Mut zur
Freie Flüsse, wilde Wälder und die Biber nebenan: Warum wir Vielfalt dringend brauchen.
APRIL 2023 NR. 243 3,40 € • 1,70 € für die Verkäuferin / den Verkäufer
Harald Tusch (53) wirkt wie ein wandelndes IKB-Archiv. Seit 1984 ist er dabei, hat vieles gesehen, vieles gelernt, nicht minder viele Entwicklungen miterlebt und er hat die Gabe eines detailgetreuen Erinnerungsvermögens. Nicht nur für seinen Job als Haustechniker ist das eine wahre Schatzkiste.
ch kann mir unheimlich viele Sachen merken“, sagt Harald „Harry“ Tusch – und ergänzt: „Wahrscheinlich ist das so, weil das Interesse da ist ,und wegen meiner technischen Neugier.“ Wie zur Bestätigung dieser positiven Aufmerksamkeit blitzen seine Augen wach und signalisieren, dass er jederzeit zum Sprung bereit ist – auch zum Sprung in seinen großen Erinnerungspool. Wer neugierig ist auf die Entwicklungssprünge der IKB, liegt bei Harry jedenfalls goldrichtig. Seit 1984 ist er offiziell dabei. In dem Jahr begann der heute 53-Jährige mit der Schlosserlehre bei den Innsbrucker Stadtwerken, aus denen zehn Jahre später die Innsbrucker Kommunalbetriebe AG hervorging. Als Harry die Lehre absolvierte, prägten die Werkstätten der Stadtwerke das Stadtbild zwischen der Innsbrucker Salurner und der Heiliggeiststraße. „Da waren die Schlosserei, die Wickelei, die Tischlerei, die Dreherei, die Malerei, die Mechanik, der Schmied – ja, alle Gewerke untergebracht“, erzählt Harry und lässt eine quirlige handwerkliche Dynamik erahnen. Trafos wurden da fabriziert, Lichtmasten geschmiedet oder Motoren gewickelt. Die für die kommunale Daseinsvorsorge nötige Hardware entstand in diesen Werkstätten und wurde dort auch gewartet oder repariert. „Das war schon eine schöne Zeit, eine sehr spannende“, sagt Harry.
Der Tausendsassa
In den Werkstätten bekam er einen tiefen Einblick in die Vielfalt des Stadtwerke-Kosmos. Doch schon lange bevor Harry als Lehrling Teil davon wurde, hatten ihn dessen Dimensionen fasziniert.
„Mein Opa, mein Vater, mein Onkel, mein Cousin – alle haben bei den Stadtwerken gearbeitet“, erzählt er. Sein Vater arbeitete beim Trinkwasserkraftwerk Mühlau und nahm Harry mit – beispielsweise zu den regelmäßigen sonntäglichen Kontrollrunden. „Wir sind auch hin und wieder mit Regenmäntelchen bekleidet in die Wasserstollen gegangen. Das war ein großes Erlebnis“, sagt Harry.
Irgendwie ist die IKB für ihn ein großes Erlebnis geblieben – auch und vor allem, nachdem er die Lehre absolviert und im Kraftwerk Obere Sill zu arbeiten begonnen hatte. Das Aufgabengebiet dort war riesig. Beim Arbeiten an den Turbinenrädern war Harry im Mikrometer-Bereich unterwegs, er half dem Maler, wenn es nötig war, mähte die
Felder rund um die Wehranlagen, half diese auszuräumen, schweißte, drehte oder bohrte in der Werkstatt und sammelte ohne Pausen Wissen. Technische Köpfe werden oft davon befeuert, die Dinge bis ins Kleinste verstehen zu wollen. Bei Harry trifft das in besonderem Maße zu. Als er von der Kraftwerkswelt in die Bäderwelt der IKB wechselte, absolvierte er alle in diesem Bereich möglichen Ausbildungen, und nachdem er 1999 dem Ruf in die IKB-Verwaltung folgte, wo ein Hausmeister gesucht wurde, drehte sich sein von Neugier angetriebenes Wissensrad in wieder neue Richtungen weiter. „Erst war ich Hausmeister, dann Hausmonteur, dann wurde ich Haustechniker bei der Liegenschaftsverwaltung“, fasst er kurz zusammen.
Kurz zusammenzufassen, wofür Harry als Haustechniker zuständig ist, ist angesichts all der Aufgaben nur schwer möglich. Doch einen Versuch ist es wert. Ist ein Umbau zu organisieren, ist Harry der Maestro, der die dafür nötigen Gewerke dirigiert. In vier Gebäuden der IKB ist er Brandschutzbeauftragter, er ist für die Funktion von über 600 technischen Einrichtungen verantwortlich und Abfallbeauftragter für die gesamte IKB ist er auch. Dass er bei all den Herausforderungen aus seinem riesigen Erfahrungs- und Wissensschatz schöpfen kann, bezeichnet er als „megacool“ – und das ist es auch.
Würde Harry dazu neigen, könnte er sein Büro mit Zertifikaten regelrecht tapezieren. Weil er nicht dazu neigt, ist es eine Sammlung bunter Fotos einer ziemlich sportlichen Familie, die den Blick lockt. „Ich bin ein absoluter Wassersportler und habe auch eine Kitesurf-Schule am Achensee“, lüftet er das Geheimnis der abenteuerlichen Bilder, die den Eindruck bestätigen, dass in Harry mehr Energie steckt als in anderen. Er selbst tut das auch, wenn er feststellt: „Man lebt nur einmal und in der Zeit, in der man lebt, soll man sehr viel machen und sehr viel Spaß haben.“ Besser kann das Lebensmotto eines Tausendsassas nicht in Worte gefasst werden.
ADVERTORIAL
Harald Tusch kann seinen riesigen Wissensschatz im Job als IKB-Haustechniker perfekt nutzen.
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MEINUNG UND ANALYSE 4
4 – Kommentar: Rassismus klar benennen; Kurz Gefragt; Überirdisch & Unterirdisch
5 – In Zahlen; Zwanzgergram; Kolumne: Urteilsbildung
DOSSIER 6
Mut zur Wildnis:
Wir müssen der Natur neuen Raum geben, wenn wir als Menschheit überleben wollen. Aber können wir das auch?
Cover-Illustration: NINA OPPENHEIMER
GESELLSCHAFT 19
19 – Wichtiges Ding; Wie machen Sie das?
20 – Teuerung: Tafeln in der Krise.
22 – Mehr Rechte für obdachlose Menschen: ein Schwerpunkt zur „Homeless Bill of Rights“.
FEUILLETON 27
27 – Kolumnen: Herz fragt, Hirn antwortet; Apropos
28 – Neue Konzertreihe für nachhaltigen Hörgenuss: Listening Closely
30 – Künstlerporträt: Leonhard Angerer dokumentiert den menschlichen Kampf mit der Landschaft.
32 – Artschnitt: Leonhard Angerer
34 – Subkulturarchiv: feministische Kaperung in Innsbruck
36 – Leipziger Buchmesse: Clemens Setz im Porträt, Robert Prosser im Interview. Und die Highlights der Gastlandbühne.
40 – Wir fühlen’s: Liv Strömquists Kritik der kapitalistischen Liebe am Tiroler Landestheater
41 – Kolumnen: Easy Listening, Komik des Monats
42 – Couch
43 – Programm und Rätsel
AUSSICHT 51
51 – Serien: Groß gedacht; Digitale Normale
52 – PFAS-Alarm: Hohe Mengen toxischer Chemikalien in Böden schrecken Deutschland auf. Wie bedrohlich ist die Lage in Tirol?
56 – Interviewserie „Über Morgen“: Algen als Magenschoner für rülpsende Kühe?
59 – Genau Jetzt! Eine fotografische Stadt- und Landvermessung in der BTV Galerie.
60 – Der Koch und sein Rezept: Sarawut Thothus und sein Partner Marco Hofer wagen mit dem Restaurant OumS ein thairoler Experiment.
62 – Ein Mensch: Gabriel
LIEBE LESERINNEN UND LESER
eine Erfahrungen mit Wildnis? Ich könnte von einer Schlauchbootfahrt auf einem Fluss im tiefsten Dschungel von Borneo erzählen, bei der wir so über Steine schliffen, dass es plötzlich „pffffff“ machte und die Gummiwand ganz schlapp wurde. Da sah ich mich schon mit drei pitschnassen Kindern unter einem Dach aus Farnen nächtigen, das Schnauben der Wasserbüffel im Ohr. Aber damals hatten wir einen indigenen Dschungelbewohner an unserer Seite, der sich dermaßen unbeeindruckt zeigte, dass von echter Gefahr keine Rede war. Nach wie vor könnte ich auch schwören, in einem Reservat in Florida schon mal einem Puma begegnet zu sein. Weit genug weg, um Hoffnung zu haben, aber nah genug, um zum menschlichen Stock zu werden. Vielleicht habe ich es mir ja doch eingebildet. Dann war das eine sehr, sehr große Katze.
Und meine wildesten Erfahrungen in Tirol? Da muss ich scharf nachdenken. Finde aber nichts Vergleichbares. Ob Wald, Schlucht oder Gipfel: Stets waren da gekennzeichnete Wege und eine Hütte in Reichweite. Offenkundig wandere ich daheim auf sehr gemütlichen Pfaden und begegne nur harmlosen Tieren. Oder liegt es auch daran, dass die Tiroler Landschaft, die wir Natur nennen, zu großen Teilen gezähmt ist?
Der Mensch beackert die Landschaft, seit er sesshaft ist, um sein Überleben darin zu sichern. Die Umwelt war stets größer und stärker als er. Und so war die Frage vor allem, wie er es schafft, sie sich zu unterwerfen. Heute haben wir Maschinen dafür, die längst den menschlichen Maßstab gesprengt haben. Wir reißen Wälder aus, wir sperren Flüsse ein, wir bohren durch Berge und häufen neue auf. Wir nehmen uns Raum um Raum und lassen kaum etwas übrig für andere Arten. So wenig, dass wir drohen, am eigenen Beton zu ersticken. Die Landschaft mögen wir geformt haben, aber noch ist die menschliche Natur dieselbe wie die unserer Ahnen vor tausenden Jahren. Die Frage, die wir uns im Dossier heute stellen, lautet darum: Wie viel Wildnis schaffen wir, um zu überleben?.
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REBECCA SANDBICHLER
UNS 63 INHALT M
ÜBER
MEINUNG UND ANALYSE
tisch?“ virulent wurde. Die Studie hätte belegt, was viele erleben, andere wissen und wieder andere nicht hören wollen: Wir leben in einer von Rassismus geprägten Gesellschaft. Die Ergebnisse der Studie hätten uns vielleicht gezwungen, Diskriminierungserfahrungen ernst zu nehmen und an der Offenheit unserer Gesellschaft zu arbeiten. Vielleicht wären sie auch in einer Schublade verschwunden.
Rassismus beim Namen nennen
Die Auseinandersetzung mit Rassismus ruft regelmäßig Widerständer hervor: Niemand möchte als „Rassistin“ oder als „Rassist“ verdächtigt werden. Dennoch sind wir alle von Rassismen geprägt, egal, ob durch Kinderlieder, Spiele oder andere Wissensproduktionen. Während die einen das Privileg haben, sich mit Rassismus auseinandersetzen zu können, bedeutet er für die anderen eine wiederkehrende Erfahrung von Ausschluss, Abwertung und Ungleichbehandlung – ob im Bus, bei der Arbeit oder in der Nachbarschaft. Oft bleiben diese alltäglichen Rassismuserfahrungen für Außenstehende unsichtbar.
Bei ARAtirol (Antirassismus-Arbeit Tirol) berichten Betroffene von anhaltenden Beleidigungen in der Nachbarschaft, von Spott und Rempeleien auf der Straße durch völlig Unbekannte, von Misstrauen in Bildungseinrichtungen, bei der Arbeits-
und Wohnungssuche, sowie von als Schikanen erlebten Behandlungen bei Behörden und Ämtern. Aus den Berichten lässt sich ableiten, dass Rassismus in unserer Gesellschaft verankert ist. So tief, dass rassistische Inszenierungen, wie zuletzt bei den Fasnachtsumzügen in Thaur, am Tableau kultureller Praktiken unverändert durch die Jahrhunderte getragen werden. Berechtigte Fragen, wie zeitgemäß diese Praktiken so noch sind, werden oft beleidigt mit dem Verweis auf Tradition abgewiesen. Dass Brauchtum an Wert gewinnt, wenn es über die Jahre das Schöne bewahrt und Enge und Spott aussortiert, scheint nicht alle Traditionsvereine zu überzeugen. Wo kämen wir da hin?
Der Antrag der Grünen auf Durchführung einer Studie zu Rassismus in Tirol ist ein wichtiger Impuls, gerade jetzt, da im Nachhall vom Faschingstreiben der Diskurs rund um die Fragen „Was ist überhaupt Rassismus?“ oder „Ist das schon rassis-
ÜBERIRDISCH, UNTERIRDISCH – Zitate, die uns im Kopf geblieben sind. Aus Gründen.
als transgender.
Es kommt weder zum einen, noch zum anderen: Im Tiroler Landtag wurde der Antrag der Grünen abgeändert. Gestrichen wurden die Verweise auf die negativen Auswirkungen von Diskriminierungserfahrung auf Gesundheit und Wirtschaft und die Beauftragung der Studie zu Rassismus in Tirol. Dennoch hat sich der Tiroler Landtag zur aktiven Antidiskriminierung und einer toleranten, weltoffenen Gesellschaft bekannt und die Regierung beauftragt, einen Schwerpunkt auf die Sichtbarmachung und den Abbau xenophober Strukturen zu legen. Als ARAtirol begrüßen wir dieses Bekenntnis, fühlen uns bestätigt und herausgefordert, daran mitzuarbeiten, dass der Prozess nachhaltige Auswirkungen auf politisches Handeln hat und in unserer Gesellschaft Früchte trägt.
ANDREA POSSENIG-MOSER ist stellvertretende Geschäftsführerin bei ZeMiT –Mensch und Migration im Zentrum. Die AntirassimusArbeit Tirol (ARAtirol) wurde 2020 in Innsbruck gegründet und ist eine professionelle Anlaufstelle für Menschen mit Rassismuserfahrungen.
KURZ GEFRAGT – Antibiotika und andere Medikamente für Kinder sind aktuell knapp. Der Präsident der Apothekerkammer Tirol, Matthias König, erklärt, welche Lösung es bei Mangel gibt.
Was tun bei Antibiotika-Engpass
Ebenso wie alle anderen Bundesländer ist auch Tirol aktuell von einer Knappheit bei Kinder-Antibiotika betroffen. Apothekerinnen und Apotheker sorgen dafür, dass aus diesem vorübergehenden Lieferengpass kein Versorgungsengpass wird. Sie stehen untereinander in Kontakt, um benötigte Arzneimittel schnell verfügbar zu machen. Lieferengpässe bei Medikamenten treten in ganz Europa auf. Sie sind kein neues Phänomen, vielmehr begleiten sie uns schon seit vielen Jahren. Apothekerinnen und Apothe-
ker sind dazu ausgebildet und befähigt, Medikamente im apothekeneigenen Labor selbst herzustellen, es ist Teil der apothekerlichen Praxis. Das gilt auch für die aktuell fehlenden Antibiotika-Säfte. Sofern die benötigten Rohstoffe verfügbar sind, können Apothekerinnen und Apotheker diese Arzneimittel vorübergehend selbst produzieren. Klar ist: Damit lässt sich das globale Problem Medikamentenmangel nicht lösen, es kann hierzulande aber zumindest entschärft werden.
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ZUR SACHE – Die monatliche Expertise. Andrea Possenig-Moser von ARAtirol über den Widerstand, Rassismus in Tirol zu erforschen.
„Wir werden nicht erlauben, dass Afrika zur Tankstelle Europas wird.“
Dean Bhekumuzi Bhebhe von "Don’t Gas Africa" im Rahmen der Proteste gegen die europäische Gaskonferenz in Wien.
„Die Menschen müssen wissen, welchen Bedrohungen sie durch Antifa- und terrorismusTrans ausgesetzt sind!!!“
Das
twittert die republikanische Abgeordnete Marjorie Taylor
Greene nach dem Amoklauf an einer Schule in Nashville. Die für den Amoklauf verdächtigte Person identifizierte sich laut Polizei
IN ZAHLEN – Förderungen für Photovoltaik. 58.184
ANTRÄGE
auf Förderung einer Photovoltaikanlage sind am 23. März binnen fünf Minuten bei der staatlichen Förderstelle OeMAG eingegangen.
TAGE
168
MILLIONEN
Euro wurden bei dieser Förderrunde vergeben. Weitere 100 Millionen Euro stehen über den Klima- und Energiefonds bereit.
wären Zeit, den Antrag auszufüllen. Da der Zeitpunkt der Antragsstellung ausschlaggebend für die Förderung ist, war der Andrang in der ersten Stunde sehr hoch. Die OeMAG richtete einen Bot-Schutz ein, der allerdings auch zu einigen Problemen führte.
URTEILSBILDUNG – In seiner monatlichen Analyse erklärt der Verfassungsexperte Karl Weber uns alles, was Recht ist.
Klimakleber vor Gericht –staatlicher Umgang mit Protesten.
Dass sich Demonstrationsteilnehmer an der Straße festkleben, ist eine neue Form, den Protest publikums- und vor allem medienwirksam kundzutun. Die Aktivistinnen und Aktivisten wollen mit diesen Protesten auf die absolute Dringlichkeit von Klimaschutzmaßnahmen hinweisen und das Versagen der Politik anprangern.
ZWANZGERGRAM
NETTE VANDALEN
Illegale Graffiti können ärgerlich sein. Aber wenn schon gesprayt und gekritzelt wird, warum dann nicht wenigstens was Positives? Diese Seite sammelt urbane Botschaften, die gute Laune machen
Inzwischen sind zahlreiche Strafbescheide ergangen, in denen den Aktivistinnen und Aktivisten die Teilnahme an nicht angemeldeten Versammlungen, das Verbleiben am Versammlungsort nach Auflösung der Demonstration durch die Polizei, die verkehrsfremde Benutzung einer Straße ohne Bewilligung und die Störung der öffentlichen Ordnung vorgeworfen wird. Die sogenannten Klimakleber rechtfertigen ihre Handlungen mit dem Argument des übergesetzlichen Notstandes. Die traditionellen Demonstrationen hätten keine Wirkung gezeigt und nur mit diesen drastischen Aktionen könne ein Sinneswandel der Politik und der Öffentlichkeit herbeigeführt werden – es gäbe dazu keine Alternativen.
Die rechtliche Beurteilung dieser Taten ist relativ einfach: Versammlungen (Demonstrationen) sind spätestens 48 Stunden vorher bei der Behörde (BH, in Innsbruck bei der Polizei) anzumelden. Eine nicht angemeldete Demonstration darf zwar nicht allein aufgrund der Nichtanmeldung aufgelöst werden – auch solche Spontanversammlungen stehen, wenn sie friedlich verlaufen, zunächst unter dem Schutz des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit – die Teilnahme daran ist aber
strafbar. Ebenso strafbar ist der Verbleib am Demonstrationsort, wenn die Versammlung durch die Polizei aufgelöst wurde. Die Benützung einer Straße ist für eine angemeldete Demonstration zulässig, nicht aber für eine solche ohne Anmeldung. In diesem Fall liegt eine verbotene Benützung der Verkehrsfläche für einen verkehrsfremden Zweck vor. Die Störung der öffentlichen Ordnung setzt ein Verhalten voraus, das geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu erregen.
Wenn sich Klimaaktivistinnen und -aktivisten auf der Straße festkleben, melden sie das nicht als Versammlung an, denn bei einer rechtzeitigen Anmeldung könnte der angestrebte Überraschungseffekt ja nicht erreicht werden. So liegen alle Elemente der Verwaltungsübertretungen vor. Der übergesetzliche Notstand? Den gibt es dafür nach unserer Rechtsordnung so nicht. Dass die österreichische Regierung bei der Erreichung der Klimaziele über Sonntagsreden nicht hinauskommt, ist zu verurteilen, rechtfertigt aber kein rechtswidriges Verhalten einzelner Gruppierungen. Es gibt weder ein individuelles Grundrecht auf Klimaschutz oder Gesundheit noch ein solches für künftige Generationen. Trotz der hehren Motive dieser Proteste werden die Gerichte nicht anders entscheiden können, als die Rechtswidrigkeit dieser Aktionen festzustellen und die Rechtmäßigkeit der Strafen zu bestätigen.
UNSER KOLUMNIST KARL WEBER ist emeritierter Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität Innsbruck.
5 20er
MEINUNG UND ANALYSE
wohlfuehlvandalismus
Quelle: orf.at
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Die Biodiversitätskrise bedroht das Überleben der Menschheit. Um unsere Zukunft zu sichern, genügt es nicht, die verbleibende natürliche Umwelt intakt zu lassen. Nein, wir müssen auch bereits beschädigte Natur wiederherstellen. Wie gelingt es uns, die Wildnis zurückkehren zu lassen, und warum macht uns dieser Gedanke eigentlich so nervös?
Naturwalder und Moore: Wir brauchen sie, doch es gibt Konflikte.
S. 7
Mensch und Fluss: Könnten wir den Inn besser nutzen? Oder ihn gar wieder freilassen?
S. 12
Der Biber ist da: Einst fast ausgerottet, erobert sich der Nager wieder neue Ufer.
S. 14
Mein Freund, der Distelfalter: Warum Schmetterlinge wichtige Pfeiler des Okosystems sind. Und was wir tun können, um sie zu schützen.
S. 17
DOSSIER
6
Illustrationen : NINA OPPENHEIMER
zur
Das ist schon wirklich etwas ganz Besonderes, dass es hier so etwas gibt“, sagt Sebastian Pilloni bedächtig, als wir die Kranebitter Klamm im Westen Innsbrucks betreten. Pilloni ist Biologe und seit 13 Jahren Ranger im Naturpark Karwendel. Das 737 Quadratkilometer große Schutzgebiet ist sein täglicher Arbeitsplatz und trotzdem staunt er noch immer über die Kraft der Natur.
Die Klamm sei nicht nur wegen ihres Naturwaldreservats einzigartig.
„Solche speziellen, schwer zugänglichen Gegenden sind immer auch Rückzugsgebiet für Tiere. Hier in den steilen Felswänden sind das
zum Beispiel Felsbrüter wie Wanderfalke oder Uhu. Sie haben sonst wenig Platz, weil manche Aktivitäten von Menschen bis an solche Wände reichen.“
In der Kranebitter Klamm ist an diesem Märztag nichts und gleichzeitig viel los. Es begegnen uns keine Erholungssuchenden, aber es läuft eine Suchaktion mit Hundestaffel und Hubschrauber. Später erfahren wir, dass es leider ein Unfallopfer gab. Ein junger Mann war beim Wandern abgestürzt und tödlich verunglückt. Das unwegsame, schwierige Gelände macht die Gegend trotz ihrer Nähe zur Stadt nicht unbedingt zum Ausflugsziel. Für die Natur ist das ein Vorteil. Bei
DOSSIER
7 „
Text : LISA PRANTL
meiner Wanderung mit Ranger Pilloni ist schon nach wenigen Schritten klar, dass dieser Wald anders ist. Wir klettern über einen umgestürzten Baum, ducken uns unter einem anderen durch. Es ist hier eindeutig nicht so „aufgeräumt“ wie andernorts. Totholz, erklärt Pilloni, heißt heute eigentlich Biotopholz, weil es viel mehr Leben in sich birgt als ein lebendiger Baum. Rund 4.500 Pflanzen-, Tier- und Pilzarten sind auf solche Lebensräume angewiesen – fast sechzig Prozent der Arten, die im Wald zuhause sind.
In einem natürlichen Wald findet man etwa dreißig Prozent Biotopholz. Natürlich oder naturnah sind in Österreich allerdings nur zwölf Prozent der Waldflächen. In bewirtschafteten Wäldern verbleiben im Schnitt nur mehr drei Prozent der abgestorbenen Bäume. Der Rest wird abtransportiert. „Wenn wir Wald sehen, ist das für uns, als wäre das eine natürliche Fläche. Das stimmt überhaupt nicht“, sagt Pilloni. „Der Wald ist extrem vom Menschen manipuliert. Hier in der Klamm stehen zum Beispiel hauptsächlich Laubbäume. Der größte Anteil der Wälder in Österreich besteht aber aus Fichten. Durch die Bewirtschaftung dieser Wälder kommt es außerdem nie zum Lebensende eines Baumes. Fichten könnten 500 bis 600 Jahre alt werden, sie werden aber in der Regel nach maximal hundert Jahren aus dem Wald gezogen.“
Der Mensch im Wald. Mensch und Wald teilen eine lange Geschichte und eine enge wirtschaftliche Beziehung. Europa war einmal zu mehr als neunzig Prozent von Wald überzogen. Vor etwa 7.500 Jahren begann seine intensive Nutzung. Ab dem Mittelalter verschwanden Waldflächen dann immer schneller, bis etwa Dänemark im 18. Jahrhundert nur noch von zwei bis drei Prozent Wald bedeckt war. In Tirol rodete man Wald vor allem, um Ackerflächen und Almwiesen zu gewinnen, später waren der Salinen- und Bergwerksbau die
größten Treiber der Abholzung. Wäre der Wald noch im Urzustand, käme Österreich Kanada gleich, nur sieben Prozent der Landesfläche wären baumfrei. Seit den Sechzigerjahren gibt es aber auch hierzulande eine Trendumkehr: Der Wald gewinnt in Tirol jährlich etwa 800 Hektar dazu. Und seit sich die Europäische Union 1993 mit der Helsinki-Deklaration dem Schutz der Wälder verpflichtet hat, sind sogenannte Naturwaldreservate entstanden. In diesen sollen ursprüngliche Flecken Wald erhalten werden.
In der Regel sind das Flächen wie der Kranebitter-Schlucht-Wald –unwegsam und wirtschaftlich unbedeutend. Aktuell haben diesen Status nur 8.700 von insgesamt vier Millionen Hektar Wald in Österreich. Die Grundbesitzer erhalten Ausgleichszahlungen, wenn sie bis zu einem langfristigen Zeithorizont ihren Wald nicht nutzen. Das fördert die biologische Vielfalt der Waldgesellschaften – zumindest auf Zeit. Außerdem sind die natürli-
chen Waldflächen ein willkommener Ort für Lehre und Forschung: Könnte der Wald denn immer so aussehen?
Geht es nach Landesumweltanwalt
Johannes Kostenzer, ja. Der gelernte Biologe kämpft dafür, dass Naturwaldzellen zeitlich unbefristet von jeder Nutzung ausgenommen werden. Die Flächen in Tirol seien ein Anfang, aber eigentlich auch viel zu klein. Kostenzer will echte Wildnisgebiete. Also Flächen, die unter höchsten Umweltschutz gestellt werden. Wo sich die Natur wieder frei entfalten kann. Das einzige derartige Wildnisgebiet Österreichs heißt „Dürrenstein-Lassingtal“, liegt in Niederösterreich und umfasst rund 7.000 Hektar. Es ist der letzte Urwald der Alpen und
UNESCO-Weltnaturerbe (mehr dazu im Infokasten auf Seite 10).
Nach Kostenzer brauche es neben dem Wald unbedingt weitere Lebensräume, die weitestgehend frei von menschlichem Einfluss fortbestehen können: „Wildnisgebiete sind die einzige Chance, dass stark bedrohte Pflanzen und Tiere einen Ort finden, wo sie sich ungestört entwickeln können.“ Flussökosysteme seien in natürlicher Art und Weise in Tirol fast nicht mehr exis-
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„Der Wald ist extrem vom Menschen manipuliert.“
SEBASTIAN PILLONI NATURPARK-RANGER
Arten in
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PROZENT
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der Säugetierarten, jede achte Vogelart, mehr als dreißig Prozent der Haie und Rochen sowie vierzig Prozent der Amphibienarten gelten als bedroht.
der Nutzpflanzen sind von Bestäubern wie Bienen abhängig. Eine von drei Bienen- und Schmetterlingsarten geht zurück, jede zehnte ist vom Aussterben bedroht. 70
PROZENT
der Entwaldung und 70 Prozent des Süßwasserverbrauchs gehen auf das globale Lebensmittelsystem zurück. Es ist die größte Ursache für den terrestrischen Verlust der biologischen Vielfalt.
PROZENT der Böden in der EU sind in einem ungesunden Zustand. Stark erodierte Felder sorgen in der Union für einen Produktivitätsverlust von 1.25 Milliarden Euro pro Jahr.
tent. „Für die Aufrechterhaltung der bisherigen ökologischen Vielfalt brauchen wir dringend der natürlichen Dynamik überlassene Gewässerstrecken für Fische, Insekten, Pflanzen oder auch Algen.“
ZWILLINGSKRISEN
Biodiversitäts- und Klimakrise sind untrennbar miteinander verknüpft: Mehr Treibhausgase führen zu höheren Durchschnittstemperaturen, veränderten Niederschlagsregimen, häufigeren Extremwetterereignissen, Sauerstoffmangel und Versauerung von Gewässern – dadurch verändert sich die Artenzusammensetzung in den Ökosystemen. Umgekehrt wirken sich Veränderungen der biologischen Vielfalt auf das Klimasystem aus, insbesondere auf den Stickstoff-, Kohlenstoff- und Wasserkreislauf. Diese Wechselwirkungen können komplexe Rückkoppelungen zwischen Klima, Biodiversität und menschlichen Aktivitäten hervorrufen.
Quellen: EU Green Deal, WWF Living Planet Report 2022
Viele Arten gehen in Tirol und Europa rasend schnell zurück. Sogar solche, die von Experten betreut und durch ein Artenmanagement gestützt werden. Ein Beispiel ist der Ortolan, ein Vogel, der einst im Tiroler Oberland heimisch war. Die Innsbrucker Küchenschelle – weltweit nur zwischen Rum und Arzl zu finden – ist trotz aller Bemühungen auf ein Zehntel ihres Bestandes dezimiert. Laut Landesumweltanwalt Kostenzer sei man zwar mit 27 Prozent Schutzgebietsfläche in Tirol im EU-Vergleich gut dabei (die EUBiodiversitätsstrategie fordert 30 Prozent bis 2030), über die Qualität der Schutzgebiete könne man aber diskutieren. Etwa ob die aktuellen rechtlichen Mechanismen der Schutzgebiete ausreichen, um die Artenvielfalt zu erhalten. Im Detail heißt es in der Strategie der Europäischen Union nämlich, dass von den 30 Prozent Fläche etwa ein Drittel streng geschützt, also als Nationalpark oder Wildnisgebiet ausgewiesen werden sollte. Österreichweit käme das laut WWF einem Anteil von drei Prozent des Landes gleich.
Thomas Waitz sieht es ein wenig anders. Er ist Biobauer, Forstwirt und außerdem Abgeordneter der
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Grünen im Europäischen Parlament. „Drei Prozent der Wälder müssen streng geschützt werden“, sagt er. Würden wir daneben alle Wälder nur noch naturnah bewirtschaften, wäre das nicht nur für die Umwelt und für den Katastrophenschutz gut, es sei auch wirtschaftlich die attraktivste Zukunftsvision. Waitz sieht in Landwirtschaft und Artenschutz keine Gegensätze und ist auch der Meinung, dass wir so viele Bäche wie möglich renaturieren sollten, aber Flüsse, die nicht wiederherstellbar sind, für einen grünen Energiemix nutzen. Nicht so bei noch wilder, unberührter Natur: Die wenigen verbliebenen Moorlandschaften sollten, so EUAbgeordneter Waitz, unbedingt un-
ter strengen Schutz gestellt werden. Das seien eh nicht mehr viele.
Ob die Biodiversitätsstrategie der Europäischen Union 2030 erfolgreicher sein wird als jene für 2020, die als gescheitert gilt, hänge – wie alles in der EU – von den Nationalstaaten ab: „Manche sind ambitionierter, andere hinken hinterher“, sagt Waitz. „Ich hoffe doch, dass Österreich zu den ambitionierten Staaten zählt, das ist aber nicht immer ganz sicher.“ Im Land fehle immer noch das klare Bekenntnis zum Naturschutz. Zielkonflikte mit dem Tourismus, der Energiegewinnung oder auch der Landwirtschaft würden „im einen Österreich“ so ausgehen und „im anderen Österreich“
Die letzte Wildnis der Alpen
Das Wildnisgebiet Dürrenstein-Lassingtal bewahrt mit dem Urwald Rothwald den größten Urwaldrest des Alpenbogens. Es ist der größte zusammenhängende Fichten-Tannen-Buchen-Urwald Mitteleuropas. Seit der letzten Eiszeit wurde dieser Wald nicht forstlich genutzt und ist das Ergebnis einer ungestörten, natürlichen Entwicklung. Er weist eine Artenvielfalt auf, die in unseren Wirtschaftswäldern nicht mehr zu finden ist. Das Wildnisgebiet DürrensteinLassingtal ist unter der höchsten Schutzkategorie als Wildnisgebiet ausgewiesen und seit 2017 UNESCO-Weltnaturerbe. Damit die Natur dort so ungestört wie möglich bleibt, gilt ein strenges Wegegebot im gesamten Wildnisgebiet. Besucher werden auf wenige freigegebene Wege gelenkt und können die Wildnis zusätzlich im Haus der Wildnis und mittels Virtual Reality erleben. Erst im Juli des vergangenen Jahres wurde das Wildnisgebiet nach jahrelangen Verhandlungen im Landtag durch das steirische Lassingtal erweitert. Mit 3.400 Hektar bedeutete das eine Verdoppelung der Fläche. Hier kann bereits jetzt beobachtet werden, wie sich die Natur, die vom Menschen durch forst- und jagdwirtschaftliche Nutzung veränderte Vegetation zurückholt und die Wildnis zurückkehrt.
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Wilde Streitpunkte: Hier steht viel auf dem Spiel
1. Kraftwerk Kaunertal
Seit 15 Jahren plant die Tiwag, das Kraftwerk Kaunertal zu einem Pumpspeicherkraftwerk auszubauen. Dafür müssten das benachbarte Platzertal und seine Moore in der Größe von neun Fußballfeldern geflutet werden. Ein 120 Meter hoher Staudamm ist geplant. Sechs Schutzgebiete sind vom Kraftwerksbau bedroht.
2. Skigebietserweiterung Pitztal-Kaunertal
Der Fusion des Pitztaler mit dem Ötztaler Gletscherskigebiet ist im vergangenen Sommer nach jahrelangem Verfahren und einer Volksbefragung eine Absage erteilt worden. Jetzt planen die Verantwortlichen einen Zusammenschluss der Skigebiete im Pitztal und im Kaunertal. Kritiker sprechen von einer scheibchenweisen Umsetzung der einstigen „Gletscher-Ehe". Beim Bau von Pisten bleibt kein Stein auf dem anderen, unberührter Boden im Hochgebirge würde weiträumig zerstört.
3. Skigebiet Sexten-Sillian
Zwischen dem Südtiroler Sexten und Sillian in Osttirol soll eine grenzüberschreitende, neue Skischaukel entstehen. Insgesamt sind drei neue Lifte, ein Lawinensprengseil und ein neuer Speicherteich geplant. Hier würden laut der Landesumweltanwaltschaft Lebensräume für Alpenschneehuhn, Birkhuhn und Haselhuhn zerstört und die Naturlandschaft stark überformt werden.
richtige Richtung entwickeln. Ob es uns gelingt, unsere Wirtschaftsbereiche so neu aufzustellen, dass sie komplementär zum Naturschutz funktionieren.“
Ob es ausreichen wird, nur in die richtige Richtung zu starten, darüber gehen bekanntlich die Meinungen auseinander. Konflikte zwischen Wirtschaft und Naturschutz sind noch allgegenwärtig. Im Europäischen Parlament spüre man den Einfluss gewisser Lobbying-Gruppen immer wieder deutlich. „Wir dürfen nicht naiv sein“, sagt Waitz. „Einige der größten Unternehmen der Welt sind direkt Profiteure des fossilen Energiesystems. Dass es hier Widerstände gibt, ist für mich nicht überraschend. Die Frage ist nur: Fallen politische Parteien aufgrund des Lobbyings dieser Industrien um – und wenn ja, wie weit?”
tet werden. Eine Großbaustelle, die Johannes Kostenzer sehr problematisch sieht: „Ich habe mich im Studium ausführlich mit Mooren befasst und muss festhalten: Entgegen der Beteuerungen aller Techniker sind Moore nicht wiederherstellbar.“
eben anders. Ein Bergbauer wäre ja eh nicht weit weg von der biologischen Landwirtschaft, weil es schon gar nicht anders gehe. Ein Bauer im Marchfeld hänge dagegen an seinen giftigen Pestiziden, weil er am Weltmarkt mitmischen wolle, so der EU-Abgeordnete und Landwirt.
Von Landwirtschaft bis zu nachhaltigen Städten setzt auch die 2022 vorgestellte EU-Verordnung zur Wiederherstellung der Natur ambitionierte Ziele. Hier ginge es vor allem immer auch um Lebensqualität, erklärt Waitz. In naturnahen Städten würde etwa die Maximaltemperatur sinken, wiedervernässte Wälder könnten in Dürreperioden wichtige Wasserspeicher sein. „Für mich ist nicht die Frage, ob wir alle Ziele zum angepeilten Zeitpunkt erreichen, sondern ob wir uns in die
Um diesen Missstand zu verbessern, müssten wir Wählerinnen und Wähler den Abgeordneten genau auf die Finger schauen, nämlich nicht nur im Wahlkampf, sondern direkt bei den Abstimmungen. In Tirol – womit wir wieder bei den Zielkonflikten wären – dreht sich die Diskussion aktuell vor allem um Skigebietserweiterungen und Kraftwerkspläne, die ein wertvolles Moor bedrohen.
Übersehen und unterschätzt. „Moore“, erklärt mir Biologe und Landesumweltanwalt Johannes Kostenzer: „ … sind nicht nur wichtige CO2-Speicher, sie sind auch ein Blick in die Vergangenheit. Der Boden ist wie eine Lupe, durch die wir fast jahrgenau sehen, was an diesem Ort seit der letzten Eiszeit geschehen ist. Hier kann man für die Zukunft viel darüber lernen, wie man mit Klimaveränderungen umgehen kann. Das geht nur, wenn ich ungestörte Moore habe.“ Eines dieser letzten noch ungestörten Moore ist so groß wie neun Fußballfelder und liegt im Nordtiroler Platzertal, dort soll es bald für das geplante Wasserkraftwerk Kaunertal geflu-
Ein ähnlicher Konflikt führte übrigens vor mehr als dreißig Jahren in Osttirol zur Gründung des ersten Nationalparks Österreichs. Geplant war, alle Osttiroler Gletscherbäche in einer Höhe von 1.900 Metern einzufassen und in einen Stausee im Dorfertal zu führen. Das Tal wäre hinter einer mehr als 200 Meter hohen Staumauer verschwunden. Eineinhalb Jahrzehnte dauerte der Kampf engagierter Naturschützerinnen gegen das Kraftwerk. Eine große Erfolgsgeschichte, auch wenn im Nationalpark Hohe Tauern, der fast so groß wie Vorarlberg ist, auch heute noch Interessen aufeinanderprallen. Für Abenteuer- und Erholungssuchende ist der Nationalpark auch ein Sehnsuchtsort. Mehrere Millionen Menschen besuchen jedes Jahr den Park und seine Einrichtungen.
Ein ewiger Machtkampf?
Die wilde Natur fasziniert uns und zieht uns an, aber warum macht sie uns auch Angst? Johannes Kostenzer erklärt es sich mit seinen eigenen Naturerfahrungen: „Ich bin sehr viel draußen unterwegs – nicht nur in Tirol, sondern auch in Gegenden, die vom Menschen sehr unbeeinflusst sind. Und ich habe größten Respekt. Es gibt Situationen, da fürchte ich mich. Ich glaube, es ist auch Teil unseres Innersten, dass wir uns vor einer ungebändigten Natur fürchten, und das wäre eigentlich auch richtig so. Dass wir dieser Furcht begegnen, indem wir die Natur ‚bändigen‘ wollen, ist auch eine natürliche Reaktion. Es ist aber nicht die richtige, weil sie uns in die Irre führt.“ Der Glaube, die Natur beherrschen zu können, werde von der Realität eingeholt: Wassermangel,
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„Es ist Teil unseres Innersten, dass wir uns vor einer ungebändigten Natur fürchten.“
JOHANNES KOSTENZER UMWELTANWALT
fehlender Schnee für den Tourismus und alle anderen Auswirkungen der Klimaveränderung sind für den Menschen kaum beherrschbar.
„Und eines ist völlig klar: Letztlich ist die Natur immer stärker als wir.“
Wenn wir unser Handeln nicht anpassen, da ist sich auch der Grüne EU-Abgeordnete Waitz sicher,
wird’s schwer: „Da sagt dann nicht der Staat, du musst die Moorfläche wiederherstellen, sondern der Bauer sagt, er muss aufhören, weil ihm drei Jahre lang das Getreide am Feld vertrocknet ist.“
Ranger Sebastian Pilloni, mit dem wir die Geschichte begonnen haben,
wird noch grundsätzlicher. Er kann schon mit dem Begriff „Wildnis“ nicht viel anfangen: „Was ist Wildnis und inwiefern können wir darauf zurückschauen? In der Geschichte des Planeten sind wir erst ein paar Sekunden da.“ Wir leben als Menschen inmitten eines wilden Systems, das wir ziemlich durcheinandergebracht
Auf zum Inn
Wegen seiner Wildheit wurde der Fluss dick eingemauert – heute fehlt gerade im städtischen Innsbruck jeder Zugang. Dabei könnte der Inn auch Freiraum für den Menschen bieten.
Autorin Antje Plaikner spricht aus Erfahrung.
erschwindet’s da unten, das ist verboten!“ Äußert ruppig blaffte ein älterer Herr zu uns herab, als wir gerade die Altstadtbrücke unterwanderten. Ich war mit meiner Familie am Inn unterwegs, einem öffentlichen Gewässer, das in der Niedrigwasserzeit an sich gut begehbar ist. Aber: Damals war das unerhört. Wir taten es trotzdem und fanden auf unseren Erkundungen nicht nur verlassene Schlafplätze und Tierbauten, sondern auch historische Münzen, Schmuck, Messer, Geschirr.
Das finden Innwandernde auch heute noch. Verändert hat sich allerdings die Haltung der Menschen. Seit der Pandemie ist der Inn nicht mehr Feind, sondern begehrter Freiraum. „Hallo“, grüßt ein junger Mann, über Buchseiten gelehnt, als ich ihn passiere. Freundliche Stimmung liegt über der sonnigen Szenerie der nachmittäglichen März-Sonne beim Löwenhaus. Es ist einer der wenigen direkten und offenen Flusszugänge der Stadt und einer meiner Lieblingsplätze. Ideal, um eine Pause einzulegen. Nach wie vor gibt es aber keinen offiziellen Weg hinab, erzählt mir Architekt und Flussliebhaber Gunnar Ploner. Ploner ist spezialisiert auf Ortsentwicklung, bereits 2014 präsentierte sein Team das Stadtentwicklungsprojekt „Guten TAG Innsbruck“. „Es ging darum, ungenutzte, leerstehende und brachliegende Räume in Innsbruck zu bespielen und zu nutzen.“ Dabei sei das Innufer „einer dieser Orte, die sich als Erholungsraum sehr eignen würden“. Das Projekt setzte auf Integration des Inn, statt ihn „einfach nur durchfließen zu lassen“.
Es würde schon reichen, die bestehenden Treppenabgänge zu entsperren, dafür auch den rechtlichen Rahmen zu schaffen, und diese Öffnung deutlich sichtbar auf einer Stadtkarte zu vermerken, sagt Ploner. Leichte Umgestaltungen seien ein Bonustrack, und Städte wie Basel und Graz verbinden beispielsweise Hochwasserschutz mit Erholungsfunktion.
haben. Jetzt gilt es, unsere Interessen mit dem Fakt zu vereinbaren, dass wir selbst ein Teil der Natur sind.
Der Geograf Stefan Obkircher wiederum entwickelte 2019 mit seinen Studierenden das INNdentiät-Projekt. Man untersuchte die Stadtnutzung der Innsbruckerinnen und Innsbrucker, indem man ihre Wahrnehmung von positiven und negativen Orten abfragte. „Das geht über die architektonische Gestaltung hinaus.“ Innzugänge gehörten dazu. Lukas Ellensohn zählte zur Projektgruppe
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und erforschte die Potenziale städtischer Fließgewässer anhand des Inn. Er fragte Spazierende nach ihren Lieblingsplätzen, aber auch nach Unorten, und hat sie kartografiert. Nicht überraschend ziehen sich Unorte wie ein roter Faden entlang des Inns, die Lieblingsplätze ballen sich an gut zugänglichen Inn-Stellen im Westen und Osten der Stadt. Das sind: die Kranebitter Au und die Völser Au gegenüber, wo freier Zugang und reger Andrang herrschen. Der Westen ist für Ellensohn „das bestzugängliche Beispiel am Inn.“ Grundsätzlich, so Ellensohn, ist der Fluss umso regulierter, je näher er dem Zentrum kommt. Treppen und Trampelpfade zeigen, wie und wo die Leute ihre Freiräume finden, mancherorts führt auch Klettern zum Inn. Die vorhandenen Inn-Zugänge hat El-
lensohn in Anlehnung an den Schweizer Geografen Felix Hauser in „direkt“ über „leicht“ bis „eingeschränkt“ und „schwer zugänglich“ unterteilt. Potenzial hätten viele Plätze in der Stadt: Mariahilf-Platz, Sonnendeck hinter der Hauptuni, Mariahilf, Wiesele auf Höhe St. Nikolaus. Öffnen, informieren, in den Tourismus einbinden, kommunizieren.
Man könne „ganz viel mit wenig Aufwand erreichen“.
Das gelte auch für die Sill, aber: „Beide Gewässer sind insgesamt schlecht zugänglich, und es gibt kein Konzept.“ Dabei seien Zugänglichkeit und Hochwasser durchaus kombinierbar. Ellensohn verweist auf das Südtirol-
Beispiel Meran. Dort wurde die Passer im Rahmen des Interregprojekts „Freiräume am Wasser“ den Menschen nähergebracht. Hochwasserschutzanlagen wurden renoviert und gleichzeitig der Fluss zugänglicher gestaltet. Die Bürgerinnen und Bürger brachten sich mit ihren Vorstellungen ein, umgesetzt wurde das Projekt schließlich von der Meraner Wildbach- und Lawinenverbauung. Das Herzstück, die Passerterrassen, kostete 214.000 Euro. Als weiträumige Rasen-Treppen-Anlage ziehen sie sich durch das Zentrum Merans und sind untertags von acht bis 19 Uhr geöffnet. Auch der Auwald-Park an der Mündung von Passer und Etsch zählt zum Interregprojekt: Mit Flussmaterial wurde eine 35 mal fünf Meter große Fläche aufgeschüttet, Weiden und ein Zwetschkenbaum gepflanzt. Kostenpunkt laut Land: 14.000 Euro.
Für Lukas Ellensohn ist das Meraner Projekt ein konzeptionsstarkes Beispiel, nicht zuletzt deshalb, weil Infotafeln die Zugänge begleiten und über den Fluss und seine Gefahren informieren.Hinweis und Information fehlt in Innsbruck am Weg zum Fluss generell, auch der Abgang zu meinem Lieblingsplatz beim Löwenhaus verfügt über keine Tafel. Da ich hier lebe, kenne ich zumindest auch andere, versperrte Zugänge. An jenem Märznachmittag verschwindet die Sonne, ich spaziere flussabwärts, zur alten Talstation der Hungerburgbahn, dort klettere ich die steile Grasböschung empor und über die versperrte Stahltür im Promenadengeländer. Die Tür ist integriert, der Inn in die Stadt noch nicht.
Langfristig können sich ganze Auwalder entwickeln
Geht es dem Inn gut? Es ist ihm schon mal besser gegangen, aber es ist ihm auch schon schlechter gegangen.
Interview : ANTJE PLAIKNER
Um den Zustand des Flusses bewerten zu können, schaut man sich die ökologische Integrität, die Natürlichkeit des Flusses an, und die Natürlichkeit bezieht sich auf den historischen Referenzzustand. Dabei handelt es sich um jenen Zustand, bevor der Mensch großräumig in den Fluss eingegriffen hat.
Wie sieht denn dieser natürliche Inn aus?
In Tirol war der Inn in seinem unberührten Zustand weit verzweigt,
teilweise auch pendelnd. Das ist typisch für alpine Flüsse, die viel Schotter mit sich führen. Und dort, wo diese an Gefälle verlieren, wie etwa der Inn bei Landeck, verzweigen sie sich und bilden Seitenarme aus. Der alpine Wildfluss ist ein sehr dynamisches, sich stetig veränderndes System mit verschiedenen Lebensräumen und großer Artenvielfalt.
Wodurch hat sich der Inn so stark verändert?
Zur Zeit der Industrialisierung wurde der Inn teilweise stark reguliert, also begradigt und gestreckt. Man wollte Land gewinnen, aber auch
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Es würde schon reichen, die bestehenden Treppenabgänge zu entsperren.
Limnologin Anna Schöpfer über die Dynamik eines Gebirgsflusses und die sichtbaren Ergebnisse der Renaturierung am Inn.
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die kritische Infrastruktur, wie Eisenbahn und Straßen, sichern, die Menschen vor Hochwasser schützen. Die zweite Eingriffsphase erfolgte im 20. Jahrhundert mit dem Bau von Wasserkraftwerken, die den Fluss nutzten und unterbrachen. Heute versucht man, diese zwei Eingriffsphasen teils wieder rückzuführen.
Kann der Inn wieder wild werden? Ja, das kann er, und Vorlage ist der historische Inn. Wesentliche Renaturierungsmaßnahmen sind Seitenarmbildung und Flussaufweitung. Bei Telfs wurde beispielsweise ein Seitenarm angelegt, weil es dort auch in der vorindustriellen Zeit Seitenarme gab. Dadurch kann sich der Inn stärker verzweigen, was seinem natürlichen Charakter entspricht. Bei der Aufweitung werden Begrenzungen wie Blocksteinbefestigungen am Ufer oder Querbefestigungen (Buhnen) vom Ufer ins Flussbett entfernt. So erhält der Fluss wieder die notwendige Gestaltungsfreiheit.
Wie sieht es mit gesetzlich auferlegten Renaturierungen wie jener der Tiwag bei Stams aus? Der gewählte Ort ist sinnvoll, denn dort kann sich der Inn ausbreiten. Buhnen, die das Wasser in der Flussmitte halten und den natürlichen Fluss verhindern, wurden entfernt. Hinzu kommt, dass in Stams
Das Comeback der Biber
bereits ökologisch wertvolle Bereiche liegen, die Stamser Innau im Bereich der Stöttlbach-Mündung ist ein Hotspot der Artenvielfalt. Außerdem folgt innabwärts eine weitere Renaturierung bei Telfs. Bald wird man sehen, wie sich der Fluss dort verändert.
Wie schnell greifen solche Maßnahmen?
Manches geht ganz schnell. Sobald Schotterbänke da sind, entstehen erste Sandanhäufungen, Totholz lagert sich ab, Pflanzen keimen, Heuschrecken legen ihre Eier in den Sand. Und langfristig können sich ganze Auwälder entwickeln.
Was haben wir Menschen davon?
In der Stadt dienen kleinere Maßnahmen vor allem dazu, uns den Fluss als Freizeit- und Erholungsraum näher zu bringen, so wie das in Völs, beim Flughafen oder in der Reichenau der Fall ist. Die umfangreichen Renaturierungsvorhaben wie Aufweitung, Seitenarmbildung und Entwicklung von Auwald führen nicht nur dazu, dass die ökologische Vielfalt am und im Fluss gedeiht. Ein natürlicher Fluss sorgt auch für mehr Grundwasser, ein funktionierender Auwald bietet Hochwasserschutz, weil er viel Wasser bindet. Und das ist besonders während des Klimawandels nötig.
Lange gejagt und nahezu ausgerottet, sind die Nager seit einigen Jahren im Inntal wieder heimisch. Was sie einst vertrieb. Wie sie heute dem Artenschutz helfen. Und wo sich der Mensch erst noch gewöhnen muss. Eine Spurensuche von Sabine Wallinger.
Meine ersten freilebenden Biber sah ich Anfang der 2000er-Jahre am Tiber auf einer naturkundlichen Flussfahrt von Rom nach Ostia-Antica. „Castor“ und „Pollux“ kamen zum Elektroboot gepaddelt und zogen mit einer Karotte im Maul zufrieden wieder ab. Ostia, Roms einstige Hafenstadt, hat seine wirtschaftliche Bedeutung wegen Verlandung der Tibermündung längst verloren. Gerade am Tiber zeigt sich das angespannte Verhältnis von Zivilisation und Natur im Zeitraffer: Schon im antiken Rom ergoss sich die Cloaca
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„Ein funktionierender Auwald bietet Hochwasserschutz.“
ANNA SCHÖPFER LIMNOLOGIN
Maxima in den „Heiligen Fluss“. Heute treiben aus der Millionenstadt aufgrund ungenügender Kläranlagen Müll und Schaumkronen flussabwärts, im Ufergebüsch hängen Plastikfetzen, von den Böschungen rutschen Kisten, Kühlschränke und Kinderwägen ins Wasser. Damit leben die Biber mehr schlecht als recht. Zuletzt strömt in den Tiber ein breiter Kanal mit heißem Wasser, das für die Kühlung der Rollbahnen des Flughafens Fiumicino ab- und wieder eingeleitet wird. Das Ergebnis ist eine Cloaca calidissima. Ab hier ist der Tiber mausetot und mündet überhitzt ins Meer. Wer nach Rom fliegt, sollte das wissen.
Die Spuren des Bibers lassen sich Millionen Jahre zurückverfolgen. Das größte Nagetier Europas war ein amerikanischer, asiatischer und europäischer Ureinwohner. Auch in Tirol war er immer heimisch, wovon zum Beispiel der Außerferner Ortsname Biberwier zeugt („Biberwehr“ = Damm), doch galt er hierzulande bereits im frühen 19. Jahrhundert als ausgerottet. Die Gründe lagen vor allem in einer intensiven Bejagung: Sein dichter, warmer Pelz war ein begehrtes Accessoire für Damen und Herren, wovon beispielsweise Gerhart Hauptmanns Drama „Der Biberpelz“ erzählt. Dessen nicht genug, erklärte die Katholische Kirche den Nager wegen seines schuppigen Schwan-
zes kurzerhand zum Fisch und gab ihn in einer Art Biber-Fatwa zum Genuss für die Fastenzeit frei. Auch medizinisch wurde der Biber genutzt: Fettdrüsen („Bibergeil“), die ihm helfen, die kalte Jahreszeit ohne Winterschlaf zu überdauern, enthalten Salicylsäure, einen entzündungshemmenden Wirkstoff. Diese wird längst synthetisch hergestellt, ähnlich wie Cortison (das in der Naturheilkunde leider immer noch aus Murmeltierfett gewonnen wird).
Obwohl er mittlerweile unter strengem Naturschutz steht, bedroht ihn bis heute die langstreckige Regulierung der europäischen Flussläufe. Seine Habitate wurden immer weniger. Bei geringem Gefälle mäandern Fließgewässer und verzweigen sich, doch sind Augebiete landwirtschaftlich kaum nutzbar, überschwemmungsgefährdet und verkehrstechnisch ein buchstäbliches No-Go. So wurden Flüsse zu Kanälen, zum Zweck der Schiffbarkeit oder Ufersicherung. Die Eindämmung des Inns festigte Innsbruck als
Anders als in der Wolfsdebatte fließt in der Biberdebatte kein Blut. Doch es fallen Bäume.
Verkehrsknotenpunkt und lässt sich nicht rückgängig machen. Wo beispielsweise die Höttinger Au ihrem Namen noch gerecht wurde und die Verkehrsrouten weit oberhalb verliefen, liegen heute Siedlungen, Gewerbegebiete, Autobahnen, Straßen, Rad- und Fußwege. Asphalt, Beton und Steine. Der Inn wurde durch die Stadt ein- und von ihr ausgegrenzt. Hier kann man bestenfalls die Beine von hohen Ufermauern baumeln lassen und Ratten beobachten, die selbst mit widrigsten Verhältnissen zurechtkommen. Der Biber hingegen benötigt Buchten, Gehölz und grabbare Uferböschungen. Leider erwies sich die strenge Flussregulierung für die Menschen als Bumerang. Gerade am Inn zeigt sich, dass die durch Einengung und Begradigung erhöhte Fließgeschwindigkeit im Klimawandel große Bedrohungen mit sich bringt: Zu viel Wasser wird in zu direkter Führung in zu hohem Tempo transportiert. Unterinntal, Bayern, Ober- und Niederösterreich bedanken sich herzlich, wenn dort das Innwasser nach Gletscherschmelze, Stark- oder Dauerregen ungebremst über die Ufer tritt.
Darum ist Renaturierung dringend angesagt, zumindest die Erhaltung flussnaher Schonräume. Sie begünstigt die Rückkehr des Bibers, der heute
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nicht mehr bejagt werden darf. Und dafür brauchen wir ihn. In seinem Werkbereich gedeihen Fauna und Flora, die durch menschlichen Flächenfraß vertrieben wurden. Denn in Bibers Nachbarschaft besteht ökologische Vielfalt: Amphibien, Fische, Krebse, Insekten, Otter, Uferpflanzen, Mikroorganismen. Somit leistet er einen wichtigen Beitrag zum gewässernahen Artenschutz. Doch nicht nur das: Während unsere hochalpinen Wasserspeicher abschmelzen, schafft der Biber Rückhaltezonen im Tal. Dabei erweist er sich als flexibler Kulturfolger: Ausgerechnet die vielgeschmähte Umleitung des Inns zwecks Verlängerung der Innsbrucker Flughafen-Rollbahn 2009 bescherte dem Biber ein lokales Comeback durch die Renaturierung der Mündungsbereiche des Völser Gießen und Axamer Bachs.
Anders als in der Wolfsdebatte fließt in der Biberdebatte kein Blut. Doch es fallen Bäume. Wo Biber eine saftige Baumkrone anvisieren oder größere Dammbauten planen, fackeln sie nicht lange, sondern fällen den Baum. Von Bibern angenagte Uferbäume sehen aus, als hätte ein Herrgottsschnitzer sein Messerset daran erprobt. Das führt zu Konflikten, gerade mit jenen Menschen, welche die verbliebenen Naturräume zur Erholung, als Abenteuerspielplatz, zum Joggen, Spazierengehen oder Radfahren nützen. Der Biber ist ein Veganer, ernährt sich von Kräutern, Gräsern, Weiden, Pappeln und im Winter von Rinden. Feldfrüchte mag er, doch höchstens vergreift er sich an tiefhängenden Maiskolben oder an flussnahen Rüben. Klettern kann er nicht, nur selten entfernt er sich über
20 Meter vom Wasser. Es gilt also, diesen schmalen Uferbereich zwischen Mensch und Biber auszuhandeln. Das geschieht in Form von Drahthosen um Baumstämme oder Drainagerohren durch Biberdämme. Kleine Zuflüsse, vom Baumeister Biber besonders geschätzt, werden durch Röhren und Gitter gesichert, damit sie bei Starkregen keine Felder überfluten. Gefährdet ein dünngenagter Baum Erholungssuchende in Wegnähe, sollte man zuständige Stellen (in Tirol sind dafür eigens Biberbeauftragte angestellt) verständigen. Nicht zu vergessen: Eine echte Au lebt von umgestürztem Biotopholz ohne menschlichen Eingriff.
Die gute Nachricht: Biber besiedeln große Gebiete in Europa neu oder wieder, in vielen Regionen waren sie nie ganz weg. Der österreichische BiberVerbreitungsschwerpunkt liegt heute in den Donau-March-Auen. Nach Tirol sind sie über den Inn und die Großache aus Bayern wieder eingewandert, die ersten Jungen wurden nachweislich 2007 hier geboren. Sie vermehren sich langsam: Bibereltern leben monogam an die 15 Jahre zusammen und ziehen partnerschaftlich in einer gut organisierten Großfamilie jährlich ein bis vier Junge auf, von denen nur wenige überleben (Hochwasser, Futtermangel, Krankheiten).
Wer Biber und ihr Wirken nahe Innsbruck beobachten will, sehe sich an den östlichen und westlichen Innufern um. Besonders dicht und sichtbar leben Mensch und Biber am Lohbach zusammen, wo man gegenüber der Polytechnischen Schule eine Biberburg und in der Dämmerung auch deren Bewohner bewundern kann.
Die Biber und wir
Mehr zum Umgang mit den Ur-Tirolern erfährt man in der Info-Broschüre des Landes: www.tirol.gv.at/fileadmin/themen/umwelt/naturschutz/downloads/ Biber_in_Tirol.pdf
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Wer einmal die faszinierende Sphäre der Insekten entdeckt, muss staunen: über ihre Leistungen in komplexen Ökosystemen. Und die Ignoranz, mit der ihre Lebensräume zerstört werden. Begegnung mit einem besonderen Schmetterling.
: ELISABETH FÖRG
rühlingsblumen blühen, Wiesen und Wälder strahlen in frischem Grün, nicht nur bei uns, auch im Süden Marokkos ist das Leben in vollem Gange. Doch bald wird dort die Landschaft vertrocknen und die „Belle Dame“, die Schöne Dame mit dem schnöden deutschen Namen „Distelfalter“, bereitet sich auf eine tausende Kilometer lange
Bei mangelnder Nahrung ist Migration für diese Art die beste Option. Mit seinen robusten Flügeln steigt das gerade mal ein Viertelgramm schwere Tierchen hunderte Meter
hoch hinauf und lässt sich von Winden innerhalb weniger Tage über das Mittelmeer tragen. In Südeuropa erholt es sich erstmals vom stürmischen Überflug und macht sich an die Vermehrung. Nach nur vierzig Tagen ist die Metamorphose der Eier zu frischen Schmetterlingen abgeschlossen, und es geschieht etwas Wundersames: die Mehrgenerationenreise. Die geschlüpften Kinder der Belle Dame setzen nämlich den Zug Richtung Norden fort, teils bis zum Polarkreis, wo sie sich im Hochsommer fortpflanzen werden. Seit kurzem geht die Wissenschaft davon aus, dass sie sich dabei an der Sonne orientieren und die
langen Tage ihnen mehr Nahrung ermöglichen. Auf dieser zweiten Etappe machen die DistelfalterKinder im Frühsommer auch in Tirol Station. So konnte ich vor drei Jahren in meinem Garten diese Weitwanderer das erste Mal beobachten und ihre bezaubernde Lebensgeschichte entdecken.
Die Schöne Dame zählt zu den 170 Tagfalterarten, die in Tirol vorkommen. Die Tagfalter machen aber nur einen kleinen Teil der rund 2.800 Schmetterlingsarten aus, die hier heimisch sind, die meisten flattern in der Nacht. International steht Tirol gar nicht so schlecht da, es beherbergt dank seines hohen Alpenanteils und großen Naturräumen fast gleich viele Arten wie ganz
Selbst weit verbreitete
Arten wie Kleiner Fuchs
sind auf intensiv genutzten
Wiesen kaum anzutreffen.
Deutschland. „Es ist daher besonders bedauerlich“, sagt Johannes Rüdisser, Landschaftsökologe an der Universität Innsbruck, „dass die Datenlage in Österreich unzureichend ist. Aus internationalen Studien wissen wir, dass es insgesamt bei Insekten und gerade auch bei Schmetterlingen einen massiven Rückgang gegeben hat und gibt.“ Seit 2018 betreibt er mit Freiwilligen, Experten und Expertinnen das Viel-Falter-Monitoring unter der Website viel-falter.at, das heuer wegen seines Erfolges im Auftrag des Klimaministeriums auf ganz Österreich ausgeweitet wird. An 400 repräsentativen Standorten beobachten sie systematisch das Vorkommen und die Entwicklung der Tagfalter-Populatio -
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nen. Sein Fazit nach fünf Jahren: Selbst weit verbreitete Arten wie Kleiner Fuchs, Kleines Wiesenvögelchen oder Zitronenfalter sind auf intensiv genutzten Wiesen kaum noch anzutreffen. Die aktualisierte Rote Liste der Schmetterlinge in Vorarlberg erhärtet diesen Befund. Der Prozentsatz aller gefährdeten Arten ist demnach gestiegen, in allen Kategorien: von drohender über starke Gefährdung bis zu ausgestorben. Die Situation in Vorarlberg sei durchaus mit Tirol vergleichbar, berichtet Rüdisser. Hierzulande wird 2023 erstmals eine solche Rote Liste erarbeitet.
Schmetterlinge sind in ihren Lebensweisen so unterschiedlich spezialisiert, dass sie sich hervorragend als Bioindikatoren eignen, das heißt, ihr Vorkommen zeigt stellvertretend für alle Insektenarten die Qualität oder Zerstörung von Lebensräumen an. Ein faszinierendes Beispiel für ihre vielfältigen An-
Tipps für Vielfalt im Garten
sprüche ist der Dunkle Ameisenbläuling. Seine jungen Raupen ernähren sich ausschließlich von den Blütenköpfen des Großen Wiesenknopfes. Dieser sollte nicht allzu weit entfernt von einem Bau der Knotenameisen-Gattung Myrmica wachsen, denn nach einiger Zeit lassen sie sich auf den Boden fallen, imitieren den Geruch der Ameisenbrut und die getäuschten Arbeiterinnen tragen die Raupen in ihr Nest. Dort ernähren sie sich von deren Eiern und Larven. Wenn sie nach der Verpuppung schlüpfen, müssen die Bläulinge möglichst schnell raus aus dem Bau, denn ihre Tarnung funktioniert nicht mehr. Eine sensible Angelegenheit, die Vermehrung des Bläulings.
Die wesentlichen Ursachen für den Rückgang der Schmetterlinge sind allseits bekannt, doch wenig wird zu
ihrem Schutz unternommen. Böden werden verbaut und versiegelt, Landwirtschaft intensiviert, extensiv bewirtschaftete Wiesen aufgegeben. Monokulturen, Verbuschung, Verwaldung, Freiräumung der Landschaft, Lichtverschmutzung und intensiver Pestizid- oder Düngemitteleinsatz beschneiden die Lebensräume der Falter massiv. Frau muss nur im Sommer durch das landwirtschaftlich intensiv genutzte Inntal radeln, um erschrocken festzustellen, wie leer und monoton das ehemalige Schmetterlingsparadies geworden ist.
Schmetterlinge erfreuen nicht nur unser Gemüt, wenn sie scheinbar schwerelos über eine blühende Wiese schweben, sie erfüllen auch wichtige Funktionen im Ökosystem. Neben Bienen und Hummeln sind sie wichtige Blütenbestäuber, überdies Nahrungsgrundlage für Vögel, Fledermäuse und Kleinreptilien.
„Wer Schmetterlinge fördern will, muss in erste Linie Raupen fördern, das ist ganz entscheidend“, erklärt der Initiator und Leiter des Tagfalter-Monitorings Johannes Rüdisser.
Wenn sich der Sommer dem Ende zuneigt, schlüpft in Skandinavien die dritte Generation der Distelfalter und weiß: nichts wie weg von hier. Anders als der Zitronenfalter oder der Trauermantel würde der Enkel der Belle Dame den frostigen Winter nicht überleben. Gleich seiner Großmutter im Frühjahr steigt er in die Lüfte auf und lässt sich in Windeseile zurück nach Nordafrika und sogar bis südlich der Sahara tragen. Gute Reise, schöner kleiner Nomade – bis bald im Garten!.
20er-Autorin Elisabeth Förg hat vor drei Jahren begonnen, Schmetterlinge in ihrem Garten zu beobachten, und bestimmt sie mithilfe der Schmetterinlings-App von Blühendes Österreich und GLOBAL 2000. Bisher konnte sie so 49 verschiedene Arten im eigenen Garten entdecken. Sie weiß, was man tun und auch lassen sollte, wenn man auch so ein artenreiches Stückchen Natur pflegen möchte.
• Pflanzen Sie vermehrt einheimische Blumen und Kräuter wie Wiesensalbei, Oregano, Thymian, Kornblume, Blutweiderich, Nachtkerze oder Natternknopf. Wandeln Sie einen Teil des englischen Rasens in ein Wildblumenbeet um und ersetzen Sie Buchsbaum- oder Thujenhecken durch einheimische Wildsträucher wie Schlehen, Weiden, Liguster, Roter Hartriegel, Kreuz- und Weißdorn. Einheitsrasen und exotische Gewächse bieten Schmetterlingen und anderen Bestäubern keine Nahrung – folglich wird das ganze Ökosystem im Garten ärmer. Auch auf dem Balkon ziehen blühende Gewürzkräuter mehr Tiere an als nektararme Geranien.
• Raupen brauchen darüber hinaus dringend wilde Ecken im Garten, allen voran nährt die Brennnessel rund fünfzig Arten. Auch Disteln und andere sogenannte „Unkräuter“ sind begehrte Nahrungsquellen.
• Mähen Sie Ihre Wiese nicht öfter als zweimal im Jahr – und vor allem nicht die ganze Wiese auf einmal, sondern schrittweise oder mosaikartig. Man könne ja einen Kreis stehen lassen oder ein Herz mähen, empfiehlt Ökologe Rüdisser.
• Schmetterlinge und Raupen brauchen – genauso wie Igel – auch Überwinterungsplätze: Sie müssen Ihren Garten im Herbst nicht „aufräumen“. Lassen Sie besser
einen Teil des Laubes liegen und Halme oder Gräser stehen: Sie sind wichtige Unterschlüpfe. Laubbläser sind schädlich.
• Insektizide bedeuten den Tod vieler Arten. Bitte nicht verwenden.
• Artenschutz ohne Garten oder Balkon geht auch: Drängen Sie bei der Gestaltung von öffentlichen Grünflächen auf Schmetterlingsfreundlichkeit oder regen Sie Bauern im Ort an, einen Blühstreifen rund um den Acker anzulegen (das wird von der EU gefördert und ist in anderen Bundesländern wie Oberösterreich schon weiter verbreitet).
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GESELLSCHAFT
Mein altes Haus
Dieses kleine Häuschen steht in Harghita, das ist ein Landkreis im Zentrum von Rumänien. Dort habe ich mit meiner Familie mehr als zehn Jahre gelebt. Das war nicht leicht: Die meisten Familien dort sind ungarischstämmig, und weil ich Rumänin bin, wurde ich sogar mit dem Tod bedroht. Sie wollten uns vertreiben, aber dennoch sind wir geblieben. Die Lage spitzte sich zu und schließlich haben Unbekannte das Haus angezündet, während vier meiner Kinder darin schliefen. Außer meinem Mann haben wir diesen Anschlag alle überlebt, er ist leider zwei
Wochen später gestorben. Ich wusste nicht mehr, was tun – wir haben eine Zeitlang in einem Kuhstall übernachten müssen.
Danach sind wir nach Österreich gezogen und seitdem dabei, uns hier ein Leben aufzubauen. Einmal im Jahr besuche ich mein altes Häuschen, denn mein Sohn hat es in mühsamer Arbeit aus Holz wieder aufgebaut. Ich bringe meistens Kleidung oder Medikamente vorbei, denn seine Kinder haben gesundheitliche Probleme. Zum Glück hat sich aber die Lage mit der Dorfgemeinschaft jetzt entschärft und mein Sohn kann dort mit seiner Familie in Frieden leben.
Protokoll: TOBIAS LEO
Brandstiftung beweisen?
Wolfgang Span ist Sprengstoffsachkundiger und Brandermittler im Landeskriminalamt. Er erklärt, wie man die Ursache – oder auch die Verantwortlichen – eines Feuers findet.
In Tirol müssen jährlich rund 600 Brandgeschehen polizeilich abgeklärt werden. Wir vier hauptamtlichen Brandermittler bilden darum in den Bezirken zusätzlich noch Kolleginnen und Kollegen darin aus, Brandursachen zu ermitteln. Auch ich habe 2005 so angefangen und viel Erfahrung mit Bränden gesammelt: von der rauchenden Kaffeemaschine bis hin zum Großbrand im Industriegebäude. Oft stellen wir ein
technisches Gebrechen fest. Mitunter auch fahrlässiges Handeln – was juristische Folgen haben kann. Feuer hat ja die gemeine Eigenschaft, sich unkontrolliert auszubreiten. Ein unbeachtetes Teelicht löst schnell einen Zimmerbrand aus und in einem Mehrparteienhaus kann der Schaden durch die Rauchgasentwicklung enorm sein. Besonders schlimm ist, wenn es Brandopfer zu beklagen gibt. Die Motive für eine echte Brandstiftung sind sehr verschieden: Manche lieben das Feuer, andere versuchen einen Versicherungsbetrug oder wollen eine vorherige Tat mit Feuer vertuschen. Als Ermittler gehen wir mit Bedacht vor: Schon während der Rettungs-
und Löscharbeiten sichern wir den Brandort, halten Schaulustige fern und sprechen mit Zeugen. Auch die Feuerwehr gibt uns wertvolle Hinweise auf die mögliche Ursache. Denn der potenzielle Tatort verändert sich noch und das Feuer vernichtet Spuren. Trotzdem suchen wir später an sinnvollen Stellen Fingerabdrücke oder senden Proben von Brandschutt ans Labor des Bundeskriminalamts in Wien, um Spuren von Brandbeschleunigern zu ermitteln. Denn bei der Frage, was und wer für das Feuer verantwortlich war, zählen vor Gericht nur Beweise.
Protokoll: REBECCA SANDBICHLER
Illustration: AMBER CATFORD
Schutzanzug: Auch wenn alle Glutnester erloschen sind, schwirren noch ungesunde Rußpartikel in der Luft. Darum tragen wir Schutzmaske und Arbeitsoveralls gegen den giftigen Dreck.
Schaufeln: Im Brandschutt nach Spuren zu suchen ist körperlich anstrengend. Wenn man unter einem schwarzen Haufen etwas entdeckt, das die Hypothese bestätigt, macht das dafür sehr zufrieden.
Schnüffeln: Manchmal rieche ich selbst, dass ein Brandbeschleuniger verwendet wurde. Brandmittelspürhunde wittern aber beispielsweise verschüttetes, verbranntes Benzin eher als wir Menschen.
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EIN WICHTIGES DING – im Leben unserer Verkäuferin Margit Majlat.
Margit Majlat ist 52 Jahre alt und verkauft seit Sommer 2020 den 20er.
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Sofie Amann wurde angezündet.
©
Sofie Amann
WIE MACHEN SIE DAS …
Tafeln am Limit
So viele Menschen wie noch nie sind auf Lebensmittelspenden angewiesen. Ab Mai soll eine neue Tafel in Axams entlasten. Doch es fehlt an Ehrenamtlichen – und logistische Hürden bringen das System an seine Grenzen.
Dunkelheit hüllt die schweigend Wartenden an diesem Märzabend ein. Die meisten sind junge Männer, vereinzelt sieht man auch Frauen mit Kinderwägen. Die Menschenschlange zieht sich bis hinaus auf den Gehsteig vor dem Rot-Kreuz-Gebäude am Sillufer. Es ist Ausgabe bei der Innsbrucker Tafel.
„Wir haben jeden Samstag durchschnittlich zwanzig Neuanmeldungen. Aufgeteilt auf zwei Schichten kommen 250 Personen zu uns, pro Haushalt eine Person. Wir versorgen also insgesamt 350 Menschen mit Grundnahrungsmitteln, Süßigkeiten und Frischware“, erklärt Jasmin Carli. Die junge Mutter und Geoinformatikerin kümmert sich in ihrer Freizeit sowohl um die Koordination der Helfer als auch um die Beschaffung der Lebensmittel. Vor der Ausgabe fahren Ehrenamtliche die Supermärkte der Stadt ab, sammeln abgelaufene Waren und nicht mehr verkäufliches Gemüse und Obst sowie übriges Brot ein.
Weil sich zuletzt so viele Menschen registrierten, wurde 2022 ein neues System eingeführt: Abgeholt wird nur mehr im ZweiwochenRhythmus. Auch werden die Essensspenden in Säcken vorportioniert. Nur ob man Fleisch haben möchte, bleibt frei wählbar. Über solche Notmaßnahmen ist Jasmin Carli nicht glücklich. „Manchmal finden wir rund um die Ausgabestelle zurückgelassene Lebensmittel“, sagt sie. Es sei nicht ideal, aber „durch die riesige Nachfrage wissen wir einfach nicht, wie wir es anders
händeln könnten.“ Früher standen bis zu 80 Personen in der Schlange. Damals wurden die Lebensmittel noch nach persönlichen Wünschen ausgegeben. „Wenn wir das jetzt machen würden, wären wir um Mitternacht noch nicht fertig.“ Die Tafeln in Tirol funktionieren nur durch das Engagement von Freiwilligen wie Jasmin Carli. Da diese Menschen wochentags einer bezahlten Tätigkeit nachgehen, bleibt einzig der Samstag für die Verteilung der Lebensmittel.
Gemeinsam mit Gerhard Bucher koordiniert Carli seit fünf Jahren etwa 70 Ehrenamtliche. Und es bräuchte noch viele mehr. „Für eine Samstagsschicht benötigen wir inklusive Fahrdienst 22 Leute“, sagt Gerhard Bucher. Entlas-
tung soll eine neue Zweigstelle „Westliches Mittelgebirge“ bringen, die Eröffnung ist für Mai geplant. Die Lebensmittelhilfe wird dann Personen aus Axams, Birgitz, Götzens, Grinzens, Mutters und Natters offenstehen (Infos zur Anmeldung auf der Website des Roten Kreuzes Tirol). „Dort wird es wieder so laufen, wie wir auch in Innsbruck begonnen haben. Die Menschen können aus dem Angebot an Lebensmitteln wählen“, erklärt Carli. Es ist die 22. Ausgabestelle der gemeinnützigen Team Österreich Tafel, einer In-
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Text : VERENA WAGNER
Vorbereitungen bei der Innsbrucker Tafel. © Verena Wagner
itiative des Roten Kreuzes, in Tirol. Das Öffnen weiterer kleinerer Stellen wäre eine Lösung, um die vor der Tonne geretteten Lebensmittel zu Menschen zu bringen, die sie wirklich brauchen. Doch es fehlt an helfenden Händen.
Staat baut auf Ehrenamtliche. Mit der Teuerung und dem Beginn des Ukrainekriegs ist die Nachfrage sprunghaft angestiegen und lässt nicht nach. Lebensmittelausgaben in ganz Europa ächzen unter dem großen Andrang. In Deutschland fühlen sich viele Tafeln aufgrund von bis zu 50 Prozent mehr Registrierten überfordert, ja benutzt als Ersatzhilfen, weil staatliche Hilfen nicht mehr greifen. „Zu uns kamen und kommen teilweise immer noch Menschen aus der Ukraine, die von den Behörden weggeschickt und stattdessen an die Tafeln verwiesen werden. Hier macht uns der Staat zu etwas, das wir nicht sind und auch nicht sein wollen: Es wird der Eindruck erweckt, es gäbe einen Rechtsanspruch auf Lebensmittel von den Tafeln. Als seien wir Teil des sozialstaatlichen
Systems. Das sind wir nicht“, stellt Jochen Brühl, Vorsitzender der Tafel Deutschland, klar. Die mehr als 960 deutschen Tafeln mit mehr als 2.000 Ausgabestellen und etwa 60.000 Freiwilligen sind eine der größten sozialen Bewegungen des Landes. Sie versuchen, die negativen Folgen von Armut so gut wie nur möglich zu lindern. Hierzulande sind bei den Team Österreich Tafeln rund 6.000 Ehrenamtliche bei 122 Ausgabestellen im Einsatz. Mehr als 26.000 Haushalte nehmen das Angebot in Anspruch.
weg weniger übrig. „Die Spenden sind seit der Einführung der App erheblich zurückgegangen und wir wussten im ersten Moment nicht, wieso“, berichtet Carli. Inzwischen habe man die Situation recht gut auffangen können, indem einfach mehr Läden angefahren werden. „Ich finde es ja eine tolle Sache, wenn die Waren gerettet werden. Es gibt leider immer noch so viele gute Lebensmittel, die im Müll landen“, findet die junge Frau. „Wir können im Rahmen unserer Kapazitäten aber nicht mehr abholen.“
GERHARD
Nichts für den Müll. Das, was da in den Regalen angehäuft und jeden Samstag an Menschen in finanziellen Notlagen verteilt wird (795.400 Kilogramm waren es letztes Jahr allein in Tirol), kommt vor allem von privaten Spenderinnen und Spendern und Supermärkten. Es sind Waren, bei denen die Mindesthaltbarkeit oft schon abgelaufen ist, die aber noch lange genießbar sind. Seit nun Geschäfte auch abgelaufene Lebensmittel über den Dienstleister „To Good to Go“ anbieten, fehlen sie den Tafeln. Durch den Verkauf über die App bleibt schlicht-
Ans Limit kommen die Tafeln nicht wegen ausbleibender Spenden, sondern aufgrund fehlender Freiwilliger und einer nicht zu bewältigenden Logistik. Wenn übriggebliebene Lebensmittel immer mehr Menschen satt machen müssen, die sich keinen normalen Einkauf mehr leisten können, entsteht eine Schieflage. „Foodsharing ist eine Möglichkeit für mittelständische Haushalte, sich kostenlos mit Lebensmitteln zu versorgen“, meint Gerhard Bucher. Weder er noch Carli sehen die Foodsaver, die in Innsbruck bei den gleichen Supermärkten abholen wie die Tafel als Konkurrenz. Im Gegenteil, Foodsharing biete allen Menschen mit schmalem Budget die Möglichkeit, sich selbst zu helfen.
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Vincent Obermair & Ilvy Pernstich & Florian Stöger. Gegenseitig versichert. Seit 1821.
„Für eine Samstagsschicht benötigen wir inklusive Fahrdienst 22 Leute.“
BUCHER
Mehr Hilfe für Menschen auf der Straße
Eine Initiative will die sogenannte „Homeless Bill of Rights“ EU-weit durchsetzen. Als erste österreichische Stadt hat Graz unterzeichnet. Warum Innsbruck nachziehen sollte, wo die Grenzen des Konzepts liegen und wie Obdachlosigkeit eine Biografie prägt – ein 20er-Themenschwerpunkt.
Überall in Europa werden obdachlose Menschen kriminalisiert und aus dem Stadtbild vertrieben. Und das, obwohl das Europäische Parlament bis 2030 die Obdachlosigkeit beseitigen will.
Feantsa – der Dachverband der europäischen Organisationen, die mit Obdachlosen arbeiten – hat darum mit anderen Menschenrechtsorganisationen eine Erklärung der Menschenrechte für Obdachlose erarbeitet. Unterzeichnet haben bisher vor allem Städte in Südeuropa, allein 35 in Griechenland. Immerhin: Graz hat im Dezember letzten Jahres als erste österreichische Stadt die „Homeless Bill of Rights“ ratifiziert (siehe Charta auf Seite 24). Und Innsbruck? War die Charta hier schon Thema? Michael Hennermann, Geschäftsführer vom Verein für Obdachlose, verneint. „Manche Punkte sind bei uns aber schon gut umgesetzt. Andere Forderungen, die wir seit Jahren formulieren, sind noch nicht erfüllt. Es wäre darum sehr spannend, wenn Innsbruck sich ebenfalls zur Charta bekennen würde.“ Aktuell würden bettelnde Menschen beispielsweise wieder vermehrt Geldstrafen erhalten (auch 20er-Verkaufende). Das Nächtigungsverbot in der Innsbrucker Innenstadt gelte ebenfalls weiterhin. Und der Druck auf die Notschlafstellen sei im Winter konstant hoch gewesen. „Wie jedes Jahr mussten Menschen auf der Suche nach einem Schlafplatz abgewiesen werden.“ Für Hennermann ist es mit dem Ausbau von ganzjährigen Notschlafstellen aber nicht getan. „Es braucht stattdessen angemessene Wohnlösungen.“
Was sagen Stadtpolitiker zur Charta? „Eine solche Erklärung würde auch ich begrüßen“, schreibt Bürgermeister Georg Willi per Mail. Sein Vizebürgermeister Johannes Anzengruber, zuständig für Soziales, kann kurzfristig nicht konkret auf die Erklärung eingehen, verweist aber auf das erweiterte Angebot der Wohnungslosenhilfe: So gäbe es 1.700 Betreuungsplätze für Menschen ohne eigenes Zuhause und bis zu 330 Notschlafstellenplätze. Bessere Angebote für
obdachlose Menschen mit psychischen Erkrankungen seien in Arbeit. Seit Mitte März gäbe es drei neue Notwohnungen für Frauen und Kinder. Bürgermeister Willi erzählt, dass im Rahmen der Workshops zu den Vergaberichtlinien von städtischen Wohnungen über Notfallwohnungen diskutiert worden sei. „Die Idee ist, 130 Wohnungen seitens der Stadt zur Verfügung zu stellen, verbunden mit dem Ziel, eine langfristige Lösung für Betroffene zu finden.“ Dieser Vorschlag brauche aber die entsprechenden Mehrheiten in den Gremien. Angesprochen auf Schlafund Bettelverbote in Innsbruck, sagt Willi: „Die Innsbrucker Grünen und ich waren immer dafür, die geltenden Verbote in der Stadt aufzuheben.“ Eine Mehrheit dafür sei aber nicht in Sicht.
Mehr Solidarität auch auf europäischer Ebene würde der Experte Michael Hennermann sich
wünschen. Wie Feantsa-Direktor Freek Spinnewijn im Interview auf Seite 23 spricht auch er den bedeutenden Faktor Migration an und schildert die schwierige Lage von Menschen, die in Tirol keinen Zugang zu Sozialleistungen bekommen. Das seien oft Notreisende aus strukturschwachen Regionen Europas, die zuhause diskriminiert werden: „Wir haben an einem normalen Vormittag bis zu 27 Nationen in der Teestube.“ Die Zahl der Besucherinnen und Besucher sei mit durchschnittlich 120 Menschen am Tag ebenfalls seit einem halben Jahr auf einem Langzeithoch. Städte und Länder dürften solchen Druck nicht nach unten an die Leute auf der Straße weitergeben, sondern sollten die betreffenden Staaten in die Pflicht nehmen: „Es ist wichtig, gemeinschaftlich bessere Bedingungen zu schaffen.“.
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Verfügbarkeit von Wohnraum ist ein Schlüsselfaktor“
Obdachlosigkeit beseitigen? Dazu brauche es echtes Durchhaltevermögen, sagt Feantsa-Direktor Freek Spinnewijn. Mit seiner Organisation lobbyiert er für die Charta der Obdachlosenrechte in EU-Städten. Und appelliert an die politisch Verantwortlichen, über ihre nächste Wahl hinaus zu denken.
Freek Spinnewijn, warum braucht es eine allgemeine Erklärung der Rechte der Obdachlosen?
Wir wollten zeigen, dass die Kriminalisierung von Straßenobdachlosen nicht funktioniert. Sie ist teuer, ineffizient und löst das Problem nicht. Und wir wollten eine Debatte anstoßen – in der Politik, aber auch innerhalb und zwischen sozialen Institutionen. Erstmals hat eine Organisation in Los Angeles vor mehr als zehn Jahren eine solche Erklärung verfasst.
Hat die Erklärung eine Debatte ausgelöst?
Mancherorts ja, auch unter unseren Mitgliedern. Ich würde es als ersten kleinen Erfolg der Erklärung bezeichnen, dass die Bestrafung und Kriminalisierung von Straßenobdachlosigkeit von unseren Mitgliedern als Problem erkannt wurde. Und einige Städte – knapp fünfzig – haben sich dem Aufruf angeschlossen.
Auch Graz hat als erste österreichische Stadt unterzeichnet. Gleichzeitig schreiben Sie im Zusatzmaterial zur Erklärung, dass die Kriminalisierung von Straßenobdachlosigkeit in Europa generell wieder zunehme. Wie kommt es, dass das Europaparlament gleichzeitig vom Ziel der Beseitigung der Obdachlosigkeit bis 2030 spricht?
Es existieren eine Menge Widersprüche und Unstimmigkeiten im politischen Umgang mit Obdachlo-
sigkeit. In den meisten Ländern gibt es ein großes Interesse an Housing First, gleichzeitig werden die Notschlafstellen ausgebaut – während Verfolgung und Kriminalisierung zunehmen. Das hat auch damit zu tun, dass die Politik in diesem Bereich auf verschiedenen Ebenen agiert: Die Kriminalisierung findet oft auf lokaler Ebene statt, während Housing-First-Ansätze eher auf regionaler und nationaler Ebene erarbeitet werden. Zudem passiert die Kriminalisierung von Straßenobdachlosigkeit häufig aus einem grundlegenden Missverständnis von Obdachlosigkeit heraus.
Und das wäre?
Kriminalisierung geht oft davon aus, dass Obdachlose auf der Straße leben wollen, stören wollen, dass sie die Menschen nerven wollen. Das ist ganz offensichtlich falsch. Denn Obdachlosigkeit wird durch strukturelle Faktoren bedingt und braucht demzufolge strukturelle Lö-
sungsansätze – wobei die Verfügbarkeit von Wohnraum ein Schlüsselfaktor ist. Lokale Politikerinnen und Politiker oder Behörden durchschauen das nicht immer bis ins letzte Detail.
Gibt es noch weitere Schlüsselfaktoren?
Natürlich gibt es auch eine Verbindung mit dem Thema Migration. In Europa kann man beobachten, dass die im Freien übernachtende Bevölkerung zunehmend Migrantinnen und Migranten sind: Menschen aus der EU, Fahrende, abgelehnte Asylwerberinnen und Asylwerber. Es ist nicht so einfach, für diese Menschen eine Lösung zu finden. Für Sans Papiers beispielsweise wäre der einzige Weg, sie in die Gesellschaft zu integrieren, ihnen einen Aufenthaltstitel zu geben. Solange sie kein Aufenthaltsrecht haben, müssen sie in Notunterkünften oder auf der Straße leben. In Skandinavien kann man sehen, dass die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit dort klar auf Migrantinnen und Migranten abzielt.
FEANTSA
Der 1989 gegründete Dachverband Feantsa (Fédération Européenne des Associations Nationales Travaillant avec les Sans-Abri) vereint mehr als 120 Mitgliedsorganisationen aus 30 Ländern, die im Bereich Obdachlosigkeit arbeiten. Es ist die einzige NGO auf europäischer Ebene, die sich ausschließlich mit Obdachlosigkeit befasst. Informationen unter: feantsa.org
Vermutlich befassen sich häufig verschiedene Ministerien oder Behörden mit Obdachlosigkeit oder mit Migration. Richtig. Es gibt schon ein Bewusstsein dafür, dass Migration auch im Bereich Obdachlosigkeit ein Faktor ist, aber der Politikbereich Obdachlosigkeit wird noch nicht als feste Größe im Bereich Migration angesehen. Auch nicht auf europäischer Ebene.
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„
Interview : SARA WINTER SAYILIR
© YVES HERMAN / REUTERS
Obdachlose Personen in Brüssel: Wer ihnen helfen will, müsste EU-weit ansetzen.
Wie groß ist der Faktor Migration im Bereich Obdachlosigkeit?
Zählt man die Menschen in den Notschlafstellen und die Straßenobdachlosen zusammen, kommt man in den meisten europäischen Ländern auf eine Verteilung von etwa fünfzig Prozent Ortsansässiger und fünfzig Prozent Migrantinnen und Migranten. Das ist seit etwa 2015/16 der Fall. Vorher war diese Verteilung nur in Südeuropa gegeben. Der Einfluss der Migration auf die Obdachlosigkeit hat sich überall erhöht. Nur Osteuropa ist eine Ausnahme, dort stellt Obdachlosigkeit immer noch fast kein Problem dar.
Hat Feantsa denn Ideen, wie damit umzugehen wäre?
In Bezug auf Lösungen versuchen wir in erster Linie darauf hinzuwirken, dass die Mitgliedsstaaten das EU-Recht einhalten. Zum Beispiel gibt es in meinem Heimatland Belgien Hunderte Asylsuchende, die keinen Zugang zu Notunterkünften haben. Das ist gegen das Gesetz. Also führen wir Prozesse gegen Belgien und die Niederlande, um diese Situation zu ändern. Auch Sans Papiers sollten regulären Zugang zu Notunterkünften haben. Es ist keine Lösung des Problems, aber man verhindert das Schlimmste. Die einzige Lösung wäre ja, diesen Menschen einen legalen Aufenthalt zu ermöglichen oder aber sie auf nachhaltige Art und Weise zurückzuschicken – sofern das überhaupt möglich ist. Von den langfristigen Debatten aber halten wir uns fern, weil es auch innerhalb von Feantsa keinen Konsens beispielsweise zum Thema Regularisierung gibt.
Viele Betroffene sind EU-Binnenmigrantinnen und -migranten, zum Beispiel Fahrende. Wie kann ihnen geholfen werden? Das ist nochmal eine andere Frage: Hier müsste die EU Verantwortung übernehmen, Freizügigkeit ist ein EU-Recht. Doch die EU verschließt die Augen davor, dass es Tausende, ja Zehntausende EUBürgerinnen und -bürger gibt, die als Obdachlose in einem anderen
Mitgliedsland leben. Dabei könnte EU-Recht ihnen allen den Zugang zu Notunterkünften zusichern. Ich verstehe nicht, warum so etwas nicht beschlossen wird.
Zwischen der EU-Gesetzgebung auf supranationaler Ebene und den lokalen und kommunalen Hilfsangeboten ist eine riesige Distanz: Ein Beschluss auf EUEbene braucht wahrscheinlich ewig, bis er auf die lokale Ebene heruntergebrochen wird. Auf lokaler Ebene ist das Problem meist, dass die Umsetzung der Gesetze viel komplizierter ist als beabsichtigt. Wir müssen mit den lokalen Behörden Verständnis haben. Außerdem ist der Faktor Zeit absolut essenziell. Um Obdachlosigkeit signifikant zu reduzieren, braucht es Durchhaltevermögen. Die Politikerinnen und Politiker müssen über ihre Amtszeiten hinausdenken. In Finnland brauchte es zwanzig Jahre konsistenter Wohnraumpolitik, um dorthin zu kommen, wo sie jetzt sind. Das sind in den meisten Ländern im Schnitt fünf Politikmandate!
Finnlands Housing-First-Ansatz wird oft als erfolgreiches Modell für die Beseitigung von Obdachlosigkeit präsentiert. Ist das eine Lüge? Schließlich haben viele obdachlose Menschen dort keinen Zugang zu Housing First. Bevor Sie es als Lüge bezeichnen, müsste man vielleicht erst einmal zurückfragen: Wer hat denn die Lüge verbreitet? Es sind definitiv nicht die Menschen in Finnland. Ich habe noch keine finnische Person sagen hören, sie hätten die Obdachlosigkeit abgeschafft.
Das ist interessant!
Finnland hat gerade erst eine neue Strategie verabschiedet, in der das Ende der Obdachlosigkeit auf 2027 angepeilt wird. Die Regierung steckt viel Geld und andere Ressourcen hinein und die neue Wohnungsministerin engagiert sich immens. Sie konnten die Notschlafstellenplätze auf ein abso-
Zur Person
Der Belgier Freek Spinnewijn ist seit 2001 Leiter von Feantsa, einem europäischen Netzwerk von Organisationen, die mit Obdachlosen arbeiten. Er ist außerdem Vizepräsident von EPHA (European Public Health Alliance) und in weiteren Vorständen von Nichtregierungsorganisationen wie SSE (Social Services Europe) und EAPN (European Anti-Poverty Network) aktiv. Er hat Geschichte und Europastudien an der Universität Leuven studiert.
Für wen ist dann Housing First? Housing First zielt auf die Verbesserung der Lage von Langzeitobdachlosen mit komplexen Bedürfnissen ab. Nicht alle Obdachlosen haben komplexe Bedürfnisse – manche brauchen einfach nur Wohnraum. Wir müssen nuanciert über Housing First reden, sonst stecken wir zu viele falsche Erwartungen hinein und machen das Konzept kaputt.
Bisher wurden noch nicht einmal in allen EU-Ländern die Rechte der Obdachlosen ratifiziert. Wie schnell könnten Städte das nachholen?
lutes Minimum reduzieren. Das ist beeindruckend. Aber es ist wahr: In Ländern wie Finnland und Dänemark gehören die Themenbereiche Immigration und Obdachlosigkeit zu verschiedenen Systemen. Sans Papiers und Migrantinnen und Migranten tauchen nicht im System der Bekämpfung der Obdachlosigkeit auf. Den Politiker oder die Politikerin, der oder die mir sagt, lass uns
Housing First für Sans Papiers machen, muss ich erst noch treffen. In Finnland oder Dänemark wird diese Frage gar nicht gestellt.
Es ist ein sehr praxisorientiertes Dokument; vieles davon ist einfach umzusetzen. Es ist nicht schwer, auf die Vertreibung obdachloser Menschen aus öffentlichen Parks zu verzichten. Das Problem ist vielerorts nicht so groß, dass es nicht lösbar wäre.
Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Schweizer Straßenzeitung Surprise.
24 APRIL 2023 NR. 243 GESELLSCHAFT
© Feantsa
„Der Einfluss der Migration auf die Obdachlosigkeit hat sich überall erhöht.“ FREEK SPINNEWIJN
Artikel 1
Das Recht, die Obdachlosigkeit hinter sich zu lassen
Das wichtigste Recht einer obdachlosen Person ist es, die Obdachlosigkeit hinter sich lassen zu können. Die Projekte, die angemessene Wohnlösungen bereitstellen, müssen ausnahmslos allen Obdachlosen zugänglich sein. In Zusammenarbeit mit anderen Behörden setzt sich die Stadtregierung dafür ein, dass genügend Wohnungen zur Verfügung stehen, um den Bedarf zu decken.
Artikel 2
Zugang zu angemessenen Notunterkünften
Kann eine Wohnlösung nicht sofort zur Verfügung gestellt werden, müssen Obdachlose Zugang zu einer angemessenen Notunterkunft haben. Die Stadtregierung verpflichtet sich, mit den zuständigen Behörden zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass genügend Notunterkünfte für ausnahmslos alle zur Verfügung stehen. Niemand soll gezwungen sein, auf der Straße zu schlafen.
Artikel 3
Das Recht, den öffentlichen Raum zu nutzen und sich darin frei zu bewegen Obdachlose Menschen sollten ohne Einschränkungen das gleiche Recht wie alle anderen haben, den öffentlichen Raum zu nutzen und sich darin frei zu bewegen. Dazu gehört unter anderem der Aufenthalt auf Gehwegen, in öffentlichen Parks, in öffentlichen Verkehrsmitteln und in öffentlichen Gebäuden. Es gelten die gleichen Bedingungen wie für alle anderen Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtgebiets. Auch für das Ausruhen im öffentlichen Raum sollen die gleichen Regeln für alle gelten – ohne zusätzliche Einschränkungen für Obdachlose.
Artikel 4
Das Recht auf Gleichbehandlung Die Stadtregierung verpflichtet sich, dass ihre eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Dienste das Recht auf Gleichbehandlung für alle einhalten, ohne diskriminierende Einschränkungen gegenüber jenen, die keine Wohnung haben.
Artikel 5
Das Recht auf eine Postadresse Obdachlosen werden häufig alle Rechte auf dem Arbeitsmarkt und
in jedem Fall das Recht auf Zugang zu grundlegenden sanitären Einrichtungen zu gewährleisten: fließendes Wasser (Trinkbrunnen), Duschen und Toiletten, die ein Maß an Hygiene ermöglichen, wie es für die Wahrung der Menschenwürde unabdingbar ist.
Artikel 7
Das Recht auf Notdienste
Das Recht auf die Inanspruchnahme von Notdiensten – Sozialdienste, Gesundheitsdienste, Polizei und Feuerwehr – zu den gleichen Bedingungen wie für alle anderen
Die allgemeine Erklärung der Obdachlosenrechte
Eine übersetzte Fassung. Den englischen Originaltext finden Sie unter feantsa.org.
bei der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen verweigert, weil sie keine Postanschrift angeben können. Die Stadtregierung verpflichtet sich, den Menschen, die obdachlos sind und diese Hilfe benötigen, eine Postadresse zur Verfügung zu stellen.
Artikel 6
Das Recht auf Zugang zu grundlegenden sanitären Einrichtungen
Wenn die Stadtregierung nicht in der Lage ist, geeignete Dienstleistungen innerhalb einer Unterkunft bereitzustellen, verpflichtet sie sich,
Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt, ohne Diskriminierung aufgrund der Wohnsituation oder des Aussehens eines Menschen.
Artikel 8
Das Wahlrecht
Das Recht zu wählen, in das Wählerverzeichnis eingetragen zu werden und bei Wahlen die notwendigen Dokumente zum Nachweis der Identität zu erhalten, ohne wegen der Wohnsituation diskriminiert zu werden.
Artikel 9
Das Recht auf Datenschutz
Die Daten von Obdachlosen sollen von öffentlichen und anderen Diensten nur mit deren Zustimmung und nur in Zusammenhang mit sie betreffenden Dienstleistungen und Lösungen weitergegeben werden dürfen. Obdachlose haben das gleiche Recht wie andere Bürgerinnen und Bürger auf Kontrolle über ihre persönlichen Daten, insbesondere über ihre Gesundheitsdaten, ihr Strafregister (falls sie eines haben), ihre Wohnsituation, ihr Privatleben und ihre Familiengeschichte.
Artikel 10
Das Recht auf Privatsphäre
Das Recht auf Privatsphäre muss in allen Arten von Unterkünften, einschließlich Gemeinschaftsunterkünften und informellen Unterkünften, in denen Obdachlose leben, so weit wie möglich respektiert und geschützt werden. Die Stadtregierung setzt sich dafür ein, dass dieses Recht in allen Notunterkünften gewahrt wird.
Artikel 11
Das Recht, im Rahmen des Gesetzes so zu handeln, dass ein Überleben auf der Straße möglich ist
Auch wenn die Stadtregierung eine Stadt anstrebt, in der spezifisches Handeln wie Betteln oder das Durchsuchen von Abfällen nicht mehr notwendig ist, muss gleichzeitig anerkannt werden, dass Menschen, die keine andere Möglichkeit haben, Unterstützung bei anderen Menschen suchen, betteln und Abfälle durchsuchen. Solche Überlebenspraktiken sollen nicht kriminalisiert, verboten oder willkürlich auf bestimmte Gebiete beschränkt werden.
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GESELLSCHAFT
20er
GESELLSCHAFT
IN EIGENER SACHE:
20er-Münze
Einkaufswagerl-Münzen, die als 20er-Abo gelten?
Gibt es ab 7. April.
Abgerutscht
Seit der Jahrtausendwende war der deutsche Autor und Künstler Nesh Vonk immer wieder wohnungslos. Die Erfahrungen prägen ihn heute noch. Für den 20er blickt er zurück.
Hast an Zwanz’ger für mich?“ Diese Bitte von Obdachlosen gab einmal die Inspiration für den Namen der Tiroler Straßenzeitung – die bei der Gründung 20 Schilling kostete. Mit dem 20er konnten Hilfesuchende plötzlich ein Einkommen in Würde verdienen. Heute haben aber viele von uns kein Bargeld mehr dabei. Unsere Verkaufenden und den 20er bringt das in Nöte. Beide leben rein von den Erlösen der Zeitung und Spenden.
Die neue 20er-Münze soll helfen: 20er-Einkaufswagerlmünzen sind nützlich und können bei Verkaufenden gegen eine Zeitung getauscht werden. Sie sind somit auch ein greifbares Geschenk-Abo: im Dreier-, Fünfer- oder Zehner-Pack, bunt oder in Schwarz-Weiß. Jeder Umtausch unterstützt unsere Verkaufenden, denn 1,70 Euro vom Preis gehen wie immer an sie. Der Rest finanziert die gemeinnützige Tiroler Straßenzeitung.
Die Münzen erhalten Sie ab 7. April zu den Öffnungszeiten der Redaktion (Mo–Fr, 9.00–11.00) oder unter verkauf@20er.at (Bestellung zzgl. Versandkosten). Dreier-Paket: 10,20 Euro, Fünfer-Paket: 17 Euro, Zehner-Paket (ein Jahr 20er): 34 Euro. Später werden auch Verkaufende die 20er-Münzen anbieten.
Bernie brachte den Igel mit ins Dolores. Das war die Kneipe, in der ich 2003 übernachtete. Für mich war das Luxus. Ich hatte eine riesige Couch zum Schlafen und morgens schmiss ich Musik an, machte mir Cocktails und putzte die Klos. Es war das beste Jahr, um wohnungslos zu sein. Schon 1999 hatte ich all meine Papiere verbrannt, inklusive Bankkarte und Zeugnisse. Aber 2003 erlebte ich den Sommer des Jahrhunderts. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Im Dolores wusch ich meine Kleider in der Küche, schüttete mir ein paar Mojitos rein und ging nach draußen, um das zu genießen, was ich für Freiheit hielt.
Es war nicht immer so fein. Im Winter 2000 schlief ich oft in Mehrparteienwohnungen. Ich klingelte irgendwo, irgendwer ließ mich rein und irgendwie schlief ich unter der Kellertreppe. Alles hatte damit angefangen, dass ich zu stolz war, um auf irgendein Amt zu gehen. Ich zahlte keine Miete, flog raus und pennte bei Freunden, bis ich keine mehr hatte. Zwischen 2000 und 2009 war ich etwa fünf Jahre lang wohnungslos. Ich wurde getreten, bespuckt, sexuell missbraucht und ausgeraubt. Ich wurde krankenhausreif zusammengeschlagen, hatte Knarren am Kopf und Messer am Hals. Das Milieu, in das ich abgerutscht war, hatte es in sich: Knastis, psychisch Kranke, Dealer, Junkies. Ich geriet an Antisemiten, Verschwörungstheoretiker, Ufo-Gläubige, rechte EsoSpinner – und Bernie.
Bernie war Alkoholiker und nicht die hellste Laterne am Himmel. Er lebte mit Fred zusammen. Bei Bernie und Fred muss ich immer an Ernie und Bert denken. Die beiden wohnten unter dem Dach in einer völlig verdreckten WG. Herd, Geschirr und Dusche hatten eine braune, knusprige Patina. Das Bettzeug war nicht mehr weiß, sondern grau bis gelb. „Du lässt hier alles verdrecken, Bernie!“ – „Nee, wegen dir sieht's hier so aus, Fred!“
Es ist verdammt schwer, diese Zeit zu beschreiben. Aus Scham oder falschem Stolz heraus ging ich nie zu irgendwelchen Obdachlosenheimen.
Ich wollte nicht zu den „asozialen Pennern“ gehören. Ich habe mir damals mords was eingebildet, auf eine schwere und recht eigene Art. Ich war mal wohnhaft, mal wohnungslos, mal obdachlos, mal in einer Kneipe. Ich weiß noch, dass Steven mir Meskalin in die Bong schmuggelte und mir Miquele Koks auf den Joint schmierte. Beides ging ziemlich nach hinten los. Noch heute mache ich Therapie und kämpfe gegen eine Sucht, die damals ihren Anfang nahm. Ich habe viele Diagnosen erhalten: Depressionen, Schizophrenie, PTBS, Persönlichkeitsstörung. Das kam nicht von heute auf morgen, das ist gewachsen.
Ich finanzierte mich oft durch Diebstahl, wenn ich gerade keinen Job hatte. Ich klaute alles mögliche zusammen und versetzte es im Park gegen Drogen oder Geld. Noch heute schäme ich mich dafür, denn sehr oft habe ich nette Menschen beklaut, die mir vertraut haben. Ich habe mir damit richtig schlechtes Karma aufgeladen. Noch heute leide ich unter Schuldgefühlen, die sich nicht abschütteln lassen.
Bernie fragte mich damals im Dolores, ob ich auf den Igel aufpassen will. Ich sagte nein. Sechs Wochen zuvor etwa hatte ich eine angefahrene Katze auf der Straße gefunden. Ich päppelte sie auf, sie schlief auf meinem Bauch, rannte raus auf die Straße und starb sofort, als sie nochmals angefahren wurde. Ich wollte Bernies Igel nicht aufpäppeln. Ich hatte einfach Angst, dass mir das gleiche noch einmal passiert. Einen roten Faden in diese Geschichte zu bekommen, ist herrlich sinnlos. Bernie jedenfalls ging mit dem Igel nach Hause, trat dabei Außenspiegel ab, setzte Mülltonnen in Brand und schlug Scheiben ein. Die Polizei folgte der Spur der Verwüstung und nahm Bernie fest. Ich hoffe, der Igel fand ein Zuhause.
Nesh Vonk lebt als Künstler in Hessen. Er malt, macht Poetry Slam oder kreiert Klangkompositionen aus Naturgeräuschen. Vor allem ist er Frontmann der Band Snerft, deren Lieder er schreibt und komponiert.
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S E IT DEZEMBE R 1998 • DIE T I R O REL SARTS S EGNUTIEZN • nah am
Text : NESH VONK
Erasmus' Lehrrede „Das Lob der Torheit“ ist natürlich zynisch. Die Torheit tritt als Lehrmeisterin der Menschen auf und argumentiert überzeugend, warum sie aus unserem Leben nicht wegzudenken ist. Nein, sogar vielmehr, warum wir sie dringend bräuchten, um am Leben zu bleiben.
„Mögen die Menschen in aller Welt von mir sagen, was sie wollen – weiß ich doch, wie übel von der Torheit auch die ärgsten Toren reden –, es bleibt dabei: Mir, ja mir ganz allein und meiner Kraft haben es Götter und Menschen zu danken, wenn sie heiter und frohgemut sind.“ Dabei führt sie nicht nur die einfachen Leute, sondern auch die Kaufleute, Adligen und Geistlichen vor. Niemand, aber wirklich niemand sei vor ihr gefeit. „Es tut halt so sauwohl, keinen Verstand zu haben, dass die Sterblichen um Erlösung von allen möglichen Nöten lieber bitten als um Befreiung von der Torheit.“ Doch Erasmus' Ziel ist keine kunstvolle Polemik. Sein „Lob der Torheit“ lässt sich vielmehr auch als Gesellschaftskritik, mehr noch als Religionskritik lesen. Ein Wagnis in einer Zeit, wo wenig reichte, um die Aufmerksam-
HERZ FRAGT, HIRN ANTWORTET – Die Philosophin Lisz Hirn stellt sich monatlich Fragen, die zum Nachdenken auffordern.
LOB DER TORHEIT?
Erasmus von Rotterdam hat im 16. Jahrhundert ein provokantes und humorvolles Werk geschrieben. Gewidmet hat er es seinem Freund Thomas Morus. Beiden gemein ist nicht nur, dass sie bekennende Humanisten waren, sondern auch der Kampf gegen die – ihrer Meinung nach – grassierende Dummheit.
keit der Inquisition oder die Missgunst der Herrscher auf sich zu ziehen. Thomas Morus hatte weniger Glück. Trotz einer glänzenden Karriere blieb dem Humanisten eine Enthauptung nicht erspart. Seine bekannteste Schrift erschien erstmals unter dem langen, aber vielsagenden Titel „Ein wahrhaft goldenes Büchlein, nicht minder heilsam als unterhaltsam – Von der besten Verfassung
des Staates und von der neuen Insel Utopia“. In diesem philosophischen Dialog entwirft Morus die Utopie einer „idealen Gesellschaft“, die in einem „goldenen Zeitalter“ lebt. Dass der Autor ausgerechnet von schwärmerischen Berichten seiner Zeitgenossen aus der „neuen Welt“ inspiriert wurde, gibt zu denken. Nichtsdestotrotz stellt sich Morus die ideale Gesellschaft als demokra-
tisch vor. Durch eine humanistische Bildung sind die Menschen dort von der leidigen Dummheit befreit, die ansonsten überall herrscht. Seine Utopie ist bekanntlich nicht zur Wirklichkeit geworden, dafür hat er immerhin ein eigenes Genre, die Sozialutopie, begründet.
Erst wesentlich später kommt ein Österreicher wieder auf die Thematik zu sprechen, allerdings in anderer Weise als seine Vorgänger. In „Über die Dummheit“ beschreibt Robert Musil das Dilemma treffend. Wer sich mit der Dummheit beschäftigt, gar zu ernst über sie spricht, steht im Verdacht, selber dumm zu sein. Selbst die Definition von „Dummheit“ gestaltet sich als schwierig. „Wenn die Dummheit nicht dem Fortschritt, dem Talent, der Hoffnung oder der Verbesserung zum Verwechseln ähnlichsähe, würde niemand dumm sein wollen.“ Besser hätte es für ihn auch kein Chatbot formulieren können.
UNSERE KOLUMNISTIN LISZ HIRN Die Philosophin, Sängerin und Autorin Lisz Hirn lehrt philosophische Praxis an der Uni Wien.
Auf die Hexe gekommen
Versammeln sich alle Hexen am 30. April wieder am Blocksberg? Nein! Heute müssen sie nicht mehr bis zur Walpurgisnacht warten. Eine neue Generation Hexen hat sich auf Social Media zusammengefunden. Mehr als sechs Milliarden Aufrufe verzeichnet die App TikTok unter dem Hashtag „WitchTok“. Neohexen mit schwarzem Lippenstift legen bei Kerzenschein Karten, pendeln, was das Zeug hält, und mixen auf Altären ihre Kräuter. Wikka-Circles boomen. Studien zufolge fühlt sich besonders die urbane Mittelschicht angezogen. Beim internationalen Hexentreffen in London nehmen jährlich etwa 7.000
Hexen teil. Doch keine Angst! Laut der Leitstelle für Sektenfragen im Berliner Senat seien Hexen nicht konfliktträchtig. Spätestens seit Harry-Potter-Figur Hermine Granger wissen wir: Hexen sind okay. Der Hamster der Hermine-Darstellerin Emma Watson starb übrigens während der Dreharbeiten zum Film an einer Herzattacke. Die Requisite bastelte dem Hamster einen MiniMahagoni-Sarg. Einer, der in böser Absicht hamsterte, war Heinrich Himmler. Jahrelang ließ der SS-Chef unter dem „H-Sonderauftrag“ obsessiv Informationen zu Hexen sammeln. 260 heimliche Archive und Bibliotheken entstanden.
Wenn wir schon bei düsterer Vergangenheit sind: Ein anderer fanatischer Hexenjäger, Heinrich Kramer, wird vom Brixner Bischof aus Tirol verbannt, weil er den Inquisitor für wahnsinnig hält. Gegrämt zieht sich Kramer zurück und schreibt ein Handbuch zur Hexenbekämpfung: den Hexenhammer. Der erste Hexenprozess auf österreichischem Boden fand vermutlich 1485 in Innsbruck statt und die letzte Tiroler Hexenverbrennung um 1722. Johannes Keplers Mutter wäre 1615 auch beinah als Hexe am Scheiterhaufen gelandet. Der Astronom verteidigte sie vor Gericht und erlangte Mamas Freisprechung. Zum Abschluss was Erfreuliches: Zauberstab heißt im Französischen baguette magique.
UNSERE KOLUMNISTIN ALEXANDRA-MARLÈNE PUCHNER
Die Kunsthistorikerin und Literaturwissenschaftlerin lebt in Salzburg und hat ein Herz für die kleinen und kuriosen Dinge des Lebens.
20er 27 FEUILLETON
APROPOS – In jeder Ausgabe fädelt Alexandra-Marlène Puchner die Perlen der Assoziationskette für uns auf.
Konzerte, Kunst und Kuchen
Ein Fest des achtsamen Musikgenusses gibt es zwischen 17. und 21. Mai in Innsbruck und Wattens: Die genreübergreifende Reihe „listening closely“ soll Hörgewohnheiten erweitern und Begegnung ermöglichen.
Tirol wird mit einem interessanten Konzept rund um das Label „Neue Musik“ bereichert: Thomas Larcher, Gründer der Klangspuren Schwaz und langjähriger Leiter des Kammermusikfestivals Musik im Riesen (Wattens) lässt mit der Reihe „listening closely“ aufhorchen. An verschiedenen Orten in Innsbruck und Wattens soll musikalisches Wissen anhand von Konzerten, Gesprächen und Bezügen zu anderen Kunstformen vermittelt und erneuert werden. „Wenn man ein Musikstück zum ersten Mal hört, ist es – zumindest für einen selber – immer neue Musik“, sagt Larcher über Wiederaufführungen alter Kompositionen. Umgekehrt seien in jedem neu komponierten Werk immer auch Elemente älterer Musik enthalten. Es gehe darum, diese musikalischen Verbindungen über die Zeiten hinweg aufzuzeigen.
Gleichzeitig wird die Veranstaltungsreihe selbst ein gänzlich neues musikalisches Werk entstehen lassen. Im Rahmen von „listening closely“ schreibt der 1996 geborene Komponist Erwan Borek ein Auftragswerk. „Die Förderung junger
heimischer Talente ist uns ein Hauptanliegen“, sagt Friederike Gösweiner vom Veranstaltungsteam und verweist darauf, dass man als Musiker in der klassischen Musikszene hauptsächlich auf Auftragskompositionen angewiesen ist. Borek, ursprünglich Kitzbüheler, lebt in Oberösterreich und ist in seiner Herkunftsregion kaum mehr präsent. „Das ist schade“, findet Larcher und möchte dem mit einer Uraufführung in Tirol entgegenwirken: „Borek schreibt interessante Werke, die sehr gut mit dem Publikum kommunizieren, die fassbar sind und trotzdem eine tiefe Substanz haben.“
Neben dem Komponisten werden auch die Interpretinnen und Interpreten gefördert, die Boreks Werk am 19. Mai zur Uraufführung bringen: die Tiroler Cellistin Valerie Fritz und der Südtiroler Pianist Josef Haller. Die beiden haben schon 2020 (gemeinsam mit Andreas
Trenkwalder) ebenfalls eine eigene Veranstaltungsreihe unter dem Titel „noiz//elektrorauschen“ ins Leben gerufen: „Wir wollen damit eine kulturelle Nische füllen, die in Tirol bisher noch nicht durch ein ganzjähriges Format abgedeckt war.“ Gemeint ist dabei elektroakustische Musik, die von Instrumentalkompositionen und Improvisatioen, über experimentelle bis hin zu elektronischer Klangkunst reicht. „Als Musikerinnen und Musiker bewegen wir uns zwischen den Stühlen und wollen weder in der rein klassischen noch in der rein experimentellen Musik zuhause sein. Da ist es nicht immer einfach, sich so zu positionieren, wie es vom Markt verlangt wird“, finden Haller und Fritz. Für beide sind offene Formate wie „listening closely“ essentiell, um auch ihrer eigenen Musikkarriere nachzugehen.
„Für junge Künstler ist es besonders wichtig, von der heimischen
Region unterstützt zu werden, damit sie dann über die Landesgrenzen hinauskommen“, meint Friederike Gösweiner. Ein Beispiel dafür ist Larcher selbst. Er hat erfahren, was es bedeutet, im jungen Alter gefördert zu werden. Einer der drei bespielten Orte des Festivals ist das ORF-Studio 3, wo ihm als Jugendlicher viele Auftritte und Produktionen ermöglicht wurden. „Für mich ist das ein Zurückkehren in eine sehr vertraute Umgebung. Der Ort, wo vieles begonnen hat und wo es nun zu einer Fortsetzung kommt.“ Seit seiner Gründungszeit sei im Studio 3 ein wesentlicher Teil der Tiroler Musikgeschichte geschrieben worden.
Auch außerhalb Innsbrucks sind Veranstaltungen geplant. Den Organisatorinnen und Organisatoren ist der Stellenwert der Regionen für Kulturveranstaltungen bewusst: das Kulturprogramm solle sich nicht nur an der Hauptstadt orientieren. Als Hauptveranstaltungsort dient das Business-Building Brandgut, ein Bürogebäude in Wattens. „Wir wollen die Musik mit besonderen räumlichen Atmosphären reagieren lassen“, sagt Gösweiner. Sie sei schon gespannt
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„Das Publikum soll neue Formen des Zuhörens erleben.“
THOMAS LARCHER
Die Cellistin Valerie Fritz und der Pianist Josef Haller werden Erwan Boreks Komposition spielen. © Florian Fritz
Text : BRIGITTE EGGER
darauf, wie wohl eine Komposition von Arvo Pärt in einem modern gestalteten Bürogebäude klingen mag. Als Kontrast dazu wird ein Ballsaal aus dem 19. Jahrhundert zum Erklingen gebracht – das Herzstück des Traditionsgasthaus es „Neuwirt“ in Wattens, der vom Kulturverein Grammophon betrieben wird und eine besondere Ausstrahlung hat.
Offen ist auch die inhaltliche Programmgestaltung: Darin werden Brücken zu zeitgenössischen Musikstilen und anderen Kunstformen geschlagen – zum einen, um junges Publikum wieder auf klassische Musik neugierig zu machen, zum anderen, um das Stammpublikum der Kammermusik für Modernes zu begeistern. Außerdem biete es einen Mehrwert, sich nicht nur auf ein Genre zu fokussieren: „So wird es dem Publikum ermöglicht, sich assoziativ mit Musik zu beschäftigen und neue Formen des Zuhörens zu erleben“, sagt Larcher. Ko -
Freier Eintritt für Berechtigte
Die Konzerte der Reihe „listening closely“ können mit dem Tiroler Kulturpass kostenlos besucht werden. Die österreichweite Aktion „Hunger auf Kunst und Kultur“ ermöglicht Menschen mit geringem Einkommen die Teilhabe an Veranstaltungen. Der 20er ist Kooperationspartner, darum erhalten Sie diesen Pass auch bei uns im Büro – zu den garantierten Öffnungszeiten (Mo-Di, Do—Fr, 9.00—11.00).
Bei Interesse wenden Sie sich gerne vorab telefonisch an die Redaktion, unter: 0512/561152.
operiert wird dabei unter anderem mit den namhaften Künstlern Christoph Ransmayr, Wolfgang Muthspiel und Anselm Kiefer.
Auch wenn es vielleicht als solches anmuten mag, vermeiden es die Veranstalterinnen und Veranstalter bewusst, bei „listening closely“ von einem Festival zu sprechen. Es solle mehr einer Feier gleichkommen: „Eine Feier hat auch etwas Stilleres“, meint Gösweiner. Besinnliche Momente würden in der gegenwärtigen Auftrittskultur oft zu kurz kommen. So fördert der Verein neben klassischer und zeitgenössischer Musik auch sakrale Werke, also Vokal- und Instrumentalmusik aus mittelalterlich-religiösen Kontexten. „Ein Stück, das im elften Jahrhundert geschrieben wurde, kann für das heutige Publikum genauso modern klingen, wie ein neu komponiertes Werk“, sagt Larcher. Außerdem interessiere es ihn, Verbindungslinien vom Mittelalter bis in die Gegenwart zu ziehen und
diese fremd gewordenen Welten wieder neu hörbar zu machen.
Neben Musik und Worten steht Kuchen auf dem Programm. Das ist ein kleiner, aber nicht unbedeutender Aspekt der Veranstaltungen, der die Vorführungen genussvoll abrunden soll. „Zu einer Feier gehört auf jeden Fall auch das gemeinschaftliche Essen und Trinken“, meint Gösweiner, „weil es mit Gastfreundlichkeit zu tun hat, weil man dadurch ins Gespräch kommt und weil dadurch persönliche Momente ermöglicht werden.“ Das passe insbesondere zum intimen Rahmen kleiner musikalischer Ensembles, wie es der Name „listening closely“ bereits andeutet. Schließlich bezeichnet das Ganze eine Expedition in die Kunst des Zuhörens – der Musik und dem Gegenüber.
GENAU JETZT!
Innsbruck
29 20er FEUILLETON
Absolvent*innen der Universität Paris 8: Florence Cardenti, Romain Darnaud, Gilberto Güiza-Rojas, Florian Schmitt, Rachael Woodson. Eintritt frei. innsitu.at Innsbruck, eine Recherche. Die Ausstellung 29. März bis 15. Juli 2023, BTV Stadtforum
ARTSCHNITT – In jeder Ausgabe stellen wir aufstrebende Talente oder etablierte Größen der Malerei, Fotografie und Grafik vor. Das dreißigste 20er-Kunstposter stammt von Leonhard Angerer.
Die Berge sind sein Atelier
Leonhard Angerer fotografiert seit Jahrzehnten das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. So wurde der Künstler zum Kronzeugen für den Raubbau an seiner Heimat.
Vormittags kann Leonhard Angerer nicht telefonieren. Denn da ist er auf dem Berg. Wie jeden Tag. Am Nachmittag erzählt der Südtiroler Landschafts- und Architekturfotograf dann zufrieden von der Ausbeute seiner heutigen Tour: Mit Schi und seiner schweren Ausrüstung ist er die Plose hochgestiegen, den Hausberg von Brixen. Fliegende Seilbahnstützen im Wald fotografieren. Und verschreckte Greifvögel. „Es gab unzählige Hubschrauberflüge heute“, erzählt der Künstler. Die Stimmung habe ihn an einen Feldzug gegen die Natur erinnert.
Dass er den Neubau der bestehenden Kabinenbahn festhalten würde, wusste er im Vorhinein. Er werde kontrovers diskutiert in der Region, denn jede Bahn bringe neue Eingriffe, neue Waldschneisen mit sich. Angerer gehört zu jenen,
die keine zusätzlichen Umlaufbahnen im Land wollen, bestehende sollten nur modernisiert werden. Als negatives Beispiel zitiert er die neue Cabriobahn am Fuße des Rosengartens. Ein Naturfrevel, sagt er. Er selbst geht gerne zu Fuß in die Berge, weil er den Sport liebt, weil er sich in der Landschaft bewegen will und eine Verbindung zu ihr spürt. Wenn er eine Piste abfährt, dann nur einmal. Und wenn er sich inmitten von schifahrenden Massen aufhalten muss, weil er Fotos davon macht, „dann stresst mich das enorm“.
Doch der künstlerische Anspruch treibt ihn schon seit fast zwanzig Jahren immer wieder in verschiedene Schigebiete und auf Gletscher hinauf, „um die Veränderungen der Landschaft zu dokumentieren“. Veränderungen, die ihn stark berühren. Persönlich, weil er die Berge liebt. Und politisch, weil er die Ausnutzung seiner Umwelt nicht widerspruchslos hinnehmen will. „Die Landschaft ist unser Kapital. Aber wenn die Landschaft zur Ware wird, stört mich das. Und was mich stört, das fotografiere ich.“
In den Bildern, die der freischaffende Kunstfotograf macht, ist sein Ärger nicht direkt zu erkennen. Stattdessen transportieren die Fotos von geparkten Blechmassen an Talstationen, von Liftstützen im Fichtenwald, von betonierten Architekturen im Hang eine scheinbare Flüchtigkeit und Spontaneität – obschon Angerer seine Technik, den Umgang mit Licht und Perspektive seit 1968 perfektioniert hat. Erst bei genauem Hinsehen bildet sich in seinen subtil gewählten Ausschnitten die zweite, dritte Ebene heraus, hat man sich in dieser fotografierten Landschaft orientiert und sieht beispielsweise, dass der Schitou-
rengeher in kurzen Hosen ja gar nicht auf einem reinen Schneehang in der Frühlingssonne sportelt – sondern sich hinter ihm ein Meer aus Schneeschutzvlies ausbreitet. Es sind Bilder wie ein spöttisches Lächeln, das man nicht sofort zu deuten weiß.
Mit vermeintlicher Einfachheit arbeitet der Künstler auch bei Instagram, wo er seine Fotos in einer Art Werk-Tagebuch regelmäßig teilt: „Südtiroler Landschaft im März“ wäre ein klassischer Titel für einen braunen Schütthaufen aus dem Aushub des Brenner-Basis-Tunnel-Baus, den er seit 2007 fotografisch begleitet. Oder für die verloren wirkende Gruppe blauer Schneekanonen im Schotter – pardon, man sagt „Schneeerzeuger“. Angerer macht seine fotografischen Kommentare, aber liefert keine Definitionen. „Ich lasse gerne etwas frei, denn ich habe die Wahrheit nicht gefressen.“ Man könne auf die Landschaft auch anders schauen als er. „Wenn ich einen zugedeckten Gletscher sehe, erinnert mich das an ein Leichentuch“, sagt er. „Ein Touristiker freut sich wahrscheinlich, weil der Schnee darunter geschützt ist.“ Und obwohl er sich mit seinen selbstgewählten Fußmärschen auf der Seite der Guten wähnen könnte, sieht er sich ebenfalls als Tourist, wenn er zum wiederholten Mal auf der Insel Elba urlaubt. „Ich bin selbst ein Konsument von Landschaft, sobald ich ans Meer fahre.“
Den Tourismus und die damit einhergehenden Zwänge lernte Angerer, der als Jahrgang 1953 schon pensioniert ist, hauptberuflich von innen kennen. Er unterrichtete Umweltkunde, Geographie und Naturwissenschaften an einer Hotelfachschule. Künstlerisch beeinflusste ihn das nicht negativ, im Gegenteil. Es habe es ihn befreit, die Fotografie nicht als Haupteinnahmequelle zu haben, seine zwei Kinder nicht damit ernähren zu müssen (der Sohn gründete übrigens
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Leonhard Angerer bei einer früheren Ausstellung im Innsbrucker Fotoforum. © privat
mit seiner Partnerin das bekannte Wiener PopDuo Anger, seine Tochter Alexandra macht unter dem Namen AliPaloma ebenfalls erfolgreich Kunst). „Ich konnte immer fotografieren, was ich will, und arbeiten, wie ich will“, sagt Angerer zufrieden. Einzelausstellungen produzieren will das Mitglied des Südtiroler Künstlerbundes hingegen nicht mehr so gerne. Zu anstrengend, findet er. Was angesichts seiner Beharrlichkeit, jahrelang an Themen und geographischen Gebieten zu arbeiten, verwundert.
Vielleicht haben die Fotos für ihn den Wert mehr im Prozess als in der Rezeption. Schon in der Kindheit und Jugend waren sie sein Ausdrucksmittel der Wahl. Sein Vater, von dem er ein riesiges Fotoarchiv besitzt, baute Kameras und leitete das Südtiroler Fototechnik-Unternehmen Durst. Angerer kam so schon früh mit den neuesten Entwicklungen der Fotografie in Berührung. „Wir hatten natürlich ein Labor zuhause, haben uns über Kameratechnik unterhalten, aber auch sehr viel über Fotografie“, sagt er. Sein Vater habe ebenfalls Landschaften fotografiert, sei aber nicht der Meinung gewesen, dass man Fotografie als politisches Medium nutzen sollte. Der Sohn war politisch hingegen sehr ak-
Wie falsche Bäume liegen die Seilbahnstützen auf dem Brixner Hausberg Plose. So sieht es zumindest der Künstler.
tiv: Als junger Politik- und Soziologiestudent in Padua schloss Angerer sich Mitte der Siebziger einer außerparlamentarischen, weit links angesiedelten Bewegung an und engagierte sich für Themen wie Ausbeutung und Arbeitergesundheit, gerechte Entlohnung für Care-Arbeit und Gleichstellung. „Wir haben damals an der Uni schon Fragen der Migration und die Luftverschmutzung besprochen“, erzählt er. „Ein halbes Jahrhundert später muss ich feststellen, dass sich wenig getan hat.“
Seit 2005 dokumentiert er das Schmelzen der Gletscher, die deutsche Wochenzeitung Zeit nutzte seine Bilder damals, um den menschgemachten Klimawandel zu illustrieren. Heute sind dessen tödliche Folgen überdeutlich: Angerers 20er-Kunstposter zeigt einen Teil des Marmolada-Gletschers in den Dolomiten. Dort hat im Juli 2022 ein riesiger Eissturz eine Seilschaft erfasst, wobei elf Menschen starben und acht weitere schwer verletzt wurden. Der Fotograf hat genug italienische Politik erlebt, um zu wissen, dass selbst so ein tragisches Unglück eine bestimmte Gruppe von Verantwortlichen nicht zum Handeln bewegen wird.
„Aus der Sicht eines Kindes ist die Klimakrise eine reelle Bedrohung. Aus der Sicht eines alten Mannes nicht.“
Wohl aber für Angerer, denn er liebt den Schnee und die Schneelandschaften, die immer seltener werden. „Schnee ist eine Dominante in meinen Bildern und auch in meinen Träumen.“ Bestimmt hätten seine Bilder und ihre Symbolik immer ganz viel mit ihm zu tun, glaubt er. „Es kommt nicht alles aus dem Bewusstsein, was man so schafft.“.
REBECCA SANDBICHLER
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„Schnee ist eine Dominante in meinen Bildern und auch in meinen Träumen.“
WWW.INSTAGRAM.COM/ANGERERLEONHARD
© Leonhard Angerer
BLEICHE BERGE –ZWEITE HAUT LEONHARD ANGERER, MAI 2022
20er ARTSCHNITT 30 Leonhard Angerer
SCHATZ
Legendäre Clubs, abgedrehte Bands und kleine Revolutionen: Das Innsbrucker Subkultur-Archiv sucht solche Geschichten. Und erzählt davon einmal im Monat im 20er.
FC ART
www.subkulturarchiv.at
1 TIROLER KRISTALLE
SUCHE 31.3.23 – 28.2.24
WEIHERBURG ALPENZOO
Zeitgenössische Kunst und Kulturarbeit wird oft als progressiv und kritisch gesehen. Jedoch wird auch in diesem Feld die Ordnung der Gesellschaft deutlich. Besonders sichtbar wird dies am Beispiel der Geschlechterverhältnisse. Meist sind Männer mit ihren Arbeiten präsent. Solche Ordnungen aufzubrechen, war die Motivation des feministischen Kunstkollektivs FC ART.
Die Gruppe schloss sich ab 1991 in Innsbruck zusammen, um patriarchale Strukturen im öffentlichen Stadtraum sichtbar zu machen. Zum Gründungsteam gehörten Angelika Prem, Sandra Klein, Anka Noha, Andrea Braidt, Gabriela Jurina, Sabine Gaspari und Gudrun Pechtl. Letztere erzählt in einem Gespräch von der Motivation und dem Beginn von FC ART. Der Name selbst sei eine Anspielung an die Männerdomäne Fuß-
ball gewesen und wurde im künstlerischen Prozess immer feministisch verarbeitet. Begonnen hätten sie mit ihren Aktionen auf der Universität in Innsbruck, indem sie Lehrveranstaltungen mit feministischen Schwerpunkten organisierten: „Unser Punkt war, dass uns die Uni viel zu theoretisch war und wir einerseits versucht haben, Theorie mit Aktivismus zu verknüpfen. Wir haben dazu eine künstlerische und feministische Praxis gemacht. Das andere war, die Uni auch zu kapern. Wir haben durchgesetzt, dass wir eine Lehrveranstaltung nur für Frauen machen dürfen – Männer hatten keinen Zugang,“ erzählt Pechtl.
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SUBKULTURARCHIV TITEL DATUM
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Doch schnell wurde klar, dass die Universität nicht der richtige Ort für die eigene Arbeit war: „Wir wollten raus und wir wollten uns den öffentlichen Raum aneignen,“ so Gudrun Pechtl. Zusammen mit der literarisch-künstlerischen GrupTIROLER-LANDESMUSEEN.AT
Foto: Maria Kirchner
pe EFFI BIEST unterzogen sie den Stadtraum einer feministischen Analyse, denn dieser sei vor allem von Männern für Männer gestaltet. So organisierte EFFI-BIEST im November 1992 die Veranstaltungsreihe „Stadt der Frauen“. Im Zuge dieser Reihe konzipierte der FC ART im Innenhof der Hofburg eine Rauminstallation, die den Namen „Räume von untragbarem Gewicht“ trug und Teil der Ausstellung „fassungslose centimer.Art“ war. Darin wurden AngstRäume von Frauen verhandelt. Der Name der Ausstellung war wiederum ein Spiel mit der Gruppenbezeichnung FC ART, um das Kollektiv immer wieder neu in Szene zu setzen. Dazu organisierte die Gruppe auch Stadtführungen mit der, sich als
„autonome, schreibende Reiseleiterin“ verstehenden Itta Tenschert. Sie thematisierte anhand von 15 Stationen in Innsbruck die historische und gegenwärtige Lage der Frau. Dazu gehörte, die männlich geprägte Stadt zu markieren und durch feministische Interventionen zu problematisieren: „Wir haben uns mit Straßenamen, Denkmälern und mit verschiedenen Repräsentationsformen im öffentlichen Raum beschäftigt und uns gefragt, wie wir das kapern können.“ Dafür haben Personen von FC ART die Annasäule in der Maria-Theresien-Straße nachgestellt, um zu thematisieren, wie Frauen im öffentlichen Raum repräsentiert werden.
Auch dezidiert historische Themen arbeiteten sie künstlerisch auf. Unter dem Titel „furnierter chame.ART“ widmeten sie sich in Zusammenarbeit mit dem Autonomen Frauen- und Lesbenzentrum der weiblichen Geschichte der Dreißigerjahre. Pechtl erläutert: „Da hat es eine ganz starke Frauen und Lesbenbewegung gegeben, die durch den Zweiten Weltkrieg komplett zerstört wurde. Weshalb die damals schon radikalen Ansätze dann wieder verschwunden sind.“ FC ART hat sich auf die Musik und die Literatur ab 1930 bezogen und diese performativ verarbeitet.
Die Gruppe hinterfragte das Museum als Herrschaftssymbol. Wer ist drinnen? Wer draußen?
Neben dem feministischen und performativen Zugang war es der Gruppe wichtig, gemeinsam an einem Thema zu arbeiten. Es sollten nicht die einzelnen Künstlerinnen im Vordergrund stehen und in Erscheinung treten, stattdessen wurde der kollektive Arbeitsprozess in zahlreichen Projekten von FC ART deutlich. 1994 stellten sie Fragen von Körper und Identität und genderrelevante Themen unter dem Namen „fluktuierende cörper.ART – bodies made by fc.ART“ ins Zentrum. Für eine der bedeutendsten Aktionen schloss sich FC ART 1998 mit weiteren Künstlerinnen zur „xtra künstlerinnen kooperative“ und schufen eine Intervention am Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum. Ein Roter Teppich wurde über die Fassade und die Stiegen hinuntergestürzt, darauf stand: „Heimat bist du größer Söhne.“
So hinterfragte die Gruppe das Museum als Herrschaftssymbol: Wer will da hinein? Wer ist drinnen? Wer draußen?
FC ART hat bis 1998 den Stadtraum in Innsbruck aber auch in anderen öster-
reichischen Städten feministisch bearbeitet. „Wir wollten ja stören“, sagt Pechtl. „Wenn Menschen irritiert waren, dann war das für uns ein positiver Effekt, den wir erreichen wollten.“.
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Intervention der „x-tra künstlerinnen kooperative“ am Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum.
© Subkulturarchiv Innsbruck
Irritationen zu erzeugen und mit tradierten Rollenbildern zu brechen, war Ziel der Künstlerinnen.
© Subkulturarchiv Innsbruck
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FC-ART-Flyer, der die künstlerische Bandbreite der Gruppe verdeutlicht.
© Subkulturarchiv Innsbruck
Installation und Performance des feministischen Kunstkollektivs.
© Subkulturarchiv Innsbruck
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MAURICE MUNISCH KUMAR
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Schreiben als Themenverfehlung
Die österreichische Gastland-Bühne der Leipziger Buchmesse steht unter dem Motto „mea ois wia mia“. Ein Beispiel für die Qualität des kleinen Literaturlandes ist Büchner-Preisträger
Clemens J. Setz. In Leipzig hat er vor zwölf Jahren als Jungautor mit einem Erzählband überraschend in der Kategorie Belletristik gewonnen, sein neuer Roman „Monde vor der Landung“ ist wieder nominiert. Über einen vielschichtigen Autor, der nie auf Krawall setzt, aber kontrovers gelesen wird.
Text : CHRISTINA VETTORAZZI
Unabhängig vom Format, ob virtuell oder real, Clemens J. Setz erscheint bei Interviews und Auftritten dezent. Seine Kleiderwahl ist uneitel. Hier ein graues T-Shirt, dort ein Sweatshirt. Bei den Ted-Talks, die 2015 in Graz stattfanden, zieht er einen Pack Zettel aus der Tasche und räuspert sich erst einmal. Gemächlich entfaltet er das Papier und wirft noch einen prüfenden Blick auf die Projektion hinter sich. Dann stellt er sich vor: „Ja, hallo, mein Name ist Clemens Setz. Ich bin Schriftsteller. Das heißt, ich hab Bücher veröffentlicht mit hauptsächlich erfundenen Geschichten, aber ich hab nichts Bemerkenswertes getan, so wie die Sprecher vor mir.“
Heute, im Jahr 2023, hat der Autor zehn Literaturpreise, darunter auch den Berliner Literaturpreis, den Heinrich-von-Kleist-Preis sowie den renommierten Georg-BüchnerPreis, gewonnen. Für drei weitere wurde er nominiert, bei zweien kam er auf die Long- und bei vier weiteren auf die Shortlist. Dass Setz „nichts Bemerkenswertes“ getan habe, kann bezweifelt werden. Doch genau auf das Zweifeln und Hinterfragen scheint es der Autor generell anzule-
gen. So hat er mit „Monde vor der Landung“ im Februar einen Roman veröffentlicht, der vielleicht gar nicht, wie viele glauben, den Piloten, Autor und Verschwörungstheoretiker Peter Bender porträtiert, sondern das Nicht-Wissen an sich.
Setz selbst sah sich bei der Recherche über die reale Person Peter Bender ebenfalls mit der Mangelware Wissen konfrontiert. Denn über Bender gab es wenig Literatur. Doch auch daraus entwickelte sich schließlich die Leidenschaft des Autors für die Rekonstruktion dessen Lebensgeschichte. Kennengelernt hatte er Bender ursprünglich durch einen Nebensatz in einem Essay, den er im Jahr 2010 gelesen hat. Aus Neugierde sei er dem Hinweis nachgegangen und habe die Geschichte dann zwölf Jahre lang verfolgt, bis sie nun veröffentlicht wurde und, zumindest im deutschsprachigen Raum, auch Wellen schlägt.
Die Figur Peter Bender ist radikal, kompromisslos, manchmal bewusst unehrlich und mit einem handfesten
Verfolgungswahn ausgestattet. Er richtet sich die Welt gern, wie sie ihm gefällt. So verteilt er das duftende Make-up seiner Affäre sorgfältig auf den Sachen seiner Frau. Denn jene hat den Geruch schon misstrauisch bemerkt. Dann wieder verdächtigt er den Wirt eines Vortragssaals, dass er ihn mithilfe der untergehenden Sonne während seiner Rede bewusst gestört habe. Vor allem ist Bender allerdings besessen von der Vorstellung, dass die Menschen innerhalb und nicht außerhalb der Erdkugel leben. Und diesen Gedanken versucht er mithilfe von allerlei Schriften und Predigten in die Welt hinauszutragen.
Der Assoziationen, die so ein Thema nach drei Jahren Corona-Pandemie mit sich bringt, ist sich Setz durchaus bewusst. Den Entstehungsprozess des Romans hätten die damaligen Ereignisse allerdings nur am Ende, in der Überarbeitungsphase, geprägt. „Es hat die Arbeit am Roman nicht entscheidend bestimmt“, erklärt der Autor und fügt hinzu: „In gewisser Weise ist das auch ein
Glück, da ich das Buch heute, nach der extrem lauten und allgegenwärtigen Berichterstattung, nicht mehr schreiben könnte.“
Die Medien verorten das Buch zumindest teilweise doch im neuesten Kontext. So sagt eine Standard-Redakteurin im Interview: „Interessant, dass Sie sich schon so lange damit beschäftigen und das Buch zu einem Zeitpunkt erscheint, an dem das Wort ‚Querdenken‘ in aller Munde ist.“ Klaus Nüchtern vom Falter scheint wiederum wenig begeistert: „Eine stringente Erzählung, die jenseits loser Bezüge zum querulierenden Querdenkertum der Gegenwart
ZUR PERSON
Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren und ist auch dort aufgewachsen. Mittlerweile lebt er in Wien. Seine Heimatstadt präge sein Schaffen aber bis heute: „Ich glaube, ich werde immer irgendwie über mein Leben in Graz schreiben. Es ist schon das Fundament für alles Weitere.“ Und er verrät dem 20er: „Ja, ein längerer autobiografischer Roman möchte unbedingt entstehen und drängelt ständig im Hintergrund. Mal sehen, ob er mit zunehmender Arbeit lebensfähig bleibt.“
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Aus einem Nebensatz in einem Essay wurden für Setz zwölf Jahre Recherche.
Clemens Setz gibt gerne Rätsel auf. © Max Zerrahn
auf eine These zusteuerte, ergibt sich daraus nicht.“ Diese kritische Lesart steht allerdings keineswegs allein. So schreibt Tobias Rüther in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung von einem Lektürerausch und Florian Eichel in der Zeit: „Trotz dieser Unübersichtlichkeit gelingt es dem neuen Roman von Setz, den Leser in seinen literarischen Kaninchenbau zu locken.“ Das besagte Chaos entspringe dabei der poetisch-wissenschaftlichen Übergenauigkeit des Autors. Diese kann man auch an der Recherchedauer ablesen, wobei Setz relativiert: „Ich habe nicht kontinuierlich daran gearbeitet.“
Vor ungefähr einem Jahr nahm Setz an den Mosse-Lectures der Humboldt-Universität zu Berlin teil und sprach dabei auch über das Konzept der Themenverfehlung, das als Gegenmittel jener Blindheit gewertet werden könne, die sich einstelle, wenn viele Menschen glauben, sie seien über bestimmte Themen gut informiert. Setz erklärte, vor einer überfüllten Bücherwand sitzend, dass er versuche, das Thema der Verschwörungstheorie bewusst und doch präzise zu verfehlen.
Denselben Trick in anderer Gestalt angewendet, könnte man in „Monde vor der Landung“ erkennen. Obwohl das Buch von einem Verschwörungstheoretiker handelt, geht es doch nicht um die eigentlich große Verschwörungstheorie der beschriebenen Zeit. Immerhin pendelt die Handlung zwischen den Weltkriegen und erfasst, wenn auch nur nebenbei, die großen Feindbilder, Irrtümer und Verbrechen der Zwanziger- und Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts. Und daneben wirkt die im gegenwärtigen Kontext problematisch anmutende Gestalt Benders mit ihrer HohlweltTheorie doch reichlich harmlos.
Setz denkt in seiner Geschichte somit einmal um den Block und für Außenseiter kann er sich ohnehin begeistern. Das bewies der Autor schon mit seinen Romanen „Indigo“, „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ und nun erneut mit „Monde vor der Landung“. Das Buch zeichnet vor allem ein sympathisches Bild von Bender. Gerade durch die
detaillierte Schreibweise wirkt es, als wolle es sich von der Seite ablösen und ins Leben treten. Die schrullige Lebensweise und andersartige Perspektive mancher Charaktere versteht Setz dabei nicht als Makel: „Wer etwas sieht, aber etwas anderes dazu denkt als die Mehrheit, ist schon einmal in gewisser Weise interessant. So ein Mensch spürt augenblicklich den Zug der Marionettenfäden, die der Rest in diesem Punkt nicht mehr spürt.“
„Monde vor der Landung“ ist weitaus mehr als nur ein Roman, dessen Vergangenheitsbezug in die Gegenwart übergeht. Doch natürlich sollen alle Bücher auf ihren politischen Gehalt geprüft werden dürfen. Die Debatte ums Buch erscheint jedoch deshalb so bizarr, weil Setz selbst Hinweise liefert, wie sein Werk und möglicherweise seine ganze Existenz zu deuten ist. So gibt er als ein großes schriftstellerisches Vorbild im Grazer Ted-Talk ein Alienwesen an, das bereits auf einem Obduktionstisch lagert. Denn völlig egal, wie lange und intensiv die Menschen dieses Wesen untersuchen, es ist und bleibt ein ewiges Rätsel.
Auf der Gastlandbühne
Das österreichische Programm auf der Leipziger Buchmesse betont die literarische Vielfalt unter dem Motto „mea ois wia mia“. Einige spannende Termine im Schnellüberblick.
Ausgewählt von CHRISTINA VETTORAZZI
Bastarke Folklore
Musikalische Lesung mit Robert Prosser und Lan Sticker
Erneut wird es ein Zusammenspiel von Robert Prosser (siehe Interview auf Seite 38) und Lan Sticker geben. Sie haben schon vor zwei Jahren gemeinsam die Platte „Drumbadour“ veröffentlicht und damit Prossers Romane „Gemma Habibi“ und „Phantome“ vertont. Nun ist seine Neuerscheinung „Verschwinden in Lawinen“ an der Reihe.
27.4., 10.30–11.00
Die Würde der Empörten
Gespräch mit Lukas Meschik
In seinem neuen Roman „Die Würde der Empörten“ beschreibt Lukas Meschik eine Gesellschaft, die sich zunehmend radikalisiert und Gewalt offener gegenübersteht. Zur gleichen Zeit schränkt der Staat die Bevölkerung immer mehr ein.
27.4., 16.30–17.00
Zwischen Engagement, Aktivismus und Literatur
Gespräch mit Tanja Maljartschuk
Monde vor der Landung
Gespräch mit Clemens J. Setz
Der Autor von „Die Bienen und das Unsichtbare“ hat diesen Frühling seinen neuen Roman „Monde vor der Landung“ veröffentlicht. Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse.
28.4., 12.30–13.00
MONDE VOR DER LANDUNG
Clemens J. Setz, Suhrkamp 2023
Es ist mit rund 500 Seiten ein für Setz'sche Verhältnisse nur mittelmäßig dicker Roman, der sich liest wie ein guter Film. Obwohl, zumindest am Anfang, gar nicht so viel passiert. Doch ist Setz ein begnadeter Erzähler, der die unscheinbarsten Details in die spannendsten Erlebnisse umwandelt. Es geht um den Verschwörungstheoretiker Peter Bender, im Kontext der Weltkriege. Eine interessante Thematik, natürlich. Doch den Stil, den muss man wirklich erlebt haben!
Die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk schreibt seit einem Jahrzehnt gegen den Krieg an. Wie umgehen mit dem Schmerz, der Wut und der Sprachlosigkeit, die ein gewaltsamer Konflikt heraufbeschwört?
27.4., 17.00–17.30
Wozu literarische Reportage in Zeiten von Fake News?
Gespräch mit Barbara Zeman, Sara Geisler & Gabriel Proedl
Die Autorin Barbara Zeman, die Chefredakteurin von „Fluter“, Dummy- und Fleisch-Autorin Sara Geisler und der Zeit-Reporter Gabriel Proedl werden sich über den Wert der literarischen Reportage unterhalten.
28.4., 11.30–12.30
Ausstellung mit zwei Fotoserien des Künstlers Marko Zink mit Texten von Elfriede Jelinek
Marko Zink lässt seine zwei Fotoserien „In der Maschine“ und „Tragödien“ in unterschiedlichen Räumen für sich stehen. Die Klammer der beiden Arbeiten bilden die Texte von Elfriede Jelinek, die für jene Serien entworfen und eingesprochen wurden.
27.4.–30.4.
Meeresbrisen aus Tirol
Gespräch mit Carolina Schutti „Es könnte alles besser sein.“ Dieser Satz beschreibt die verzweifelte Ausgangsituation einer alleinerziehenden Mutter nicht einmal mangelhaft. Carolina Schutti hat mit „Meeresbrise“ einen Roman vorgelegt, der über Generationen hinweg greift und mit Grenzen spielt.
30.4. 15.00–15.30
37 20er FEUILLETON
„Sie sehen aber jetzt schon ganz anders aus“
PERFORMANCE
Auf der Leipziger Buchmesse gibt Robert Prosser gemeinsam mit dem Musiker Lan Sticker die Performance
„Bastard-Folklore!“ in Anlehnung an seinen aktuellen Roman. Die Veranstaltung moderiert Katja Gasser, künstlerische Leiterin des österreichischen Gastlandprojekts. Gastlandbühne, 27. 4., 10.30 bis 10.55.
Ein Dorf ist ein perfekter Kontext für Außenseiter
Der Tiroler Schriftsteller Robert Prosser im Interview über sein aktuelles Buch „Verschwinden in Lawinen“, die Bedeutung von Text und Performance, seine Kindheit in Alpbach und wie ihn deutscher Hip-Hop befreit hat.
Herr Prosser, Ihr neues Buch „Verschwinden in Lawinen“ ist kürzlich beim Salzburger Verlag Jung und Jung erschienen. Was bedeuten Lawinen für Sie als Tiroler und wofür stehen sie in der Geschichte?
Die Lawine ist einmal die Erinnerung, dass Berge auch gefährlich sind – das unterschätzen viele, sowohl Einheimische als auch Touristen. Berge sind eine schwer einzuschätzende Landschaft. Es ist neben der ganzen Hüttengaudi und TirolWerbung eben auch ein riskanter Ort. Und sie können Schicksalsschläge bedeuten, so wie im Buch mit dem Verschwinden des Jungen und des Großvaters. Und dann gibt es einige metaphorische Lawinen im Buch. Eine davon ist der Tourismus, der über das Dorf rollt.
Die Geschichte erzählt von einem Tiroler Bergdorf, in dem zwei junge Einheimische von einer Lawine verschüttet werden. Es sind Tina und Noah, die Nichte von Protagonist Xaver, und ihr Freund. Auf den ersten Blick geht es um diese beiden Figuren, aber eigentlich handelt das Buch von Xaver. Wer ist Xaver? Verglichen mit jenen aus anderen Büchern ist Xa-
ver die Figur, die mir am stärksten ans Herz gewachsen ist. In einem der ersten Entwürfe war es die Ausgangsidee, dass jemand, der in einem Dorf aufgewachsen ist, weggeht und wieder zurückkommt – quasi als Außenseiter in dieses Tal zurückkehrt. Der Topos des Rückkehrers kommt in der Literatur oft vor. Es wäre die einfachste Lösung gewesen und nah an mir selber und an meiner Geschichte dran. Dann ist aus Xaver eine Figur geworden, die aus dem Dorf stammt, aber nie weggegangen ist. Diese Entwicklung fand ich viel spannender: Was macht es mit jemandem, wenn man nie aus einer Gemeinschaft weggeht, aber ein Außenseiter innerhalb dieser Gesellschaft ist? Xaver hat mit den verschiedenen Sphären eines Dorfes zu tun, mit den Bauern, mit dem Gastgewerbe oder dem Lift, aber ist keiner Sphäre so richtig angehörig. Er sucht seine Rolle und ist innerlich entwurzelt. Eigentlich ist der Protagonist jemand, der in dieser engen Welt des Dorfes auf der Suche ist.
Sie stammen selbst aus einem kleinen, touristischen Dorf am Fuß des Gratlspitz, wie war Ihr Aufwachsen in Alpbach?
Im Nachhinein sehr ambivalent, zum einen ha-
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Interview : NINA ZACKE
Der Tiroler Autor Robert Prosser hat einen neuen Roman veröffentlicht. © Günter Mik
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be ich mich sehr frei gefühlt – mit zehn, elf Jahren habe ich viel gelesen, und Alpbach ist ein perfekter Raum, um in diese Fantasiewelten von Karl May und Herman Hesse einzutauchen. Zum anderen war die Dorfgemeinschaft strenger als heute.
Was heißt strenger?
Es war alles sehr patriarchal, ein sehr bäuerliches Umfeld. Ich habe mich eher als Außenseiter gefühlt. Allerdings ist ein Dorf auch ein perfekter Kontext für Außenseiter. Die große Befreiung war mit 15 Jahren der Hip-Hop. Das war 1996 oder 1997, als der Deutschrap seinen Höhepunkt erreichte. Ich habe andere Leute aus der Umgebung kennengelernt, die gerappt, gesprayt oder aufgelegt haben. Durch diese Szene habe ich wahnsinnig viel gelernt – etwa außerhalb des Dorfes zu denken und zu sein, und was es heißt, selber einen Text zu schreiben.
Graffiti war Ihre erste künstlerische Ausdrucksform. Beim Sprayen geht es viel um Angst und deren Überwindung. Wie gehen Sie persönlich mit Angst um?
Eine gute Frage. Als Rapper war ich sehr schlecht. Was beim Rappen allerdings spannend war, war dieser Moment, wenn man die Bühne betritt und seine Angst überwindet. Beim Sprayen war das noch einmal heftiger. Dass man es wirklich durchzieht, weil man meistens allein ist. Das waren Erfahrungen, die im Nachhinein als Autor wichtig waren. Es geht darum, die Angst zu spüren und auszuhalten. Dieser Moment ist künstlerisch sehr ergiebig und interessiert mich sehr. Das Buch „Gemma Habibi“, in dem es viel ums Boxen geht, handelt von diesem Moment der Angst im Ring oder vor dem Anderen und hat mit Auslieferung zu tun.
Sie boxen selber. In einem Interview haben Sie gesagt, dass man beim Boxen vor allem Demut braucht. Warum?
Weil Boxen viel mit Niederlagen zu tun hat. Weil man wirklich oft verliert, sehr oft. Es geht darum zu lernen, mit Niederlagen umzugehen. Und trotzdem weiterzumachen und daraus zu lernen.
Und wann kam das Schreiben?
Als ich mit etwa 22 Jahren in Innsbruck eine legale Wand gesprayt habe, gab es diesen einen Moment. Ich wusste einfach, dass ich mit dieser Kunstform fertig bin, habe wortwörtlich die Spraydosen fallen gelassen und die Wand nicht fertig gemalt. Danach war ich auf der Suche nach einem neuen künstlerischen Ausdrucksmittel und langsam ist die Literatur wiedergekommen. Das war in meinem Fall sehr eng verknüpft mit dem
Reisen. Das Unterwegssein als Backpacker und das Schreiben war miteinander verwoben.
Sie haben damals mit Poetry Slam begonnen. Wie war diese erste Zeit auf der Bühne, wenn Sie heute zurückblicken?
Durch die Eindrücke beim Reisen war das Verlangen sehr stark, darüber zu schreiben. Zuerst habe ich Gedichte geschrieben. Slam war für mich damals ein sehr guter Einstieg, um mit den Texten vor ein Publikum zu gehen.
Die Bühne und die Performance sind bis heute geblieben. Laute Performances und einsames Schreiben sind sehr konträr. Brauchen Sie den Ausgleich?
Einerseits gibt es das Buch, also den Text, andererseits ist es eine wichtige Frage geworden, was ich mit dem Text machen, wie ich ihn aufführen kann. Ich mag beides, diese Konzentration und Einsamkeit beim Schreiben und das Ausbrechen daraus beim Auftreten.
Heimfahrt mit Köhle
„Lukas ist nicht in einem begüterten, bildungsbürgerlichen Haushalt mit Bibliothek, sondern in einem Talkessel mit Transitverkehr aufgewachsen. Gewissen Dingen wird er immer hinterherlaufen." Besser, als von der Vergangenheit eingeholt zu werden, findet Markus Köhles Protagonist in seinem neuen Roman „Das Dorf ist wie das Internet es vergisst nicht“ (Sonderzahl, 2023). Darin erzählt der langjährige 20erKolumnist die Geschichte eines sozialen Aufstiegs, der doch nie bedeutet, dass man die angestammte Ordnung ganz verlassen könnte.
VERSCHWINDEN IN LAWINEN
Robert Prosser, Jung und Jung 2023
In einem Tiroler Bergdorf herrscht Ausnahmezustand: Zwei Einheimische sind von einer Lawine verschüttet worden. Während Tina im Krankenhaus liegt, fehlt von ihrem Freund Noah vorerst jede Spur. Auch Xaver hilft beim Suchen mit. Beim Suchen nach Noah und sich selbst. Es ist eine Identitätssuche, eine Geschichte, die von Heimat und Loslassen, aber auch von Tradition und der Frage nach ihrer Berechtigung erzählt.
Robert Prosser lebt in Alpbach und in Wien. Mit seinem vorletzten Buch „Phantome“ (2017) stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. „Verschwinden in Lawinen“ ist sein erster Roman bei Jung und Jung.
Das Dorf, aus dem Lukas kommt, hat der freie Texter und Poetry-Slam-Künstler eigentlich längst hinter sich gelassen, auch wenn er dort mittlerweile so etwas wie eine Berühmtheit ist. Doch dann erreicht ihn dieser Brief aus der alten Heimat und löst bei ihm schon auf der Zugfahrt Richtung Tirol eine durchwachsene Reise in die Kindheit aus – vom ohrenwuzelnden Pfarrer über die kecke Post-Wirt-Tochter Corina und die eigene Akne-Plage, bis zu den Monaten, in denen das familäre Speckaufschneiden zugunsten von dringend nötigen Opel-Kadett-Reparaturen ausfallen musste, weil das Haushaltsbudget nicht beides hergeben würde. Jetzt will seine Gemeinde ihm also einen Preis verleihen und Lukas muss literarisch überzeugend auftreten, um seine Franz-Skulptur entgegenzunehmen. Auf dem Weg dorthin trifft der Autor auf österreichische Realitäten in Form seiner Mitreisenden, die selbst keineswegs auf den Mund gefallen sind.
Markus Köhle erforscht in dialogischen und lexikalischen Elementen das provinzielle Österreich in einem assoziativen Strom aus Szenen, die wie Aussichten auf einer langen Zugfahrt vorbeifliegen und zu einer Erinnerungslandschaft verschwimmen. Wäre man nicht so sicher, immer ein Stadtkind gewesen zu sein, hätte man schwören können, den Pool von Nassereith glitzern zu sehen.
39 20er FEUILLETON
„Es geht darum, die Angst zu spüren und auszuhalten. Dieser Moment ist künstlerisch sehr ergiebig.“
ROBERT PROSSER
Mehr Liebe, weniger Narzissmus
Leonardo DiCaprio fühlt nichts. Der Plot um Leo und seine kurzen Liebesbeziehungen mit jungen, bildhübschen Topmodels führt Liv Strömquist in ihrer Graphic Novel auf die Suche nach Liebe in Zeiten des Spätkapitalismus. Am Tiroler Landestheater ist der Comic als Vorlage für das Theaterstück „Ich fühl’s nicht“ unter der Regie von Susanne Schmelcher erstmals in Österreich auf der Bühne zu sehen. Aha-Momente und Lacher inklusive.
Eine attraktive Mittzwanzigerin in einer extravagant glänzenden Bomberjacke mit aufgesticktem Gesicht, herausgestreckter Zunge und rotem Lolli in Herzform, auf dem „Ich fühl’s nicht“ steht. Schwarz auf Rot. Das ist das Cover der Graphic Novel mit dem gleichnamigen Titel der schwedischen Comiczeichnerin Liv Strömquist, eine der aktuell einflussreichsten feministischen Comiczeichnerinnen.
Ausgehend von den kurzweiligen und stetig wechselnden Liebesbeziehungen von Schauspieler Leonardo DiCaprio mit allesamt jungen, bildhübschen Topmodels begibt sich Strömquist auf die Suche nach der Liebe im Zeitalter des Spätkapitalismus. Auf einer der ersten paar Seiten liegt der gezeichnete Leo mit angedeutetem Schnurrbart und LA-Print auf dem T-Shirt auf dem Boden, über ihm steht in Großbuchstaben: Ich fühle nichts. „Oder doch, sicherlich fühlt er etwas!! Aber nicht sehr stark“, schreibt die Schwedin darunter und notiert weiter: „Und das ist total ok!!! Manche Soziologinnen und
Philosophinnen sind der Ansicht, dass das Gefühl ‚sich zu verlieben‘ in der heutigen Zeit immer außergewöhnlicher geworden ist.“ Und die studierte Politikwissenschaftlerin will wissen, warum.
Was läuft da schief? Sind die Gründe in der Konsumgesellschaft und ihrer Neigung zum Narzissmus zu suchen? In den Gesetzen der Biologie? Oder ganz einfach darin, dass der gute Leo noch nicht auf die richtige Seite gefallen ist? Auf ihrer teils philosophisch-soziologischen, teils popkulturellen Suche lässt Strömquist DiCaprio ebenso zu Wort kommen wie etwa Aristoteles, Kierkegaard, Illouz und den kleinen Prinzen von SaintExupéry. Dabei erzählt das Buch von Lebensweisheiten des sufischen Dichters Rumi, Self-Empowerment à la Beyoncé oder der Analogie des „Sich-Verliebens“ mit Dönerfleisch. Das ist nicht nur unwahrscheinlich klug und erhellend, sondern auch noch extrem witzig.
„Der Comic ist sehr vielseitig, etwas zwischen Donald Duck und Doktorarbeit“, beschreibt ihn Yael Hahn, eine der insgesamt vier Schauspielerinnen und Schauspieler im Stück „Ich fühl’s nicht“, das
am 1. April in Innsbruck Premiere gefeiert hat. Am Tiroler Landestheater ist der Comic nämlich als Vorlage für das Stück unter der Regie von Susanne Schmelcher erstmals in Österreich auf der Bühne zu sehen. Die Textfassung stammt von Schmelcher selbst, die ebenfalls Philosophie und Theaterwissenschaften studiert hat. Dabei war es eine der größten Herausforderungen „in die Tiefe der Gedanken einzusteigen“, schildert die Regisseurin. Denn es seien nicht nur witzige, popkulturelle Bilder. Strömquist suche mit uns nach etwas, sie meint, dass wir sehr ichbezogen seien und Menschen nicht als Menschen, sondern als Konsumgüter wahrnehmen. Für Susanne Schmelcher offenbart das Buch in erster Linie, dass der Kapitalismus auch in unbewusste Bereiche eindringt, wie etwa die Liebe. In eineinhalb Stunden Spiellänge gibt das Stück in einem mit mehreren Ebenen ausgestatteten Bühnenbild und mit fast vierzig Kostümen die verschiedenen Blickwinkel und Theorien des Buches wieder, ohne den Anspruch auf absolute Wahrheit zu erheben. Wer neue Gedanken aufschnappen und sich dabei fast totlachen möchte, ist hier genau richtig.
40 APRIL 2023 NR. 243 FEUILLETON
Text : NINA ZACKE
ICH
FÜHL' S NICHT Liv Strömquist, Avant Verlag 2020
„Der Comic ist sehr vielseitig, etwas zwischen Donald Duck und Doktorarbeit.“
YAEL HAHN
Florian Granzner als Mann mit einer Vorliebe für sehr junge Frauen. © Birgit Gufler
Eine meiner treuesten Leserinnen, meine Oma, fragt mich beim sonntäglichen Familienessen häufig, woher ich die Informationen für meine Listen habe, worauf die Antwort meist ist: aus dem Internet. Und mit Internet ist meist die freie Enzyklopädie Wikipedia gemeint.
Vor ihrer eher versehentlich passierten Entstehung als Spaßprojekt glaubte kaum wer daran, dass ihr Grundprinzip funktionieren könnte: nur auf gegenseitige Selbstkontrolle zu setzen, statt wie bei herkömmlichen Enzyklopädien ausschließlich Leute mit einer durch einen formalen Bildungsabschluss bestimmten Expertise als Schreibende zuzulassen. Und doch gibt es zwanzig Jahre später in 380 Sprachen exzellente Artikel zu nahezu allen erdenklichen Wissensgebieten.
Natürlich sollen Wikipedias dunkle Seiten nicht verschwiegen werden:
UNEASY LISTENING – Der Autor und Literaturwissenschaftler Martin Fritz schafft regelmäßig Struktur, wo keine ist. In Listenform.
Wikipedia-Artikel:
1. https://de.wikipedia.org/wiki/ Fearless_Bruisers
2. https://de.wikipedia.org/wiki/ Arthropleura
3. https://de.wikipedia.org/wiki/ Wiener_Opernball
4. https://de.wikipedia.org/wiki/ Haselmaus
5. https://de.wikipedia.org/wiki/ Nekrolog_(Tiere)
So ist (besonders bei politischen Themen) die Gefahr von (politisch motivierter) unausgewogener Darstellung groß. Und wie oft bei basisdemokratischen Projekten setzen sich nicht immer die besten Argumente durch, sondern häufig die
6. https://de.wikipedia.org/wiki/ Marsischer_Braunbär
7. https://de.wikipedia.org/wiki/ Xiu_Xiu
8. https://de.wikipedia.org/wiki/ Miley_Cyrus/Diskografie
9. https://de.wikipedia.org/wiki/ Louise_Michel
10. https://de.wikipedia.org/wiki/ Yasmin_Hafedh
stursten Argumentierer (ja, es sind meistens Männer) mit der meisten verfügbaren Zeit. Ich selbst bin diesbezüglich schon mit so bescheidenen Vorschlägen wie jenem gescheitert, Künstlerinnen als solche (statt als Künstler) zu bezeichnen –
KOMIK DES MONATS
an Nutzern, die den Vorschlag flugs zurückeditierten und die sonst nur Artikel zu Kriegsschiffen bearbeiten. Das als Gegenmaßnahme erdachte System von strikten Regeln und Hierarchien, das speziell die deutschsprachige Wikipedia prägt, führt nicht gerade dazu, dass sich Neulinge, die andere Sichtweisen einbringen könnten, besonders willkommen fühlen.
Doch wer (wie immer und überall sonst halt auch) Wikipedias Informationen mit zweiten oder dritten Quellen gegencheckt und sie als Ausgangspunkt für weitere Recherchen (statt deren Ende) sieht, verfügt mit ihr über das großartigste Wissenswerkzeug der bisherigen Menschheitsgeschichte. Und wir alle haben es in der Hand, sie vielfältiger, inklusiver, zutreffender, lustiger und herzlicher zu machen.
41 20er FEUILLETON
Die Cartoon-Kolumne von Philipp Brunsteiner – Alltagsbeobachtungen in feinen Strichen
Die letzten zehn von mir bearbeiteten
Matilda, die Museumskatze
Von Jono Ganz
Midas, 2023
Während Besuchermassen durch das Museum strömen, lümmelt sie schläfrig in ihrem Katzenbett – manch einer hält sie gar für die faulste Katze der Welt. Doch abends, wenn die Türen schließen, geht Matilda auf Erkundungstour. Was bedeuten die Kunstwerke eigentlich? Wie entstehen Bilder? Und was braucht man, um Künstlerin oder Künstler zu werden? Die Museumskatze nimmt uns mit auf eine Reise, die glücklich, hungrig und nachdenklich zugleich macht. Kann sie bei so vielen Inspirationen einen Weg finden, selbst zur Künstlerin zu werden? Nicht nur für Kunst- und Katzenfans ein wunderbares Buch.
Zum Weltkinderbuchtag
Erinnern auch Sie sich noch an diese eine Geschichte, die Sie nicht schlafen ließ und die Sie immer und immer wieder hören wollten? Manche von uns sind mit dem kleinen Prinzen zu Bett gegangen, andere mit Momo oder der feuerroten Friederike – wir widmen diese Couch den fantastischen Kinderbüchern, die es schaffen, wunderbare neue Welten zu eröffnen, auch wenn es draußen gerade wieder grau ist. Möge jeder Tag ein Kinderbuchtag sein (nicht nur der 2. April)!
AUFGEHORCHT
Young Rebels: 25 Jugendliche, die die Welt verändern!
Von Benjamin Knödler, Christine Knödler
Hanser, 2020
25 Porträts von jungen Menschen, die etwas wagen: Sie kämpfen für die Umwelt, Minderheiten und Gleichberechtigung. Sie engagieren sich gegen die Waffenlobby, Diskriminierung und Korruption. Vor allem aber ermutigen sie, die Welt besser zu machen. So wie der Viertklässler Felix Finkbeiner, der die Idee hatte, dass Kinder in jedem Land eine Million Bäume pflanzen sollten. Oder die 14 Jahre alte Netiwit Chotiphatphaisal, die eine Zeitung gründete, um mehr Mitsprache in ihrer Heimat zu schaffen. Ein, Buch, das Größe zeigt und demonstriert: Für Veränderung ist man nie zu jung!.
Songs und Alben, die man im April gehört haben sollte: Wild wie unser Dossier und neu für die Ohren. Ausgesucht von Nina Bogner.
SIDE A
# Deichkind, In der Natur: „die Blicke von den Tieren sind mir zu passiv-aggressiv“
# Nathan Micay, 11.11.90: Möwen am Meer # Chancha via Circuito, Jardines: ein Garten-Song aus Buenos Aires.
# Caribou, Bees: Nicht neu, sorgt aber für Frühlingsgefühle.
# Slowly Rolling Camera, Nature‘s Ratio: Im Takt der Natur.
# Mystic Jungle, Night of Cheetah: Funk aus dem Dschungel von Neapel
Zuhause in unserer Buchhandlung
Von Petra Hartlieb
Carlsen, 2023
Tonis Eltern haben eine Buchhandlung und das heißt, dass Toni all die Bücher gehören, die dort stehen! Naja, fast: Jedenfalls kann niemand Bücher so gut heimlich lesen und unbemerkt zurückstellen wie Toni. Schon ihre eigene Geschichte über die Gründung einer Buchhandlung und das neue Wohnzimmer der Familie zwischen deckenhohen Bücherregalen schrieb Petra Hartlieb in schlagfertig wie humorvollem Ton auf. Jetzt hat sie ihr erstes Kinderbuch verfasst, das nicht weniger vergnüglich ist: Auf die junge Protagonistin warten jede Menge Einhörner, Drachen und Zauberlehrlinge. Wer möchte da nicht eintauchen?.
Wie die Berge in die Welt kamen
Von Mariam Jörer, Sabine Aigner, Stefanie Mairhuber Eigenverlag, 2023
# Trettmann, Blue Sky: Trettis Abschiedsplatte von Kitschkrieg. # GoGoPenguin, Parasite: Inspiration von elektronischer Musik umgesetzt mit akustischen Instrumenten. # Sofia Kourtesis, Madres: „If you get lost, follow your mother's voice.” # Grandbrothers, Daybreak: „Late Reflections” kommt am 14. April. # NOCUI, Anomie: “from latin rhythms to electronica breakbeats and orchestral bliss” # Ultraflex, Under the spell: Skandinavischer Elektropop mit 80er-Synth-Wave, 70er-Filmmusik und Eurodance.
SIDE B
„Oh Schreck, die Berge sind Weg!“ Nichts als gähnende Leere weit und breit. Also begibt sich Schlimper Klimper, der Hüter der Berge, auf eine abenteuerliche Suche in die Welt, um herauszufinden, wo die schroffen Freunde geblieben sind. Ob er sie finden und mit ihnen zurückkehren wird? Drei Tiroler Autorinnen, die selbst den Bergen verfallen sind, zeigen einen fanstastischen Blick auf die Bergwelt, die so viele Wunder beheimatet. Denn: Wer sagt eigentlich, dass die Berge schon immer hier waren? Vielleicht waren sie früher ja ganz woanders ....
APRIL 2023 NR. 243 42 COUCH