BILD: ZVG
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Kulturtipps
Ein Vater mit Kratzern im Bild.
«Süper-Immigrant» Müslüm: «Ich bin der böse fremde Mann.»
Buch Drama der Versäumnisse
CD Müslüm liebt dich
In «KönigsSohn» erzählt Roswitha Quadflieg von der Unfähigkeit zu lieben und vom Elend, das aus dieser Leere entsteht.
Sein «Samichlaus» stieg auf Youtube in kurzer Zeit zum meistgesehenen Dialekt-Videoclip aller Zeiten auf. Nun schenkt uns der «Süper-Immigrant» ein ganzes Album. Es ist eine Glücksdroge.
VON CHRISTOPHER ZIMMER VON FLORIAN BLUMER
Dreissig Jahre lang war Roswitha Quadflieg Buchkünstlerin. Sie gestaltete Werke der Weltliteratur, die gerade wegen der Originalgrafiken bibliophile Kostbarkeiten sind. Jedes Kind kennt zudem ihre Illustrationen von Michael Endes «Die unendliche Geschichte». 2003 schloss sie ihre Druckwerkstatt und wandte sich dem Schreiben zu. Schon in ihrem ersten Roman, «Der Tod meines Bruders», machte die Tochter des Schauspielers Will Quadflieg die eigene Familiengeschichte zum Thema. Und auch in ihrem neusten Werk «KönigsSohn» tut sie dies auf eine Weise, die einen frösteln lässt, wenn man von den Bezügen zur Realität weiss. Doch geht es Quadflieg um mehr: Sie will begreifen, indem sie die Wirklichkeit noch einmal erfindet. So wie die Geschichte von Wolfgang Amadeus Dahlke, der an seinem Geburtstag seinen Vater, den weltberühmten Sänger Dolf König, zu sich zum Essen einlädt. Doch das Gespräch, das zur Abrechnung wird, findet ohne Gegenüber statt, verhallt im Leeren. Der Vater ist nicht wirklich anwesend – so wie er es niemals war. Der uneheliche Sohn, eine gescheiterte Existenz, kennt ihn nur aus Zeitungsartikeln. Die Versuche, dem Vater nahe zu sein, sind gescheitert. Zweimal hat ihn dieser davongejagt. Zeitgleich erleben wir den gealterten Dolf König am Ende seiner Karriere, wie er in einer Gaststätte der schwerhörigen, zunehmend betrunkenen Mutter des Wirts von seinem Leben, seinen Erfolgen auf der Bühne und bei den Frauen erzählt. Wie in einer musikalischen Fuge erklingen zwei Stimmen, die dasselbe düstere Motiv variieren. Und beide stossen sie auf taube Ohren, weil sie nicht zu denen reden, die ihnen wirklich zuhören würden. Das hat in seiner Unerbittlichkeit und Unausweichlichkeit eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann – bis zum bitteren Ende. An diesem tritt das Alter Ego der Autorin hinzu, erweitert das Drama um eine dritte Stimme, die nicht weniger an Versäumtem scheitert. Und ihre zu späte Einsicht fasst auf so lapidare wie erschreckende Weise zusammen, worin der Roman uns, die Lesenden, wohl am tiefsten treffen kann: «Hätte man überhaupt viel mehr miteinander reden sollen?» Roswitha Quadflieg: «KönigsSohn». Stroemfeld Verlag 2012. 21.90 CHF.
Müslüm ist ein Phänomen. Die Kunstfigur des türkischstämmigen Berner Secondos Semih Yavsaner ist ein Prolet und Macker. Er hat keinen Geschmack, dafür einen dicken Schnauz, eine haarige Warze mitten im Gesicht und unkontrollierte Testosteronschübe. Dennoch wird er heiss geliebt, besonders von Teenagern: Sie umringen ihn, wenn sie ihn im Schwimmbad erkennen und belagern sein Haus für eine Unterschrift. Denn Müslüm ist auch cool, unverschämt und lustig. Und seine Liebe zu allen Kreaturen, insbesondere den Unterjochten und Bedrückten, ist noch überbordender als sein Hormonhaushalt. «An alle Liebenden und Liegengebliebenen» hat er denn auch als Widmung unter seine Lieder geschrieben. Müslüm ist die Stimme der Ausländer aus der Unterschicht. Und die Schweizer haben den tolpatschigen «Süper-Immigranten» ins Herz geschlossen. Seinen Verehrerinnen und Verehrern schenkt der ehemalige «Mann mit dem Telefonscherz» auf Radio 105 (siehe Youtube!) nun ein Album, das direkt ins Herz geht: Herzerweichend der Song, in dem er beklagt, dass die Leute ihn, den «ausländer, weit weg von der heimat in ainem fremden Land», anschauen wie einen Orang-Utan. Herzergreifend die Geschichte der «echengschtabigiraffe» («Nackenstarre-Giraffe»), die einen bösen Wärter hat, der ihr Viagra ins Futter mischte. Herzbrecherisch schliesslich die Liebeslieder, denn Müslüm ist «solo wie ain tschigolo», aber liebessüchtig «sowie eine psüchopat» und hat «immer depressione», wenn er alleine ist. Mehr für den Kopf sind die Songs «Chonsumier» und «1.8 Promille», die Yavsaners gesellschaftskritische Seite durchscheinen lassen. Allen Tracks gemeinsam ist aber, dass sie zuerst einmal in die Beine gehen und für Glückshormonausschüttungen im ganzen Körper sorgen. Im Titelsong heisst es: «Chom chom chom in maine praxis, wen du chomplexe hasch oder chrank bisch». Leidenden an Welt- und anderem Schmerz empfiehlt «Dochtor» Müslüm seine Musikmixtur aus melancholisch-fröhlichem Türken-Pop, in einigen Songs angereichert mit einer Dosis Ska oder Hip-Hop. Spätestens bei Track 3 besteht kein Zweifel mehr: Es wirkt.
Lesung Roswitha Quadflieg: Do., 14. Juni, 19 Uhr, Literaturhaus Basel.
Müslüm: «süpervitamin». Muve Recordings 2012.
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SURPRISE 276/12