausgrenzung» – dieser Begriff scheint seit jeher am Leben dei­ ner Oma zu haften wie der Kaugummi an der Sohle deines lila Turnschuhs. ZĂ€h und hartnĂ€ckig. Dass sie spĂ€ter auch in der Schweiz beim Krippenspiel in ihrer Rolle als «Mohrenkönig» Melchior jedes Jahr aufs Neue erklĂ€ren musste, weshalb ihre Haut so schwarz sei, hat sie genauso wenig gestört wie die «Neger! Neger!»-SchmĂ€hrufe ihrer Klassenkameraden. Und auch gegen den Patienten, der sie, als sie spĂ€ter als Krankenpflegerin arbei­ tete, mit «Fahr ab, du schwarzer Teufel!» wegscheuchte, hegt sie keinen Groll. «Ich nehme meine Hautfarbe gar nicht wahr», sagte sie mir neulich in ihrem breiten St. Galler Akzent, den sie wohl nie mehr ablegen wird. «Ich bin in einer Schweizer Familie gross geworden, also bin ich Schweizerin», so ihre pragmatische Schlussforderung. «Weisst du, sobald du nicht der gĂ€ngigen Norm entsprichst, beginnen die Menschen dich zu stigmatisieren und zu schubladisieren – das kann man ohnehin nicht Ă€ndern. Wut hilft da nicht weiter.» Vielleicht sind die Leute hier mĂŒde, darĂŒber nachzudenken, was okay ist und was nicht. Vielleicht haben sie sich einfach schon genug aufgeregt. DarĂŒber, ob man jetzt «Mohrenkopf» sagen darf oder nicht. Ob man sich an der Fasnacht mit gutem Gewissen das Gesicht schwarz anmalen und sich eine Afro-PerĂŒcke ĂŒber den Kopf stĂŒlpen darf – so wie die Kinder anno 1979. Vielleicht haben sie auch einfach keinen Bock mehr, sich fĂŒr ihre Grosseltern zu entschuldigen, die finden, Schwarze seien halt Neger, die habe man schon immer so bezeichnet, und ĂŒberhaupt sei das doch gar nicht böse gemeint.

«Woher kommst Du?» Meine Tochter, ich bin gespannt auf Deine Antwort.

Rahel Bains FOTO: KLAUS PETRUS

Ein Leben in Schubladen Hier also ein weiterer ErklĂ€rungsversuch: Stecken uns die Mit­ menschen – allein aufgrund Ă€usserlicher Merkmale wohlge­ merkt – in eine Schublade, weil sie sich sonst in dieser immer komplexer werdenden Welt nicht mehr zurechtfinden? Nehmen wir die Schublade «schwarz». Falle ich mit meinem Viertel afroamerikanischen Blutes bereits in diese Kategorie? Und was ist mit deinem Onkel, meinem Bruder und seiner ei­ gentlich hellen Haut, die im Sommer einen olivfarbenen Teint hat? Ist auch er schwarz, obwohl auf den ersten Blick weiss? Und was ist das eigentlich fĂŒr eine limitierte Auswahl an Be­ zeichnungen fĂŒr unsere immer buntere und gemischtere Welt? Eine, die fest daran glaubt, dass Schwarz und Weiss gar nicht existieren, ist AngĂ©lica Dass. Die Fotografin stammt aus Brasi­ lien, ein aufgrund seiner jahrhundertelangen Einwanderung multiethnisches Land, will heissen: In diesem Land sind mehr unterschiedliche Hautfarben vereint, als du dir vorstellen kannst. AngĂ©lica Dass hat diese Farben fĂŒr ein Kunstprojekt in einer Art Katalog festgehalten. Damit möchte sie beweisen, wie vielfĂ€ltig wir alle sind und wie veraltet unsere bisherige – viel zu simple – Kategorisierung von Menschen ist. Pantone 59-5 C. GemĂ€ss dem Farbsystem von AngĂ©lica Dass ist das deine Hautfarbe. Nicht braun, caramel- oder milchscho­ koladenfarben, sondern einfach nur: 59-5 C. Wenn ich wĂŒtend bin, stelle ich manchmal doofe Vergleiche an. Ich sage dann, dass du verwöhnt bist. Oder dass du an deine Oma denken sollst, die vor mehr als vierzig Jahren aus dem vom Krieg versehrten Vietnam flĂŒchtete. Alleine, ohne Mama und ohne Papa. Was du nicht weisst: Bevor sie mit weiteren 8000 Vietnamesen, Kambodschanern und Menschen anderer Natio­ nen Indochinas in die Schweiz kam, galt sie zuhause aufgrund ihrer dunklen Haut, der breiten Nase und dem krausen Haar als «Kind des Krieges». Als Besatzungskind, das von einem US-Sol­ daten gezeugt und von einer einheimischen Frau geboren wurde. Die ungefĂ€hr 15 000 «Amerasians», die sich in der Nachkriegs­ zeit auf den Strassen Saigons durchschlagen mussten, waren geĂ€chtet. Ihre oft europĂ€isch oder – besser gesagt – amerika­

nisch anmutenden GesichtszĂŒge verrieten ihre Herkunft auf den ersten Blick. Unentdeckt zu bleiben war keine Option, sie wurden gehĂ€nselt und geschlagen, manchmal warf man Steine nach ihnen.

Rahel Bains wurde 1989 in St. Gallen geboren und wohnte nach einem Zwischenstopp im Toggenburg beinahe ihre ganze Kindheit am Ufer des ZĂŒrichsees. Derzeit lebt sie mit ihrem Mann und den drei gemeinsamen Kindern in einer vor hundert Jahren gebauten Siedlung nahe dem Wald, wo die Kinder im Sommer in Scharen um die HĂ€user ziehen und die Nachbarn bis spĂ€t in die Nacht gemeinsam an langen Holztischen sitzen. Das journalistische RĂŒstzeug holte sich die 30-JĂ€hrige, die seit zehn Jahren als Redaktorin tĂ€tig ist, an der Schweizer Journalistenschule MAZ in Luzern. Sie liebt BĂŒcher und alte Filme, die Berge und den Sommer in der Stadt – in dem alles möglich scheint.

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«Wenn ich vor dem Spiegel stand, sah ich keine Hautfarbe, sondern ein ganz normales MÀdchen mit Perlenketten um den Hals.» R AHEL BAINS

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«â€čAusgrenzungâ€ș – dieser Begriff scheint seit jeher am Leben deiner Oma zu haften wie der Kaugummi an der Sohle deines lila Turnschuhs. ZĂ€h und hartnĂ€ckig.» R AHEL BAINS

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Direkt aufs Telefon: So einfach erhalten die Dorfbewohnenden ihr Grundeinkommen.

Der grosse Test Grundeinkommen In Kenia erhalten Tausende Menschen ein kleines

Monatsgehalt, ohne dass sie dafĂŒr etwas tun mĂŒssen. Es ist das weltweit grösste Experiment mit dieser Art der UnterstĂŒtzung. TEXT  MARKUS SPÖRNDLI FOTOS  BRIAN ONGORO

KENIA

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Umgerechnet 22 Franken erhÀlt Mary Akoth im Monat, dazu arbeitet sie noch als Hausangestellte.

Als Mary Akoth davon erfuhr, dass sie fortan jeden Monat Geld geschenkt bekommen wĂŒrde, bekam sie es mit der Angst zu tun. «Mein Leben lang musste ich immer hart arbeiten, um ĂŒberhaupt zu ĂŒberleben. Und dann kommt da jemand vorbei und sagt, fĂŒllt dieses Formular aus, dann erhaltet ihr Geld. Einfach so, ohne etwas dafĂŒr zu tun. Ich war mir sicher: Entweder ist es eine LĂŒge – oder wir werden noch teuer dafĂŒr bezahlen.» Mary Akoth lebt in Magora, einem Dorf im Siaya County im Westen Kenias, nicht weit vom riesigen Victoriasee und fĂŒnfzig Kilometer von der Grossstadt Kisumu entfernt. Ein Dorf in dieser Gegend ist manchmal kaum als solches zu erkennen, es stellt nicht unbedingt eine gewachsene Gemeinschaft dar und die Grenzziehung zum Nachbardorf ist zuweilen willkĂŒrlich. Die HĂ€user in Magora haben WĂ€nde aus Lehm und DĂ€cher aus Wellblech, manchmal aus Stroh. Sie stehen weit auseinander. Jede der 65 Familien besitzt ein LandstĂŒck, auf dem sie wohnt, wo sie ein paar HĂŒhner und Surprise 466/20

«Ich war mir sicher: Entweder ist es eine LĂŒge – oder wir werden noch teuer dafĂŒr bezahlen.» MARY AKOTH

anderes Kleinvieh hĂ€lt sowie Felder mit Mais, Getreide und GemĂŒse bestellt. Ein Dorfzentrum gibt es nicht, GemeinschaftsrĂ€ume ebenfalls kaum, ausser einer Schule. Selbst spirituell eint die Bewohner und Bewohnerinnen des Dorfes wenig: Sie gehören mindestens einem Dutzend verschiedenen christlichen Kleinkirchen an. Mitten in Magora steht ein WohngebĂ€ude, das deutlich robuster und grösser gebaut ist als die umliegenden HĂ€uschen. Dort serviert Mary Akoth einer Betagten gerade eine Tasse Tee. Die 37-JĂ€hrige arbeitet fĂŒr die reichere Familie in deren Haus und auf deren Feldern. DafĂŒr be-

kommt sie umgerechnet 20 Franken im Monat. Seit drei Jahren erhĂ€lt Akoth dazu noch einmal etwa 22 Franken auf ihr Mobiltelefon ĂŒberwiesen – so wie ihr Mann, der sich mit Gelegenheitsjobs durchschlĂ€gt. Und so wie alle im Dorf, die ĂŒber achtzehn Jahre alt sind. Das Experiment Akoth und die anderen erwachsenen Einwohner und Einwohnerinnen von Magora waren die Ersten, die von der US-amerikanischen Organisation GiveDirectly ein Grundeinkommen erhalten haben. Das Dorf heisst eigentlich anders; GiveDirectly verlangt, dass keine Ortsnamen genannt werden, «um die EmpfĂ€nger zu schĂŒtzen». In Magora testete GiveDirectly mit einem Jahr Vorlauf, was das philanthropische Unternehmen ab November 2017 in 197 kenianischen Dörfern durchfĂŒhrte: das weltweit grösste Experiment mit einem Grundeinkommen. WĂ€hrend zwölf Jahren sollen rund 20 000 Menschen in Kenia ein garantiertes Einkommen von umgerechnet 22 17


Ausruhen können sich die Menschen in Magora trotzdem nicht: Sie mĂŒssen weiterhin fĂŒrs Überleben arbeiten.

Franken pro Monat erhalten. Das ist ungefĂ€hr der Betrag, den man auf dem Land zum Überleben braucht. Die Idee, jedem ein Einkommen zu garantieren, das zumindest die GrundbedĂŒrfnisse abdeckt, ist so alt wie umstritten. Als sozialpolitisches Instrument ist es bisher noch von keinem Staat eingefĂŒhrt worden. In der Schweiz wurde die Volksinitiative «FĂŒr ein bedingungsloses Grundeinkommen» im Juni 2016 von 77 Prozent der abstimmenden Bevölkerung verworfen. Die Regierung im indischen Bundesstaat Sikkim hat vor einiger Zeit angekĂŒndigt, spĂ€testens 2022 allen 610 000 BĂŒrgern und BĂŒrgerinnen ein garantiertes Einkommen zu geben. Einzelne Versuche mit einem (allerdings nicht allgemeinen) Grundeinkommen gibt es hingegen bereits. In der kanadischen Kleinstadt Dauphin erhielten in den Siebzigerjahren die Ă€rmsten Einwohner jahrelang einen monatlichen staatlichen Zuschuss. In Finnland wurden 2000 Arbeitslosen wĂ€hrend zwei Jahren rund 560 Euro pro Monat ausgezahlt. In der ka18

Es wurde befĂŒrchtet, dass die Geld­­geschenke nicht zu einer Verbesserung der LebensverhĂ€lt­nisse fĂŒhren werden. lifornischen Stadt Stockton bekommen derzeit 125 Menschen mit tiefem Einkommen wĂ€hrend achtzehn Monaten 500 Dollar auf ihre Kreditkarte ĂŒberwiesen. Die Folgestudien zu diesen Versuchen sind positiv. In Dauphin gingen die Kinder lĂ€nger zur Schule, die Menschen waren weniger krank, fĂŒhlten sich besser und arbeiteten trotzdem nicht weniger. In Stockton wird das zusĂ€tzliche Einkommen tatsĂ€chlich fĂŒr GrundbedĂŒrfnisse wie Lebensmittel ausgegeben und nicht wie von manchen befĂŒrchtet fĂŒr Alkohol und Drogen. Und auch in Finnland fĂŒhlten sich die unterstĂŒtzten Arbeitslosen gesĂŒnder, konzentrierter und weniger gestresst.

Der Versuch von GiveDirectly bewegt sich nun aber in einer ganz anderen Dimension. Das Experiment in Kenia erreicht viel mehr Menschen, es hat eine deutlich lĂ€ngere Laufzeit, und es steht sĂ€mtlichen Erwachsenen in den ausgewĂ€hlten Dörfern zu, ist also tatsĂ€chlich bedingungslos und allgemein. Eine erste Folgestudie von Abhijit Banerjee, der kĂŒrzlich den Ökonomie-Nobelpreis erhielt, soll im kommenden Jahr erscheinen. Auch in Kenia wird zuweilen befĂŒrchtet, dass die Geldgeschenke nicht zwangslĂ€ufig zu einer deutlichen Verbesserung der LebensverhĂ€ltnisse fĂŒhren werden. Sondern den Anreiz setzen könnten, weniger zu arbeiten sowie mehr Alkohol und andere Drogen zu konsumieren. Mary Akoth kam es nie in den Sinn, weniger zu arbeiten. «Wir können ja auch so nur knapp fĂŒr die SchulgebĂŒhren aufkommen.» Der Schulbesuch inklusive Lehrmittel und Mittagessen von drei Kindern kosten mehrere hundert Franken pro Semes­ter – dies, obwohl die öffentlichen Schulen Surprise 466/20


Plista Aloo, 71, braucht ihr Grundeinkommen fĂŒr die Enkel – und spendet an die Kirche.

offiziell kostenlos sind. Damit sie vor Semesterbeginn das Schulgeld zusammenbekommt, zahlt Akoth die HĂ€lfte des Grundeinkommens in eine Spargruppe ein, die sie mit vier weiteren Frauen gegrĂŒndet hat. Jede bringt monatlich den gleichen Betrag ein, und jede erhĂ€lt einmal alle fĂŒnf Monate den gesamten einbezahlten Betrag. Kenianer und Kenianerinnen nennen diese Art von Mikrobanking «merry-go-round»: Karussell. Teure Schulbildung Auch alle anderen Eltern von Schulkindern in Magora sagen, dass sie einen Grossteil des Grundeinkommens fĂŒr die Schulkosten aufwenden. Das kann als Investition in die Bildung betrachtet werden – oder als Kompensation fĂŒr das Versagen des kenianischen Staats, den Schulbesuch nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Wirklichkeit kostenfrei zu machen. Möglicherweise besuchen dank Grundeinkommen mehr Kinder die Sekundarschule, die freiwillig ist. Aber andererseits haben die Surprise 466/20

Behörden dadurch noch weniger Anreiz, das öffentliche Schulsystem zu verbessern. Als Mary Akoth vor drei Jahren die erste Monatsrate ĂŒberwiesen erhielt, wurde sie von GiveDirectly gefragt, was sie mit dem zusĂ€tzlichen Einkommen vorhabe. Akoth plante damals, zu sparen und spĂ€ter ein GeschĂ€ft zu grĂŒnden. Doch solche TrĂ€ume haben sich lĂ€ngst zerschlagen. «Seither ist die Ă€lteste Tochter in die Sekundarschule gekommen, und die ist teurer als die Primarschule», sagt Akoth. FĂŒr Plista Aloo ist das Sparen ein wenig einfacher. Die 71-jĂ€hrige Frau lebt allein in ihrem HĂ€uschen. Ihr Ehemann starb vor ĂŒber achtzehn Jahren, ihre sechs Kinder haben lĂ€ngst eigene Familien. Von ihrem Grundeinkommen zahlt sie einen Beitrag an die Schulkosten der Enkelinnen und Enkel spendet an ihre Kirche – und spart den Rest fĂŒr NotfĂ€lle. Vor einer Weile hatte Aloo immerhin rund 120 Franken auf der Seite. Jahrelang hatte sie dafĂŒr gespart. Dann wurde sie krank, musste ins Spital – und weg war ihr Erspartes.

So fliesst das Zusatzeinkommen bei fast allen Einwohnern und Einwohnerinnen in den alltĂ€glichen Überlebenskampf. Das Grundeinkommen ist ein wichtiger individueller Zustupf, doch zu einer gemeinschaftlichen Entwicklung trĂ€gt es kaum bei. Ein Dorf wie Magora, wo fast alle ihren Lebensunterhalt als Kleinbauern verdienen, hĂ€tte Investitionen in die Landwirtschaft bitter nötig. Bisher ist jede KleinbĂ€uerin auf sich allein gestellt. «Mein Mann und ich haben frĂŒher auch Landwirtschaft betrieben», sagt Mary Akoth. «Aber wir hatten keine guten ErtrĂ€ge.» Seither liegt ihr Land brach. Selbst erfolgreichere Kleinbauern geben an, dass sie jederzeit mit Missernten rechnen mĂŒssten, da die RegenfĂ€lle in den letzten Jahren oft ausgeblieben sind. «Wir brĂ€uchten ein BewĂ€sserungssystem und landwirtschaftliche Beratung», sagt einer. Die Dorfgemeinschaft schafft es nicht, das Staatsversagen zu kompensieren. Durch das Grundeinkommen fliesst eigentlich jeden Monat eine beachtliche 19


Kennedy Aswan hat in Magora das Amt des DorfĂ€ltesten inne: «Das Geld aus Nairobi reicht fĂŒr unsere Dorfsschule nicht aus.»

Summe nach Magora. Doch bisher hat niemand versucht, die zusĂ€tzlichen Mittel zu bĂŒndeln und etwa die landwirtschaftliche Produktion gemeinsam zu verbessern und zu vermarkten. Beliebt in Silicon Valley Das ist auch nicht weiter erstaunlich, denn im Konzept des Grundeinkommens ist eine Umwandlung der individuellen Hilfe in kollektives Handeln nicht vorgesehen. Es geht vielmehr von soliden gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen aus. Deshalb wĂŒrde in IndustrielĂ€ndern wie der Schweiz, Finnland oder den USA ein allgemeines Grundeinkommen weitgehend die bisherigen Sozialleistungen wie Arbeitslosen- und Sozialhilfe ersetzen. BegrĂŒndet wird ein solcher Schritt zur Rationalisierung der Sozialsysteme oftmals mit demografischen und globalwirtschaftlichen Trends, etwa mit der Überalterung der Gesellschaft und der Digitalisierung der Arbeitswelt. Die Idee eines allgemeinen Grundeinkommens ist darum gerade bei denen beliebt, die den 20

digitalen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft vorantreiben: bei den Pionieren digitaler Technologie im kalifornischen Silicon Valley. Facebook-GrĂŒnder Mark Zuckerberg oder Tesla-Chef Elon Musk sind davon ĂŒberzeugt, dass die USA frĂŒher oder spĂ€ter ein allgemeines Grundeinkommen einfĂŒhren werden, das wegen des prognostizierten Wegfalls vieler ArbeitsplĂ€tze zu einer Notwendigkeit werde. Der Tech-Unternehmer Andrew Yang, der sich in den Vorwahlen als Kandidat der US-Demokraten immer noch Chancen auf eine Nominierung fĂŒr die PrĂ€sidentschaftswahlen im kommenden Jahr ausrechnen kann, stĂŒtzt seine Kampagne in weiten Teilen auf die Vision, jedem amerikanischen Erwachsenen 12 000 Dollar pro Jahr zu schenken. Gewisse Philanthropen im Silicon Valley sehen direkte Geldtransfers auch als Allheilmittel fĂŒr die globale ArmutsbekĂ€mpfung. Tech-MilliardĂ€re gehören denn auch zu den grössten Spendern von GiveDirectly. Vor vier Jahren stiess Pierre Omidyar, MitbegrĂŒnder der digitalen Han-

delsplattform eBay, das Grundeinkommensexperiment in Kenia mit einer Spende von einer halben Million Dollar an. Mittlerweile betrĂ€gt das Budget fĂŒr dieses Projekt 30 Millionen Dollar. Experten – etwa Pranab Bardhan von der University of California in Berkeley – halten dagegen, dass ein Grundeinkommen in einem Entwicklungsland wie Kenia eine andere Funktion habe als in einem Industrieland. Hier, wo ein viel grösserer Teil der Bevölkerung mit extremer Armut, Arbeitslosigkeit und prekĂ€ren Arbeitsbedingungen konfrontiert ist, sollte ein Grundeinkommen andere Massnahmen zur BekĂ€mpfung der Armut ergĂ€nzen und nicht ersetzen. In Kenia gibt es ambitionierte staatliche soziale Programme, bei denen etwa Waisenkinder und alte Menschen Geld von der Regierung erhalten. Und es gibt Schulstipendien fĂŒr die Ă€rmsten Familien. Darauf weist auch Kennedy Aswan hin, der in Magora seit sieben Jahren als DorfĂ€ltester amtet – obwohl er erst vierzig Jahre alt ist. «Seit wir ein GrundeinSurprise 466/20


Möglichst viele Setzlinge zĂŒchten: Kleinbauern wie Edwin Onyango Onywero mĂŒssen jederzeit mit Missernten rechnen.

kommen erhalten, gehen mehr Kinder in weiterfĂŒhrende Schulen», sagt Aswan. Er sitzt in seinem Aufenthaltsraum und hofft, dass nach dem Ende des GiveDirectly-Experiments der kenianische Staat das Grundeinkommen weiter auszahlt. Vorher mĂŒsse die Regierung aber wirklich ihr Versprechen auf kostenlose Bildung einlösen, meint Aswan. «Das Geld aus Nairobi reicht nicht aus fĂŒr unsere Dorfschule; wir mussten zusĂ€tzliche Lehrer anstellen.» Um sich fĂŒr ein Schulstipendium zu bewerben, musste man traditionellerweise ein Formular beim «Chief’s Office» einreichen. Dieses vertritt die Zentralregierung in einem Gebiet, das ĂŒber ein Dutzend Dörfer umfasst. Man brauchte die Unterschriften des Schulvorstehers, einer religiösen AutoritĂ€t – und des Chiefs selbst. Um an ein Stipendium zu gelangen, waren also gute Beziehungen vonnöten. Das ist zwar nach einer politischen Dezentralisierung seit Jahren nicht mehr Surprise 466/20

«Seit wir ein Grundeinkommen haben, gehen mehr Kinder in weiterfĂŒhrende Schulen.» KENNEDY ASWAN

der Fall. Aber kaum jemand im Dorf weiss das, wie der DorfĂ€lteste und verschiedene andere Bewohner und Bewohnerinnen bestĂ€tigen. Ob ein Grundeinkommen Menschen aus der schlimmsten Armut fĂŒhren kann, ist die eine Frage. Eine ganz andere Frage ist, wie es bei einer EinfĂŒhrung im ganzen Land finanziert werden könnte. FĂŒr die IndustrielĂ€nder erwarten Tech-VisionĂ€re zwar einen Abbau der ArbeitsplĂ€tze, der aber einer hohen Wertschöpfung durch hochproduktive Roboter und andere digitale Errungenschaften gegenĂŒberstehen wĂŒrde. Der Staat könnte einen Teil davon abschöpfen und ĂŒber das

Grundeinkommen umverteilen – so zumindest lautet die schöne Theorie. Doch in den EntwicklungslĂ€ndern können nicht einmal die grössten (oder naivsten) Optimisten auf eine Ă€hnliche finanzielle Basis hoffen. Kenia Ă€chzt schon jetzt unter einem Schuldenberg von gegen sechzig Milliarden Franken. Um das zu Ă€ndern, brĂ€uchte das ostafrikanische Land – wie auch viele andere EntwicklungslĂ€nder – eher eine politische als eine technische Revolution. So ist auch noch völlig unklar, ob die Initiative von GiveDirectly eines Tages ausgeweitet oder ĂŒberhaupt irgendwie weitergefĂŒhrt werden kann. Mary Akoth in Magora macht sich darĂŒber nicht zu viele Gedanken. Die Angst, dass sie irgendwann fĂŒr die arbeitsfrei erhaltenen Überweisungen wird bĂŒssen mĂŒssen, ist lĂ€ngst verflogen. Aber falls die monatlichen Zahlungen eines Tages wieder versiegen, werden Akoth und ihre Familie auch nicht verzweifeln: «Dann kommt bestimmt eine andere Chance.» 21


Anna Tschannen und Arold Huber.

Urs Saurer.

Schnitt fĂŒr Schnitt Kino Der Schweizer Dokumentarfilm «Im Spiegel» zeigt Geschichten von Obdachlosen. Und auch immer wieder die HĂ€nde von Anna Tschannen: Die Baslerin schneidet Wohnungslosen seit ĂŒber zehn Jahren die Haare.

«Uaah, ein Engel!», sagt Anna Tschannen und verzieht das Gesicht zur Grimasse. Die Baslerin ist Mitinitiantin des Films «Im Spiegel». WĂ€hrend achtzig Minuten ver­ mittelt der Dokumentarfilm von Regisseur Matthias Af­ folter die Perspektiven und Lebensgeschichten von Ob­ dachlosen in Basel. Es ist ein ruhiger, poetischer Film, in dem vor allem die Protagonistinnen und Protagonisten selbst erzĂ€hlen. Meist verfolgt sie eine Kamera, filmt von hinten ĂŒber die Schultern – bei SpaziergĂ€ngen am Rhein­ ufer oder beim Vorbereiten des Schlafplatzes in einer Ein­ buchtung der Stadtmauer etwa. Frontal sieht man die Por­ trĂ€tierten, darunter den Surprise-VerkĂ€ufer Urs Saurer und die Surprise-StadtfĂŒhrerin Lilian Senn, meist durch den Spiegel. Richtig lange vor einem Spiegel sitzt man beim Coif­ feur, das wusste schon Mani Matter. Die Szenen beim Haare schneiden sind Ausgangspunkt und Zentrum des Films. Anna ist die Coiffeuse. Seit ĂŒber zehn Jahren schnei­ det sie Obdachlosen und Armutsbetroffenen die Haare. Weshalb sie das tut, erfahren wir nicht. Sie ist oft im Bild, manchmal nur als Schemen, manchmal sieht man nur ihre HĂ€nde bei der Arbeit. Die Anna aus dem Film strahlt etwas Mysteriöses aus. Wohl deshalb nannten sie an der Premiere letztes Jahr an den Solothurner Filmtagen man­ che Zuschauer einen Engel. «Uaah, ein Engel» – Anna will eben weder als Helfende noch als Übersinnliche in Erin­ nerung bleiben. Sie will den Menschen, denen sie die Haare schneidet, auf Augenhöhe begegnen. Im Film spricht sie meist dann, wenn sie eine Frage stellt. Sie stellt viele Fragen – aber es sind Fragen aus kom­ plett unterschiedlichen Kategorien. Die einen Fragen sind 22

jene einer Dienstleisterin: Wie soll die Frisur denn werden? Kurz, lang – wie sollen die Haare fallen? Die anderen Fra­ gen sind jene der Coiffeuse als Vertraute. Es ist ein Kli­ schee, dass in Coiffeursalons viel geredet und getratscht wird. Die eigene QualitĂ€t dieser CoiffeurgesprĂ€che entsteht wohl aus der Zwittersituation zwischen NĂ€he und Distanz. Jemand berĂŒhrt die eigenen Haare, schneidet sie ab. Das bedingt Vertrauen, schafft Vertrautheit. Gleichzeitig trifft man seine Coiffeuse oder seinen Coiffeur nur wĂ€hrend dieser Momente vor dem Spiegel. Haare schneiden in der Kirche Aber Anna stellt keine stereotypen Coiffeurfragen. Es ist spĂŒrbar, dass sie nicht auf Zeitvertreib sinnt, sondern nur fragt, was sie wirklich wissen will. Dass sie die Ge­ schichte jener, durch deren Haare ihre HĂ€nde in diesen Momenten fahren, wirklich hören will. Was treibt Anna um? Weshalb schneidet sie seit ĂŒber einem Jahrzehnt Obdachlosen die Haare? Aus ihrem Mund klingt es, als hĂ€tte es sich einfach so ergeben: Sie habe einmal dem Leiter die Heroinabgabestelle die Haare geschnitten, ihm wĂ€hrenddessen diese Idee vorgeschlagen. Und dann ein­ fach damit begonnen. Schon immer habe sie schnell be­ merkt, wenn jemand nicht bloss ĂŒber die Strasse geht, sondern auf der Strasse lebt. Wer keine Wohnung habe, sei meist ein feinfĂŒhliger und eigensinniger Mensch, sagt Anna. Diesen Eigensinn, den bewundere sie. Aber Schutzlosigkeit sei der Preis dafĂŒr. Kein Schutz gegen­ ĂŒber der Witterung; kein Schutz aber auch im ĂŒbertra­ genen Sinn: Wo gehört man hin? Sie sehe da auch eine Verbindung zu sich selbst. Am Anfang ihrer Fragen stand Surprise 466/20

FOTOS: ROYAL FILM

TEXT  BENJAMIN VON WYL


Lilian Senn und Heiko Schmitz.

Markus Elhady.

nĂ€mlich eine Erfahrung, die ihr selbst den Boden unter den FĂŒssen weggezogen hat: der unerwartet frĂŒhe Tod ihrer Mutter. Wo lebst du? Wovon lebst du? Was arbeitest du sonst? Anna stellt nicht nur im Film viele Fragen. Wo lebt denn, wovon lebt denn, was arbeitet sie denn sonst? Anna lebt mit ihrer Familie im Basler St. Johann. Was sie sonst tut, erfordert viele Worte: Sie wirkt mit bei Tanzprojekten, ist Maskenbildnerin, gibt Theaterkurse fĂŒr geistig Behinderte und arbeitet eben als Coiffeuse. Jeden zweiten Dienstag schneidet sie Armutsbetroffenen im Rahmen der Lebens­ mittelhilfe von «Tischlein Deck Dich» die Haare, an jedem anderen Dienstag weiteren Obdachlosen. Im Rahmen von «Tischlein Deck Dich» arbeitet sie in der Offenen Kirche Elisabethen, wo sie ihren mobilen Coiffeursalon auch je­ den Freitag fĂŒr zahlende Kundschaft öffnet. Direkt unter die monumentalen Buntglasfenster platziert sie ihren Spiegel. Und das Plakat mit dem Text von Mani Matters «Bim Coiffeur». GefĂŒllt mit den Geschichten anderer Menschen Die Coiffeursituation, die Haare und ihre Symbolik. Anna interessiert das. «Haare wachsen einfach weiter. Sie hö­ ren nie auf», sagt sie. Alles fliesst: ein Symbol fĂŒr die Welt. Vor Kurzem habe sie am Bahnhof jemanden mit langen Rastas angesprochen, gefragt, ob sie ihm die Haare schneiden dĂŒrfe. «Er antwortete: â€čNein, sie sind das Ein­ zige, was man mir gelassen hat.â€ș» Das fasziniert Anna. Sie will am Thema dranbleiben, die Sache mit den Haaren weiterentwickeln. Auch Obdachlosen will sie weiterhin die Haare schnei­ den. Obwohl, momentan, da sei sie etwas gefĂŒllt mit den Geschichten anderer Menschen. «Es macht etwas mit dir, wenn dir Leute ĂŒber ihre AbgrĂŒnde erzĂ€hlen.» Die seien dann bei dir, bleiben bei dir. Sie muss lachen, als sie sich daran erinnert, wie ein PĂ€rchen, ehemalige Kundschaft, jeweils bei ihr die Konflikte mit der jeweils anderen Per­ son ausgebreitet hat. Nun ist sie also manchmal eine stille Coiffeuse und erarbeitet wortlos die Frisuren ihrer zah­ lenden und nicht zahlenden Kundschaft. Anna sagt, manchmal sei es anstrengend, nun wegen des Kinofilms in der Öffentlichkeit zu stehen. Aber viel­ leicht hilft ihr der Film ja dabei, manche der gesammelten Surprise 466/20

Geschichten wieder loszulassen. Jene Geschichten, die auf der Leinwand erzĂ€hlt werden: Urs Saurers Auswande­ rungsplĂ€ne, die Liebesgeschichte von Lilian Senn. Wie man eine traumatische Kindheit nicht verdrĂ€ngt, sondern ver­ arbeitet. Wie man obdachlos und gleichzeitig ein kĂŒm­ mernder Vater sein kann. Und wie man auf Basel blickt, wenn man auf der Strasse oder in der Notschlafstelle lebt. «Ich bin nicht angetreten, um einen Dokfilm zu machen», sagte Anna ganz am Anfang des GesprĂ€chs. «Mir ging es darum, dass sie ihre Perspektive erzĂ€hlen können. Der Film hat sich dann als das beste Mittel dafĂŒr abgezeichnet.»

Matthias Affolter: «Im Spiegel», CH 2019, 82 Min. LĂ€uft ab 14. Januar im Kino. Vorstellungen in Anwesenheit von Mitwirkenden und Filmcrew: Di, 14. Jan., 19.45 Uhr, Stattkino Luzern; Mi, 15. Jan., 18.30 Uhr, Riffraff ZĂŒrich; Sa, 18. Januar, 18.30 Uhr, CinĂ©matte Bern; So, 19. Jan., 11.30 Uhr, Atelier Basel. Der Film ist in Kooperation mit Surprise entstanden.

Protagonisten von Surprise Im SpĂ€therbst 2019 reiste Urs Saurer ein zweites Mal nach Kamerun. Aktuelle Fotos zeigen ihn fröhlich mit einer Bananenstaude ĂŒber der Schulter durch ĂŒppiges GrĂŒn stapfen. Diesmal hat er die Malaria-Prophylaxe-Tabletten dabei. Wieder in der Landwirtschaft arbeiten zu können, war ihm das Restrisiko einer erneuten Erkrankung wert. Lesen Sie Urs Saurers Kampf mit der Malaria in den Heften 431 bis 433/18 in unserem Online-Archiv nach. Lilian Senn hat inzwischen – trotz ihrer Betreibungen – von einer Wohnungsbaugenossenschaft eine Wohnung ange­boten bekommen, nachdem ihre Geschichte im Strassenmagazin Surprise publik wurde. Sie zog direkt aus der Wohnungslosigkeit in ihre eigenen vier WĂ€nde, ihr Partner Heiko Schmitz lebt unterdessen – nach dreieinhalb Jahren Obdachlosigkeit und einigen Monaten in einem Wohnheim – mit ihr zusammen. Die beiden haben am 11.11. 2019 in Basel geheiratet. Mehr ĂŒber ihre Liebesgeschichte erfahren Sie im Heft 427/18.

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Sternenstaub auf Kollisionskurs Kino In seinem ersten Spielfilm «Les particules» lĂ€sst der franko-schweizerische Regisseur Blaise Harrison die GefĂŒhlswelt eines GymischĂŒlers verrĂŒcktspielen – teilchenbeschleunigt vom Genfer CERN.

Kaum merklich verformt sich der Acker­ boden unter dem Pays de Gex an der Grenze zwischen der Schweiz und Frank­ reich. Der 17-jĂ€hrige Pierre-AndrĂ© (Tho­ mas Daloz), von allen nur P. A. genannt, ist der Einzige, der das PhĂ€nomen auf der Fahrt zu einer CERN-Besichtigung be­ merkt. Es scheint ein unterirdischer Ma­ gnet auf die ErdoberflĂ€che einzuwirken, sodass in den Ackerfurchen eine leichte KrĂŒmmung entsteht, die wenig spĂ€ter wieder verschwindet. Kaum merklich vollzieht sich auch der Wandel von P. A. vom Jungen zum Erwach­ senen. Auf der einen Seite albert er mit seinen Freunden herum, auf der anderen Seite verĂ€ndern sich sein Körper und seine GefĂŒhlswelt. Da ist dieses MĂ€dchen, Roshine (NĂ©a LĂŒders), das alle paar Stunden aus uner­ klĂ€rlichen GrĂŒnden ohnmĂ€chtig wird und ihm gesteht, dass auch sie «komische Dinge» sieht. Und da sind diese Erschei­ nungen, die nur er allein sieht: Vogel­ schwĂ€rme, die sich zu Wolken formieren, Lichtpunkte und Schneeflocken, die wie Sternenstaub vor seinen Augen tanzen 24

und sich unter dem Einfluss von psyche­ delischen Pilzen zu seltsamen Figuren verdichten. Regisseur Blaise Harrison fin­ det eindrĂŒckliche Bilder, um das GefĂŒhl der Isolation auszudrĂŒcken, von dem das Heranwachsen oft begleitet wird. Die leise Melancholie, wenn man den Eindruck hat, dass einen niemand versteht. Oder aber die elektrisierende Erkenntnis, dass es da vielleicht doch jemanden gibt, der die ei­ gene Verwirrung nachvollziehen kann. Je­ manden wie die geheimnisvolle Roshine. Wenn sie und P. A. sich auf dem Flur be­ gegnen, bewegen sie sich aufeinander zu, als wĂ€ren sie Teilchen im CERN-Beschleu­ niger hundert Meter unter ihren FĂŒssen. Es wird eine Energie freigesetzt, dass die Deckenbeleuchtung erlischt. UnerklĂ€rli­ che VorgĂ€nge reihen sich aneinander und geraten ausser Kontrolle. «Wir wollen ver­ stehen. Das liegt in der Natur des Men­ schen, und das hier ist ein gutes Beispiel», sagt ein CERN-Wissenschaftler zu den SchĂŒlern, als sie zu Beginn des Films dicht neben dem gewaltigen Beschleunigungs­ tunnel stehen. Die RĂ€tsel des Universums und des Lebens selbst entfalten sich vor

ihnen in Form von Konsolen mit zahllosen Schaltern. Langsame Kamerafahrten durch den winterlichen Wald erzeugen in Kombination mit einem raffinierten Sound­design ein GefĂŒhl, als wĂŒrde die Zeit tatsĂ€chlich gedehnt und gekrĂŒmmt. Blaise Harrison, der bisher Dokumentar­ filme gedreht hat und nun mit «Les par­ ticules» seinen ersten Spielfilm prĂ€sen­ tiert, bleibt bei einem dokumentarischen Stil, bricht ihn aber gekonnt mit fantasti­ schen Elementen. Der 39-jĂ€hrige Regis­ seur ist eine Entdeckung der wohl be­ kanntesten Regisseurin dieses Landes, der Franko-Schweizerin Ursula Meier und ih­ rer Kollegen Jean-StĂ©phane Bron, Lionel Baier und FrĂ©dĂ©ric Mermoud. Ihre Pro­ duktionsfirma Bande Ă  part Films in Lau­ sanne fördert Harrison seit Jahren. Er ar­ beitet auch als Kameramann.

Blaise Harrison: «Les particules», CH/F 2019, 98 Min., mit Thomas Daloz, NĂ©a LĂŒders, Salvatore Ferro u. a. LĂ€uft ab 9. Januar im Kino. Surprise 466/20

FOTOS: CINEWORX

TEXT  MONIKA BETTSCHEN


ILLUSTRATION : TILL LAUER

Mal Held, mal Störenfried Buch Der Roman «Frei» erzĂ€hlt von der Sehnsucht

nach Freiheit und von individueller Verantwortung im Kalten Krieg und in der Gegenwart.

FOTO: ZVG

Berlin, 13. August 1961. Die DDR beginnt mit dem Mauerbau, um die Massenflucht aus dem «Arbeiter- und Bauernpara­ dies» zu stoppen. In Westberlin beschliesst der Medizinstu­ dent Janus Emmeran noch am selben Tag, nicht tatenlos zuzusehen, sondern Fluchthelfer zu werden. Bereits am nĂ€chsten Tag holt er eine junge Frau ĂŒber die Grenze. Zwei Monate nach dem Mauerbau ist die Grenze die am besten gesicherte der Welt. Doch die Gruppe, der sich Janus anschliesst, verfĂŒgt ĂŒber eine komplett ausgerĂŒstete Pass­ fĂ€lscher-Werkstatt. Hunderten gelingt so die abenteuerliche Flucht. Janus wird zum Fulltime-Fluchthelfer. FĂŒr Studium, Musik und Beziehungen bleibt ihm kaum Zeit. Er arbeitet Tag und Nacht, sucht immer wieder nach Möglichkeiten, um die Grenzer auszutricksen, schleust Leute durch die Kanalisation, versteckt sie hinter dem Armaturenbrett eines Cadillacs oder unter einem Kastenwagen. Dabei trotzt er allen Gefahren. Er wird bespitzelt, verra­ ten, ein Tunnel stĂŒrzt ein, stĂ€ndig muss er damit rechnen, entfĂŒhrt zu werden, einmal entgeht er nur knapp dem Tod. Andere haben weniger GlĂŒck, werden erschossen oder lan­ den im GefĂ€ngnis. Zudem machen Politiker und Presse den Fluchthelfern das Leben schwer. Erst als Helden gefeiert, gelten sie ab Ende 1963 – nachdem der Berliner Senat mit der DDR ĂŒber ein Passierscheinabkommen fĂŒr Ost-Berlin verhandelt – als Störenfriede, die das prekĂ€re Gleichgewicht im Kalten Krieg gefĂ€hrden. Doch Janus hĂ€lt jahrelang durch, bevor er 1968 als Facharzt nach Amerika geht. Viele Jahre spĂ€ter kehrt er, inzwischen 77 Jahre alt, vier Kinder, geschieden, nach Berlin zurĂŒck. Seine Visitenkarte bringt sein Leben auf den Punkt: Fluchthelfer, Arzt, Chro­ nist. Durch eine Kontaktanzeige lernt er die 30 Jahre jĂŒngere Verlegerin Colette kennen, die aus dem «ehemaligen DrĂŒÂ­ ben» kommt. In dieser Ost-West-Beziehung wird Janus’ Vergangenheit lebendig. Eine Vergangenheit, die ihn wieder einholt, als er einer jungen Syrerin Unterschlupf gewĂ€hrt. Die Schriftstellerin Roswitha Quadflieg und der ehema­ lige Fluchthelfer Burkhart Veigel haben den Roman «Frei» gemeinsam verfasst, gemeinsam historische Fakten und Fiktion anschaulich verknĂŒpft. Durch das Ineinander von Zeitgeschichte und Lebensgeschichten gelingt es ihnen nicht nur, ein wichtiges Kapitel der deutschen Geschichte lebendig erfahrbar zu machen. Sie zeigen zudem, wie ak­ tuell die Fragen zu Freiheit und individueller Verantwortung auch heute noch sind. CHRISTOPHER ZIMMER

Christopher Zimmer: Roswitha Quadflieg, Burkhart Veigel: Frei. Roman Europa Verlag 2018, CHF 29.90

Ein letzter Gruss fĂŒr Einsame Die Schweiz schreibt In Gedichtlesungen erinnert ein Literaturprojekt an Menschen, die ohne Angehörige bestattet werden. Es ist eine bedrĂŒckende Tatsache, dass immer wieder Menschen zur letzten Ruhe gebettet werden, ohne dass sich dabei Familie und Freunde von ihnen verabschie­ den. Einsamkeit, neben dem Tod wohl das grösste Tabu unserer Zeit, Ă€ussert sich hier besonders brutal: Keine Trauergemeinde, die sich an gemeinsame Momente oder an die prĂ€genden Stationen eines erloschenen Lebens erinnert. Niemand da, der einen Kranz nieder­ legt. Wenn sich nach dem Tod keine Angehörigen fin­ den lassen, werden solche Verstorbenen «von Amtes wegen» in einem Gemeinschaftsgrab bestattet, wobei oft nur Mitarbeitende des Friedhofes und des Fried­ hofsamtes anwesend sind. Inspiriert von einem niederlĂ€ndischen Schwes­ ter-Projekt des Dichters Bart F. M. Droog initiierte die Dichterin Melanie Katz deshalb vor drei Jahren das Pro­ jekt «Das einsame BegrĂ€bnis», zuerst in ZĂŒrich, spĂ€ter auch in Basel, Winterthur und Luzern. Aktuell unter­ stĂŒtzen die Stadt ZĂŒrich und private Stiftungen die Arbeit der Dichterinnen und Dichter. Neben Melanie Katz schreiben derzeit Martin Bieri, Klaus Merz, Ger­ hard Meister, Martina Clavadetscher und andere auf der Basis einer persönlichen Recherche Texte fĂŒr die einsam Verstorbenen. Diese werden wĂ€hrend der Bei­ setzung am Gemeinschaftsgrab verlesen. «Wir möch­ ten den Verstorbenen durch den Akt der Gedichtlesung WĂŒrde verleihen, zeigen, dass man ihrer am Le­ bensende gedenkt, und sie auf ihrem letzten Weg be­ gleiten», sagt Melanie Katz. Die Gedichte werden auch online publiziert und erinnern so ĂŒber den Friedhof hinaus an diese «vergessenen» Leben. HĂ€ufig hĂ€tten Personen, die ihre letzte Reise ein­ sam antreten mĂŒssten, schwierige Biografien, die zum Beispiel von Krankheit oder sozialen Problemen durch­ zogen seien, so Katz. «Bei meinen Recherchen besuche ich den Wohnort der Verstorbenen und spreche, wo dies möglich ist, auch mit Nachbarn oder Bekannten. Diese EindrĂŒcke lasse ich beim Schreiben auf mich einwirken. Nur so kann ich einem Text ĂŒber einen ver­ storbenen Menschen die nötige Tiefe geben.»

MONIK A BET TSCHEN

«Das einsame BegrÀbnis», literarisches Projekt und Abschiedsritual: einsamesbegraebnis.ch Surprise 466/20

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BILD(1): LERIN/HYSTAD, 2019, BILD(2): MATHILDE SALVE, BILD(3): TONJASCHJA ADLER

Veranstaltungen Scuol GR «Electronic Flow(er)», Ausstellung, bis So, 19. April, Do bis So, 15 bis 18 Uhr, Nairs 509, Scuol. nairs.ch

Allein der Ort lohnt den Besuch bereits: Die Fundaziun Nairs befindet sich im historischen Badehaus des Kurorts Scuol-Tarasp. Direkt am Ufer des Inns und sehr idyllisch. Die Ausstellung Electronic Flow(er) sucht nach ZugĂ€ngen zur Natur, aber mit technischen Mitteln. Im Mittelpunkt stehen Klanginstallationen und audiovisuelle Arbeiten. Eine davon ist «Electronic Flora – Engadin» des schwedisch-norwegischen Kunst- und Musikduos Lerin / Hystad. Die beiden verwenden Aufzeichnungen von Biosignalen: Der elektronische Puls einer Zirbelkiefer (Pinus cembra) wird ĂŒber einen modularen Synthesizer ĂŒbertragen, sodass der Baum Noten, Melodien und Rhythmen in der Musik steuern kann. Und damit letztlich bestimmt, wie sich die Videoarbeit gestaltet. DIF

PfÀffikon SZ «AbhÀngig?», Ausstellung, bis So, 22. MÀrz 2020, Di bis So, 11 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Vögele Kultur Zentrum, Gwattstrasse 14. voegelekultur.ch

«Wer, wie, von wem oder wovon» lautet der Untertitel der Ausstellung «AbhĂ€ngig?». AbhĂ€ngigkeiten können persönlicher, politischer, gesellschaftlicher oder auch materieller Natur sein – in Form von Drogen oder Geld etwa. Das Thema ist facettenreich, es geht dabei sowohl um Eigenverantwortung als

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auch um Beziehungen. Die AbhĂ€ngigkeit hat meist einen negativen Anstrich, gerade in Gesellschaften, die das Credo hochhalten, dass jeder seines eigenen GlĂŒckes Schmied ist. Der Mensch ist allerdings ein Beziehungswesen, was es grundsĂ€tzlich mit sich bringt, dass er sich in AbhĂ€ngigkeiten begibt. Die Ausstellung ist in Zusammenarbeit mit der F+F Schule fĂŒr Kunst und Design ZĂŒrich entstanden. Denn der Nachwuchs ist schliesslich auch abhĂ€ngig davon, dass ihn die Etablierteren wahrnehmen. DIF

einen Auftrag von Radio Paris bei sich: eine Moritat ĂŒber den Schurken FantĂŽmas. 2020 bringt die Gare du Nord eine Hörspiel-Musical-Performance von Oliver Augst auf die BĂŒhne: Weill trifft dabei auf das deutsch-französische Pop-Duo Stereo Total und RealitĂ€t (Weills Pariser Exil) auf Fiktion (FantĂŽmas). Und in «Ødipus REC.» stellen sich Fragen wie: Sind wir vom stĂ€ndigen Fluss visueller Informationen verblendet? Oder: Was wĂ€re, wenn wir nur hören könnten – wie Ödipus nach seiner Selbstblendung? DIF

ZĂŒrich «Einfach ZĂŒrich», Dauerausstellung, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 19 Uhr, Landesmuseum ZĂŒrich, Museumstrasse 2, freier Eintritt; «Spuk im Ritterhaus», Fr, 24. Januar, 19 bis 20.30 Uhr, Ritterhaus Bubikon,Ritterhausstrasse 35, Bubikon, anmelden unter: info@ritterhaus.ch; «Zwischen Nagelmaschinen und Klaviersaiten», Sa, 25. Jan., Nagelfabrik «Nagli», St. Gallerstrasse 138, Winterthur.

«Einfach ZĂŒrich» vermittelt auf erfrischende Art ZĂŒrcher Kulturgeschichte. Zum einen mit einer permanenten Ausstellung im Landesmuseum und zum anderen mit vielen Einzelprojekten im ganzen Kanton. Im Ritterhaus Bubikon können Kinder zwischen acht und zehn Jahren mit einem wĂ€rmenden Punsch einen geheimnisvollen Abend verbringen, und in der Nagelfabrik «Nagli» in Winterthur gibt’s Industriegeschichte in Form einer performativen Installation: Wild hĂ€mmernde Maschinenkolosse aus der GrĂŒndungszeit speien NĂ€gel im Sekundentakt aus und fĂŒllen die Luft mit dem Geruch von Maschinenfett. Mit FĂŒhrungen und Nagelschmieden fĂŒr die ganze Familie am Nachmittag und Konzert mit dem ZĂŒrcher Klavier-Ensemble Kukuruz Quartett am Abend. DIF

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«Explosiv! Ein feurig-urbaner Thriller.» THE HOLLYWOOD REPORTER

EIN FILM VON LADJ LY

Basel «Kurt Weill jagt FantĂŽmas», Hörspiel-Musical-Perfor­ mance mit Liedern von Kurt Weill, Mi, 8. Januar, 20 Uhr; «Ødipus REC.» – The Navidsons, Sa/So, 18./19. Jan., jeweils 20 Uhr, Gare du Nord, Schwarzwaldallee 200 (im Badischen Bahnhof). garedunord.ch Als Kurt Weill in einer stĂŒrmischen Nacht im MĂ€rz 1933 mit einem schwarzen Mercedes Benz das HĂŽtel Jacob in Saint-Germain-desPrĂ©s erreicht, hat er die Skizzen fĂŒr

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Surprise 466/20


Eine Art Bushaltestelle aus Holz ist mit «Aus Freude am Menschen» angeschrieben. Sie dient als Treffpunkt fĂŒr alle, was wahrscheinlich heisst: RandstĂ€ndige oder Leute, die sonst nirgends richtig willkommen sind. Die Verhaltensregeln sind in einem Ehrencodex – welch gewichtiges Wort – zusammengefasst. Darin wird der zugehörige WC-Container erwĂ€hnt. Der ist mit Holzpanelen als BlockhĂŒtte zurechtgemacht, wahrscheinlich fĂŒr den Weihnachtsmarkt. In dem Unterstand wird geraucht, und wie es aussieht nicht nur Tabak. Die Raucher haben einen schweren Gang, als sie an die Feuerschale zurĂŒckkehren. Vielleicht haben sie nun wirklich mehr Freude an den Menschen oder zumindest weniger Ärger mit ihnen und ĂŒber sie.

Tour de Suisse

Pörtner in Baden Surprise-Standorte: Bahnhofplatz, Baden Einwohnerinnen und Einwohner: 19 230 Sozialhilfequote in Prozent: 2,1 Anteil auslĂ€ndische Bevölkerung in Prozent: 27 1642 zuletzt als Hexen verfolgt: Maria Bodmer und Barbel Zingin

Wenn die Tage kĂŒrzer werden und irgend­wo mehr als drei Leute pro Tag vorbeikommen, findet an diesem Ort mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Weihnachtsmarkt statt. So auch hier, am Bahnhof Baden. Noch sind die Buden nicht geöffnet, weder das Kerzenziehen noch das Karussell, erst gegen Abend wird es losgehen. Fonduetaugliche Temperaturen und glĂŒhweinheischender Nebel sind bereits vorhanden. An der Spanischbrötlibahn-Haltestelle wurde ein kleiner Kulturbahnhof eingerichtet. FĂŒr den nĂ€chsten Tag ist die sehr empfehlenswerte Band Robertson Head Music Machine angekĂŒndigt. Die FonduehĂŒtte ist ab 17 Uhr geöffnet, es gibt Badener Bier-Fondue und KĂŒnter Bio-Fondue, und warum auch nicht. An den Tischen davor nehmen Jugendliche, KantonsschĂŒler dem Aussehen nach, auf die Schnelle ihr MitSurprise 466/20

tagessen ein. Sie kennen nichts anderes und werden wohl ihr ganzes Arbeits­ leben hindurch das Mittagessen möglichst effizient verzehren. Lunch is for losers. Dahinter, an der Feuerschale, trifft sich die Dosenbierfraktion, sie hat Zeit, hier geht es lebhaft zu. Die TannenbĂ€umchen stehen etwas ­unmotiviert und windschief herum, als wĂ€ren sie nicht ganz freiwillig hier, was sie ja auch nicht sind. Sie stĂŒnden wohl lieber im Wald, als einen auf Wald zu machen, mit dem fĂŒr sie gewiss ungewohnten Holzschnitzelboden. Die PĂ€ckchen bringt an diesem Tag nicht der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten, sondern der Pöstler mit seinem gelben Transporter, der das malerische Weihnachtsdorf zweimal durchquert, bis er die Adresse findet.

Eine Holzskulptur mit Weihnachtssternen wetteifert mit einem ĂŒberdimensio­ nierten Plastikcornet, das etwas saisonuntypisch vor einem CafĂ© steht, um die Hoheit ĂŒber die Ästhetik im öffentlichen Raum. An den Abfalleimern hĂ€ngen A4-BlĂ€tter mit Hinweisen wie «Bitte fĂŒttern» oder «Bin fĂŒr jeden Dreck zu haben». Ein etwas schiefer Spruch, der natĂŒrlich heissen mĂŒsste: «Bin fĂŒr je­den Sch... zu haben». Das ginge aber zu weit und wĂŒrde die Botschaft verfĂ€lschen. Diese immerhin wirkt, alle benutzen die KĂŒbel. Abends, nach ein Paar GlĂ€sern GlĂŒhwein oder einem Besuch in der BrennhĂŒtte, wo die lokalen SchnĂ€pse ange­ boten werden, Ă€ndert sich das vielleicht. Da kann es spĂ€t werden oder sentimental oder eben so weit kommen, dass jemand den KĂŒbel nicht mehr trifft. Oder ihn zu sich nach Hause einlĂ€dt. Anm. d. Red.: Offensichtlich ist dieser Text vor dem Jahreswechsel entstanden. Wir fanden ihn trotzdem schön und dachten: Ein bisschen Weihnachten ist immer.

STEPHAN PÖRTNER  Der ZĂŒrcher Schriftsteller besucht Surprise-Verkaufsorte und erzĂ€hlt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfĂ€ltige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstĂŒtzen Sie Menschen in prekĂ€ren Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die EigenstĂ€ndigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fĂ€llt jenes Unternehmen heraus, das am lĂ€ngsten dabei ist.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte mĂŒssten Sie verkaufen, um davon in WĂŒrde leben zu können? HĂ€tten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewĂ€hlten Verkaufenden zusĂ€tzliche UnterstĂŒtzung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten 01

Maya-Recordings, Oberstammheim

02

Wortstark, ZĂŒrich

03

Praxis Carry Widmer, Wettingen

04

DD4U GmbH, IT Projektierung und Beratung

05

GemeinnĂŒtzige Frauen Aarau

06

Cantienica AG, ZĂŒrich

07

Hervorragend AG, Bern

08

Beratungsgesellschaft f. die 2. SĂ€ule AG, Basel

09

Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, ZĂŒrich

10

Echtzeit Verlag, Basel

11

Waldburger BaufĂŒhrungen, Brugg

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Rhi BĂŒhne Eglisau

13

Scherrer & Partner GmbH, Basel

14

Philanthropische Gesellschaft Union Basel

15

Mitarbeitende Forbo Siegling CH, Wallbach

16

TopPharm Apotheke Paradeplatz

17

Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-RĂŒti

18

RLC Architekten AG, Winterthur

19

GemeinnĂŒtziger Frauenverein Nidau

20

LIVEG Immobilien GmbH, Adliswil

21

VXL, gestaltung und werbung, Binningen

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, ZĂŒrich

23

Brother (Schweiz) AG, DĂ€ttwil

24

Kaiser Software GmbH, Bern

25

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewĂŒnschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine BestĂ€tigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand er ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-VerkĂ€ufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzĂ€hlt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins BĂŒro und gehe mit einem LĂ€cheln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist fĂŒr ihn eine grosse UnterstĂŒtzung: Das ÖV-Abo ermöglicht MobilitĂ€t beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.

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Wir alle sind Surprise Stadtrundgang ZĂŒrich

Stadtrundgang Bern

«So ganz nebenbei»

«In den Stundenplan einbauen»

Stadtrundgang Basel

#463: SpÀtfolgen des Hitzesommers

«Bewegt»

«Umweltschutz»

Ich bin zutiefst bewegt. Der Rundgang mit Danica Graf und Lilian Senn hat mir gezeigt, wie schnell man unverschuldet aus dem sozialen Netz fallen kann.

Meiner Meinung nach ist es seit Jahren generell verboten, GartenabfÀlle zu verbrennen, Hitzesommer hin oder her. (Umweltschutz!) Die AbfÀlle gehören kompostiert.

Die Tour war super: StadtfĂŒhrer Hans Peter Meier ist kompetent, weiss sehr viel, kann alle Fragen beantworten. Er hat uns zu neuen Einsichten und einem anderen Blick auf die Stadt und ihre Menschen verholfen. Die Stationen sind klug gewĂ€hlt, sodass sich am Ende der Tour alles zu einem Gesamtbild zusam­ menfĂŒgt. Die Mischung aus persönlich Erlebtem, Fakten und Hintergrundinformationen ist abwechslungsreich und informativ. Wir haben einen guten Einblick in die Geschichte der letzten gut fĂŒnfzig Jahre aus dem sozialen Blickwinkel bekommen und gelernt, wie vielfĂ€ltig die Initiativen und Institutionen sind, die «auf der Gasse» arbeiten. Dass er, so ganz nebenbei, auch noch eine kunstgeschichtliche Anekdote hervorzauberte, nĂ€mlich uns die wechselhafte Geschichte der Pyramide auf dem Helvetiaplatz erzĂ€hlen konnte und sogar einiges ĂŒber das Gesamtwerk des KĂŒnstlers sagte, hat uns ĂŒberrascht. Kurz: Wir waren begeistert, einige der Teilnehmenden haben sofort den Wunsch gehabt, die Erkundung ein anderes Mal auf einer anderen Tour fortzusetzen.

E. BAUER,  ohne Ort

H. DEMIRDEN,  ZĂŒrich

Nach der von StadtfĂŒhrer Roger Meier wunderbar gefĂŒhrten Tour bleibt die Erkenntnis, es hat – und sollte – fĂŒr alle Platz haben. Ich bin froh, dass man sich in Bern auf unsere ParkbĂ€nke hinlegen kann. Die Sozialen StadtrundgĂ€nge sollte man meiner Meinung nach in den Stundenplan unserer Schulen einbauen. Ich danke Roger Meier herzlich fĂŒr diese spannende Tour und bin froh, dass er seinen Humor trotz der vielen SchicksalsschlĂ€ge nicht verloren hat. U. KOBEL,  Bern

G. JANSER,  Rheinfelden

Impressum Herausgeber Surprise, MĂŒnzgasse 16 CH-4051 Basel GeschĂ€ftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle ZĂŒrich Kanzleistrasse 107, 8004 ZĂŒrich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale StadtrundgĂ€nge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo ZĂŒrich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion‹ Verantwortlich fĂŒr diese Ausgabe: Klaus Petrus (kp) Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon JĂ€ggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99‹ redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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StĂ€ndige Mitarbeit‹ Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Rahel Bains, Eva Mell, Brian Ongoro, Markus Spörndli, Benjamin von Wyl Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. FĂŒr unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, BĂŒro fĂŒr Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSCÂź, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-PortrÀt

«Meine Tochter fand ich auf der Strasse» «Seit eineinhalb Jahren verkaufe ich in Brugg das Strassenmagazin. Die Leute, die bei mir kaufen, unterhalten sich manchmal etwas lĂ€nger mit mir und wollen wissen, wie es mir geht. Wenn sie mich mal zwei Wochen lang nicht sehen, fragen sie, ob ich krank war. Seit sechs Monaten kann ich Surprise aber nicht mehr regelmĂ€ssig verkaufen, denn mein Mann und meine acht Kinder aus Somalia sind jetzt bei mir in der Schweiz. Ich lebe seit dreieinhalb Jahren hier. Ich bin alleine ĂŒbers Mittelmeer nach Europa gekommen. In der Schweiz war ich zunĂ€chst oft im Spital. Auf der Flucht hatte ich kaum etwas zu essen, deshalb musste ich mich hĂ€ufig ĂŒbergeben und hatte gesundheitliche Probleme. In Somalia konnte ich nicht mehr bleiben, denn dort, wo ich herkomme, herrscht die Terrormiliz Al-Shabab. Ich habe in meinem Dorf viel gesehen: Sie haben zum ­Beispiel eine Frau geköpft, ihr Kopf lag auf der einen Seite der Strasse, ihr Körper auf der anderen. Mein Ă€ltester Sohn ist jetzt sechzehn Jahre alt, meine ­Àlteste Tochter ist vierzehn. Sie habe ich als Baby auf der Strasse gefunden. Ich habe sie mitgenommen und ­gestillt. Niemand wusste, zu welcher Familie sie gehört. Also haben mein Mann und ich uns als Eltern ein­tragen lassen. Ich bin froh, dass meine Kinder und mein Mann jetzt bei mir in der Schweiz sind. Denn Al-Shabab kam immer wieder zu ihnen nach Hause, als ich schon in der Schweiz war. Das war bedrohlich. Schliesslich sind sie geflohen, zuerst nach Kenia, dann durften sie zu mir nach Brugg kommen. Damit sie einreisen konnten, musste eine Abstammungsuntersuchung gemacht werden. Aber auch meine nichtleibliche Tochter durfte in die Schweiz kommen, ich habe den Behörden alles erklĂ€rt. FĂŒr die Untersuchung muss ich nun 3000 Franken ­bezahlen, jeden Monat 150. Das ist viel Geld, vor allem, weil ich nun viele Kinder zu versorgen habe. Alle acht Kinder brauchen Kleidung, Essen und so weiter. Ich bekomme Sozialhilfe und verkaufe Surprise, wenn es geht. Aber immer wieder ist eines der Kinder krank. Sie begreifen noch nicht, dass es in der Schweiz so kalt ist, aus Somalia kennen sie ja nur die Hitze. Auch in der Schule gibt es immer wieder Schwierigkeiten. Meine Kinder mĂŒssen noch Deutsch lernen und haben immer wieder Probleme mit MitschĂŒlern. Bevor meine Familie kam, hatte ich genug Geld. Ich konnte mal ein Billett fĂŒr den Zug kaufen, fĂŒr Shampoo, Creme und so weiter. Aber jetzt ist es schwierig. Mein Mann kann hier noch nicht arbeiten. Er lernt gerade die 30

Leyla Osman, 34, ist aus Somalia vor Krieg und Terror geflohen. In Brugg verkauft sie Surprise – und ist froh, dass ihre Familie seit kurzem endlich bei ihr ist.

Sprache und hat ausserdem eine schwere Verletzung am Bein, die durch eine Bombe in Somalia verursacht wurde. Er kann vor Schmerzen kaum schlafen und auch nicht viel laufen. In Somalia hat er in einer Autogarage gearbeitet. Als ich noch in Somalia war, hatte ich von 5 Uhr morgens bis 23 Uhr abends in einem Restaurant gearbeitet und dort auch gekocht. Die ersten zwei Jahre in der Schweiz habe ich in Kaiseraugst gelebt. Dort habe ich einmal fĂŒr viele Menschen gekocht. Alle haben sich darĂŒber gefreut, und es hat mir viel Spass gemacht. Ich koche zum Beispiel Sambusas, das sind gefĂŒllte Teigtaschen. So eine Arbeit wĂŒrde mir gefallen. Aber jetzt mĂŒssen erst einmal meine Kinder Deutsch lernen und das Leben in der Schweiz verstehen. Ich bin sehr froh ĂŒber die Hilfe, die wir hier bekommen. Mir haben die Ärzte am Anfang im Spital sehr geholfen, jetzt bekomme ich in einer Kirche regelmĂ€ssig Hilfe mit Dokumenten, die ich nicht gut verstehe, und ich kann dort auch mit anderen zusammen Deutsch lernen. Auch eine Schweizer Freundin habe ich, sie heisst Cecilia. Ich kenne sie noch aus Kaiseraugst aus einer Kirche. Sie hat mir und vielen anderen AuslĂ€ndern schon oft geholfen.»

Aufgezeichnet von EVA MELL Surprise 466/20


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