Poetry Slam Schnaps und Wahnsinn Poetry Slam, der Wettbewerb für Bühnendichter, ist populärer denn je. Etrit Hasler, Schweizer Slammer-Urgestein, erzählt in zwei Teilen, wie sich sein Metier von der chaotischen Subkultur zum massentauglichen Kulturgut mauserte.
Vor Jahren habe ich mir geschworen, nie mehr zu erklären, was Poetry Slam ist. Das war noch zu der Zeit, als bei jeder Veranstaltung irgendein künstlich hippes Jugendradio auftauchte und immer dieselben drei Fragen stellte: «Was ist ein Poetry Slam?» «Wieso machst du das?» Und natürlich: «Wie kommst du auf deine Ideen?» Nun, falls Sie tatsächlich das letzte Jahrzehnt unter einem Stein verbracht haben, fragen sie Wikipedia, aber die Zeiten, in denen ich diese drei Fragen beantworten musste, sind zum Glück vorbei. Inzwischen füllen Poetry Slams das Casinotheater Winterthur, den Zürcher Schiffbau und die Rote Fabrik, Slampoeten räumen Kultur- und Kleinkunstpreise im gesamten deutschsprachigen Raum ab und ein paar von uns können sogar davon leben. Aber dazu später. Die Geschichte des Poetry Slam in der Schweiz beginnt Ende der Neunzigerjahre mit zwei Wahnsinnigen aus Luzern, Matthias Burki und Yves Thomi, die in Deutschland über die noch brandneue Slamszene gestolpert waren und beschlossen, diese Idee auch in die Schweiz zu bringen. Sie gründeten den Verlag «Der gesunde Menschenversand» und organisierten Veranstaltungen, vorerst hauptsächlich mit deutschen Slampoeten, denen sie Figuren aus der Schweizer Musik- und Literaturszene entgegensetzten – Boni Koller, Suzanne Zahnd und natürlich den ersten Star-Slammer der Schweiz: Tom Combo. Zu sagen, das Konzept hätte eingeschlagen wie eine Bombe, wäre gleichzeitig unter- und übertrieben. Von der klassischen Literaturszene mit Verachtung gestraft («Das ist ja ganz nett, aber mit Literatur hat das doch nichts zu tun», beschied mir einmal ein damals halbwegs bekannter und heute zum Glück wieder in der Versenkung verschwundener Schweizer Autor), fristete Poetry Slam insbesondere in den Grossstädten ein völliges Nischendasein. Wobei: Auch der mieseste Slam zog noch 30 Zuschauer an, und das war um Längen mehr als eine durchschnittliche Lesung. In der Provinz jedoch startete Poetry Slam richtig durch: Veranstaltungen in Frauenfeld, Wohlen, Chur und St. Gallen zogen plötzlich über 100 Zuschauer an und entwickelten sich tatsächlich sehr bald zu den «Rockkonzerten der Literatur». Insbesondere banden sie eine ganze Generation hauptsächlich männlicher Jungschriftsteller an sich, von denen einige auch recht schnell zu nationalem Erfolg kamen: Jürg Halter (alias Kutti MC), Daniel Ryser aka Dani Göldin, Simon Libsig und nicht zuletzt meine Wenigkeit – wobei ich statt kommerziellem Erfolg 2005 eine Wahl ins St. Galler Stadtparlament erntete. Im Nachhinein wird diese Ära gern etwas verklärt, was wohl damit zusammenhängt, dass seinerzeit die meisten von uns die nichtexistenten Gagen mit ausgiebigen Bezügen von Gratisgetränken kompensierten. Dass ein Slammer schon sturzbesoffen war, bevor er die obligate SURPRISE 276/12
BILD: ZVG
VON ETRIT HASLER
Etrit Hasler, Schweizer Poetry-Slam-Pionier.
Siegerflasche Whisky in die Hand gedrückt bekam, war keine Seltenheit. Das will ich nicht glorifizieren. Aber so chaotisch, wie die meisten Veranstaltungen waren, musste man schon betrunken sein, um das durchzustehen. Zu häufig traten wir in Bars auf, in denen sich das Publikum keinen Dreck dafür interessierte, was da auf der Bühne geschah. Wir mussten schon froh sein, wenn nicht schon beim ersten Dichter faules Obst geflogen kam. Wir mussten unerfahrenen Veranstaltern erklären, dass es wirklich nicht möglich sei, vor 150 Menschen ohne Mikrofon und Anlage aufzutreten. Und am Schluss stritten wir untereinander, wer auf dem Sofa des Veranstalters und wer auf dem Boden schläft. Ja, es gab diese Momente des kreativen Wahnsinns, die zur Legende wurden, so wie der Auftritt dreier Slampoeten am Lehrerseminar Kreuzlingen, der beinahe in eine Massenschlägerei ausuferte, weil einer der Auftretenden Hans Magnus Enzensbergers «Schaum» vortrug, das die ausserhalb des Kontexts leicht falsch zu verstehende Zeile «Grüss Gott! Heil Hitler!» enthält. Nach dem Gastspiel wurde das Schulreglement angepasst, um Auftritte von Nicht-Semischülern zu verbieten. Diese Zeiten vermisse ich manchmal ein bisschen. Aber meistens bin ich auch ganz froh, dass sie vorbei sind. Der zweite Teil folgt in der nächsten Ausgabe.
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Etrit Hasler trat 2000 bei seinem ersten Poetry Slam auf und gilt als ein «solches Urgestein, dass man Mineralwasser durch ihn filtern könnte», wie ihm die amtierende U20-Championess Lisa Christ letzthin beschied.
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