Surprise Nr. 461

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Strassenmagazin Nr. 461 18. bis 31. Oktober 2019

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Integration

Lied des Lebens Singen als soziales Projekt – weil es glücklich macht Ein Sonderheft

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SING MIR DAS LIED VOM LEBEN DAS KONZERT MIT ZWISCHENTÖNEN

SAMSTAG, 19. OKTOBER THEATER ARLECCHINO, WALKEWEG 122, 4052 BASEL

SAMSTAG, 26. OKTOBER PFARREISAAL BRUDER KLAUS, RHEINSTRASSE 20, 4410 LIESTAL PREISE: CHF 20.– (AHV, IV, KULTURLEGI, KINDER BIS 16 JAHRE: ERMÄSSIGT CHF 15.–) UNNUMMERIERTE PLÄTZE 19 UHR TÜRÖFFNUNG, 19.30 UHR APÉRO MIT JUBILÄUMSÜBERRASCHUNG, 20.15 UHR KONZERTBEGINN surprise.ngo

WIR DANKEN HERZLICH:

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VORVERKAUF: Kulturhaus Bider & Tanner Aeschenvorstadt 2 4051 Basel Tel. 061 206 99 96 ticket@biderundtanner.ch

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Foto Guido Schärli

10 JAHRE SURPRISE STRASSENCHOR


TITELBILD: KLAUS PETRUS

Editorial

Dieser wilde Haufen Surprise ist eine Organisation mit vielen Projekten – Heftverkauf, Strassenfussball, Soziale Stadtrundgänge, Café Surprise.

der Surprise Strassenchor einer der am häufigsten gebuchten Chöre der Region Basel ist.

Und dann ist da dieser wilde Haufen.

2010 führten finanzielle Probleme zur Frage, ob Surprise dieses damals noch neue Projekt würde weiterführen können. Man liess den Chor bestehen, und er kann heute das 10-Jahr-Jubiläum feiern. Der Vorstand und die Geschäftsleitung von Surprise waren überzeugt, dass gemein­ sames Singen wichtig ist. Wichtig für Leute, die darauf angewiesen sind, mit anderen zusammen einmal ihre Sorgen vergessen zu können. Sich wieder spüren zu können. Und damit zu einem Teil einer Familie zu werden.

Wenn ich mal etwas zu lange im Büro an der Basler Münzgasse bleibe, kann es passieren, dass ich in eine singende, tanzende Horde gerate, sprühend vor Energie. Chormitglieder in Bewegungen, von denen ich nicht einmal wusste, dass der Mensch anatomisch dazu fähig ist. Die eine Chorleiterin ausser Atem mit einem Akkordeon in den Händen, die andere durch die Gegend hüpfend. Hier wird mir jeweils klar, dass Musik nicht einfach etwas Schöngeistiges oder eine Form der Unterhaltung ist. Hier zeigt sich vielmehr: Musik ist Ekstase. Misst man die Qualität dieses Chors musikalisch, muss man sagen: Es ist noch Luft nach oben. Sieht man sich dagegen die Lebensenergie an, versteht jeder, wieso

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Scheiss Welt

6 Challenge League

Die Macht der Musik

7 Auf Reisen

Memphis

8 Musikwissenschaft

14 10 Jahre Strassenchor

Rezept für einen erfolgreichen Chor

Sie halten die Sonderausgabe zum Surprise Chor in den Händen. Wir hoffen, dass wir damit zeigen können, was Musik mit den Menschen machen kann. DIANA FREI Redaktorin

20 Jubiläumsprogramm

28 SurPlus Positive Firmen

24 Culturescapes

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

26 Veranstaltungen

30 Surprise-Porträt

Zwischentöne

Am Anfang war Polen Mike

27 Tour de Suisse

Pörtner in Wil SG

«Wir leben von dem Geld, das ich verdiene»

Magie des Singens

10 Chormusik

Passende Töne in unendlicher Zahl

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Freunde fürs Leben Oft sind sie die einzigen Gefährten, die Obdachlose in ihrem Leben aus Armut, Krankheit und Einsamkeit haben: ihre Hunde. Sie verbringen viel Zeit mit ihnen, teilen Freud und Leid. Und wissen so manche Geschichte zu erzählen, wie die Beispiele aus Vancouver zeigen. MEGAPHONE, VANCOUVER

Fotos mit freundlicher Genehmigung von Megaphone, Vancouver/Victoria

«Meine Mutter züchtet Hunde, so kam Tank Girl zu uns. Sie hatte es nicht immer leicht im Leben, Tank Girl leidet am ‹Small Dog Syndrome›. Aber sie ist sehr tapfer. Sie ist unser Baby.» Karsna (links) und Lisa Marie

«Sally ist schon fünfeinhalb Jahre alt, sie ist sehr ruhig und eine grossartige Begleiterin. Sie steht mir zur Seite, wenn ich meine Epilepsieanfälle habe, und hält mich an heissen Tagen im Schatten, damit ich keinen Sonnenbrand bekomme.» Brent

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«Meine Hunde beschützen mich, sie haben mir schon ein paarmal das Leben gerettet. Sie sind für mich wie Kinder. Ich habe zwar Kinder, doch leider habe ich keinen Kontakt mehr zu ihnen. Ich vermisse sie, aber so ist das Leben. Nun habe ich meine Hunde, ich bin rund um die Uhr mit ihnen zusammen, sie sind mein Leben.» Jamey

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Vor Gericht

Scheiss Welt «Sie sind die Besten, sie hören gut auf mich. Rosie, die schwarze, lebte lange in einem Zwin­ger, sie hatte keinen Kontakt zu Menschen und ängstigte sich vor allem und jedem. Inzwischen hat sie viel Vertrauen gefasst. Was soll ich sagen, meine Hunde sind mein Glück, mein Sonnenschein.» Brooke

«Alle kennen Taz, er ist immer bei mir. Ich habe ihn gerettet, als er fünf war. Ich habe keine Familie mehr, deshalb bedeutet mir Taz alles.» Stan

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Gerichtsreporterinnen werden öfters gefragt: «Wie können Sie nachts nur schlafen?» All diese menschlichen Abgründe. Geschichten, wie Leute sich belügen, beklauen, betrügen. Wie vergewaltigt, gemobbt, gemordet wird. Man kann es «professionelle Distanz» nennen: Unsereins ärgert sich eher über langfädige Plädoyers, als dass man sich ob Einzelschicksalen grämt. Es geht ums grosse Ganze, das Rechtssystem, weniger um Personen. Nur vereinzelt kommt der Moment: Man will nur noch nach Hause, Raum abdunkeln, heulen. Scheiss Welt. Passiert immer bei unbedeutenden Fällen. Vor ein paar Wochen in Bülach. Beide Opfer sind besonders verletzliche Menschen. Beim Mann erwähnt die Anklageschrift altersbedingte kognitive Einschränkungen. Seine Sachen hat er im Plastiksack dabei. Darauf steht «gut betreut im Hausarztmodell. Wir sind für Sie da.» Der 66-Jährige war mal bei einer Freikirche. Der Kontakt zur Familie ist abgebrochen. Er lebe zurückgezogen, sagt er. Er hört und sieht schlecht, seit Geburt. Manchmal klingeln Hausierer. Manchmal kauft er etwas. Bambus-Socken zum Beispiel. Oder Faksimile-Drucke – Imitate historischer Bücher. Erst zahlte er per Einzahlungsschein an einen Verlag, dann bar, insgesamt 65 000 Franken. Es habe sich keine Freundschaft zum Vertreter, nein, aber gegenseitiger Respekt entwickelt. Ab und zu gingen sie auswärts zum Zmittag. Der Vertreter erzählte ihm von einer Frau, deren Tochter alles verloren hatte im Hurrikan Sandy in den USA. Sie brauche Geld für die Rückreise, um neu anzufangen.

Zu helfen entspreche seiner Weltanschauung, sagt der Geschädigte. War ja nur ein kurzfristiges Darlehen. 35 Mal ging er innert gut zwei Jahren zur Bank, hob total 205 000 Franken ab. Einmal fragte am Schalter jemand nach. Aber er habe versprochen, niemandem etwas zu sagen. Er senkt den Blick und sagt, er habe zu lange gebraucht, um zu akzeptieren: Ich werde übers Ohr gehauen. Das zweite Opfer: Bis sie ihn, den Bücher-Vertreter, kennengelernt habe, sei sie eine taffe Frau gewesen, sagt die Rentnerin. Ein Leben lang Berufsfrau. Kultiviert, ein «riesiger Bücherfan». Das «Book of Kelly», eine Klosterschrift aus dem Jahr 800, habe ihr gefallen. Mit dem Verkäufer sei es sofort «locker zugegangen» – bald freundschaftlich. Sie erzählten einander voneinander. Er von seiner Frau. Sie, dass gerade ihr langjähriger Partner gestorben war. Er kam vorbei, brachte Geschenke, sie kaufte Bücher. An ihrem Geburtstag gestand ihr der jüngere Mann seine Liebe. Sie hatten Sex. «Ich war ein Volltrottel», sagt die Frau. 13 Bilder für 327 000 Franken kaufte sie während zwei Jahren – tatsächlicher Wert: rund 100 000. Sie gab ihm weitere 100 000 Franken – für den Scheidungsanwalt, eine Wohnung in der Nähe, eine Rolex. Sie wusste, dass er sie abzockt. Wehrte sie sich, machte er ihr Angst. Sie zeigte ihn an. Dann habe er sie «mit Honig übergossen». Sie zog die Anzeige zurück. «Ich war hörig, ein ferngesteuerter Zombie.» Der Anwalt des Beschuldigten checkt seine Mails, während sie spricht. Er hatte zum Prozessauftakt erklärt, seinem Klienten sei es nicht möglich gewesen, anzureisen. Der Vertreter wird erneut vorgeladen, der Prozess geht bald weiter. Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich 5


Challenge League

Die Macht der Musik Musik hat mich schon immer fasziniert. Sie hat schon im Kindesalter ihren Weg in mein Herz gefunden und wird immer dort bleiben. Sie begleitet und motiviert mich, unterstützt und verbindet mich mit anderen. Es begann mit Kinderliedern und mit Stücken, die meine erwachsenen Geschwister gehört haben. Die Generation meiner älteren Geschwister ist in einer Zeit in Eritrea aufgewachsen, als das Land von Äthiopien beherrscht wurde und in den Schulen auf Amharisch unterrichtet wurde. Daher ist amharische Musik in Eritrea in der Generation meiner älteren Geschwister sehr beliebt. Damals haben wir in der Familie vor allem Lieder aus Äthiopien und aus Eri­trea gehört. Später als Jugendliche habe ich dann auch gern englischsprachige Lieder gehört – unter anderem von den Backstreet Boys, von Westlife oder Céline Dion.

relativer Sicherheit, sind jedoch mit einer unbekannten Sprache, anderen Systemen, einer uns fremden Lebensweise und Kultur konfrontiert. Auf Youtube, am Radio, am Fernsehen oder auf der Strasse Musik zu hören, ist eine Strategie, uns in schwierigen Phasen verbunden zu fühlen und Hoffnung zu schöpfen. Sehr bekannt ist zum Beispiel ein Lied, das vor zwei Jahren von zwei bekannten Sängern, die im Exil leben, Abrar Osman und Ftsum Beraki, gesungen wurde. Der Song heisst «Bahgi», «Wunsch» oder «Traum» auf Deutsch. In diesem Lied singen sie über die schwierige Lage in Eritrea, wo die Menschen dazu gezwungen sind, illegal das Land zu verlassen, und sie erzählen von der Lebens­situation nach der Flucht. Sie wollten ihre Fans darin bestärken, den Traum von einem besseren Eritrea nicht aufzugeben.

Nach dem Krieg mit Äthiopien verbot die Regierung in Eritrea, amharische Musik zu hören.

Musik ist für mich nicht nur etwas, das meine unterschiedlichen Gefühle befriedigt, sondern auch SEMHAR NEGASH etwas, das Grenzen überschreitet und die Menschen verbindet. Musik kann Musikliebende dazu in­spirieren, etwas Gefährliches zu tun. Nach dem Krieg mit Äthiopien Ende der Neunzigerjahre zum Beispiel verbot die Regierung in Eritrea, amharische Musik zu hören. Leute, die dabei erwischt wurden – ob zuhause, in ihren Autos oder im Restaurant – wurden bestraft. Trotzdem haben wir heimlich amharische Musik gehört. Als die Grenze geschlossen wurde, kamen auf offiziellem Weg keine neuen Kassetten mehr nach Eritrea und umgekehrt. Ich erinnere mich, wie meine Schwester damals zu ihren Kollegen sagte: «Wenn die Grenze geschlossen bleibt und sie eine Mauer bauen, wäre es gut, wenn sie ein kleines Loch liessen: um Kassetten zu tauschen.» Musik wirkt wie ein Medikament. Die Macht der Musik ist deshalb auch etwas, was in der therapeutischen Arbeit mit geflüchteten Menschen eingesetzt wird. Da ich selbst auch betroffen bin, weiss ich aus erster Hand um die heilende Wirkung. «Zum Glück ist die Musik mit uns geflüchtet», sagen wir unter Freunden mit ähnlichen Fluchtgeschichten oft, vor allem, wenn unser Alltag schwierig ist. Neu in einem Land zu sein, in eine unbekannte Umgebung zu gelangen, ist eine grosse Herausforderung. Zwar leben wir hier in 6

In Eritrea gibt es auch die Kultur, in der Nachbarschaft selbst Musik zu machen und zusammen zu singen. Dabei kommt oft ein Instrument zum Einsatz, das Kirar heisst – eine Art Leier mit fünf oder sechs Saiten. Meistens wird es von Männern gespielt. Jemand spielt, und der Rest der Gruppe singt gemeinsam. Kirarspielen und gemein­sames Singen sehe ich auch hier in der Schweiz, vor allem bei jungen Geflüchteten, die als Unbegleitete Minderjährige Asylsuchende (UMA) hierher kamen. Viele dieser jungen Leute haben dieses Instrument spielen gelernt und zelebrieren das gern in der Gemeinschaft. Es ist eine Art Therapie für sie. Abrar Osman ft. Ftsum Beraki: youtu.be/ErGseRK7vZg

SEMHAR NEGASH  ist Anthropologin in Bern. Sie beobachtet an dieser Stelle sich selbst und andere dabei, wie es ist, ein Teil der Schweizer Gesellschaft zu sein.

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

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Was meine Lieblingsjahreszeit in der Stadt ist Wenn es Zeit ist, das Gras zu mähen, also der Frühling. Man ist ganz schnell raus aus der Stadt. Du kannst nach Norden, Süden, Osten oder Westen fahren und überall die Landschaft ge­ niessen. Wenn du Hügel sehen oder in die Berge gehen möchtest, musst du aller­ dings weit hinausfahren, denn die Land­ schaft hier ist ziemlich flach.

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Wo man am besten essen kann Es gibt in Tennessee jede Art von Küche. Zum Beispiel findet man bei «Gus’s Chicken» an der Front Street die besten Poulets weit und breit. Für Burger brauchst du nur der Main Street ent­ langzugehen, dort sind sie sehr preiswert. Dann gibt es noch The Arcade. Das ist ein Ort, wo viele Leute gerne hingehen und früher auch Elvis oft war.

6 Auf Reisen

Memphis, Tennessee, USA Unsere Reiseleitung: Tony Dyson wurde in Memphis geboren. Er arbeitete lange als Stadtgärtner, dann wurde er wegen ge­ sundheitlicher Prob­ leme obdachlos. Jetzt verkauft Tony das Strassenmagazin The Bridge. «Im Moment bin ich unten, aber ich versuche, wieder hochzukommen.»

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Wenn du in Memphis spazieren gehst … … hörst du immer Musik. Du kannst ihr gar nicht entkommen, sie ist überall, nicht nur auf dem Elvis Presley Boulevard. Ich mag Rhythm and Blues, Smooth Jazz, Country, ein bisschen von allem halt – Hauptsache, die Musik hat eine Geschichte zu erzählen. Surprise 461/19

Wo man den Geist von Elvis spüren kann Ich war in Graceland, wo Elvis ge­ wohnt hat. Ich finde, alle sollten die Möglichkeit haben, einmal nach Graceland zu reisen und sich dort umzu­schauen. Unlängst wurde nicht mal einen Block von Elvis’ Anwesen entfernt ein grosses Hotel namens The Guest House gebaut, das ebenfalls sehenswert ist.

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Was mein Lieblingsort in Memphis ist Das Flussufer. Dort gibt es einen tollen grossen Park, wo die Schiffe anlegen. Leider sind das nicht mehr die alten Dampfschiffe, der Mississippi ist nicht mehr tief und schnell genug. Auch Mud Island River Park ist ein schöner Ort, dort wird jedes Jahr im Mai ein Musikfestival mit Barbecue am Fluss veranstaltet.

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Wo hingehen mit einem kleinen Budget? In der Nähe des Zoos gibt es häufig Konzerte, die kostenlos sind. Dort kannst du mit einem Picknickkorb auf dem Rasen sitzen und dich amüsieren. Auch in der Innenstadt an der Beale Street muss man für Konzerte nichts bezahlen. Sie haben sogar eine Bühne aufgestellt, auf der die Bands ihre Konzerte abhalten.

Interview von Steven MacKenzie Kontakt: The Bridge, PO Box 40301 Memphis, TN 38174 Mit freundlicher Genehmigung von INSP.ngo / The Big Issue UK bigissue.com @BigIssue

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Die Magie des Singens Wissenschaft Singen hat positive Auswirkungen auf Körper und Seele, das bestätigen immer mehr Studien. Unser Autor kann es aus eigener Erfahrung bestätigen. TEXT  SIMON JÄGGI FOTOS  KLAUS PETRUS

Montagabend, rund ein Dutzend Frauen und Männer stehen sich gegenüber. In der Hand das Notenblatt «Weischus dü?», ein Volkslied aus dem Wallis. Der Chorleiter hebt die Hand, Luft strömt durch meinen Hals abwärts. Ich atme tief in den Bauch. Die Altistinnen stimmen die Melodie an. Ich presse die Luft aus meinen Lungen. Am Kehlkopf trifft sie auf meine Stimmbänder, drückt die Stimmlippen auseinander und bringt sie zum Vibrieren. Ein Primärton entsteht. Von hier verbreitet er sich durch meinen Körper, wandert aufwärts, in den Rachen, den Mund und die Nasenhöhle. Er nimmt Form an und stimmt ein in die Bassstimmen neben mir. In dem Moment schaut der Chorleiter in unsere Richtung und schüttelt lächelnd den Kopf. «Das machen wir gleich nochmal.» Gegen Depressionen Singen zählt zu den ältesten Ausdrucksformen der Menschen. Die Stimme ist das erste Instrument. Den Schwingungen unserer Stimmbänder wurden seit jeher tiefgreifende Wirkungen zugeschrieben. In manchen Weltregionen dient das Singen bis heute dem Vertreiben von bösen Geistern und der Heilung von Kranken. In der westlichen Welt rückte die Wirkung des Singens in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend in den Hintergrund. Nicht

Eine Studie stellte fest: Singen lindert Depressionen. 8

für die Singenden selber; diese wussten stets aus eigener Erfahrung, welche wohltuende Wirkung das Singen auf sie hat. Die Öffentlichkeit, die Wissenschaft und insbesondere die Medizin interessierten sich jedoch kaum für die psychischen und physischen Effekte des Singens. Doch das ändert sich gerade. Allein im vergangenen Jahr sind von Kampala bis Kingston mehrere Dutzend Studien erschienen, welche die psychischen und physischen Folgen des Singens untersuchen. Sie befassen sich mit den Auswirkungen des Chorsingens bei Frauen, die unter einer Wochenbettdepression leiden, bei Angehörigen von Krebspatienten oder bei Menschen mit chronischen Lungenerkrankungen. Die Wiederentdeckung der Magie des Singens begann mit einer kanadischen Studie im Jahr 2002. Im Fokus stand ein Chor von Wohnungslosen. Die Studie stellte fest, dass sich die Lebenslage sowie das Wohlbefinden der Obdachlosen in der Regel verbesserten, nachdem sie dem Chor beigetreten waren. Anhand von Befragungen schlossen die Forschenden auf einen direkten Zusammenhang und kamen zum Schluss: Gemeinsames Singen kann Depressionen lindern, soziale Kompetenzen stärken und kognitive Fähigkeiten verbessern. Die Untersuchung sorgte weit über Kanada hinaus für Aufmerksamkeit und weckte das Interesse der Wissenschaft. Seither sind viele weitere Studien erschienen, die sich mit den Auswirkungen des Singens beschäftigen. Alle kommen zu ähnlichen Erkenntnissen: Singen macht glücklich und kann das Lebensgefühl der Singenden nachhaltig beeinflussen. Die Chorprobe ist weiter fortgeschritten. Die Anfangstöne sitzen inzwischen. Langsam arbeiten wir uns Takt für Takt vorwärts. Zunächst noch etwas stockend und unsicher, dann finden wir uns immer mehr. Die Stimmen vermengen sich zu einem Ganzen. Ich tauche ein in den Gesang, und die Musik trägt mich davon. Die Studien der vergangenen Jahre machen deutlich, was sich in meinem Körper während der Probe abspielt. Der Herzrhythmus stabilisiert sich und gleicht sich jenem meiner Mitsingenden an. Nach einer halben Stunde steigert das Gehirn die Produktion von stimmungsaufhellenden Hormonen, wie Beta-Endorphinen und Serotonin. In der Stirnregion wird das Belohnungssystem aktiviert, im Zentrum des Gehirns wird das Hormon Oxytocin ausgeschüttet – eine Substanz, die unter anderem Gedächtnisprozesse und die soziale Bindungsfähigkeit beeinflusst. Gleichzeitig senkt sich durch den Gesang die Konzentration jener Hormone, die aggressiv und stressanfällig machen: Testosteron und Surprise 461/19


Szenen aus dem Surprise Strassenchor: Anette Metzner (Mitte) vermittelt Energie, nicht Perfektion.

Cortisol. Nach einer guten Stunde steigt zudem die Zahl von Antikörpern an, die Zytokin-Aktivität nimmt zu. Mein Immunsystem tankt auf. Krankenkassen fürs Singen Im deutschsprachigen Raum zählt der Musikpsychologe Gunter Kreutz zu den führenden Forschern auf dem Gebiet. Er ist Autor des Buches «Warum Singen glücklich macht» und sagt: «Es ist nicht schwieriger, die Wirksamkeit des Singens zu überprüfen, als etwa die gesundheitlichen Effekte von Jogging, Yoga oder Physiotherapie.» Die Veränderungen im Hormonspiegel zeigten deutlich, wie sich das Singen auf Körper und Geist auswirke. Aus seiner Sicht stellen sich jedoch weitere wichtige Fragen: «Welchen Einfluss haben die gesungenen Liedtexte und Liedergattungen? Kann man neben kurzfristigen Verbesserungen des Wohlbefindens auch langfristige Folgen beobachten? Stärkt regelmässiges Singen die Immunabwehr nachhaltig oder nur momentgebunden?» Trotz der bisher noch offenen Fragen entdeckt zunehmend auch die Medizin die Wirkung des Singens wieder. Im deutschsprachigen Raum haben sich mehrere Dutzend Kliniken zum Netzwerk der «Singenden Krankenhäuser» zusammengeschlossen. Gemeinsam wollen sie die heilsame Wirkung des Singens Surprise 461/19

für kranke Menschen zugänglich machen. Auch in der Schweiz haben sich erste Kliniken angeschlossen, darunter die Psychiatrie Luzern, das Rehabilitationszentrum Rheinfelden oder die Klinik Arlesheim. Die Kliniken berichten von erstaunlichen Erfolgen. Schmerzpatienten können beim Singen ihre Schmerzen vergessen und erleben eine Lockerung der Muskulatur, Menschen mit Lungenerkrankungen können wieder leichter atmen, Menschen, die an Krebs erkrankt sind, berichten von einem Gewinn an Zuversicht und Lebensfreude. «Es wäre wichtig, dass jetzt auch die Krankenkassen die Wirkung des Singens anerkennen», sagt Gunter Kreutz. Und noch etwas liegt ihm am Herzen: «Für Menschen, die nie ein Instrument gespielt haben und über einen tiefen Bildungsstand verfügen, sind die Eintrittshürden oft hoch.» Auch hier wünscht er sich eine Veränderung. «Es braucht noch mehr Chor-Angebote in sozialen Bereichen.» Insbesondere für Menschen, die einsam sind oder sozial benachteiligt, könne das Singen eine grosse Kraft entwickeln. Die Chorprobe ist zu Ende. Wir sitzen noch kurz zusammen, dann machen wir uns auf den Weg nach Hause. Mit leichtem Schritt gehe ich durch die Strasse. Der Geist entspannt, die Sinne wach. Eine weite Ruhe in meiner Brust, eine Melodie im Ohr. Ich weiss, heute Nacht werde ich gut schlafen. 9


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Cipriano de Rore (1515 – 1565) war bekannt für seinen Madrigal- und Motettenbücher.

BILD: RORE, CIPRIANO DE (KOMPONIST) / POLLET, JEAN (SCHREIBER): 26 MOTETS – BSB MUS.MS. BBILDNR. 74:


Passende Töne in unendlicher Zahl Musikwissenschaft Chorgesang ist kein rein europäisches Phänomen.

Die harmonische Mehrstimmigkeit hingegen schon. Heutzutage geniessen Chöre weltweit ihren Klang. TEXT  HARALD WINTER

Die Entstehung des Gesangs lässt sich wahrscheinlich auf die frühen Tage der Entwicklung der Menschheit datieren. Wie das Sprechen, gründet sich auch das Singen auf die Fähigkeit des Menschen, seine Stimme zu modulieren, also Laute zu verändern, indem er unterschiedliche Tonhöhen und Klangfarben nutzt. Die Idee, dass man sich trifft, um gemeinsam mehrstimmig zu singen und dabei die entstehenden Harmonien spüren kann – beispielsweise in einem gemischten Chor mit Männern und Frauen –, gibt es jedoch noch gar nicht so lange, und in einigen Teilen der Welt gibt es sie, auch heute noch, überhaupt nicht. Keine Mehrklänge im Orient Den einstimmigen Chorgesang kennt man allerdings schon lange in fast allen bekannten Kulturen. Bei vielen Völkern spielt er als Ausdruck emotionaler Bindung an die jeweilige Gruppe eine grosse Rolle – sei es bei gemeinsamen Feier-, Klage- und Schlachtgesängen oder bei religiösen Zeremonien. Kein Wunder: Die meisten wissen aus eigener Erfahrung, wie sehr gemeinsames Singen verbinden kann. Schon aus der Antike sind Gesänge oder Berichte von Zeitzeugen über Veranstaltungen überliefert, auf denen in mehr oder weniger grossen Formationen gesungen wurde. Meist waren es Kulthandlungen, wie zum Beispiel die Dionysos-Feste zu Ehren des gleichnamigen Gottes im alten Griechenland. Von dort stammt auch der Begriff «Chor» oder «Chorus» (χορός); er bezeichnet eine Gruppe von Sängern und Tänzern, Surprise 461/19

die im Mittelpunkt eines solchen Festes stand. Aus diesen Zeremonien entwickelten sich im weiteren Verlauf der Geschichte dann nicht nur musikalische Formen wie zum Beispiel Gruppengesänge, sondern auch die griechische Tragödie, wie der antike Philosoph Aristoteles in seiner «Poetik» schreibt. Und bei diesen einstimmigen Gesängen blieb es viele Jahrhunderte. Auch ihre Hauptgrundlage blieb die gleiche: religiöser Kult und sakrale Handlungen. Mehrstimmigkeit jedoch kennen die meisten Völker nicht, jedenfalls nicht in ihrer eigenen Kultur. Man findet häufig hochentwickelte, reichhaltig verzierte Melodik sowie unglaublich vielgestaltige Rhythmen, die mit Inbrunst gesungen werden und herrlich klingen – aber keine Mehrstimmigkeit und damit auch keine Harmonien. So ist beispielsweise das orientalische Tonsystem so aufgebaut, dass aus seinen komplexen Tonleitern keine Mehrklänge gebaut werden können. Nur Mehrklänge aber tönen für uns harmonisch im eigentlichen Sinne, weil die Musik gewissen physikalischen Gesetzen folgt und das Hören auf physiologischen Grundlagen basiert. Denn: Töne bewegen sich durch den Raum als Schalldruckwellen, die in Lautstärke und Tonhöhe variieren und von denen das menschliche Ohr nur einen Ausschnitt bewusst wahrnehmen kann. Man misst die Frequenz, also die Geschwindigkeit der Schwingung der Schalldruckwelle, die die Tonhöhe bestimmt, und die Amplitude, die Höhe der Schwingung, die die Lautstärke ausmacht.

Nun klingen im menschlichen Ohr nur Harmonien aus sogenannt reinen Interval­ len, also Tonabständen, als Wohlklang. Diese Tonabstände stehen in bestimmten Zahlenverhältnissen zueinander, die Pythagoras als Erster entdeckte und mass – soweit es in der Antike eben möglich war. Salopp gesagt, schwingen sie miteinander, wenn sie zueinander passen, wie zum Beispiel die Oktave, also der gleiche Ton, vom Grundton aus der achte, der zu diesem ein ganzzahliges Schwingungsverhältnis von 1:2 hat, oder die Quint (5. Ton), die im Verhältnis 3:2 schwingt. Sie ergänzen sich, lassen neue Kombinationstöne entstehen – und zwar, wohlgemerkt, in unendlicher Zahl, denn aus Pythagoras’ Entdeckung ergab sich auch, dass es den einzelnen Ton gar nicht gibt (sofern er nicht elektronisch erzeugt wird): Jeder Ton trägt eine unendliche Zahl von Obertönen mit sich, die ihn von vornherein zu einem Mehrklang machen. Man kann sich unschwer vorstellen, was diese Vielzahl von Schwingungen mit einem machen: Jede Sängerin, jeder Sänger kennt das Wohlgefühl, das sich einstellt, wenn die Töne zueinander passen. Wenn nicht, ergeben sich Missklänge bis hin zu schlichten Geräuschen. Ganze Schulen singender Mönche Die Mehrstimmigkeit in Orchester- und Gesangsmusik ist vor allem ein europäisches Erbe. Es gab und gibt zwar auch Formen von harmonischen Gesängen etwa in der Südsee oder im asiatischen Raum. Nur in Europa hat sich jedoch die mehrstimmige Komposition auf eine bestimmte, 11


FOTO: ENDLICH, ANDREAS, JUNIOR; MOTETTE _ BSB CLM 29775 , BILDNR. 1

Chorbuchartige Notierungen: Andreas Endlich, Südbayern 1511.

vielfältige und kunstvolle Art weiterentwickelt. Das passierte zum grössten Teil in den letzten 500 Jahren, in denen sie einen regelrechten Schub erfuhr. Die Grundlagen dafür wurden schon früher gelegt, und zwar vor allem im sakralen Raum. Das Kirchengeschehen in der Liturgie der sich ausbreitenden christlichen Kirche spielte sich über Jahrhunderte in Form von Gesängen ab, die sich stark an die Melodien gesungener Psalmen der alten jüdischen Zeremonien anlehnten. Hieraus entwickelten sich ganze Schulen singender Mönche, die bis ins hohe Mittelalter das musikalische Leben nicht nur in den Kirchen bestimmten. Frauen waren dabei aufgrund der patriarchalischen Auslegung des Paulus-Wortes «Mulier taceat in ecclesia» (dt. «Frauen schweigen in der Kir12

che») ausgeschlossen, was dazu führte, dass die hohen Stimmen ebenfalls von Männern gesungen wurden (Contratenor, Contraalto). Zunächst aber war noch alles einstimmig. Doch durch die Übung und Verfeinerung sowie zum Teil zentral päpstlich oder königlich gesteuerter und systematisierter Ausbildung entwickelte sich zuerst eine einfache Mehrstimmigkeit – wie zum Beispiel Parallelbewegungen oder liegende Töne (sogenannte Bordune) und einfache Kanons –, die in der folgenden Zeit immer umfangreicher wurde. Mindestens zwei Probleme mussten dabei gelöst werden: die Vereinheitlichung und Konservierung des bereits Erreichten sowie dessen Weitergabe. Hier starteten Pippin der Kleine und Karl der Grosse im 8. Jahrhundert die

ersten Versuche, indem sie per Erlass verfügten, dass Klöster und Kirchen im gesamten Frankenreich auf den gleichen Stand zu bringen seien. Das liess sich jedoch nicht so einfach lösen. Denn bisher wurden Melodien nur oral weitergeben, d.h. durch Vorsingen und Nachsingen, so wie es auch heute noch in vielen Ländern der Fall ist, in denen sich die Mehrstimmigkeit nicht herausbildete. Das geht jedoch nur mit einer einstimmigen Melodie, und auch da nur ungefähr. Deshalb begann man ab dem 10. Jahrhundert, Melodien schriftlich festzuhalten, zuerst nur die unterschiedlichen Tonhöhen, später auch die Dauer. Parallel dazu entwickelten sich die gesanglichen Qualitäten. Schliesslich gab es eine ganze Anzahl von Schulen, die das neu erfundene Notensystem immer weiter verbesserten und in der weiteren Entwicklung dazu nutzten, um Mehrstimmigkeit kompositorisch umzusetzen, was ohne ein derartiges System nicht machbar gewesen wäre. Weder Guillaume de Machaults «Messe de Nostre Dame» (ca. 1350) noch die Werke Orlando di Lassos oder Guillaume Dufays (ca. 1450) hätten sonst erschaffen werden können und schon gar nicht für uns erhalten. Grosse Chöre ab dem 18. Jahrhundert Schliesslich wurde es möglich, grös­sere Werke zu komponieren wie die umfangreichen Messen und Motetten eines Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525–1594), die allerdings zu jener Zeit in den einzelnen Stimmen meist solistisch besetzt waren. Dies war noch bis ins späte 18. Jahrhundert üblich. Grosse Chöre, wie sie bei uns heute gang und gäbe sind und die ein weltliches Repertoire singen, gibt es in nennenswerter Zahl erst ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert, mit starkem Zuwachs in den bürgerlichen Gesellschaften ab dem 19. Jahrhundert, in dem auch bis dato der Höhepunkt der mehrstimmigen Chormusik uraufgeführt wurde: «Freude schöner Götterfunken» von Ludwig van Beethoven (1770–1827), nicht nur ein Geniestreich sinfonischer Chormusik, sondern auch ein Resultat der Fortschritte im Instrumentenbau und der Musikwissenschaft. Doch wenn, wie oben gesagt, in vielen Kulturen traditionell gar keine Mehrstimmigkeit existiert, wie kommt es dann, dass es heute in China angeblich mehr Chöre gibt als in der Schweiz, Österreich und Deutschland zusammen? Die Antwort ist Surprise 461/19


Dies hat noch einen weiteren Grund: Überall dort, wo sich Europäer ansiedelten, nahmen sie ihre Musik mit. Sie vermischte sich mit dem, was schon dort war, und so entstand etwas Neues wie der Jazz, der Flamenco oder die kubanische Musik. Dass dieser Kulturtransfer nicht gewaltfrei vonstattenging, darf dabei nicht verschwiegen werden. Die Europäer haben bei ihrem Zug in und um die Welt spätestens seit der Renaissance ganze Völkerscharen unterworfen, versklavt oder sogar vernichtet. Das, was wir heute als ästhetisches Kleinod empfinden, die mehrstimmige Musik, fand ebenfalls mit den europäischen Kolonisatoren Eingang in die eroberten Gebiete und Kulturen. Demzufolge war der erste Kontakt mit dieser Kunst für die Eroberten alles andere als stimmungsvoll. So hatten

die Einwohner des südlichen Afrika im Zuge der gewaltsam durchgesetzten Christianisierung die Lieder ihrer neuen Herrscher zu lernen, während es den versklavten Afroamerikanern in Brasilien, USA und auf Kuba bei Todesstrafe verboten war, ihre eigenen Lieder zu singen. Heute jedoch sind Chöre allerorten ein fester Bestandteil der Weltmusik und können auf ein riesiges internationales Repertoire zurückgreifen. Milliarden Menschen singen aus ganz unterschiedlichen Gründen in Chören – angefangen bei religiösen Kulthandlungen bis hin zur emotionalen Stärkung für den Befreiungskampf wie im Südafrika der Apartheid. Und doch finden alle eines im gemeinsamen Gesang: eine tiefe innere Erfüllung, die keine andere Kunst bietet.

FOTO: SAMMELHANDSCHRIFT VERSCHIEDENEN INHALTS IM UMKREIS DES UNIVERSITÄTSBETRIEBS – BSB CLM 24506, BILDNR. 168

einfach: Natürlich vermischt sich in der heutigen Zeit und im Rahmen der musikalischen Globalisierung vieles. Für immer mehr Menschen werden Dinge und Informationen zugänglich, die ihnen früher nicht zur Verfügung standen. Und so hat die Entdeckung und Verbreitung der europäischen Musik – nicht nur des Rock, sondern auch der Klassik mit ihrer reichhaltigen Chor- und Orchestermusik – dazu geführt, dass der mächtige Schlusschoral «Freude schöner Götterfunken» aus Beethovens 9. Sinfonie eines der beliebtesten und meist gesungenen Chorwerke in China geworden ist oder dessen 5. Sinfonie das Lieblingswerk der Japaner ist – und dies, obwohl weder China noch Japan über eine autochthone mehrstimmige Musik- und Gesangtradition verfügen.

Sammelhandschrift, Bayern, erstes Viertel 16. Jahrhundert. Surprise 461/19

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10 Jahre Surprise Strassenchor Der Surprise Strassenchor wurde 2009 aufgebaut. In den zehn Jahren seines Bestehens fanden etliche Veränderungen statt. Anfänglich handelte es sich um einen Chor mit 25 Sängerinnen und Sängern aus Somalia und Eritrea unter der Leitung von Michael Pfeuti, Maria Kata (Stimmbil14

dung) und Flavia Ghisalberti (Körperarbeit). Später wurde eine Band mit sieben bis neun Teilnehmenden daraus, begleitet von Schlagzeug, Gitarre, Conga und Xylophon. In den letzten acht Jahren ist der Chor auf heute wieder 25 Sängerinnen und Sänger aus acht Nationen angewachsen. Surprise 461/19


Rezept für einen erfolgreichen Chor Integration Der Surprise Strassenchor bietet Menschen eine musikalische Heimat. Angebotsleiterin Paloma Selma Borja und Chorleiterin Ariane Rufino dos Santos verraten ihr Rezept für einen der meistgebuchten Chöre der Stadt Basel. TEXT  SIMON JÄGGI FOTOS  KLAUS PETRUS

Schlagworte: Musik / Lebensfreude / international / unterhaltend Dauer: 10 Jahre Schwierigkeitsgrad: einfach bis anspruchsvoll Zutaten für 1 Bühne ca. 20 Menschen, die sich sonst nicht auf einer Bühne zeigen, SurpriseVerkaufende, Menschen aus anderen sozialen Institutionen, Arbeitslose, Obdachlose, IV-Bezüger, einige Berufs­ tätige. Sängerinnen und Sänger, die in jeder Hinsicht bunt gemischt sind. 1 Angebotsleiterin 1 Chorleiterin 2–6 Instrumentalisten nach Belieben ein paar Gramm farbige Socken oder nackte Füsse ca. 15 Konzerte im Jahr

Zur Entstehungsgeschichte «Neben dem Einkommen wollten wir damals den Heftverkaufenden ein weiteres Angebot zur sozialen Integration anbieten. Die Idee war, ein kulturelles Integrationsprojekt zu schaffen, damit sie sich auch untereinander besser kennenlernen und gemeinsam etwas unternehmen. Deshalb gründeten wir den Chor. Es gibt keine musikalischen Anforderungen. Viele Leute im Chor haben noch nie zuvor gesungen oder Musik gemacht. Bei uns kann jede und jeder mitsingen. Die Teilnehmenden sind zudem sehr authentisch. Sie drücken an den Proben aus, was sie gerade bewegt. Das Künstlerische steht bei uns nicht im Mittelpunkt, sondern das Gefühl von Zugehörigkeit. Gerade Armutsbetroffene fühlen sich oft nicht mehr als Teil der Gesellschaft. Die Leute kommen zu uns, weil sie Surprise 461/19

die Gruppe suchen und der Vereinzelung entkommen möchten. Aus dem Chor sind viele Freundschaften entstanden und auch eine bereits lange andauernde Liebesbeziehung. Wir bieten ihnen eine Art musikalische Familie an.» Geschmacksrichtung «Wir singen in vielen Sprachen, die Dialektlieder sind am schwierigsten. Was wir besonders lieben, sind Roma-Lieder. Diese Musik passt auch sehr gut zu unserem Chor. Es hat traurige Elemente in dieser Musik, es gibt aber auch sehr festliche und begeisternde Momente. Wir sind sehr leidenschaftlich, oft sogar dramatisch. Wir sind ein lauter Chor. Es ist schwierig, die Singenden auch zu leisen Sequenzen zu bewegen. Das hat auch mit unserem Probelokal zu tun, in dem die Akustik stark

gedämpft wird. Wenn wir dann in einem grösseren Raum singen, klingt es rasch viel lauter. Singen wir in einer Kirche, versuchen wir, die Leute etwas zu bremsen.» Anlass «Unsere Sängerinnen treten leidenschaftlich gerne auf. Wir sind inzwischen ziemlich bekannt und singen oft an Geburtstagen von sozialen Institutionen, wie beim Frauenwohnhaus oder der Gassenküche. Einmal haben wir auch bei einer Hochzeit gesungen. Privatpersonen fragen uns aber eher selten an. Tatsächlich sind wir einer der meistgebuchten Chöre der Stadt Basel. Wir haben bis zu fünfzehn Konzerte im Jahr. Inzwischen müssen wir sogar Angebote absagen. Wenn ein oder zwei Monate

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Paloma Selma Borja Geboren ist Paloma Selma Borja in Valencia, Spanien, und verliess ihre Heimat schon in jungen Jahren. Der Balletttanz brachte sie an die Opern von Bonn, Berlin und ans Theater Basel, sie nahm an Tourneen und Festivals teil, die Bühne war ihre Welt. Nach einem schweren Unfall musste sie das Theater verlassen, doch ans Aufhören dachte sie nie. Sie engagierte sich für soziale und kulturelle Projekte, machte ein Studium in Kulturmanagement und begann 2009 bei Surprise zu arbeiten. In dieser Zeit baute sie den Strassenchor auf, ihre grosse Leidenschaft. «In den vergangenen zehn Jahren konnte ich viele Menschen, die es im Leben nicht leicht haben, auf ihrem Weg begleiten und dabei sehen, wie der Chor ihnen guttut», sagt die 48-jährige Mutter zweier Kinder. Ihr sei es wichtig, dass alle Menschen einen Zugang zur Kultur finden. Sie selber als Tänzerin wollte anfangs nicht mit dem Chor auf der Bühne stehen, sondern im Hintergrund bleiben. Doch das hat sich verändert: «Inzwischen singe ich leidenschaftlich mit.»

Dramaturgin Anette Metzner Anette Metzner hat das Jubiläumsprogramm dramaturgisch begleitet, indem sie die Texte der Chormitglieder (siehe Seiten 20 – 23) kuratiert hat. Sie hat im deutschen Wiesbaden Sozialarbeit studiert und arbeitet seit siebeneinhalb Jahren als Co-Leiterin Vertrieb und Beratung bei Surprise. Sie begann als Schwangerschaftsvertretung für die Angebotsleitung des Surprise Strassenchors. Die Verbundenheit zum Chor ist bis heute geblieben. Metzner hat sich in Tanztherapie, Theaterpädagogik, Stimmarbeit und schamanischer Heil- und Ritualarbeit weitergebildet und eine Ausbildung zur Körper- und Energietherapeutin gemacht.

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nichts läuft, werden die Sängerinnen und Sänger ungeduldig. Die Wertschätzung ist zentral für unsere Sänger. Sie kommen mit ihrer Art immer sehr gut an beim Publikum. Sie werden gehört und stehen im Rampenlicht. Gerade für Menschen, die sonst in der Gesellschaft eher übersehen werden, ist das eine wichtige Erfahrung. Wir wollen zeigen, dass alle diese Menschen zu unserer Gesellschaft gehören. Sie können etwas bieten, das die Herzen bewegt. Wir sind ein Chor, der sehr viel Herzensqualität rüberbringt.» Zubereitung «Neben dem kulturellen Zugang bieten wir auch soziale Unterstützung an. Wir vereinbaren Arzttermine, begleiten die Sängerinnen und Sänger zu Behörden, helfen beim Umzug oder beim Beantragen von Aufenthaltsbewilligungen. Manchmal su-

chen wir Zimmer für wohnungs- und obdachlose Sänger. Ansonsten organisieren wir uns mit dem Surprise-Vertrieb in Basel oder leiten die Betroffenen zu anderen Sozialinstitutionen weiter.» Reifeprozess «Seit der Chor vor zehn Jahren gegründet wurde, gab es sehr viele Veränderungen. Zu Beginn waren fast nur Verkaufende aus Eritrea und Somalia dabei. Dann kam eine Phase, in der sich der Chor mehr zu einer Band entwickelte und die meisten ein Instrument spielten. Seither sind wir stark gewachsen und haben über zwanzig Mitglieder. Für einige ist die Probe der persönliche Höhepunkt der Woche. Wir organisieren zudem verschiedene Ausflüge ins Grüne, veranstalte ein Abendessen, oder wir gehen zusammen an kulturelle Veranstaltungen. Es gibt Weihnachtsessen, wir Surprise 461/19


Ariane Rufino dos Santos Schon als junge Frau spielte sie verschiedene Instrumente – Klavier, Saxophon, Conga –, und früh zog es die ausgebildete Sozialarbeiterin hinaus in die weite Welt der Musik, nach Trinidad oder Rio de Ja­ neiro zum Beispiel, wo sie mit Mitte zwanzig den Vater ihrer Tochter kennenlernte. Zurück in Basel arbeitete Ariane Rufino dos Santos zuerst im Frauenhaus und in der Justizdirektion BL. Dann gab sie ihren Job auf und wagte als Musikerin den Sprung in die Selbständigkeit. «Ich verdiente nur noch halb so viel Geld wie vorher, hatte aber doppelt so viel Freude», erzählt die 66-Jährige. Sie wandte sich dem internationalen Liedgut aus der Volksmusik zu, leitete verschiedene Projekte und organisierte offene Singanlässe. Und sie spielte in einer Brasilband, wo sie Paloma Selma Borja traf. So entstand 2011 eine jahrelange, fruchtbare Zusammenarbeit, in die sich Ariane Rufino dos Santos sowohl als Musikerin wie auch als Sozialarbeiterin einbringen konnte. Inzwischen hat sie ein grosses Repertoire mit eigenen Arrangements aufgebaut.

feiern möglichst jeden Geburtstag. Es ist toll zu sehen, welche positiven Veränderungen die Sängerinnen und Sänger mit der Hilfe des Chors machen, wie die Leute im gemeinsamen Singen aufgehen und welche Ausstrahlung wir nach aussen haben. In den letzten zehn Jahren konnten wir unterschiedliche Persönlichkeiten auf ihrem Weg begleiten und viele spannende Künstlerinnen und Künstler bei unseren Workshops erleben.» Ergebnis «Unsere Sängerinnen und Sänger sind sehr erfolgsorientiert. Bewundert und beklatscht zu werden, das brauchen sie. Für uns ist ein Auftritt auch gelungen, wenn mehr als die Hälfte der Chormitglieder da sind. Früher wussten wir manchmal bis zur letzten Minute nicht, wer noch auftaucht. Mit der Verbindlichkeit ist es nicht Surprise 461/19

immer einfach. Inzwischen sind die meisten aber sehr zuverlässig, trotz mancher Krisen. Die Qualität hat über die vergangenen acht Jahre zugenommen. Aber wir sind der Chor in der Region, der am meisten unreine Töne integriert und sie so stehen lässt. Für die Chorleiterin ist es nicht einfach zu akzeptieren, dass die musikalische Qualität rasch an Grenzen stösst. Aber bei uns spielt das eben nicht so eine Rolle. Was bei uns zählt, ist die Begeisterung. Singen ist ein Glücksfaktor. Es ist das einfachste Instrument, man hat es immer bei sich. Singen macht zufrieden, das weiss man aus vielen Studien. Es schafft Gemeinschaftsgefühl. Man ist in der Musik aufgenommen und gehört dazu. Tanzen und Singen sind auch Möglichkeiten, in eine andere Welt einzutauchen. Das ist auch eine wichtige Motivation für unsere Sängerinnen und Sänger.»

Jubiläumskonzerte «Sing mir das Lied vom Leben» Sa, 19. Oktober, Theater Arlecchino, Walkeweg 122, Basel, und Sa, 26. Oktober, Pfarreisaal Bruder Klaus, Rheinstrasse 20, Liestal, jeweils 19 Uhr Türöffnung, 19.30 Uhr Apéro, 20.15 Konzert, 20/15 CHF, Vorverkauf Bider & Tanner, Basel surprise.ngo Weitere Termine «70 Jahre AVIVO Schweiz – 70 Jahre AHV», Mi, 30. Oktober, 14.15 bis 17.30 Uhr, Union, Grosser Saal, Klybeckstrasse 95, Basel

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Zwischentöne Jubiläumsprogramm Die Chorsängerinnen und Chorsänger haben vor ein

paar Monaten ein Notizbuch geschenkt bekommen. Und wurden gebeten, im Alltag darin ihre Gedanken festzuhalten. ILLUSTRATION  MELANIE GRAUER

Die beiden Chorleiterinnen haben sie «Zwischentöne» genannt, die kurzen Lesungen zwischen den Liedern. Es sind Texte, die die Chorsängerinnen und -sänger geschrieben haben, zwar als Auftrag, aber ohne Vorgabe: Gedanken aus dem Alltag, Schönes wie Trauriges, Dinge, die einen beschäftigen. Auf diese Weise ist ein Panoptikum an Lebensmomenten entstanden, Mosaikstückchen aus dem Leben von Menschen, die eher am Rand der Gesellschaft stehen.

Der Surprise Strassenchor hat ein Repertoire von 60 Liedern, 14 davon sind am Jubiläumskonzert zu hören. Die «Zwischentöne» legen den roten Faden durch das Programm – für einmal umgekehrt in der Hierarchie: Die Auswahl wurde so getroffen, dass die Lieder zu den Texten der Autorinnen und Autoren passen. Statt wie sonst immer, wenn die gesprochenen Worte blosse Ansagen sind.

Einfach mal einfach sein Die Steifen fühlen sich locker Die Apathischen wähnen sich fröhlich Die Komplizierten wären gerne einfach mal einfach. Rolf

Perspektivenwechsel

Ich machte einmal einen Spaziergang durch mein Quartier. Ich war ziemlich bedrückt, denn vieles lastete auf mir: eine unerfreuliche Diagnose, meine Geldknappheit, Telefonschulden und dass ich immer noch so viel Mühe hatte, die Lieder vom Surprise Strassenchor zu lernen. Da kam ich an einer Schule vorbei, aus der Schüler strömten. Ich dachte bei mir: Die haben’s gut, sie sind unbeschwert und haben all diese Sorgen noch nicht. Doch da ermahnte mich der Geist der Erinnerung: Weisst du noch, damals vor vierzig Jahren, als du selber Schüler warst? Du dachtest: «Ach, wenn ich nur schon erwachsen wäre, ich wäre frei von so vielem, ich müsste keine Hausaufgaben mehr machen, könnte abends aufbleiben, solange ich wollte, könnte mir viele schöne Dinge kaufen und müsste niemandem gehorchen.» Still, neidlos und zufrieden ging ich weiter. Simon 20

Musikinsel

Über Monate habe ich mir eine kleine Musikinsel im Wohnzimmer aufgebaut. Sie besteht aus einem Keyboard, einer Ukulele, zwei Köfferchen voller Perkussions- und Ateminstrumente sowie anderen lustigen elektronischen Ton- oder Geräuscherzeugern. Die Insel hat eine magische Anziehungskraft auf mich. Musik hilft mir, meine Angstzustände zu überstehen. Meine Instrumente ergänzen das Singen im Surprise Strassenchor, ich entdecke meine Stimme wieder und gewinne Vertrauen. Mitklingen mit der Welt und den Mitmenschen, auf das kommt es für mich an. Francesca


Pulst unser Herz im Algorithmus? Oder glaubt es, dass es mit uns mitmuss? Soll schnelles Denken die Welt regieren? Und alle nur nach Wohlstand gieren? Als das Internet kam, gab es Grund zu hoffen. Alles Wissen allen Menschen und die Zukunft offen. War’s naiv, war’s zu viel vom guten Glauben, Die heute Ideale und Hoffnung rauben? Digital, analog sich in die Augen schauen. Sich berühren, anschauen, sich vertrauen. Sätze, die wichtig sind, einfach sagen. Und wenn du nicht zuhörst, es ertragen. Viktor

2. November

Singende Menschen in drei Stimmlagen vereint, ist es dies, was der Poet mit flüchtigem Glück meint? Diese Menschen, so verschieden, wollen nur eins, Harmonie erschaffen so schön, dass du weinst. Viktor

Von meinem Balkon aus sehe ich unsere kleine grosse Welt, ein Heer von Kränen, einen Helikopter und Kondensstreifen am Himmel, viel Bewegung, aber vor allem viele laute Geräusche, die mich nach Ruhe sehnen lassen. Wir Menschen sind so geschäftig, denke ich, manchmal auch unruhig. In einer Minestrone aus Lärm sind wir dauernd wie auf der Flucht und hören uns gegenseitig fast nicht mehr zu. Wir laufen oft, «keine Zeit!», aneinander vorbei. Ich war noch nie ein Stadtmensch, zu viel von allem! Da ist mir der Chor lieb, auch weil das Miteinander singen und sich für einander Zeit nehmen viele Wunden heilt. Francesca

Herzenserinnerungen

Bewegende Momente, erlebte Augenblicke, schnell vorbeihuschende Dinge können nicht sofort wahrgenommen werden. Könnten wir diese einfangen, so wären sie gefangen, isoliert und beschwerten unser Herz. Oder aber sie beflügelten unser Herz. Beides ist möglich. Wem erzählen, im Stillen halten? Besser das Geniessen im immerwährenden Herzen der Liebe, in den Sinnen. Das kann niemand stehlen und bleibt in der Erinnerung des Herzens. Lilian

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Die Wühlmaus

Heute regte ich mich auf, weil ich kein Kabel zur Verbindung zweier Musikgeräte finden konnte. Dann sass ich da, schaute auf das Chaos, welches ich beim Rumwühlen um meine Füsse herum veranstaltet hatte, und seufzte: «Wie schaffe ich das nur?» Manchmal habe ich in einer solchen Situation einen Lachkrampf, heute nicht. Ich atmete tief ein und aus. Dann leerte ich die ganze Kabeltasche auf den Boden, sortierte alles nach Funktion und band die Bündel zusammen. Am Schluss war ich einigermassen zufrieden, auch wenn ich das Kabel nicht gefunden hatte. Jetzt habe ich immerhin eine Basis geschaffen, damit ich mich beim nächsten Mal nicht aufregen muss. Francesca

Züge

Ich wohne in der Nähe einer Eisenbahnlinie und setze mich immer wieder gerne auf ein Bänkchen und schaue den vorbeifahrenden Zügen nach. Dabei werden in mir unterschiedliche Erinnerungen wach. Zum einen kommen Zugreisen in schöne Schweizer Städte oder zu lieben Bekannten wieder hoch – und ich geniesse die Erinnerungen. Zum andern muss ich aber auch immer wieder an Silvia denken, wenn ich einen vorbeirasenden Zug sehe. Silvia war meine beste Kollegin über viele Jahre hinweg. Wir trafen uns regelmässig, um eine Flasche Rosé zu trinken und über Gott und die Welt zu plaudern. Und wir spielten zusammen, vor allem Scrabble. Doch irgendwann veränderte sich Silvia. Sie klagte über zunehmende Schmerzen im Gesicht. Als für sie die Schmerzen unerträglich wurden, nahm sie sich das Leben, indem sie vor einen Zug sprang. So sind die Züge in meiner Erinnerung Segen und Fluch. Simon

Schluckst du immer noch ungekaut armselig alles hinunter? Oder verdaust du schon genial eingespeichelt Wohlgemut nur das Beste? Rolf

13. November

Stürmisches Meer in meiner Seele, mir ist heiss und eisig kalt zu gleich. Die Atemluft bleibt in der Brust stecken. «Nur ruhig bleiben», aber in der Wohnung herumlaufen wie auf der Flucht, auf dem Balkon frische Luft auf der überhitzten Stirn spüren. Wenn die Panikattacke vorbei ist, dann bin ich traurig und friere wie nach einem starken Schmerz. Demütig und doch erleichtert höre ich auf einmal wieder die Vögel zwitschern, und es rührt mich das flatternde Gefieder. Ich bewundere sie für ihre Fähigkeit, in freier Natur zu überleben. Selbst fühle ich mich verletzlich und einen Moment lang nicht von dieser Welt, in einer Zwischenwelt, die mir vertraut ist. Manchmal setze ich mich an das Keyboard, heute schreibe ich diese Worte. Dann bin ich auf dieser Welt zurück, mit den Menschen, die mich nicht mich alleine fühlen lassen. Heute war es ein Hin und Her, und ich gähne, freue mich auf das Ruhen. Morgen ist ein neuer Tag. Francesca 22


Ein Ton mit jedem Atemzug

Habe durch das Singen meine Stimme wiedergefunden. Überhaupt meine Stimme, sowie ein kleines Plätzchen auf der Welt.

Buch «Die Philosophie des Singens» vereint

Francesca

Wissenschaftliches mit Skurrilem, Demokratie mit Karaoke und macht Lust aufs Singen im Chor. Die Herausgeberin und Philosophin Bettina Hesse beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit ihrer Stimme und deren Grenzen. Das Pfeifen, Brummen, Dröhnen, das dabei entsteht, bezeichnet sie als Lebenselixier – sie fühle sich dabei total frei. Zusammen mit zwanzig anderen Autorinnen und Autoren setzt sie sich in der Anthologie «Die Philosophie des Singens» mit allen möglichen Facetten des Gesangs auseinander. Die Flughöhe der Aufsätze ist recht hoch, Adorno wird genauso zitiert wie Platon oder die Gendertheoretikerin Judith Butler. Da alle Beteiligten selber begeistert singen oder gesungen haben und von ihren persönlichen Erfahrungen berichten, erwacht die Theorie aber auf vielfältige Weise zum Leben. Autorin und Sängerin Nika Bertram zum Beispiel erzählt von ihrer Suche nach einem Chor, in dem sie ihre unbedingte Liebe zum Pop zelebrieren konnte. Mit dem Kölner Chor Because, dessen Repertoire Lieder von Nirvana genauso umfasst wie von den Beach Boys, wurde sie fündig. Eine Ode an den Kneipengesang hat Schriftstellerin Ute Almoneit verfasst. Im Holunder, ihrer Stamm­kneipe, wird jeden Sonntagabend gesungen, was das Zeug hält. Es klinge nicht immer im herkömmlichen Sinn schön, gibt sie freimütig zu. Aber demokratisch sei es. Dass Lieder auch Schutz bieten können, erlebte Sängerin und Schauspielerin Mariana Sadovska. Während ihrer Kindheit in der ­Ukraine galten ukrainische Volkslieder, die nicht die Sowjetunion besangen, als dumm, und sie zu singen, war verboten. Trotzdem überlebt der traditionelle Gesang in den Dörfern bis heute. Als 2014 die rus­ sische Armee in die Ost­ukraine einmarschierte, trat sie mit anderen Künstlern aus Solidarität mit den dortigen Menschen mit solchen Liedern auf und spürte die Kraft, die von ihnen ausging. «Sie sind wie die Luft, die notwendig ist, um zu atmen und zu überleben.» Atmen müsse sie sowieso, schreibt auch die junge Philosophin Lisa Pottstock. Und Kollegin ­Bettina Hesse geht davon aus, dass Menschen zwölfmal in der Minute atmen und theoretisch mit jedem Ausatmen einen Ton erklingen lassen könnten. Es wäre also quasi Verschwendung, nicht ständig zu singen. ANICIA KOHLER

Wenn du denkst, du denkst Dann achte mal darauf, ob du das Was du denkst, dass du es denkst Überhaupt denken willst.

Singen ist Medizin. Das ist nicht nur ein Lied aus unserem grosszügigen Repertoire, sondern auch ein Motto in meinem Leben. Momentan fällt mir das Leben nicht ganz leicht. Meine Freundin wohnt 8000 Kilometer weit entfernt, meine neue Ausbildung fordert mich stark, und daneben lerne ich noch Autofahren, was mir etwas schwerfällt. Ausserdem habe ich immer wieder gesundheitliche Probleme. Singen ist eine Art Medizin für mich. Es löst meinen Kummer und meine Sorgen und lässt sie in den Hintergrund treten. In traurigen Momenten kann ich immer wieder mit etwas Gesang vom Thema ablenken. Zum guten Glück habe ich so viele Lieder, Medikamente im Kopf. Und das noch umsonst. Claudio

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FOTO: ZVG

Rolf

Bettina Hesse (Hrsg.): «Die Philosophie des Singens», Mairisch Verlag 2019, 29.90 CHF

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Am Anfang war Polen Mike Culturescapes  Das Schweizer Kulturfestival widmet sich dieses Jahr dem Schwerpunkt Polen und hat Schweizer Autorinnen und Autoren ins Land geschickt. Die Texte, die entstanden sind, erscheinen bei uns als vierteilige Serie. TEXT  FRÉDÉRIC ZWICKER    FOTO  ANNA-TINA EBERHARD

Eineinhalb Tage und zwei Nächte Warschau? Das reicht nicht, um sich ein fundiertes Bild zu machen. Es hilft auch nicht, dass meine Verbundenheit mit der polnischen Hauptstadt, die ich neulich für eine Lesung zum ersten Mal besucht habe, bis zu meiner Taufe im Herbst 1983 zurückreicht. Die elterliche Auswahl meines Vornamens war nämlich inspiriert von Frédéric Chopin, dem Warschauer Komponisten mit französischem Vater und polnischer Mutter. Weil aber mein Name so viel französischer als polnisch klingt, war mir die polnische Verbindung lange nicht richtig bewusst. Wenn ich über Warschau schreiben soll, muss ich deshalb bei Polen beginnen. Ein Land, zu dem ich über Jahre ein angespanntes Verhältnis gepflegt habe. Dabei hatte alles so gut begonnen. Am Anfang war Polen Mike. Und Polen war gut. Denn Mike, ein kleiner, hagerer Kerl, war ein Kontrabassist mit grossartigem Humor und Musikgeschmack. Er studierte an einem Schweizer Konservatorium und half bei uns im Gymnasialorchester aus. «Pocałuj mnie w dupę» und «Pauza» waren die ersten polnischen Brocken, die ich von ihm lernte. «Leck mich am Arsch» und «Pause». Die Profis, die bei uns im Orchester aushalfen oder solierten, waren mehrheitlich klassische Musikerinnen und Musiker, wie man sie sich vorstellt. Anständig. Vielleicht etwas zu brav. Diszipliniert, weil es Disziplin erfordert, als klassischer Instrumentalist vorne mitzumischen. Aber Mike rauchte und trank mit uns, hörte gern Rockmusik und freute sich, wenn ich von ihm polnisch fluchen lernen wollte. Er machte mir Polen sympathisch.

luft ins Zimmer zu lassen, krochen Schnecken herein und plumpsten auf den Boden. Es regnete ununterbrochen. Die Gesichter der Einheimischen wirkten grimmig. In einer Bowling-Halle sagte man uns, wir könnten nicht spielen, es sei alles ausgebucht. Dabei war keine Bahn besetzt und weit und breit niemand zu sehen. Vielleicht waren das alles Missverständnisse, Übersetzungsprobleme. Aber sie beeinflussten uns dahingehend, dass wir entgegen unseren Plänen tags darauf das Land verliessen. Das nächste Mal drang Polen 2010 in mein Bewusstsein, als Lech Kaczyński bei einem Flugzeugabsturz starb. Schnell kam die Frage auf, ob es sich um ein Attentat gehandelt habe. Russische und polnische Experten verneinten. Lechs Zwillingsbruder Jarosław aber war überzeugt, Lech sei ermordet worden. Als Kinder hatten die Zwillinge gemeinsam in einem polnischen Kinderfilm die Hauptrollen gespielt. Später spielten sie Hauptrollen in der Politik. Jarosław, der die polnischen Geschicke bis heute prägt, gilt als graue Eminenz mit grossem Einfluss auf den Präsidenten. Anti-EU, AntiFlüchtlinge, homophob, konservativ, nationalistisch. Einer, der wie sein verstorbener Zwilling nach unten tritt. Quasi ein Reserve-Mistkerl. Nach einer touristischen Städtereise nach Krakau und Breslau mit der Familie im Jahr 2011 rückte Polen 2012 wieder in meinen Fokus. Damals fand dort und in der Ukraine die Fussball-Europameisterschaft statt. Zu uns drangen zuallererst Nachrichten über polnische Hooligans. Brutale Kerle mit Glatzköpfen. Mit den Jahren bekam Polen für mich so einen schalen Beigeschmack. Ohnehin: Ich hatte Breslau, Krakau und Stettin gesehen. Zeit für andere Destinationen. Für mich war Polen abgehakt. Und dann kam die Einladung, im September in Warschau eine Lesung zu halten. Das Kulturfestival Culturescapes, das mich hinschicken wollte, hat sich der freien, rebellischen, offenen und öffnenden Kunst verschrieben. Das wollte ich mir trotz negativer Eindrücke

Ein Komponist und Orientalist mit Schweizer Wurzeln: eine Geschichte mit RomanstoffPotenzial.

Die Kaczyńskis in den Hauptrollen Nach Mike ging es abwärts mit dem Land. 2008 führte uns – meine Orchester-Freunde und mich – eine VW-BusReise nach Stettin. Überall Plakate von Lech Kaczyński, dem nationalistisch-konservativ-katholischen Präsidenten und Mitbegründer der heutigen Mehrheitspartei «Recht und Gerechtigkeit». Unser Hotelzimmer war eine Kellergruft. Wenn wir die Luke öffneten, um etwas Frisch­ 24

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in der Vergangenheit nicht entgehen lassen, auch wenn die politische Lage vor den Parlamentswahlen vom 13. Oktober 2019 keinen Optimismus aufkommen liess. Das Wetter war besser als prognostiziert. Viel Sonnenschein. Es regnete fast nur, wenn ich schlief. Entsprechend wirkten die polnischen Gesichter freundlicher als damals in Stettin. Mit der Gummidichtung vom Grolsch-Bier Beim Besuch in einem Gitarrenladen kam ich mit den Verkäufern ins Gespräch. Ich wollte Strap-Locks kaufen, die garantieren, dass der Gitarrengurt nicht von der Gitarre rutschen kann. «Weisst du, statt Strap-Locks kannst du auch einfach zwei grosse Flaschen Grolsch-Bier kaufen. Die Gummidichtungen funktionieren bestens als Strap-Locks, wenn du sie über die Gurtösen stülpst», sagte einer von ihnen. Die Lesung am Abend war öffentlich, fand aber in einer Privatwohnung statt. Die Gäste waren aufmerksam und sympathisierten offensichtlich mit der politischen

Opposition. Die Gastgeberin war eine äusserst herzliche, kluge Frau. Sie erzählte mir von einem ehemaligen Bewohner des Hauses: Constantin Régamey, ein Komponist und Orientalist mit Schweizer Wurzeln, der im Warschauer Widerstandskampf gegen die Nazis involviert war. Eine Geschichte mit Romanstoff-Potenzial, wie ich fand. Erfahrungen in fremden Ländern prägen unser Bild von Land und Leuten. Das ist kaum zu vermeiden, auch wenn es im Grunde genommen dumm ist. Umso erfreuter bin ich über die guten Erinnerungen an Warschau. Falls mir der Schweizer Komponist und Widerstandskämpfer tatsächlich zum Romanstoff werden sollte, würde ich mich in naher Zukunft jedenfalls mit Vergnügen intensiver mit Warschau und Polen auseinandersetzen.

«Culturescapes Polen», multidisziplinäres Kulturfestival, bis Fr, 6. Dezember; Literatur, Theater, Musik, Tanz, Film, Kunst und Kulinarik in der ganzen Schweiz. culturescapes.ch

Frédéric Zwicker Der Autor und Musiker Frédéric Zwicker wurde im Rahmen von CULTURESCAPES Polen zu einer Sofalesung nach Warschau eingeladen. Er arbeitete als Werbetexter, Journalist, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, als Moderator von Lesungen, Musiklehrer und Leiter von Literaturworkshops an Schulen. Sein erster Roman «Hier können Sie im Kreis gehen» erschien 2016 bei Nagel & Kimche. Heute ist er ausschliesslich Autor und als Musiker Kopf und Gitarrist der Band Knuts Koffer.

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BILD(1): DENIS ROUECHE, BILD(2): ERISMANN, HOENTZSCH BILD(3): SEBASTIAN HUBACHER, ALPINES MUSEUM DER SCHWEIZ BILD (4): ZVG

Veranstaltungen Winterthur «Jungkunst», Ausstellung, Do, 24. bis So, 27. Oktober, Do 16 bis 24 Uhr, Fr 16 bis 01 Uhr, Sa 11 bis 01 Uhr, So 11 bis 18 Uhr, Halle 53, Katharina-Sulzer-Platz. jungkunst.ch

Aarau «A kick in the teeth», Ausstellung, Do 18 bis 20 Uhr, Fr 17 bis 19 Uhr, Sa/So 13 bis 16 Uhr, bis So, 3. November, Ochsengässli 7. kunstraumaarau.ch Anhand der Figur des Torwarts als Ausgangspunkt und Metapher haben sich die beiden Kunstschaffenden Remy Erismann und Julia Hoentzsch mit dem Thema Eishockey befasst. «A kick in the teeth» ist eine Goalie-Ausrüstung, die sich aus Beton- und Porzellan-Objekten zusammensetzt, hart und fragil zugleich. Hoentzsch und Erismann beschäftigen sich mit Themenkomplexen wie Leistung, Abgrenzung, Physis und Fragilität. Während Erismann versucht, Hightech-Denken in Lowtech-Verfahren zu übersetzen, geht Hoentzsch immer wieder Spannungszuständen von Zufall und Kontrolle, von Flüchtigkeit und Manifestation nach. DIF

An der Jungkunst haben wir letztes Jahr einer Frau in einem Aquarium zugeschaut und lange gezweifelt, ob es sich um einen Menschen oder eine Puppe handelte – bis sie dann, lebend, wieder herausstieg. An der Jungkunst sind ausschliesslich – der Name sagt’s – junge Künstler ausgestellt, die man als aufstrebende Talente einschätzen darf. Die Tendenz geht dieses Jahr in Richtung Performance, mit fliessenden Grenzen zur Videokunst. Die Werke spielen mit Unorten, Irritation, Absurdität und Verfremdung. Die Themen reichen von der persönlichen Wahrnehmung bis zur politischen Recherche. Diesmal lässt sich ein Künstlerduo live und konstant von Kameras überwachen und ist auf Bildschirmen somit vierzig Stunden ununterbrochen in der Ausstellung persönlich präsent. DIF

Bern «Philosophieren …», Vermittlungsarbeit für Erwachsene und Kinder ab 4 Jahren, «Ist es schön, ein Kind zu sein?», So, 20. Oktober, Schlachthaus Theater Bern; «Wozu Arbeit?», So, 10. November, Alpines Museum Bern; «Wollen wir ewig leben?», Dampfzentrale Bern u. v. m. philosophie.ch Die drei Berner Kulturinstitutionen Dampfzentrale, Schlachthaus Theater und Alpines Museum tun sich zum «Philosophieren …» zusammen. Die Themen, die Erwachsene und Kinder miteinander diskutieren werden, sind angeregt von aktuellen Tanz- und Theaterproduktionen, die man sich am

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besten vorgängig anschaut, um mitten in die gedankliche Ausei­ nandersetzung geworfen zu werden. In der philosophischen Gesprächsrunde erarbeitet man sich dann das methodische Rüstzeug, um Fragen wie «Verstehen wir einander?» strukturiert anzugehen. Alle Informationen zur zugehörigen Theaterproduktion, jeweiligen Altersklasse und Anmeldung online. DIF

Auf Tour «Wie die Milch aus dem Schaf kommt», Lesungen, Mi, 23. Oktober, 20 Uhr, Eisenwerk Frauenfeld, Industriestrasse 23; Sa, 26. Oktober, 19 Uhr (Türöffnung), musikalische Lesung mit Saadet Türköz, beAchtbar, Hauptgasse 30, Lichtensteig; Di, 29. Oktober, 19 Uhr, lesen kultrel, Haus der Religionen, Europaplatz, Bern; Sa, 16. November, Postremise, Chur; Mi, 4. Dezember, 20 Uhr, Literatursessel, Kulturlokal ONO, Kramgasse 6, Bern. pillowbook.ch «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» ist eine Familiengeschichte von papier- und mittellosen Vagabunden, die als Flüchtlinge in der Ostschweiz die erste Nudelfabrik gründeten. Nach einem unerwarteten Fund in der Hinterlassenschaft ihrer Grossmutter Pauline macht sich Selma

Einzig auf eine Reise in den Thurgau, in die Ukraine und nach Israel. Die Reise wird zur Selbstentdeckung, und der Reisebericht verschmilzt mit der Industrie- und Migrationsgeschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert. Johanna Lier, die die Schweiz als Belli aus Fredi M. Murers «Höhenfeuer» kennt, ist längst als Autorin anerkannt und mit ihrem neuen Roman auf Lesetour. DIF

Zürich «Gebrochenes Licht», Theater, Sa, 2., Di, 5., Mi, 6., Mi, 13., Do, 14. bis Sa, 16. und Sa, 23. November, je 20 Uhr (z. T. Einführung um 19.30 Uhr), Neumarkt 5. Am Neumarkt erhalten jeweils fünf Personen mit offiziellem Flüchtlingsstatus eine Freikarte (ausser Premieren). theaterneumarkt.ch «Qaus quzah», arabisch für Regenbogen und für Iris, bezeichnet den physikalischen Vorgang brechenden Lichts. «Der Regenbogen verbindet zwei Orte mit sieben Farben, und niemand steuert sie, niemand kann sie oder ihre Existenz ändern, keine Grenze und kein Gesetz. Ich wählte eine Verbindung zwischen den beiden, deswegen verbindet mein Regenbogen Damaskus mit Zürich», hält die syrische Neu-Zürcher Autorin Lubna Abou Kheir fest. Sie erzählt eine Geschichte aus unserem globalen Dorf, in dem Distanzen mal unter Lebensgefahr, mal mit einem einfachen Mausklick zu überwinden sind. Verbindungen tun sich auf, über Flucht oder WhatsApp, über Seelenwanderung und Google Maps – um dann wieder zu verschwinden. DIF

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Tour de Suisse

Pörtner in Wil SG Surprise-Standort: Bahnhof Wil Einwohnerinnen und Einwohner: 23 728 Sozialhilfequote in Prozent: 2,2 Durchschnittlicher Preis für 3-Zimmer-Wohnung in Franken: CHF 1115 SVP-Stimmenanteil in Prozent: 32,2

Der Bahnhof Wil ist ein Verkehrsknotenpunkt, keine Endstation. Eine Frau spielt eloquent auf dem Bahnhofsklavier, eine andere raucht auf dem Perron anmutig ein Zigarillo. Mit Vorortbahn, Bus, Postauto, Taxi oder im Parkhaus abgestellten Privatwagen geht es nach Hause, vom Arbeiten zum Wohnen, in die Dörfer, auf das Land, in die anderen Wils wie Gähwil, Niederhelfenschwil oder Uzwil, das, wie die Schweizer Band Knöppel klargemacht hat, kein Dorf, sondern eine Stadt ist. Ein Bus fährt nach Neulanden. Klingt verheissungsvoll, ein neues Land, noch einmal neu landen. Ein anderer fährt auf den Ölberg. Die Grösse des Platzes zwischen Bahnhof und Stadtsaal lässt erahnen, wie es hier zu Stosszeiten zu- und hergeht. Am Vormittag gehört der Platz den Rentnern, den Müttern mit KleinSurprise 461/19

kindern, den Menschen, die zum Arzt müssen. Ein Bus fährt nach Braunau und erinnert mich an eine Geschichte, die ich vor etwa fünfzehn Jahren hier erlebt habe. Ich liess mein Laptop im Zug von Basel nach Zürich liegen. Damals gab es noch keine Dropbox, und Backups machte man doch nie. In der Hülle des Laptops steckte ein Brief (so kommunizierte man damals) einer Zeitung an mich, in der die Bedingungen für einen Beitrag festgelegt waren. So war meine Adresse ersichtlich, und tatsächlich rief mich am nächsten Morgen ein junger Mann an, der das Laptop gefunden hatte, im Zug, der nach St. Gallen weitergefahren war. Er arbeite als Metzger in Wil, und so verabredeten wir uns dort am Bahnhof zur Übergabe. Weil so ein Laptop schweineteuer war, 3000 Franken hatte das Ding gekostet, nahm ich 300 Franken Finderlohn mit.

Am Bahnhof stand, mein Laptop in der auffälligen gelben Hülle unter dem Arm, ein Skinhead in Vollmontur. Schwarze Bomberjacke mit Ich-bin-stolz-einSchweizer-zu-sein-Aufnäher, hohe DocMarten-Stiefel mit weissen Schuh­ bändeln. Zur Übergabe schlug er das Bahnhofbuffet vor. Mir war nicht ganz wohl, doch der junge Mann war nett und höflich, wir redeten über Zeitungen und Fussball. Er war begierig, von sich zu erzählen, davon, wie seine Eltern gemeint hätten, das sei nur eine Phase, das Rechtsradikalsein, er aber schon fünfzehn Jahre dabei sei, unbeirrt. Ich gab ihm zu verstehen, dass ich vom anderen Ende des politischen Spektrums käme, was ihn nicht weiter zu stören schien. Bekehrungsversuche, soviel war klar, würden beidseits nichts fruchten. Der junge Mann, nicht ganz schlank, zog nun mitten im Lokal sein T-Shirt aus und zeigte mir seine FC-Basel-, Hakenkreuz- und Reichsadler-Tätowierungen. Die ausländischen Jugendlichen am Nebentisch schauten böse zu uns herüber. Ich fürchtete schon, zwischen die Fronten zu geraten, als es mir endlich gelang, auf den Grund unseres Treffens zurückzukommen. Der junge Mann, trotz verwerflicher und inakzeptabler Gesinnung, war ein ehrlicher Finder. Der Finderlohn ist eine Ehrenschuld und ich zahlte ihn. Seither habe ich nie wieder ein Laptop liegenlassen. Das Bahnhofbuffet heisst jetzt «Planetarium», nein «Panetarium», und es ist Selbstbedienung. Draussen sitzt ein junger Mann, der seine Eltern mit einem lauten «Jolohehidi» auf sich aufmerksam macht. Sie essen zusammen zu Mittag. Der Bus nach Hosenruck kommt. Es ist ein Kleinbus.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Beratungsgesellschaft f. die 2. Säule AG, Basel

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Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich

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Echtzeit Verlag, Basel

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Waldburger Bauführungen, Brugg

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Rhi Bühne Eglisau

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Philanthropische Gesellschaft Union Basel

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Mitarbeitende Forbo Siegling CH, Wallbach

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TopPharm Apotheke Paradeplatz

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Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

11

RLC Architekten AG, Winterthur

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

13

LIVEG Immobilien GmbH, Adliswil

14

VXL, gestaltung und werbung, Binningen

15

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

16

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Physiopraxis M. Spring/S. Zeugin, Basel

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Cantienica AG, Zürich

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Madlen Blösch, Geld & so, Basel

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Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern

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Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise Nachruf

#458: Das grosse Warten

Ahmed Abdi Hassan, 1979 – 2019

«Das grosse Zahlen» Leider müssen wir uns von unserem langjährigen Surprise-Verkäufer, -Sänger und -Fussballer Ahmed Abdi Hassan verabschieden. Von 2009 bis 2018 war Ahmed als Verkäufer bei Surprise tätig. Sein Standplatz war der Coop in Bottmingen, den er sich mit seiner Surprise-Kollegin Josiane Graner teilte. Von 2009 bis 2010 sang er begeistert im Surprise Strassenchor mit. Intensiv war er auch beim Strassenfussball aktiv, wo er mehrere Jahre das Tor hütete. 2019 erkrankte Ahmed so schwer, dass er nicht mehr arbeiten konnte. Ahmed hatte es nach eigenem Empfinden nicht leicht gehabt, hier in der Schweiz Fuss zu fassen, er kämpfte mit Einsamkeit und fühlte sich oft unverstanden. In Somalia hatte er einen Kiosk betrieben, Schulbildung hatte er keine. Aus seiner Zeit als Soldat im somalischen Bürgerkrieg brachte er eine bleibende Handverletzung mit. Am 26. September wurde Ahmed im Beisein von vielen, vor allem somalischen Surprise-Kollegen, an seinem Wohnort Frenkendorf beigesetzt. Er wurde 40 Jahre alt.

In einem städtischen Alters- und Pflegeheim in Winterthur verbrachte meine Mutter die letzten Monate ihres Lebens in der Pflegeabteilung. Sie beanspruchte keine volle Pflege, obwohl man die höchste Pflegestufe verrechnete, und ass unter anderem selbständig. In einem zu einem Vierbettzimmer umfunktionierten Dreibettzimmer stand ihr Bett nicht viel weiter als einen halben Meter vom Nachbarbett weg, getrennt lediglich durch eine spanische Wand. Dafür wurde jeweils ungefähr zweieinhalb Mal mehr verrechnet als die 5000 Dollar in dem von Schweizer Regisseuren inszenierten Film über eine luxuriöse Seniorenresidenz in Miami. Der Titel eines Films über die Pflegekosten in der Schweiz müsste dann wohl «Das grosse Zahlen» heissen.

C. BAKER,  ohne Ort

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Amir Ali (ami), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Surprise 461/19

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Minika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Anna-Tina Eberhard, Melanie Grauer, Dina Hungerbühler, Anicia Kohler, Harald Winter, Frédéric Zwicker Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  28 000 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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FOTO: BODARA

Surprise-Porträt

«Wir leben von dem Geld, das meine zehn Finger verdienen» «Ich heisse Jela Veraguth. Meinen bündnerischen Nachnamen trage ich seit über vierzig Jahren. Ursprünglich bin ich aus Ex-Jugoslawien, genauer gesagt aus dem heutigen Serbien. Im Alter von neunzehn Jahren kam ich das erste Mal in die Schweiz, um eine Saison lang in La Punt als Zimmermädchen zu arbeiten. In dieser Zeit habe ich auch meinen zweiten Mann kennengelernt, mit dem ich noch heute verheiratet bin. Gemeinsam haben wir einen Sohn, der nun vierzig Jahre alt ist. In Serbien habe ich zwei ältere Kinder aus erster Ehe. Mein serbischer Mann war übrigens der Grund, weshalb ich in die Schweiz geflüchtet bin. Er war oft gewalttätig. Da meine Eltern nicht genug Geld hatten, erhielt ich nie eine richtige schulische Bildung. Vor zwanzig Jahren begann ich dann mit dem Verkauf von Surprise-Heften. Diese Arbeit mache ich gerne, denn so bin ich mein eigener Chef und kann meine Arbeitszeit selbst einteilen. Lange war ich fast jeden Tag auf der Strasse. Manchmal weckte mich mein Mann in der Nacht, weil ich im Traum gerufen hatte: «Hier die neue Ausgabe von Surprise!». Dann schimpfte er zum Spass: «Jela, musst du auch noch in der Nacht Surprise-Hefte verkaufen?!» Leider komme ich in letzter Zeit immer weniger dazu, Surprise-Hefte zu verkaufen. Denn zuhause muss ich zwei invalide Personen betreuen. Mein Mann hat seit drei Jahren schlimme Hüftprobleme. Mein jüngster Sohn leidet seit seinem 19. Lebensjahr an Diabetes Typ 1. Das ist die schlimmste Form von Zuckerkrankheit, die nur mit einer lebenslangen Insulinabgabe einzudämmen ist. Zudem kann es zu schweren Nebenwirkungen wie Erblindung oder Nierenversagen kommen. Dies ist bei meinem Sohn leider der Fall. Weil seine Nieren immer schlechter funktionieren, muss ich mit ihm mittlerweile dreimal wöchentlich für die Dialyse ins Spital. Die Therapie gegen seine zunehmende Erblindung hat bisher nicht geholfen, daher ist er in seinen Bewegungsmöglichkeiten immer mehr eingeschränkt. Auch wurden ihm vor drei Jahren die Zehen amputiert. Die gesundheitlichen Probleme meiner Familie führen langsam zu einer finanziellen Not. Mein Sohn muss täglich über zehn Medikamente schlucken – schon diese kosten mehrere hundert Franken im Monat und werden nicht alle von der Krankenkasse getragen. Dazu kommen all die Behandlungen im 30

Jela Veraguth ist 68 Jahre alt und verkauft Surprise-Hefte am Limmatplatz in Zürich. Sie wünscht sich eine Zugreise nach Wien oder Mailand.

Spital sowie die teure Pflege seines Fusses. Da die Rente meines Mannes kaum für seine eigenen Ausgaben reicht, leben wir grösstenteils von dem Geld, dass meine zehn Finger verdienen. Meine Familie ist für mich das Wichtigste und Wertvollste im Leben – gleichzeitig macht sie es mir auch sehr schwer. Meine Tochter in Serbien ist ebenfalls krank. Sie leidet an Krebs und man musste ihr den Magen entnehmen. Manchmal bittet mich mein ältester Sohn um finanzielle Unterstützung. Leider muss ich ihn oft abweisen, da das meiste Geld in die Pflege meines jüngsten Sohnes fliesst. Zu ihm habe ich eine besondere Verbindung. Er spricht das aus, was ich denke, und umgekehrt. Da ich meine ersten beiden Kinder in Serbien zurücklassen musste, erhielt er all meine Zeit und Aufmerksamkeit. Umso mehr bricht es mir das Herz, dass er nun fast nichts mehr alleine unternehmen kann. Früher war er immer unterwegs. Wenn ich am Ende des Monates doch noch etwas Geld habe, gehen wir manchmal zusammen in die Bierhalle Wolf in Zürich und teilen uns ein Jumbo-Cordon-Bleu. Gerne würde ich auch grössere Ausflüge mit ihm unternehmen. Mein grösster Traum wäre es, nicht nur immer gemeinsam zu den verschiedenen Ärzten, sondern auch einmal in den Nachtzug nach Wien oder Mailand zu springen.» Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER Surprise 461/19


GESCHICHTEN GESCHICHTENVOM VOMFALLEN FALLEN UND UNDAUFSTEHEN AUFSTEHEN Kaufen KaufenSie Siejetzt jetztdas dasBuch Buch«Standort «StandortStrasse Strasse––Menschen MenschenininNot Notnehmen nehmen das dasHeft Heftinindie dieHand» Hand»und undunterstützen unterstützenSie Sieeinen einenVerkäufer Verkäuferoder odereine eine Verkäuferin Verkäuferinmit mit1010CHF. CHF. «Standort «Standort Strasse» Strasse» erzählt erzählt mitmit den den Lebensgeschichten Lebensgeschichten von von zwanzig zwanzig Menschen, Menschen, wie wie ununterschiedlich terschiedlich diedie Gründe Gründe fürfür den den sozialen sozialen Abstieg Abstieg sind sind – und – und wie wie gross gross diedie SchwierigSchwierigkeiten, keiten, wieder wieder aufauf diedie Beine Beine zuzu kommen. kommen. Porträts Porträts aus aus früheren früheren Ausgaben Ausgaben des des Surprise Surprise Strassenmagazins Strassenmagazins ergänzen ergänzen diedie Texte. Texte. Der Der Blick Blick aufauf Vergangenheit Vergangenheit und und Gegenwart Gegenwart zeigt zeigt selbstbewusste selbstbewusste Menschen, Menschen, diedie es es geschafft geschafft haben, haben, trotz trotz sozialer sozialer und und wirtschaftliwirtschaftlicher cher Not Not neue neue Wege Wege zuzu gehen gehen und und einein Leben Leben abseits abseits staatlicher staatlicher Hilfe Hilfe aufzubauen. aufzubauen. Surprise Surprise hathat siesie mitmit einer einer Bandbreite Bandbreite anan Angeboten Angeboten dabei dabei unterstützt: unterstützt: Der Der Verkauf Verkauf des des Strassenmagazins Strassenmagazins gehört gehört ebenso ebenso dazu dazu wie wie derder Strassenfussball, Strassenfussball, derder Strassenchor, Strassenchor, diedie Sozialen Sozialen Stadtrundgänge Stadtrundgänge und und eine eine umfassende umfassende Beratung Beratung und und Begleitung. Begleitung. 156156 Seiten, Seiten, 3030 farbige farbige Abbildungen, Abbildungen, gebunden, gebunden, CHF CHF 4040 inkl. inkl. Versand, Versand, ISBN ISBN 978-3-85616-679-3 978-3-85616-679-3 Bestellen Bestellen beibei Verkaufenden Verkaufenden oder oder unter: unter: surprise.ngo/shop surprise.ngo/shop Weitere Weitere Informationen Informationen T +41 T +41 6161 564 564 9090 9090 | info@surprise.ngo | info@surprise.ngo | surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: | Facebook: Surprise Surprise NGO NGO INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 09.05.17 15:43 Seite 1 INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 09.05.17 15:43 Seite 1

Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und aufSurprise die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. 461/19 Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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