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Ein Dorf ist ein perfekter Kontext für Außenseiter

Der Tiroler Schriftsteller Robert Prosser im Interview über sein aktuelles Buch „Verschwinden in Lawinen“, die Bedeutung von Text und Performance, seine Kindheit in Alpbach und wie ihn deutscher Hip-Hop befreit hat.

Herr Prosser, Ihr neues Buch „Verschwinden in Lawinen“ ist kürzlich beim Salzburger Verlag Jung und Jung erschienen. Was bedeuten Lawinen für Sie als Tiroler und wofür stehen sie in der Geschichte?

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Die Lawine ist einmal die Erinnerung, dass Berge auch gefährlich sind – das unterschätzen viele, sowohl Einheimische als auch Touristen. Berge sind eine schwer einzuschätzende Landschaft. Es ist neben der ganzen Hüttengaudi und TirolWerbung eben auch ein riskanter Ort. Und sie können Schicksalsschläge bedeuten, so wie im Buch mit dem Verschwinden des Jungen und des Großvaters. Und dann gibt es einige metaphorische Lawinen im Buch. Eine davon ist der Tourismus, der über das Dorf rollt.

Die Geschichte erzählt von einem Tiroler Bergdorf, in dem zwei junge Einheimische von einer Lawine verschüttet werden. Es sind Tina und Noah, die Nichte von Protagonist Xaver, und ihr Freund. Auf den ersten Blick geht es um diese beiden Figuren, aber eigentlich handelt das Buch von Xaver. Wer ist Xaver? Verglichen mit jenen aus anderen Büchern ist Xa- ver die Figur, die mir am stärksten ans Herz gewachsen ist. In einem der ersten Entwürfe war es die Ausgangsidee, dass jemand, der in einem Dorf aufgewachsen ist, weggeht und wieder zurückkommt – quasi als Außenseiter in dieses Tal zurückkehrt. Der Topos des Rückkehrers kommt in der Literatur oft vor. Es wäre die einfachste Lösung gewesen und nah an mir selber und an meiner Geschichte dran. Dann ist aus Xaver eine Figur geworden, die aus dem Dorf stammt, aber nie weggegangen ist. Diese Entwicklung fand ich viel spannender: Was macht es mit jemandem, wenn man nie aus einer Gemeinschaft weggeht, aber ein Außenseiter innerhalb dieser Gesellschaft ist? Xaver hat mit den verschiedenen Sphären eines Dorfes zu tun, mit den Bauern, mit dem Gastgewerbe oder dem Lift, aber ist keiner Sphäre so richtig angehörig. Er sucht seine Rolle und ist innerlich entwurzelt. Eigentlich ist der Protagonist jemand, der in dieser engen Welt des Dorfes auf der Suche ist.

Sie stammen selbst aus einem kleinen, touristischen Dorf am Fuß des Gratlspitz, wie war Ihr Aufwachsen in Alpbach?

Im Nachhinein sehr ambivalent, zum einen ha- be ich mich sehr frei gefühlt – mit zehn, elf Jahren habe ich viel gelesen, und Alpbach ist ein perfekter Raum, um in diese Fantasiewelten von Karl May und Herman Hesse einzutauchen. Zum anderen war die Dorfgemeinschaft strenger als heute.

Was heißt strenger?

Es war alles sehr patriarchal, ein sehr bäuerliches Umfeld. Ich habe mich eher als Außenseiter gefühlt. Allerdings ist ein Dorf auch ein perfekter Kontext für Außenseiter. Die große Befreiung war mit 15 Jahren der Hip-Hop. Das war 1996 oder 1997, als der Deutschrap seinen Höhepunkt erreichte. Ich habe andere Leute aus der Umgebung kennengelernt, die gerappt, gesprayt oder aufgelegt haben. Durch diese Szene habe ich wahnsinnig viel gelernt – etwa außerhalb des Dorfes zu denken und zu sein, und was es heißt, selber einen Text zu schreiben.

Graffiti war Ihre erste künstlerische Ausdrucksform. Beim Sprayen geht es viel um Angst und deren Überwindung. Wie gehen Sie persönlich mit Angst um?

Eine gute Frage. Als Rapper war ich sehr schlecht. Was beim Rappen allerdings spannend war, war dieser Moment, wenn man die Bühne betritt und seine Angst überwindet. Beim Sprayen war das noch einmal heftiger. Dass man es wirklich durchzieht, weil man meistens allein ist. Das waren Erfahrungen, die im Nachhinein als Autor wichtig waren. Es geht darum, die Angst zu spüren und auszuhalten. Dieser Moment ist künstlerisch sehr ergiebig und interessiert mich sehr. Das Buch „Gemma Habibi“, in dem es viel ums Boxen geht, handelt von diesem Moment der Angst im Ring oder vor dem Anderen und hat mit Auslieferung zu tun.

Sie boxen selber. In einem Interview haben Sie gesagt, dass man beim Boxen vor allem Demut braucht. Warum?

Weil Boxen viel mit Niederlagen zu tun hat. Weil man wirklich oft verliert, sehr oft. Es geht darum zu lernen, mit Niederlagen umzugehen. Und trotzdem weiterzumachen und daraus zu lernen.

Und wann kam das Schreiben?

Als ich mit etwa 22 Jahren in Innsbruck eine legale Wand gesprayt habe, gab es diesen einen Moment. Ich wusste einfach, dass ich mit dieser Kunstform fertig bin, habe wortwörtlich die Spraydosen fallen gelassen und die Wand nicht fertig gemalt. Danach war ich auf der Suche nach einem neuen künstlerischen Ausdrucksmittel und langsam ist die Literatur wiedergekommen. Das war in meinem Fall sehr eng verknüpft mit dem

Reisen. Das Unterwegssein als Backpacker und das Schreiben war miteinander verwoben.

Sie haben damals mit Poetry Slam begonnen. Wie war diese erste Zeit auf der Bühne, wenn Sie heute zurückblicken?

Durch die Eindrücke beim Reisen war das Verlangen sehr stark, darüber zu schreiben. Zuerst habe ich Gedichte geschrieben. Slam war für mich damals ein sehr guter Einstieg, um mit den Texten vor ein Publikum zu gehen.

Die Bühne und die Performance sind bis heute geblieben. Laute Performances und einsames Schreiben sind sehr konträr. Brauchen Sie den Ausgleich?

Einerseits gibt es das Buch, also den Text, andererseits ist es eine wichtige Frage geworden, was ich mit dem Text machen, wie ich ihn aufführen kann. Ich mag beides, diese Konzentration und Einsamkeit beim Schreiben und das Ausbrechen daraus beim Auftreten.

Heimfahrt mit Köhle

„Lukas ist nicht in einem begüterten, bildungsbürgerlichen Haushalt mit Bibliothek, sondern in einem Talkessel mit Transitverkehr aufgewachsen. Gewissen Dingen wird er immer hinterherlaufen." Besser, als von der Vergangenheit eingeholt zu werden, findet Markus Köhles Protagonist in seinem neuen Roman „Das Dorf ist wie das Internet es vergisst nicht“ (Sonderzahl, 2023). Darin erzählt der langjährige 20erKolumnist die Geschichte eines sozialen Aufstiegs, der doch nie bedeutet, dass man die angestammte Ordnung ganz verlassen könnte.

Verschwinden In Lawinen

Robert Prosser, Jung und Jung 2023

In einem Tiroler Bergdorf herrscht Ausnahmezustand: Zwei Einheimische sind von einer Lawine verschüttet worden. Während Tina im Krankenhaus liegt, fehlt von ihrem Freund Noah vorerst jede Spur. Auch Xaver hilft beim Suchen mit. Beim Suchen nach Noah und sich selbst. Es ist eine Identitätssuche, eine Geschichte, die von Heimat und Loslassen, aber auch von Tradition und der Frage nach ihrer Berechtigung erzählt.

Robert Prosser lebt in Alpbach und in Wien. Mit seinem vorletzten Buch „Phantome“ (2017) stand er auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. „Verschwinden in Lawinen“ ist sein erster Roman bei Jung und Jung.

Das Dorf, aus dem Lukas kommt, hat der freie Texter und Poetry-Slam-Künstler eigentlich längst hinter sich gelassen, auch wenn er dort mittlerweile so etwas wie eine Berühmtheit ist. Doch dann erreicht ihn dieser Brief aus der alten Heimat und löst bei ihm schon auf der Zugfahrt Richtung Tirol eine durchwachsene Reise in die Kindheit aus – vom ohrenwuzelnden Pfarrer über die kecke Post-Wirt-Tochter Corina und die eigene Akne-Plage, bis zu den Monaten, in denen das familäre Speckaufschneiden zugunsten von dringend nötigen Opel-Kadett-Reparaturen ausfallen musste, weil das Haushaltsbudget nicht beides hergeben würde. Jetzt will seine Gemeinde ihm also einen Preis verleihen und Lukas muss literarisch überzeugend auftreten, um seine Franz-Skulptur entgegenzunehmen. Auf dem Weg dorthin trifft der Autor auf österreichische Realitäten in Form seiner Mitreisenden, die selbst keineswegs auf den Mund gefallen sind.

Markus Köhle erforscht in dialogischen und lexikalischen Elementen das provinzielle Österreich in einem assoziativen Strom aus Szenen, die wie Aussichten auf einer langen Zugfahrt vorbeifliegen und zu einer Erinnerungslandschaft verschwimmen. Wäre man nicht so sicher, immer ein Stadtkind gewesen zu sein, hätte man schwören können, den Pool von Nassereith glitzern zu sehen.

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