Leseprobe "Schließlichter"

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CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek Amir Shaheen Schließlichter- Gesammelte Werthmann Kolumnen 2008 – 2010 ISBN 978-3-933995-94-0 © 2012 by Sujet Verlag Titelbild: Petra Blömeke Umschlag: Madjid Mohit, Sujet Verlag Layout: Sina Brandt, Sujet Verlag Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen Printed in Europe 1. Aulage 2012 www.sujet-verlag.de

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Frühaufreger Um 6.30 Uhr werde ich aus dem Bett gebaggert. Nachdem ich zuvor rückwärts aus dem Schlaf manövriert wurde. Kaum aufgestanden, wird mein Toast vom Tisch gepustet. Frühstücksfernsehen war gestern, heute ist Morgenschwundsymphonie. Komponiert für jene, die nicht in der Einlugschneise eines Verkehrslughafens oder an der Kreischkurve einer Straßenbahnlinie leben. Merkwürdig, im Sommer, wenn es früh hell ist, höre ich sie nie, die aufgeweckten Müllmänner, die um kurz nach sechs meine Traumabfuhr besorgen. Oder jene eifrigen Bauarbeiter, deren dringend zu grabende Löcher kein Tageslicht vertragen. Die nachtaktiven Mitarbeiter der Stadtreinigung inden dann saisonbedingt keine Einsatzmöglichkeiten für ihre Laubpuster. Vielleicht sollte man sie mit Motorsägen ausrüsten. Herrgottnochmal, ich verstehe ja, dass der Fortschritt eine eigene Stimme hat. Aber muss er sie im Orchester all dieser unsäglichen Erindungen erheben, bevor der Tag überhaupt begonnen hat? Und wer hat diese grässlichen Laubpuster, dieses elendige Rückwärtsgepiepe überhaupt erfunden? Wie viele Jahre haben die dafür bekommen? Sind die etwa straffrei geblieben? Wieso gibt es nicht so etwas wie einen allgemeinen Arbeitsbeginn um 9.00 Uhr? Wieso fängt die Schule schon vor acht an? Warum machen Installateure halbe Nachtschichten, haben aber schon am frühen Nachmittag Feierabend? Freitags etwa dürfen Probleme mit der Therme nur bis 14 Uhr auftreten, danach werden sie nicht mehr behoben. Außer vom Notdienst, der kostet vermutlich Nacht-

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zuschlag. Was soll das? Wer denkt sich so was aus? Dass wir darüber nicht lautstark nachdenken, hat seinen Grund: Arbeitszeitgestalterisch sind wir ein reichlich unausgeschlafenes Volk.

Schneeluch Weiß ist ein Zustand. Fast eine neue Lebensform. Am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts macht Mitteleuropa eine kolossale Entdeckung: Winter. Wer noch bei Trost ist, will nichts mehr hören von weißer Weihnacht. Geschweige denn sehen. Der Traum liegt meterhoch und gänzlich unromantisch überall herum. Verwandelt Stadt und Land und Autobahnen, Flughäfen, Bahntrassen in unbrauchbare Erindungen. Deutschland kämpft mit der Schneefalle und bewegt sich nicht mehr. Außer mit Langlaufski am Rheinufer. Während auf der Erde das Leben gefriert, steuert 17,4 Milliarden Kilometer entfernt die Raumsonde Voyager das Ende des Sonnensystems an. Wozu in der Ferne forschen? Die Grenzen des Sonneneinlusses lassen sich prima vor der eigenen Haustür begucken. Bemerkenswert: Der Mensch hat viel Geld und Sachverstand aufgewendet, um seit 33 Jahren ungehindert und noch immer voll funktionsfähig das Weltall zu durchqueren – natürlich nicht mit der Bahn. Hienieden kommen Reisende nicht vom Fleck, weil etwa Weichen, Oberleitungen, ganze Flugzeuge vereist sind.

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