Können wir Frieden schließen?

Können wir Frieden schließen?
4 – Kommentar: Faires Gehalt fürs Praktikum; Kurz Gefragt; Überirdisch & Unterirdisch
5 – In Zahlen; Zwanzgergram; Kolumne: Urteilsbildung
Kampfzone Körper: Alles über den Schönheitsdruck und wie wir ihn loswerden.
Coverfotos: THOMAS SCHROTT
31 – Wichtiges Ding; Wie machen Sie das?
32 – Feature: Geflüchtete auf Lesbos helfen sich selbst.
36 – Feature: Ischgl-Geschädigte klagen die Republik.
38 – Kolumnen: Herz fragt, Hirn antwortet; Apropos
39 – Historisch: Die Schlacht um Schloss Itter.
42 – Künstlerporträt: Foto-Shootingstar Simon Lehner.
44 – Artschnitt: Simon Lehner
46 – Subkulturarchiv: Rechtsberatung von unten.
48 – Zum Tag der Pressefreiheit: Die Wiener Zeitung steht vor dem Aus.
50 – Porträt: Die Tiroler Romy-Nominierte Alexandra Wachter.
52 – Was wurde aus Max Zirngast und wie geht es mit dem Gattererpreis weiter?
54 – Interview: Der legendäre Fotograf Steve Schapiro spricht über seine lange Karriere.
61 – Feature: Was Design-Aktivismus kann.
63 – Kolumnen: Easy Listening; Komik des Monats
64 – Fundstück: von Hans Platzgummer
66 – Couch
67 – Programm und Rätsel
74 – Kolumne: Rohstoff; Digitale Normale
75 – Heimlicher Rekord: Der Tiroler Rainer Köberl zum 19. Mal auf der Biennale?
78 – Was liegt auf dem Teller? So wird unser Spargel angebaut.
82 – Da und Dort: Besuch in Spiss, der höchstgelegenen Gemeinde Österreichs.
84 – Der Koch und sein Rezept: Wie das Haubenrestaurant Alpenrose zum Würstelstand wurde.
86 – Ein Mensch: Gina Disobey
ÜBER UNS 87
ür das Covershooting zu dieser Ausgabe über unsere Schönheitsideale haben wir was Neues gewagt: Bei Instagram und auf Facebook suchten wir nach Frauen, die bereit wären, sich vom Porträtspezialisten Thomas Schrott fotografieren zu lassen – in Unterwäsche! Das Ergebnis können Sie rechts sehen. Wir finden es wunderschön. Carina war eine von vielen Frauen, die sich mit berührenden Nachrichten gemeldet hatten. Die Resonanz überwältigte uns. Uns schrieb eine, die öffentlich nicht gerne isst, weil sie ein wenig mehr Gewicht hat. Eine andere erzählte, dass sie für ihre sportliche Statur beleidigt wurde – eine weitere, dass sie gemobbt wurde, weil sie sehr dünn ist. Allen gemeinsam ist, dass sie in unseren Augen schön waren.
Bald fühlten wir uns in unserem Instinkt bestätigt: Frauen sind immer noch am brutalsten mit Schönheitsnormen konfrontiert, darum hatten wir uns nach langer Überlegung auch für eine Frau am Cover entschieden. Aber natürlich hätten wir auch Männer und Menschen mit Behinderung oder Migrationshintergrund zeigen können. Im Dossier kommen all deren und mehr Perspektiven vor. Am Ende hatte Ulli, eine der potenziellen Coverfrauen, völlig recht, als sie bemerkte: „Eigentlich müsste euer Cover ein weißes Blatt sein, da es unmöglich ist, die plurale Schönheit jedes einzelnen Menschen darzustellen.“ Sie hätte sich fotografieren lassen, um die acht Jahre alte Tochter einer Freundin zu ermutigen –die sich schon jetzt darauf freut, wenn sie sich endlich ihre Beine rasieren darf.
Es schmerzt, so etwas zu lesen, hat uns aber viel Antrieb gegeben. Selbst das größte Dossier kann natürlich niemals alle Körperthemen behandeln. Es ist nur ein erster Überblick, ein erster Schritt. Eleonora hätte ihn trotz großer Nervosität für uns sogar auf dem Cover gemacht, denn: „Vielleicht sieht mich ja eine andere junge Frau oder ein junger Mann und erkennt, dass jeder Körper Respekt verdient, ob man ihn nun schön findet oder nicht.“ Besser hätten wir es nicht sagen können.
ZUR SACHE – der monatliche Experten-Kommentar. Der Gewerkschafter Harald Schweighofer fordert eine faire Bezahlung für Studierende in der Pflege.
Die Studierenden der Fachhochschule Gesundheit (fhg) in Innsbruck müssen für ihre Ausbildung in drei Jahren 2.500 Euro Studiengebühren zahlen und 2.000 Praktikumsstunden für die Tirol Kliniken, Altenwohnheime, Sanatorien und Sozialsprengel leisten. Für diese Praktikumsstunden bekommen sie keine Bezahlung, nicht einmal ein Taschengeld und zum Teil nicht mal ein Essen. Dabei sind sie während dieser Zeit voll in den Arbeitsprozess eingebunden und ersetzen fast eine ganze Pflegekraft.
So etwas kann doch nicht gewollt sein, in Zeiten eines Personalnotstandes in der Pflege, oder? Die betroffenen Studierenden haben eine Petition ins Leben gerufen und innerhalb von kurzer Zeit 1.117 Unterschriften gesammelt. Ihr Anliegen war, dass sich der zuständige Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg ihrer Situation annimmt. Am 23.
November 2020 wurde ihm die Petition übermittelt. Sie bekamen nicht einmal eine Antwort auf ihr Schreiben! Unsere Gewerkschaft GPA, die für die Studierenden, Schüler und Schülerinnen zuständig ist, unterstützt nun die Forderung der Betroffenen nach einer fairen Bezahlung: 950 Euro im Monat sollten sie mindestens für ihr Praktikum bekommen.
Gerade im Pflegebereich fehlen für Tirol in den nächsten Jahren 7.000 zusätzliche Pflegekräfte Statt die jungen Menschen, die sich für Berufe im Sozial- und Pflegebereich interessieren und dort eine Ausbildung machen, entsprechend zu unterstützen, werden diese noch ausgebeutet. Dies trägt nicht gerade dazu bei, dass sich Jugendliche für derartige Berufe entscheiden.
Vor der Umstellung auf das Bachelorstudium
ÜBERIRDISCH, UNTERIRDISCH – Zitate, die uns im Kopf geblieben sind. Aus Gründen.
„Wir alle sind miteinander verbunden, wir sind eine Menschheitsfamilie. Das ist wichtiger als die Kleinigkeiten, die uns trennen. “
Die in China geborene Regisseurin Chloé Zhao in einem FAZInterview vom 1. März über ihren Film „Nomadland“. Sie erhielt dafür nun den Regie-Oscar und den Preis für den besten Film.
schen Zusammenhang her.
Der ÖVP-Nationalratsabgeordnete Laurenz Pöttinger stellte bei einer Sitzung am 22. April 2021 diesen erstaunlichen medizini -
Drittel all jener, die auf der Intensiv liegen, diese Krankheit nicht überleben. Das heißt, ihre Aufstockung wäre in Wirklichkeit eine wesentliche Erhöhung der Toten in diesem Land.“
„Sie wissen genau, dass ungefähr ein
mussten die SchülerInnen des Diplomlehrgangs am AZW (AusbildungsZentrumWest) keine Studiengebühren bezahlen, erhielten ein Taschengeld, bekamen ein Mittagessen in der Mensa der Tirol Kliniken kostenlos und erhielten Sonntagsund Nachtzuschläge.
Für viele Studierende wäre unter den derzeitigen Voraussetzungen ein Studium nicht mehr möglich, wenn sie nicht vom Elternhaus eine entsprechende finanzielle Unterstützung erhalten würden.
Die gleiche Situation haben die Schüler und Schülerinnen der Schule für Sozialbetreuungsberufe in Tirol: Sie müssen zwar keine Studiengebühren zahlen, jedoch erhalten sie in den meisten Fällen keine Bezahlung. Gemeinsam mit den betroffenen Studierenden, Schülern und Schülerinnen werden wir unter dem Titel „Fair statt prekär“ weiterhin für eine Mindestentlohnung von 950 Euro im Monat kämpfen.
HARALD SCHWEIGHOFER ist Geschäftsführer der Gewerkschaft GPA Tirol. Auf der Plattform mein.aufstehn.at startete sie eine Petition für eine faire Bezahlung von Praktika im Gesundheits- und Sozialbereich.
KURZ GEFRAGT – Einige Nationalratsabgeordnete weigern sich, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Wie das überhaupt möglich ist, erklärt das Parlament in einem offiziellen Statement.
Warum gibt es keine Strafen für Abgeordnete ohne FFP2-Maske
Besonders oft werden wir derzeit zum Thema Maskenpflicht für Abgeordnete gefragt. […] Im Parlament gilt grundsätzlich FFP2-Maskenpflicht. Diese Bestimmungen adressieren Parlamentsverwaltung, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Klubs, Besucher und Besucherinnen, parlamentarisch Mitarbeitende sowie – mit der am 7. April 2021 in Kraft getretenen abweichenden Anordnung […] – auch Mandatare und Mandatinnen. [...] Die allgemeine Maskenpflicht wird vorerst bis zum Tagungsende im Juli 2021 gelten, eine Verlängerung darüber hinaus ist von der weiteren Corona-Situation abhängig. Für ei-
nen Sanktionsmechanismus wie Bußgelder, für den Fall, dass die allgemeine Maskentragepflicht nicht eingehalten wird, wäre eine Änderung der Geschäftsordnung des Nationalrats mit Zweidrittelmehrheit erforderlich. [Derzeit] kann einer Mandatarin beziehungsweise einem Mandatar wegen des Nichttragens einer FFP2-Maske der Zutritt zum Sitzungssaal nicht verwehrt werden. Dem steht die Ausübung des passiven Wahlrechts entgegen.
Auf der Website parlament.gv.at beantwortet das Parlament alle Fragen rund um Sitzungen in der Corona-Zeit.
IN ZAHLEN – Menschen mit dem meisten Geld und was sie damit machen könnten.
540.000.000.000
DOLLAR
Umgerechnet rund 454 Milliarden Euro haben die zehn reichsten Personen der Welt vom 18. März 2020 bis 31. Dezember an Vermögen hinzugewonnen.
IMPFDOSEN
105.000
DOLLAR
oder rund 88.000 Euro könnte Amazon-Boss Jeff Bezos seinen weltweit 876.000 Angestellten für das Jahr 2020 jeweils als Bonus auszahlen und wäre damit so reich wie vor der Corona-Krise.
könnte Tesla-Gründer Elon Musk jedem Menschen auf der Welt allein von seinem Vermögenszuwachs im vergangenen Jahr kaufen. Eine Dosis von Astra Zeneca kostet mindestens 1,78 Euro.
URTEILSBILDUNG – in seiner monatlichen Analyse erklärt der Verfassungsexperte Karl Weber uns alles, was Recht ist.
Sechs neue Grundrechte: Ferdinand von Schirach und seine proeuropäische Initiative
Der deutsche Justizdramatiker Ferdinand von Schirach hat mit seiner jüngsten Initiative für Aufsehen gesorgt: Er fordert sechs neue EU-Grundrechte, um den Menschen eine gerechtere Zukunft zu sichern. Die Forderungen sind so banal wie revolutionär:
1. Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.
heit der Begriffe etc. Es gibt aber auch viele prominente Befürworter.
Quellen: Studie der Hilfsorganisation Oxfam vom 21.01.2021
ZWANZGERGRAM
2. Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung und Manipulation von Menschen ist verboten.
3. Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.
4. Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.
5. Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.
6. Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzung dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.
Täglich grüßt ein widerlegtes Klischee: Das Magazin Amplify Africa zeigt die Vielfalt der afrikanischen Kulturen und gibt der Diaspora eine Stimme – mitunter auch in sehr lustigen Memes
Dieser Vorschlag wurde im Büchlein „Jeder Mensch“ präsentiert und löste eine überraschend breite Debatte aus. Kritische Stimmen bezweifeln die Notwendigkeit neuer Grundrechte. Die seit 2009 geltende Europäische Grundrechtecharta und die Europäische Menschenrechtskonvention würden ohnehin die Menschen ausreichend schützen. Andere bezweifeln die praktische Umsetzung, die Unbestimmt-
Von Schirach hat in diesen sechs Grundrechten die Grundbefindlichkeit und permanente Bedrohung des heutigen Menschen komprimiert auf den Punkt gebracht und er fordert eine Utopie: Eine gerechte und menschliche Welt, von der wir so weit entfernt sind wie seit eh und je. Und er spricht die modernen Bedrohungen des Menschen nicht nur als Probleme an, er will dem Menschen ein Grundrecht verschaffen, von diesen Bedrohungen befreit zu sein. Dazu will er die Europäischen Gerichte verpflichten, diese Menschenrechte gegen staatliche und ökonomische Macht durchzusetzen.
Diese Forderungen erfassen die größten Herausforderungen der modernen Welt: Umwelt, Informationstechnologien und die Manipulation des Menschen, Ausbeutung und Ohnmacht gegenüber den übermächtigen ökonomischen Kräften. Die Forderung nach solchen universalen Grundrechten mag utopisch klingen. Aber alle Grundrechtsforderungen wurden in der Vergangenheit zunächst als utopisch verworfen, ob das die Abschaffung von Sklaverei, der Folter oder die Gleichstellung der Geschlechter betraf. Wir brauchen solche Utopien und Menschen, die an ihre Verwirklichung glauben und sich dafür einsetzen. Der Kampf für Menschenrechte: ein steiniger Weg, der täglich neu gegangen werden muss.
UNSER KOLUMNIST KARL WEBER
Der bekannte Tiroler Verfassungsexperte war Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Innsbruck und gründete die Initiative Menschen Rechte.
Viele Menschen führen einen biologischen Krieg – gegen den weichen Bauch, erschlaffte Brüste, zu dünne Beine. Woher kommt das und wie können wir mit uns selbst Frieden schließen? Dieses Dossier vermisst die Kampfzone von A, wie Angst vor dem Abnehmen, bis Z, wie die Zukunft der Schönheitsnormen. Im Essay erklärt Chefredakteurin Rebecca Sandbichler, was uns dazu veranlasst hat.
Die Front meiner persönlichen Körperkampfzone verläuft im Spiegelschrank. Darin reihen sich neuerdings kleine Glasfläschchen aneinander. Sie enthalten Flüssigkeiten mit Hyaluronsäure, Vitamin B5 und einer Milchsäure-Formel, die abgestorbene Hautzellen entfernen und jung halten soll. Als ich mir erstmals im Leben eine Hautpflege-Routine zusammenstellte, fand ich mich plötzlich als Frau, die bisher mehr Wert auf ihren Intellekt als ihr Aussehen gelegt hatte, in Youtube-Beauty-Kanälen wieder. Dort erklärten mir zehn Jahre jüngere Frauen, ob man Niacinamid und Vitamin C im selben Pflegeschritt kombinieren darf. Was ist passiert?
Ich könnte sagen: Instagram hat Schuld. Das stimmt so halb, denn eine kluge, von mir geschätzte Autorin hatte dort von ihren Gesichtsbehandlungen in einer der angesagten Schönheitskliniken Berlins erzählt. Sie stellte die Hyaluron-Spritzen als Kleinigkeit dar. Es sei das Recht jeder selbstbestimmten Frau, solche Schönheitstricks anzuwenden. Auch die feministische Autorin Mirna Funk sieht das so und spricht öffentlich über ihre Botox-Behandlung der Zornesfalte. Es brauchte nur eine kurze Re-
cherche, um festzustellen, dass ich ihnen das nicht nachmachen wollte. Ein Gespräch mit Gleichaltrigen zeigte aber: Alle hatten längst eine Routine. Mit 32 entschied ich mich also, etwas für mein Gesicht zu tun, und sei es nur für das gute Gewissen, es versucht zu haben. Verrückt? Etwas.
Das wird nun keine Therapiestunde, aber ich hätte diesen Text auch so beginnen können: Hallo, mein Name ist Rebecca, und ich bin ein bisschen körpergestört. Wie so viele Jugendliche der Jahrtausendwende!
Toxic waren die Ohrwürmer, die Britney Spears uns ins Hirn bohrte, und die Körperideale, die wir konsumierten. Bauchfrei tanzten Britney, Christina und Shakira durch ihre Videos auf MTV und VIVA, wo auch für Jungs ganz rigide Rollenbilder produziert wurden. Von Britney wissen wir, wie ungesund ihr Image für sie war. Als sie sich damals spontan den Kopf rasierte, sah ich eine Verrückte. Heute würde ich applaudieren.
DIE FRAGE „BIN
ICH SCHÖN?“ SAGT
AUCH: BIN ICH
ALS MENSCH OK?
GEHÖRE ICH DAZU?
Bauchfrei waren aber nicht nur Stars wie Britney, sondern auch die schönsten Mädchen der Schule. Und das war schlimmer. Denn im Gegensatz zu mir konnten sie sich das „leisten“, wie man so sagt. Wenn wir über Körperideale sprechen und nur auf die bösen Medien zeigen, machen wir es uns zu einfach. Die Frauenzeitschrift Brigitte hat etwa eine Weile lang statt dürren Models ausschließlich „ganz normale Frauen“ für ihre Fotostrecken gebucht. Dann beschwerten sich die Leserinnen: Sie wollten lieber bildbearbeitete Models betrachten, als anhand der echten schlanken Anwältin von ne-
benan zu sehen, wie unzulänglich sie waren. Ungenügend fühlte auch ich mich lange, dabei wusste ich, wie sich manche meiner Freundinnen ihren nabelfreien Look vom Mund absparten. Hatte ich sie doch auf der Sprachreise abends ihre Kalorienbilanzen ins Tagebuch schreiben sehen – während ich mich am Hotel-Buffet dreimal am Apfelkuchen bediente. Schon als Kind waren meine große Esslust und mein gewölbter Bauch kritisch beäugt worden, die Waage wurde früh zum Feind. Obwohl ich als Jugendliche Leistungssport machte und gesund war, glaubte ich, dass auch Menschen in der Straßenbahn sehen konnten, wie undiszipliniert und fett ich war. Ich war sicher, nie einen Mann zu finden. Andere Visionen vom erfüllten Leben einer Frau waren Anfang 2000 übrigens medial auch nicht gerade verbreitet, aber ich schweife ab.
Sie können sich nicht vorstellen, welche Erleichterung es war, dass drei Schwangerschaften meinen unvollkommenen Bauch für alle Zeit ausgeleiert und mit Narben versehen haben. Diesen Kampf würde ich mit keiner Diät der Welt mehr gewinnen. Ich war frei! Kinder sind zwar keine Schönheitskur, doch wenn eine kleine Hand einen streichelt und die Tochter sagt: „Ich will auch mal so einen weichen Bauch haben wie du“ – dann macht das schön von innen. Nur dieser eine Satz, den mir ein betrunkener Typ mal auf den Kopf zusagte, hallt nach: „Wenigstens hast du ein schönes Gesicht.“
Nun kämpfe ich also mit ein paar Seren und Cremes um dieses Territorium. Ist das schon Schönheitswahn oder noch Selbstfürsorge?
Nach einer Zeit, in der ich mit drei kleinen Kindern oft gerade so zum Haarewaschen gekommen bin, sind diese paar Minuten am Morgen auch ein Luxus für mich. Es ist ja ein Privileg, sich um seinen Körper kümmern zu können. Schönheit ist ein Los in der Gen-, genauso wie in der Klassen-Lotterie unserer Gesellschaft. Es macht einen Unterschied, ob ich morgens mit dem 30-EuroRosenquarz-Roller ein paar Mimikfältchen glätte – oder mir nach der Zwölf-StundenSchicht im Logistikzentrum die Augenringe aus dem Spiegel entgegenleuchten. Manche können sich monatlich den grauen Ansatz nachfärben lassen. Bei Vielen bleibt von der Mindestpension nach der Miete immer zu viel Monat übrig. Was Zahnspangen kosten, eine gesunde Ernährung – wir wissen das.
Trotzdem schauen wir mitunter verstohlen auf Menschen herab, die nicht so gepflegt wirken. Die sich scheinbar „gehen lassen“
und sich „einfach nicht zusammenreißen“. Solche Gedanken machen etwas mit uns selbst, mehr noch aber mit den Betroffenen, wenn sie echte Nachteile im Leben bedeuten – egal ob im Beruf oder in der Schule. Wer schön ist, dem wird zugehört. Wer zu alt aussieht, wird nicht mehr eingestellt. Die Frage „Bin ich schön?“ ist keineswegs nur oberflächlich. Im Gegenteil geht sie tief und bedeutet auch: Bin ich als Mensch o.k.? Gehöre ich noch dazu? Zählt meine Meinung? Dieses Dossier soll dazu anregen, über
unsere inneren Kritiker nachzudenken und uns selbst zu befreien. Aber auch dazu, die Standards unserer Gesellschaft in Frage zu stellen. In den Sozialen Medien passiert das schon in großem Stil, weshalb Sie in diesem Dossier viele spannende Stimmen aus dem Netz finden werden. Es ist, abgesehen von meinem Spiegelschrank, das Feld, auf dem gerade die Schlacht um die Schönheit geschlagen wird.
Dünn war ich schon als Kind. Kommentare wie „Iss mal was“ oder „Schau mehr auf deinen Körper“ wurden vor allem in der Hauptschule häufiger, man bezeichnete mich als „magersüchtigen Hungerhaken“. Damals versuchte ich noch, mich zu verteidigen, mich zu erklären, dass ich eben von Natur aus schlank bin. Ich war einige Male bei Ärztinnen und Ärzten, es gab keine gesundheitlichen Probleme, die Werte waren immer in Ordnung. Mir fehlt einfach der Appetit. Wenn ich einen Tag lang wenig esse, wiege ich sofort einen Kilo weniger. Selbst wenn ich viel esse, nehme ich kaum zu. Ich hatte zeitweise richtig Sorge,
Protokoll: MELANIE FALKENSTEINER
noch mehr abzunehmen. Aber sobald Menschen ein bestimmtes Bild von dir haben, ist es schwierig, das zu beeinflussen oder gar zu ändern. Kurz nach der Pubertät legte ich an Gewicht zu und plötzlich hieß es: „Jetzt hast du aber zugenommen!“. Das ging mir selbstverständlich nahe und ich achtete darauf, was ich esse. Automatisch nahm ich wieder ab und damit kehrten die vertrauten Bemerkungen zurück: „Du musst mehr essen!“. Natürlich ist es nett, dass das Umfeld auf einen schaut und sich sorgt, gleichzeitig kann ich nicht verstehen, warum andere es sich herausnehmen, mich zu belehren. Schlussendlich stellte ich fest, dass ich es sowieso niemals allen recht machen kann. Dabei hat mir vor allem der Feminismus geholfen; ich habe gelernt, mich selbst zu akzeptieren. Jetzt, mit 22 Jahren, schmerzen die Kommentare nicht mehr so wie in der Hauptschule, ich höre einfach nicht hin. Trotzdem erwische ich mich ab und zu dabei, wie ich mich rechtfertige, wenn mich jemand auf mein Gewicht hinweist. Doch ich bin zufrieden mit mir selbst, und das ist das Wichtigste.
Lisa ist dünn und nimmt kaum zu. Als Jugendliche wurde die Innsbruckerin deswegen beleidigt.
Der #bodypositivity-Bewegung geht es vor allem um ein positives Verhältnis zum eigenen Körper, unabhängig von jeglichen Schönheitsnormen. Die Einzigartigkeit des eigenen Körpers sollte man erkennen und vollständig lieben lernen. Unrealistische Körperstandards werden hinterfragt, das Bild von Schönheit diverser und inklusiver gestaltet.
Menschen, die sich der #bodyneutrality-Bewegung näher fühlen, kritisieren zwanghafte Positivität. Sie finden es nicht wichtig, den Körper vollständig zu lieben, vielmehr geht es ihnen um Akzeptanz und Dankbarkeit – für alles, was er leistet. Das Gefühl zum eigenen Aussehen ändere sich täglich, der Respekt dem eigenen Körper gegenüber sollte gleich bleiben. Das Äußere sei nur ein kleiner Teil des Selbst und sollte nicht so viel beachtet werden.
Jeder fünfzigste Mensch weltweit leidet unter einer körperdismorphen Störung, auch Entstellungssyndrom genannt. Betroffene befassen sich exzessiv mit den eigenen, objektiv meist kaum erkennbaren Makeln. Sie verbringen viele Stunden täglich mit ihrem scheinbar entstellten Aussehen und sind der Überzeugung, unattraktiv zu sein. Diese gestörte Selbstwahrnehmung führt zu hohem Leidensdruck und oftmals völliger Isolation. Betroffene fühlen sich nicht krank, sondern suchen den Grund für ihr Leiden in ihrem Äußeren. Sie erhoffen sich Hilfe von der plastischen Chirurgie, doch jede Veränderung am Erscheinungsbild behebt das psychologische Problem nicht.
Idiotisch. Wahnsinnig. Mir kommen die Tränen. Ich blättere durch meine alten Tagebücher. Eins nach dem anderen, gefüllt mit Selbstzerfleischung, Zweifel und Minderwertigkeitskomplexen. Die Antwort auf alles: Eine neue Diät! Ernährungsumstellung! Sport! Irgendwann reichte es mir. Scheinbar neige ich dazu, Kurven zu haben. Hedonismus durchzieht mein Essverhalten. Genuss, Lust, Freude. Ich ernähre mich gesund, bewege mich, mag Yoga und Spazieren. Ich liebe es, zu kochen und zu essen, mit lieben Menschen um mich herum. Ich versuche, mit einer Klientin mit Behinderung über Ernährung zu reden: „Weißt du, es ist voll okay, wenn du Schokolade und Kuchen isst, aber zu viel davon ist nicht gut für deinen Körper, da müssen wir einfach zusammen schauen.“ – Sie blickt mich mit großen Augen an: „Aber wie kann das denn ungesund sein, wenn es sich so gut im Bauch anfühlt?“ Ich muss schmunzeln. Und gebe ihr Recht. [...]
Im Netz hatten wir nach einem Body-Positivity-Rolemodel für den 20er gesucht. Gemeldet hat sich Carina, mit einem berührenden Text, den wir hier auszugsweise veröffentlichen.
In der psychiatrisch-psychosomatischen Tagesklinik in Innsbruck behandelt die leitende Oberärztin Verena Dummer unter anderem Menschen mit Essstörungen. Im Interview erklärt sie die Tücken der Magersucht, und wie Betroffene heilen können.
Sie behandeln Menschen, die Anorexie haben. Was macht diese Krankheit aus?
Anorexie heißt ja auch Magersucht und letztendlich ist es die Sucht, dünn zu sein. Medizinisch handelt es sich um eine rasche, selbst herbeigeführte Gewichtsabnahme unter zwanzig Prozent des Normalgewichts. Die Betroffenen erreichen das, indem sie fasten, erbrechen, Abführmittel nehmen oder übermäßig Sport betreiben. Ein wesentlicher Faktor ist, dass sie ihr ganzes Leben danach ausrichten und Zwänge entwickeln: Betroffene zählen Kalorien und rechnen täglich deren Summe aus, der Selbstwert hängt daran, was die Waage anzeigt.
Wissen Sie, wie viele Personen in Tirol an einer anorektischen Erkrankung leiden?
Nein, aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau im Laufe ihres Lebens eine Magersucht entwickelt, liegt bei uns etwa bei 0,9 Prozent, europaweit zwischen einem bis vier Prozent. Bei Männern ist sie nur ein Zehntel so groß. Viel häufiger ist die Bulimie und noch häufiger die Binge-eatingstörung und atypische Essstörungen, die nicht das Vollbild der Essstörung haben.
ESSSTÖRUNGEN
Der Verein Netzwerk Essstörungen bietet Beratungen für Betroffene und Angehörige: netzwerk-essstoerungen.at
Nimmt Anorexie bei Burschen zu?
Die Anorexie weniger, aber klassische bulimische Verhaltensweisen. Vor allem die Sportsucht nimmt zu. Bei gewissen Sportarten, in denen ein geringes Gewicht eine Rolle spielt, rutschen viele leichter in eine Essstörung hinein. Essstörungen nehmen insgesamt zu, auch bei den Burschen. Die Dunkelziffer ist gerade bei ihnen sehr hoch.
Spielt Mobbing wegen Übergewicht eine große Rolle?
Kann es, das ist aber nicht der Hauptfaktor. Es entwickeln viele, die zu Beginn kein Übergewicht haben, diese Essstörung.
Was steckt psychologisch dahinter?
Die Magersucht ist immer ein Lösungsversuch für äußerlich oft nicht ersichtliche Schwierigkeiten und Dilemmata. Eine Magersucht kann auch der Versuch sein, sich von den Eltern abzugrenzen und über das Nichtessen Kontrolle zu erlangen. Mit einem dünnen und gebrechlichen Körper bekommen sie weiter Fürsorge. Das zu verstehen und neue Strategien mit Betroffenen und ihren Familien zu entwickeln, ist zentral.
Das regelmäßige Wiegen ist nur ein Teil der Behandlung von Essstörungen. © Unsplash, i Yunmai
Was macht Anorexie so tückisch?
Sie ist sehr bedrohlich: Bei Jugendlichen bringt sie die höchste Sterberate mit sich. Tückisch ist auch, dass Betroffene sich zu Beginn nicht krank fühlen und es zum Teil bis zum Schluss nicht so sehen. Sie erleben die Gewichtsabnahme und die Kontrolle über das eigene Essen und die Figur als Steigerung ihres Selbstwerts. Dabei werden Organe geschädigt, es kommt zur Osteoporose – also die Knochen brechen leichter – und es kann Unfruchtbarkeit entstehen. Im schlimmsten Fall führt die Krankheit zum Tod. Zehn Prozent der Magersüchtigen versterben innerhalb von zehn bis fünfzehn Jahren.
Woran?
Zum Teil an Organversagen, Elektrolytentgleisungen, Nierenversagen, oder auch durch Suizid – immerhin in jedem fünften der Todesfälle.
Die ständige Konfrontation mit dem, worum die Sucht kreist, muss schwer sein. Alkohol kann man irgendwie aus dem Weg gehen, Nahrung nicht.
Magersucht ist permanent präsent, nicht nur in Situationen, in denen man in Versuchung kommt. Essen ist lebensnotwendig, deshalb bleibt diese Beschäftigung in Form des Kalorienzählens den ganzen Tag. Die Heilungschancen sind aber nicht schlecht: Etwa die Hälfte der Erkrankten genesen komplett.
Wie funktioniert die Behandlung?
Wesentlich ist die Esstherapie. Sie ist hyperkalorisch, sprich, es müssen vermehrt Kalorien aufgenommen werden, um Gewicht zuzunehmen. Parallel läuft die psychotherapeutische Behandlung, weil natürlich die zugrundeliegenden Probleme gelöst werden müssen. Etwa siebzig Prozent der Erkrankten haben eine Persönlichkeitsstörung. Nicht nur das Essen selbst muss also verändert werden, sondern auch die Art, mit sich und anderen umzugehen, damit die Behandlung zum bleibenden Erfolg führt.
Suchen die betroffenen Personen oft selbst nach Hilfe oder werden sie manchmal gezwungen?
Zwang gibt es kaum mehr. Dazu müsste jemand im geschlossenen Bereich untergebracht werden. Das findet nur statt, wenn akute Lebensgefahr herrscht. Familie oder Freunde drängen aber oft darauf, dass jemand in Behandlung kommt, weil die Betroffenen oft keine Einsicht mehr haben.
Wie kreativ sind denn Ihre Patientinnen und Patienten, um der geregelten Nahrungsaufnahme zu entgehen?
In diesem Fall heißt kreativ ja, sich und andere anzulügen. Ein typisches Beispiel wäre, dass man in der Schule behauptet, man habe schon zu Hause gegessen und umgekehrt. Das andere sind Tricks vor dem Wiegen, indem man vorher vermehrt trinkt oder mit Bleikugeln in der Unterwäsche das Gewicht erhöht.
Zunehmen allein verbuchen Sie aber auch nicht als Erfolg, oder?
Nein, die Normalisierung des Gewichts ist ein großes Ziel, aber wir müssen diese Menschen seelisch begreifen und können sie nicht einfach nur füttern. Enorm wichtig ist, dass sie in anderen Lebensbereichen ihre Ziele erreichen – seien es Beruf, Ausbildung oder Partnerschaft. Dieser Prozess kann zum Teil Jahre dauern.
So lange ist man nicht in Ihrer Klinik. Nein, wir empfehlen, dass man nach dem stationären oder tagesklinischen Aufenthalt auch ambulante Psychotherapie absolviert und an der zeitlich unbegrenzten Gruppentherapie weiter teilnimmt. Dort sind nicht nur Menschen mit Essstörungen im Austausch, sondern auch jene mit Depressionen, Angst- oder Zwangsstörungen. Sie alle profitieren voneinander, denn die Grundprobleme sind ja ähnliche. Nämlich menschliche.
Fettfeindlichkeit wird nicht als Diskriminierung anerkannt. Dabei sind herablassende Witze, urteilende Blicke und Benachteiligung für viele Menschen Alltag – allein wegen ihres Körpergewichts.
edes Mal, wenn Timur Ayar zum Arzt muss, macht er sich Sorgen: „Wird mich der Arzt überhaupt behandeln, oder mir einfach nur sagen, dass ich abnehmen muss?“ Möchte der 24 Jahre alte Student fliegen, muss er sich vorher fragen, ob die Sitze des Flugzeugs wohl breit genug sind und wenn er sich nach neuer Kleidung umsieht, ist sie oft nicht in seiner Größe verfügbar. Ayar gilt als fettleibig, weshalb er täglich Diskriminierung erlebt. Damit ist er nicht allein.
Mehr als die Hälfte aller in Österreich lebenden Menschen über 15 gelten als übergewichtig. Die Gründe dafür sind vielfältig: Ungesunde Ernährung und fehlende Bewegung zählen zwar zu Ursachen, genauso kann Gewichtszunahme aber auch genetisch oder durch eine Krankheit bedingt sein. Sicher sind sich viele bei einer Sache: freiwillig ist niemand dick. Und an dieser Stelle fängt Diskriminierung an.
Laut einer Studie der Uni Tübingen haben Menschen schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, weil ihnen wegen ihres hohen Gewichts von Arbeitgebenden weniger zugetraut wird. Die Professorin Lotte Rose, die an der UAS Frankfurt im Bereich Fat Studies forscht, erklärt: „Der dicke Körper hatte in Gesellschaften, in denen Nahrung knapp war, eine andere Bedeutung. Er war ein Symbol für Reichtum und Macht.“ Im globalen Norden ist Nahrung inzwischen aber vorhanden und deshalb brauche es neue Zeichen von Überlegenheit. So habe sich der disziplinierte Körper, der sich Nahrung versagt und sportlich ist, zum neuen Ideal entwickelt. Ein hohes Körpergewicht stehe hingegen für fehlende Leistungsfähigkeit und Zügellosigkeit. Vorurteile, mit denen auch Timur Ayar sich schon oft konfrontiert sah.
Unsensible Behandlung in der Praxis.
„Egal mit welchen Beschwerden wir zum Arzt gehen, die Diagnose ist fast immer die gleiche: Fettleibigkeit“, erzählt der queere Fettaktivist, eine Bezeichnung, die er bewusst selbst wählt. „Ich habe eine Freundin, deren Endometriose lange nicht erkannt wurde, weil Ärzte und Ärztinnen sie einfach nicht untersucht haben.“ Auf Instagram schreibt er unter dem Namen @timurs.time nicht nur zu Themen wie mentale Gesundheit und queere Sexualität, sondern auch über Gewichtsdiskriminierung wie die gegenüber seiner Freundin. Von seinen Followern und Followerinnen erntet er vor allem
positives Feedback. Aber selbst in seiner Wohlfühlblase stößt er hin und wieder auf Fettfeindlichkeit, die erst auf den zweiten Blick als solche erkennbar ist. „Manchmal kommentieren Menschen, dass man bei einer dicken Person ja nie wisse, ob sie vielleicht wegen einer Krankheit oder seelischen Problemen zugenommen habe. Mir zeigen solche Aussagen bloß, dass es für manche unvorstellbar ist, dass ich fett und glücklich mit meinem Aussehen bin.“ Solche Bemerkungen beweisen, wie tief Fettfeindlichkeit in unserer Gesellschaft sitzt, und sind Ergebnis eines Diskurses, der sehr stark von der Medizin dominiert wird, so Lotte Rose.
Dabei kann nicht nur ein hohes Körpergewicht ein Gesundheitsrisiko darstellen: auch Unterernährung und die psychischen Folgen von Fettfeindlichkeit können gravierend sein. Jahrelang quälte sich Melodie Michelberger, die kürzlich ihr Buch „Body Politics“ veröffentlichte, von Diät zu Diät und setzte ihre Gesundheit aufs Spiel. Erst als sie ein Burnout erleidet, dämmert es ihr: Grund für ihre psychischen Probleme war nie ihr persönliches Versagen, sondern ein toxisches Verhältnis zu ihrem Körper.
„Geholfen hat mir die Therapie, eine intensive Auseinandersetzung mit meiner Geschichte, aber auch Instagram.“ Zum ersten Mal sah sie dort Frauen, die ihren dicken Körper zeigen und sich dabei wohlfühlen. „Das ist etwas Besonderes, schließlich werden schon Kinder aufgrund ihres Gewichts gemaßregelt. Durch ständige Bemerkungen wie ‚Iss das nicht!’ oder ‚Streck den Bauch nicht so raus!’ wird einem schon früh klargemacht, wie wichtig das Äußere gerade für Frauen ist.“
„Menschen erklären mir, dass ich falsch bin!” Inzwischen hat die Autorin mit ihrem Körper Frieden geschlossen und präsentiert sich ganz selbstbewusst im Internet. Doch auch sie erreichen tagtäglich Nachrichten: Während Männer ihr Ernährungstipps geben oder sich nach ihrer Schilddrüsenfunktion erkundigen, gehen Frauen subtiler vor. Gemein haben diese Nachrichten jedoch immer eines: „Menschen erklären mir, dass ich falsch bin!“
Trotz solcher Erfahrungen ist Gewicht noch immer nicht als Diskriminierungskategorie anerkannt. Während Rassismus oder Sexismus per Grundgesetz geahndet werden, bleibt Diskriminierung aufgrund des Körpergewichts in der Debatte oft unsichtbar. Dabei zeigen nicht nur Timurs und Melodies Geschichten, sondern auch etliche Studien die Benachteiligung von Menschen mit hohem Gewicht – im Gesundheitswesen, in der Arbeitswelt, sozialen Beziehungen und den Medien.
Die Stelle für Gleichbehandlung und Antidiskriminierung des Landes Tirol erreichen Sie unter 0512 508 3292
Inzwischen gibt es deshalb Forderungen, Fettfeindlichkeit als Kategorie ins Antidiskriminierungsgesetz aufzunehmen, erzählt Lotte Rose. Timur Ayars Appell ist bescheidener: „Ich würde mir wünschen, dass wir aufhören, Körper zu kommentieren, auch wenn es sich dabei um ein Kompliment handelt. Das legt nahe, dass es ein Ideal gibt, das angestrebt werden sollte.“ Melodie Michelbergers Vorschlag für einen ersten Schritt in die richtige Richtung? Selbstreflexion, Perspektivenwechsel – und vor allem eines: mehr Empathie.
„FÜR VIELE IST UNVORSTELLBAR, DASS ICH FETT UND GLÜCKLICH BIN.“
„STÄNDIG HÖRT MAN: ‚STRECK DEN BAUCH NICHT SO RAUS!‘“
Wenn nichts mehr wächst, kann man Haare auch verpflanzen. Doch wie gut funktionieren Haartransplantationen? Sind Medikamente eine Alternative? Nachfrage bei einem, der’s probiert hat – und einem, der es nie wollte.
Wenn die Spieler des steirischen Eishockeyteams Graz 99ers übers Eis kurven, prangt auf ihren Trikots in großen, orangen Buchstaben der Schriftzug „Moser Medical“. Weiter oben ist unauffälliger der Slogan „Haare statt Glatze“ eingenäht.
Auch auf dem Tennisplatz rührt das österreichische Institut fleißig die Werbetrommel für Haartransplantationen. Tennisprofi Stefan Koubek ist „happy“ mit seinem Eingriff und macht schon fünf Monate später ein erstes Feedback publik.
Unter dem Hashtag #ichhabsgemacht steht er dazu, chirurgisch gegen die Alopezie vorgegangen zu sein – so wird Haarausfall im Fachjargon genannt. Achtzig Prozent aller Männer seien im Laufe ihres Lebens davon betroffen, heißt es bei Moser Medical. Mehr als 32.000 Menschen sollen alleine bei diesem Unternehmen eine Haarverpflanzung gebucht haben. Doch es steht nicht ohne Konkurrenz da. Alleine in Wien bieten zehn weitere Kliniken, Institute und medizinische Praxen den Eingriff an. Noch mehr Auswahl gibt es in der Türkei, speziell in Istanbul. Gibt
man „Haartransplantation Istanbul“ bei Google News ein, erscheinen bezahlte Werbe-Artikel in Lokalzeitungen, Beauty- und Frauenmagazinen, die einzelne Kliniken loben. Tatsächlich sind die Prozeduren in der türkischen Hauptstadt erschwinglicher, weshalb sich viele Österreicher dafür entscheiden.
So auch Elvedin*, dessen Haare sich erblich bedingt schon vor seinem zwanzigsten Geburtstag zu lichten beginnen. Die kahlen Stellen stören ihn von Anfang an massiv. „Man versucht, es zu
Wenn die Haare ausfallen, beginnt für viele Männer das Leiden.
verdecken, aber irgendwann funktioniert es nicht mehr.“ Mit 23 rasiert er sich den Kopf ganz, doch damit ist er unzufrieden. Zwei Jahre vergehen, bis er sich zu einem Eingriff entscheidet, ein weiteres bis zur Behandlung. Elvedin recherchiert, vergleicht. Nach Informationen zu den Kosten sucht man im Dschungel der Online-Werbeanzeigen vergeblich, doch Kliniken bieten unverbindliche Preisvorschläge an. Wer Alter, Haarfarbe und Fortschritt des Haarausfalls in einem Fragebogen beantwortet, bekommt statt dem gewünschten Preisvorschlag ein Kontaktformular, das die EMail-Adresse, den Namen und die Telefonnummer erfordert. So unverbindlich ist das Angebot also doch nicht.
zwei weitere setzen die Haare wieder ein. Vollnarkose braucht es keine, sagt Elvedin, zwischendurch kann er sogar einen Kaffee trinken, Kuchen essen und sich ausruhen, bevor der zweite Teil der Prozedur beginnt.
Während der Behandlung hat er keine Schmerzen und dank Medikamenten auch nachher nicht. Die Klinik gibt ihm eine Salbe für die Kopfhaut, mit der er sich regelmäßig eincremen muss. Außerdem ein spezielles Nackenkissen, denn sein Kopf darf nichts berühren, nicht einmal die Matratze. Auch ein Stirnband muss er tragen, damit sich die Schwellung am Kopf nicht auf das Gesicht ausbreitet. Seine Haare unter dem harten Strahl der Dusche zu waschen, ist strengstens untersagt; stattdessen soll er sie mit einem speziellen Becher spülen. „Es ging Tag für Tag ein bisschen besser“, erinnert sich Elvedin. Die umgepflanzten Haare fallen nach ein paar Wochen trotzdem wieder aus, die Wurzeln bleiben.
HERZRASEN ODER ERREKTIONSSTÖRUNG: DIE NEBENWIRKUNGEN VON HAARWUCHSMITTELN SIND NICHT OHNE.
da, eignen sich auch Barthaar oder sogar Körperbehaarung. Zwar wachsen auf dem Hinterkopf im Normalfall immer Haare, doch wer den Eingriff zum Beispiel nur bei den Geheimratsecken durchführen lässt, muss damit rechnen, dass der Haarausfall sich auf andere Stellen ausbreitet. Liest man medizinische Fachberichte, ist der Eingriff selbst auch mit einigen Risiken verbunden. So kann sich das Gewebe zum Beispiel vernarben oder sich kleine Knötchen bilden. Auch eine Kopfhautentzündung ist möglich.
nen, ohne dabei den vermeintlichen Verlust ihrer Männlichkeit riskieren zu müssen. Mit ihren
Beiträgen stellt Chelbea öffentlichkeitswirksam klar: Körperbehaarung macht Frauen nicht zu Affen –und ein glatter Körper raubt dem Mann nicht seine
Männlichkeit .
Was passiert, wenn's passiert. Elvedin entscheidet sich für die Dr.-Serkan-Aygin-Klinik in Istanbul. Zuerst schickt er dem Ordinationsteam Fotos von seinen Haaren, dann bucht er den Flug. „Es war alles sehr gut organisiert“, sagt er. „Ein Chauffeur hat mich am Flughafen abgeholt und für die Untersuchung und den Corona-Test in die Klinik gebracht.“ Elvedin lobt die einwandfreie Hygiene und die stete Betreuung. Ein Team von sechs Personen ist beim Eingriff, der zwischen vier und sieben Stunden dauern kann, im Einsatz. Zwei entnehmen die Haare, zwei andere sortieren sie, ein Arzt oder eine Ärztin sticht die Löcher in die Kopfhaut und „Körperhaare sind weiblich, denn sie wachsen auf natürliche Weise an weiblichen Körpern.“
Geduld ist angesagt. Bis der gewünschte Effekt erzielt ist, kann es eineinhalb Jahre dauern. „Immer wieder schicke ich Bilder, damit sie meinen Fortschritt beurteilen können“, erzählt Elvedin. Im März 2021 fährt er erneut in die Türkei, um sich einer zweiten Behandlung zu unterziehen. Insgesamt kostet es ihn 4000 Euro, in Österreich hätte er rund 12.000 Euro gezahlt, sagt er.
Für Risiken und Nebenwirkungen ... Ein zweiter Eingriff ist optional und hängt von der Ausbreitung der Glatze ab. Tonsur wird die unliebsame kahle Stelle genannt, die es zu kaschieren gilt, und meistens beginnt sie auf dem Hinterkopf. Doch auch Geheimratsecken stören viele Männer und können mit einer Haartransplantation behandelt werden. Dafür wird das eigene Haar verwendet, da der Körper fremde Haare abstoßen würde. Sind auf dem Hinterkopf nicht mehr genug Haare für eine Transplantation
Mit diesen Worten sagt die Wienerin Rebecca Chelbea der Stigmatisierung von weiblicher Körperbehaarung den Kampf an. Mit ihrem Account bei Instagram motiviert die Influencerin ihre rund neunzigtausend Follower und Followerinnen zu mehr Selbstliebe. Unter dem Hashtag #haarmonie zeigt sie ihren behaarten Körper selbstbewusst und ermutigt andere, dasselbe zu tun. Ganz unter dem Motto „Normalisiert normale Körper“ setzt Rebecca ein Zeichen gegen die Beschämung und fordert dazu auf, die von Medien und Werbung verbreiteten Schönheitsnormen infrage zu stellen. Genauso wie die Rasur für weiblich (gelesene) Menschen vermeintlich dazugehöre, dürften Männer ihre Körperbehaarung nicht entfer -
Eine Alternative zur OP stellt der 5-Alpha-Reduktasehemmer Finasterid dar. Das rezeptpflichtige Medikament senkt die Konzentration von Testosteron im Körper und dient hauptsächlich der Behandlung von Prostataerkrankungen. Es kann den Haarausfall stoppen, sobald es aber abgesetzt wird, fallen die Haare weiter aus. Schlimmstenfalls kommt es sogar zu dauerhaften Erektionsstörungen – und bei ungeborenen männlichen Kindern können schon Spuren des Medikaments, die über die Haut der Schwangeren aufgenommen werden, zu Fehlbildungen der Geschlechtsorgane führen. Vielversprechend ist zwar die Studienlage zum Mittel Minoxidil, da es Haarwachstum wieder ankurbeln kann, wenn die Follikel noch nicht gänzlich abgestorben sind. Aber: Auch dieses Medikament muss täglich zweimal auf die Kopfhaut aufgetragen werden –ein Leben lang. Herzrasen oder Herzbeutelentzündung, Wassereinlagerungen im Gewebe und Schwindel sind bei dem Blutdruck-Medikament als Nebenwirkungen möglich.
Glücklich mit Glatze.
Matthias* hat sich mit all dem nie ernsthaft beschäftigt. Für ihn stellt das fehlende Haupthaar kein großes Problem dar. Als bei ihm schon mit fünfundzwanzig Jahren die ersten kahlen Stellen auftauchen, weiß er, was ihm blüht. Beide Großväter und auch der Vater tragen eine Glatze, für Matthias war es also nur eine Frage der Zeit. „Zu versuchen, die Stellen irgendwie zu kaschieren, die verbleibenden Haare von einer Seite auf die andere kämmen, kam für mich nicht in Frage“, sagt er. Auch über eine Haartransplantation habe er nie nachgedacht. „Und über ein Toupet schon gar nicht.“ Stattdessen macht er kurzen Prozess und rasiert sich den ganzen Kopf. Zwanzig Jahre später, mit 46, ist er noch immer begeisterter Träger der umgänglichen, unkomplizierten Frisur. Er findet, sie steht ihm.
*Namen geändert
Sie machen Tausenden Mut: Menschen, die nicht den gängigen Körpernormen entsprechen, zeigen sich selbstbewusst im Netz und fordern eine inklusive Gesellschaft. Zwei dieser sogenannten Inkluencer stellen wir hier vor.
Ilka Brühl wurde mit einer Lippenspalte geboren und konnte sich lange Zeit nicht so akzeptieren, wie sie aussah. Heute bewegt die Deutsche rund 33.000 Menschen mit ihren Bildern auf Instagram.
Beim Posten meines ersten Selfies hatte ich noch große Angst vor den Reaktionen. Nach dem dritten habe ich mich sogar entschuldigt, dass ich so viele Fotos von mir veröffentliche. Und jetzt sind es so viele mehr!
Auf Instagram bekomme ich stets positives Feedback, weil mir ja nur Menschen folgen, die Diversität wohlwollend gegenüberstehen. Auf anderen Seiten bekomme ich auch Hass-Kommentare, die treffen mich in der Regel nicht. Obwohl es ab und zu harte Formulierungen gibt, die mich fassungslos machen. Warum tun diese Menschen das? Manchmal würde ich gerne all meine Bilder löschen, weil ich mich natürlich sehr angreifbar mache, aber dann freue ich mich wieder so sehr über Rückmeldungen von Leuten, die mir sagen, dass ich etwas in ihnen bewege. Ich weiß dann wieder, warum ich das tue. Früher machte ich es eher zum Zweck einer Selbsttherapie, denn Bestätigung für mein Aussehen zu bekommen, das ich so lange versteckt habe, tat mir gut. Heute bin ich aber im Reinen mit mir.
Das, womit wir uns umgeben, formt unsere Realität; was wir ständig sehen, kommt uns normal vor. Deshalb halte ich es auch für wichtig, bewusst Diversität zu suchen. Wir können uns nicht umgewöhnen, wenn wir nur in unserer Bubble bleiben, wir müssen unsere Denkweise stets aufs Neue herausfordern und unsere
Die Tirolerin Alina trägt eine Beinprothese und zeigt in ihrem InstagramAccount (@the_freedomleg) Bilder aus ihrem Leben.
Wahrnehmung hinterfragen. Ich versuche auch, durch Literatur in verschiedene Lebensentwürfe zu blicken und Fernsehformate zu meiden, die unachtsam mit dem Diversitätsthema umgehen.
Oft werde ich als Opfer dargestellt, obwohl ich kaum einmal gemobbt wurde. Ich habe mir meine Probleme zu 99 Prozent durch meine eigenen Gedanken und Ängste gemacht. Eigentlich geht es um Selbstliebe –und damit meine ich nicht, jedes Detail an sich selbst zu lieben, sondern das Gesamtpaket. Dass ich nicht mit jedem Merkmal an mir im Reinen bin, gebe ich offen zu, genauso wie die Tatsache, dass es mir manchmal nicht gut geht. Auch zwanghafte Positivität übt auf viele Menschen großen Druck aus. Aber: Dankbar zu sein und sich auf das Gute zu konzentrieren, hilft wirklich sehr!.
Seit meiner Geburt habe ich eine Behinderung und dadurch sehr viele Operationen machen müssen. Von meiner Familie habe ich immer viel Zuspruch und Halt bekommen. Schon als Kind war klar, dass ich kurze Hosen trage, ganz gleich, ob das Blicke von anderen auf sich ziehen könnte. Trotzdem wurde ich oft angestarrt und in meiner Jugend hatte ich zeitweise das Gefühl, einen unvollkommenen Körper zu haben. Heute mag ich meinen Körper im Gesamten. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich mich nicht als Person mit Behinderung, son-
“Ilka Bruehl sieht sich nicht als Opfer. © Ilka Brühl
dern als Alina – ich bin wie jeder Mensch etwas Besonderes. An mir selbst mag ich meine Augen und Hände am liebsten, aber auch meine Prothese: Ich liebe das neue Design und zeige sie jetzt noch lieber. Ich will aufklären und zeigen, dass jeder Mensch schön ist, ob mit oder ohne Behinderung, ob mit oder ohne Narben, ob groß oder klein. Man sieht, dass ich recht sportlich bin, und zum Beispiel entgegen aller ärztlicher Voraussagen in guten Phasen auch Schi fahren kann. Dabei möchte ich in einer Sache schon zum Nachdenken anregen: Viele gesunde Menschen glorifizieren Menschen mit Behinderung allein dafür, dass sie selbstbestimmt leben, oder sehen sie als Inspiration, um sich selbst besser zu fühlen. Ich diene aber nicht zur Selbstbestätigung und ich führe mein Leben auch nicht trotz, sondern mit meiner Behinderung. Sie schränkt mich zwar ein, aber sie gehört zu mir einfach dazu. Mein Großvater sagte immer: „Alina, es heißt nicht: ‚Ich kann das nicht‘, sondern ‚Ich kann das noch nicht und vielleicht nicht so wie andere‘“. Diese wertvolle Botschaft will ich weitergeben.
Text:
Dicke Männer, kleine Männer, schlaksige Männer – viele von ihnen leiden unter maskulinen Schönheitsidealen. Darüber sprechen wollen nur wenige. Brauchen auch Männer eine Body-Positivity-Bewegung?
Sein Bizeps ist ebenso voluminös wie seine schwarzen Kopf- und Brusthaare. Sein Vollbart zeigt keinerlei Lücken und seine breiten Schultern füllen den Rahmen des Webcam-Fensters aus. Der 27 Jahre alte Student Vishal aus München erfüllt alle Kriterien, um sich bei Schwiegermüttern oder auf der Baustelle als gestandenes Mannsbild zu qualifizieren.
Doch das war nicht immer so: Der Schularzt diagnostizierte im Kindesalter Übergewicht, „das gute indische Essen meiner Mutter war schuld“, erzählt er. Auf dem Schulhof bekam er das zu spüren. „Beim Fangenspielen haben sie mich immer zum Jäger auserkoren, weil ich so stark schwitzte und niemand mich anfassen wollte.“ Ein Teamkollege im Fußballverein gab seinen Brusthälften Kosenamen. Heute verzeiht der erwachsene Vishal seinen ehemaligen Peinigern: „Sie wollten ja auch nur cool sein“, sagt er und lacht. Innere Narben trägt er dennoch mit sich: Es ist ihm auch heute unangenehm, sich beim Baden an der Isar das Shirt auszuziehen.
Mach doch mal Sport!
Dass auch Männer und Jungen unter Body Shaming leiden, kann der Innsbrucker Männerberater Florian Zeiner durch seine tägliche Arbeit bezeugen. „Burschen entwickeln eine gestörte Beziehung zu ihrem Körper und leiden Jahrzehnte später noch unter den Folgen.“ Der Leidensdruck, der durch vermeintliche Körpermakel entsteht, werde gerade bei Jungs oft ab- und nicht angesprochen. Sprüche wie „mach doch mal Sport“ oder „iss einfach weniger“ würden Heranwachsende zusätzlich unter Druck setzen.
„Reiß dich mal zusammen“ wurde auch für Vishal zum obersten Gebot, als er in die Pubertät kam: Er widmete sich dem Muskeltraining, ein Hobby, das schnell zum Zwang wurde. Statt auf Prüfungen zu lernen, ging er nur noch ins Studio, seine Noten verschlechterten sich. Beim Kreuzheben musste er
sich manchmal übergeben, eines Abends fiel er sogar in Ohnmacht. „Es war pure Selbstkasteiung“, erzählt er, „ich habe mich ständig nur mit anderen Männern verglichen, die attraktiver und stärker sind als ich.“ Heute kann er nicht mehr Kreuzheben, weil sein Rücken aus dieser Zeit Schäden davongetragen hat.
Ins Fitnessstudio geht Vishal nach wie vor, doch er achtet auf seine Grenzen: „Früher war der Selbsthass mein einziger Motivator, heute möchte ich meinem Körper einfach etwas Gutes tun.“ Es gibt jedoch Phasen, in denen er wieder in alte Muster zurückfällt und nur noch zu Gemüse und Eiweißshakes greift. Der ewige Teufel des männlichen Schönheitsideals sitzt ihm auch bei seiner Leidenschaft, dem Musizieren, im Nacken: „Ich glaube ständig, dass meine Karriere als Sänger scheitert,
weil ich nicht gut genug aussehe.“ Um den Teufel von der Schulter zu schnipsen, nimmt Vishal mittlerweile Psychotherapie in Anspruch.
Neben der Therapiearbeit- und Beratungsarbeit sieht Florian Zeiner auch Eltern, Lehrkräfte und Vereine unter Zugzwang, um gegen Body Shaming und zwanghafte Selbstoptimierung unter Männern vorzugehen. „Wir müssen auch Burschen das Gefühl geben, dass sie gut sind, wie sie sind. Wenn wir sie in ihrer Einzigartigkeit stärken, haben es auch Mobber schwer, ihnen etwas anderes einzureden.“ Auch Vishal hätte seinem jüngeren Ich gewünscht, dass der Biolehrer die Vielfalt und nicht die Norm vom Männerkörper an der Tafel angeschrieben hätte. Er appelliert auch an seine Leidensgenossen: „Versteck dich nicht. Sag den Menschen, wenn du dich nicht wohlfühlst, stelle Mobber zur Rede.“ Natürlich weiß auch er, dass das für viele einfacher gesagt als getan ist.
Schlaksig ist im Film höchstens der Nerd. Laut Zeiner zeige bereits das offene Gespräch mit männlichen Vorbildern hilfreich, da man dadurch mit seinen Problemen nicht mehr alleine sei. Doch das reicht Christoph May, Gründer des deutschen Instituts für Kritische Männlichkeit, nicht. „Es ist nicht damit getan, dass Männer sich
Die Tiroler Fotografin beweist thematischen Feinsinn. Ihre Bilder der Gruppe „It's alright“ zeigen nicht nur die ganze Vielfalt menschlicher Körperformen und -kämpfe, sie stellt ihnen auch tiefgehende Interviews gegenüber, die wir eins zu eins hätten drucken wollen. Doch belässt sie es nicht bei der reinen Abbildung. Die Magie der Natur, ob Gletscherspalte oder vernarbte Haut, setzt sie auf berührende Weise in der Serie „Reflecting on Forms“ in Beziehung. Hätten wir das nur früher entdeckt! So bleibt der dringende Hinweis auf ihre Website: julia-hitthaler. com.
plötzlich für ihre Gefühle interessieren und darüber reden. Sie müssen aus ihren exklusiven Männerbünden ausbrechen.“ Gerade der Boys-onlyClub reproduziere das Schönheitsideal vom emotionalen und anatomischen Panzer-Mann.
May untersucht auch, wie Männerrollen durch Leitmedien geprägt werden. „Im MainstreamFilm dominiert nach wie vor das Bild des muskulösen Superhelden.“ Zwar gebe es Filme und Serien, die toxische Männlichkeit bereits kritisch verhandeln. Diese enden aber meist tragisch, anstatt die Probleme mit positiven Vorbildern aufzulösen. Die wenigen Männer, die in Filmen und Serien von der Norm abweichen, treten laut May nur als Klischees und Extreme in Erscheinung, so etwa der schlaksige Nerd in Big Bang Theory oder der gemütliche Bierbauchträger in der Hangover-Reihe. „90 Prozent aller Drehbücher werden von Männern über Männer für Männer geschrieben. Wenn unsere Erzählungen männlich dominiert bleiben, wird sich auch unser monotones Männerbild die nächsten Jahrzehnte nicht ändern.“
Diversität im Freundeskreis ist heilsam. Doch hätte Vishal im Jugendalter eine Body-Positivity-Bewegung geholfen, mit der vor allem Nicht-Männer in sozialen Medien seit Jahren do-
minante Rollenbilder anprangern? „Das Letzte, was Männer brauchen, ist eine weitere MännerBewegung, in deren Folge sie die Krise ihres Geschlechts ausrufen, anstatt ihre Monokulturen hinter sich zu lassen. Solange Männer nicht anfangen, Frauen-, Trans- und Inter-Perspektiven zu konsumieren, werden sie sich ewig an ihrer selbst auferlegten Vorlage abarbeiten.“ Nur mit Diversität im Freundeskreis und beim Medienkonsum würden Männer eine emotional-integre Gefühlssprache erlernen.
Vishal ist einer dieser Männer, die sich in einer solchen Gefühlssprache üben möchten. In seinen Songs verarbeitet er seine Kindheitserinnerungen. Dafür, dass er die Geschichten auch in der Psychotherapie aufarbeiten kann, ist er dankbar: „Ich habe aber noch einen harten Kampf vor mir, aber ich bin bereit, ihn zu gehen.bis ich mich wirklich selbst liebe.”.
Stark .
Text: MAXIMILIAN EBERLE
In manchen Online-Foren radikalisieren sich oft minderjährige User in ihrem Schönheitswahn. Was Eltern wissen sollten.
von 10, du hast ein richtiges Scheißgesicht“, antwortet jemand auf das Selfie eines 18 Jahre alten Forennutzers und dessen Frage „Ist es vorbei für mich?“. Auf lookism.net bewerten Männer gegenseitig ihre Gesichter und Unzufriedene holen sich Tipps zur Selbstoptimierung. Einige greifen zu extremen Mitteln und lassen Kiefer-OPs oder Barttransplantationen durchführen – alles nur, um zu einer Zehn aufzusteigen.
den beiden vorbeizwängen.
–das Publikum musste sich an
Galleria d'Arte Moderna Bologna
Türrahmen vom Museum der
ihrem Partner Ulay nackt in einem
len zumutete. 1977 stand sie mit
ihres Körpers, dem sie viele Qua -
schockierte sie mit dem Einsatz
Lange vor „The Artist is present“
formancekünstlerinnen der Welt.
Sie ist eine der bekanntesten Per -
Instagram ist absurd, Celeste ist absurder. Die australische Komikerin scheut selbst vor der größten Selbstentblößung nicht zurück, um die Nacktheit des Kaisers auszurufen. In dem Fall: der Social-Media-Kaiserinnen, die ihre perfekten Körper auf so schräge Weise inszenieren, dass man es kaum noch übersteigern kann. Nur Celeste Barber, die schafft das.
Lookism bezeichnet die Diskriminierung aufgrund des Aussehens; etwa den Vorsprung von normschönen Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Die Soziologie beschreibt damit eine an Normschönheit orientierte Gesellschaft. Das Forum erhebt den Begriff jedoch zur Philosophie: Männliche Jugendliche reden sich dort gegenseitig ein, nur ihr Aussehen bestimme ihren sozialen Status und ihren Erfolg beim anderen Geschlecht. Das bewirkt vor allem eines: Selbsthass – und Hass gegen Frauen.
Ähnliche soziale Dynamiken entstehen in ProAna- oder Pro-Mia-Foren. Der Begriff Ana ist eine Abkürzung für Anorexia Nervosa (Magersucht), Mia steht für die Bulimia Nervosa (EssBrech-Sucht). Auf diesen Plattformen finden meist gleichgesinnte junge Mädchen zusammen und tauschen sich über ihr Krankheitsbild aus. Was nach Selbsthilfegruppe klingt, birgt jedoch Gefahr: Die Krankheit wird hier zum Lifestyle, Betroffene stacheln sich in WhatsApp-Gruppen dazu an, noch mehr abzunehmen, und schicken sich Fotos von extrem dünnen Models zur #thinspiration.
Diese Nischenportale und spezielle Suchbegriffe in Apps wie Instagram oder Tiktok eint, dass sie gefährliche Schönheitsideale ungefiltert reproduzieren. Jugendliche tauchen in eine toxische Welt ein, zu der Eltern, Pädagoginnen und Therapeuten kaum durchdringen, geschweige denn davon wissen. Wer sein Kind schützen möchte, kann sich auf www.saferinternet.at oder www.elternbildung.at weiter informieren.
Text: VERENA WAGNER
Niemand sieht so aus, wie es die künstliche Welt aus Bildbearbeitung und schmeichelnden Filtern vorgaukelt. Kleine Makel retuschiert der Zauberstab und wenn die Lieblings-Youtuberin neben ihren Schmink- und Stylingtipps auch über ihre neueste Schönheits-OP chattet, ist sie sich vielleicht nicht im Klaren, was sie für einen Einfluss auf Tausende Teenies hat, die an ihren vollen Lippen hängen. Manche ist kaum älter als ihre Fans und betrachtet chirurgische Eingriffe als eine Option der Konsumgesellschaft, sich Schönheit käuflich zu erwerben. Oder sie hat sich ihren Erfolg mit hartem Training und großem Körperbewusstsein verdient.
Ganz schön viel Mumm brauchen Mädchen, um sich zwischen Models, Stars und Influencerinnen zu behaupten. Verena Wagner findet: Als Mutter kann sie ein (un)perfektes Vorbild für ihre Tochter sein.
Lange bevor kleine Mädchen zu Teenagern werden, sät unsere Gesellschaft mit perfekten und stereotyp weiblichen Vorbildern eine tückische Saat in ihnen. Gängige Rollenbilder und Beliebtheitsrankings der Sozialen Medien kritisch zu hinterfragen, hilft ihnen, sich dagegen zu wehren. Doch wie entsteht ein positives Selbstbild, das Anderssein zulässt? Wie stärke ich meine Tochter? Als Mutter will auch ich meinen Umgang mit Modediktaten, Diäten und Körperkult hinterfragen.
Denn nicht erst seit dem Einzug der Smartphones in die Kinderzimmer fühlen sich viele Mädchen zu dick oder sind unzufrieden mit ihrem Körper – wenn auch die Pandemie ihre Zeit vor den Bildschirmen verlängert und schädliche Effekte verstärkt hat. Das Wiener Programm für Frauengesundheit befragte schon vor zehn Jahren Schüler und Schülerinnen zum Thema Körperbild und Essverhalten, um zu erfahren, ob sich Jugendliche in ihren Körpern wohl fühlen. Die Hälfte aller Mädchen fühlte sich zu dick, obwohl nur 11 Prozent von ihnen wirklich übergewichtig waren. Bereits in der frühen Adoleszenz führe die ständige Konfrontation mit idealisierten, unerreichbaren Körperbildern zu einer Verunsicherung mit dem eigenen Aussehen, heißt es in dem Bericht.
„Hätten Astrid Lindgrens sommersprossige Pippi Langstrumpf mit zerrissenen Strümpfen und Kleidern oder Christine Nöstlingers feuerrote Friederike mit ihrem Übergewicht und ihrer Schüchternheit heute eine Chance, sozial integriert zu werden?“, fragen die Wiener Psychologinnen und Frauengesundheitsexpertinnen Beate Wimmer-Puchinger und Michaela Langer in ihrem Buch „Wahnsinnig schön. Schönheitssucht durch Jugendwahn & Körperkult“.
Sie betonen den wissenschaftlichen Zusammenhang zwischen Schlankheitskult und dem Auftreten von Essstörungen. Das anhaltende Empfinden des eigenen Ungenügens, ja Versagens führe bei immer jüngeren Mädchen zu Diätwahn und Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie. Sie sagen auch, was davor schützt:
„Eine wichtige Voraussetzung, um mit Abwertungen und Verspottungen in der Gruppe […] besser fertig zu werden, ist eine positive Bewertung des eigenen Selbst und des eigenen Körpers, also ein zugrunde liegendes positives Selbstkonzept, das als Puffer und Prellbock gegen Ereignisse wirkt, die das Selbst- und Körperbild beeinträchtigen können.“
Was aber leben Erwachsene vor, die von Diät zu Diät stolpern oder die letzte Rettung ihrer jugendlichen Strahlkraft beim Schönheitschirurgen verorten? Kinder lernen durch Vorbilder mehr als durch Erziehung – das zeigt mir meine Erfahrung als dreifache Mutter. Ich
möchte darum meiner Tochter wie selbstverständlich vorleben, dass auch ein alternder Körper schön und weiblich ist. Dass ich mich trotz Falten und Speckröllchen wohlfühle in meiner Haut. Das sind unendlich wertvolle Erfahrungen. Und auch, wenn der Kindergarten keine Plus-sizePuppen anbietet: Wer Mädchen von klein auf erklärt, wie unnatürlich Barbie aussieht, dekonstruiert falsche Vorbilder. Aus der Blau-Rosa-Falle gilt es ebenso auszubrechen, wie gesellschaftliches Schubladen-Denken und falschen Körper-
kult zu entlarven. Je früher Eltern damit beginnen, desto besser. Wenn Jungs weinen dürfen, mancher rosa trägt, ein Mädchen rauft und das andere einen Wissenschaftspreis gewinnt, erleben wir Vielfalt. Kinder so anzunehmen, wie sie sind, gibt ihnen einen stabilen Rahmen im Sozialgefüge Familie.
In der Vergangenheit hatte ich Angst vor dem Zeitpunkt, an dem meine Kids ein eigenes Smartphone haben würden. Nun, da sie am Anfang ihrer Teenie-Jahre stehen, bin ich eher entspannt. Oft merke ich, dass gerade die Tochter sehr bewusst mit Youtube & Co umgeht. Sie reflektiert kritisch, was sie sieht. Dass sie im Kindergarten ihre Rosaglitzer-Phase voll ausleben konnte, weil
die für sie als Abgrenzung zu ihren Brüdern wichtig war, ist meines Erachtens genauso wichtig, wie sie ihre Kleider selbst aus dem Kleiderschrank wählen zu lassen. Ein eigener Stil entsteht nun mal durch Ausprobieren. Für ihre vielen Fragen nehme ich mir nach wie vor genug Zeit.
Die Autorinnen von „Wahnsinnig schön“ raten Eltern, ihren Kindern Folgendes mitzugeben: „das Bewusstsein, geliebt zu sein, mit all den kleinen Fehlern. Reduzieren wir Mädchen nicht darauf, nur schön sein zu müssen, aber bestärken wir sie darin, das eigene Spiegelbild attraktiv zu finden und Schwächen zu akzeptieren. Je verankerter diese Überzeugung ist, desto leichter ist es später, anderen entgegenzutreten.“.
Auf meinem Körper sind jede Menge Narben zu sehen. Ich habe sie mir selbst zugefügt, sie sind meine KatastrophenKartographie. Seit 15 Jahren leide ich unter selbstverletzendem Verhalten – und unter den unsensiblen Menschen, die mich auf sie ansprechen.
icht-Betroffene scheinen von meinen Narben teils abgestoßen, teils fasziniert, nicht selten beides gleichzeitig zu sein. Sie haben Fragen: Warum machst du das? Wie lange machst du das schon? Machst du das noch immer?
Schon häufig wurde ich so angesprochen, in jeder möglichen (und unmöglichen) Situation. Für Menschen, die mit Selbstverletzung noch nie zu tun gehabt haben, muss der Gedanke, dass sich jemand absichtlich in die eigene
Haut schneidet, grotesk sein –das verstehe ich. Viele vergessen jedoch häufig, dass es sich beim Subjekt ihres Interesses um einen Menschen handelt. Hinter meinen Narben stecken intime Geschichten. Wann, ob, und mit wem ich sie teile, möchte ich bitte selbst entscheiden. Für mich gibt es drei Faustregeln im Umgang mit meinen Narben.
1. Ich bin nicht Google. Viele Menschen scheinen die Tatsache, dass ich mein psychisches Leiden sichtbar auf dem Körper trage, als Freifahrtschein für über-
griffiges Verhalten zu interpretieren. Als stumme Aufforderung: „Hier bin ich, bitte fasst meine Haut an, kommentiert sie, macht einen Witz darüber, dichtet mir eine Diagnose an. Ask me Anything!“ Dabei schulde ich niemandem einen Gratiseinblick in mein Seelenleben. Ich bin keine wandelnde WikipediaSeite. Es ist nicht meine Aufgabe oder meine Pflicht, andere, nicht betroffene Menschen über selbstverletzendes Verhalten aufzuklären. Dafür gibt es das Internet.
2. Bagatellisiere meine Narben nicht, aber mach auch kein Drama daraus. Häufig habe ich den Eindruck, dass Menschen sich genötigt fühlen, Besorgnis oder Interesse zu zeigen,
weil sie denken, ich brauche oder erwarte das. Für mich ist das grenzüberschreitend. Wenn ich Hilfe brauche oder mir Aufmerksamkeit wünsche, lasse ich es dich wissen. Noch so ein Irrglaube übrigens: Betroffene zeigen ihre Narben, weil sie nur Aufmerksamkeit wollen. Ich sehe meine Narben als genauso natürlich und normal an wie meine Haut selbst. Sie sind eben einfach da. Krempel ich mal die Ärmel hoch oder ziehe die Jacke aus, ist das kein subtiler Versuch, mich bemerkbar zu machen. Auf der anderen Seite muss ich mir oft anhören, mein selbstverletzendes Verhalten sei „kein echtes Problem“ oder „nicht so schlimm“, schließlich hätte ich mir das ja selbst ausgesucht. Sowas ist extrem unangebracht.
Die Website irrsinnigmenschlich.de informiert auch über Selbstverletzendes Verhalten.
3. Wenn du weder etwas Nettes zu sagen noch echtes Interesse hast, dann sei bitte still. Es ist okay, wenn Menschen von meinen Narben verunsichert sind. Das müssen sie nicht überspielen. Für Fragen bin ich offen – entscheidend ist nur das „Wie“. Ein absolutes No-Go ist es, mir Ratschläge zu geben, was ich tun könnte, anstatt mich selbst zu verletzen. Ich lebe mit diesem Problem seit geraumer
Zeit und weiß selbst, wie ich damit umgehe, danke. Oh, und bitte: Frag mich auf keinen Fall, wie oder womit ich mich selbst verletze. Eigentlich ist es einfach: Ich möchte mit demselben Respekt behandelt werden, wie Nicht-Betroffene auch.
Ich freue mich, wenn mich jemand in einem ruhigen Moment zur Seite nimmt und Interesse bekundet. Genauso freue ich mich über Akzeptanz, wenn ich sage, dass ich darüber gerade nicht sprechen will. Am liebsten ist es mir, wenn meine Mitmenschen die Narben ignorieren. Einfach nichts dazu sagen und abwarten, bis ich das Thema von selbst anspreche. Das werde ich nämlich tun, wenn es mir ein Bedürfnis wird, mich darüber auszutauschen.
OOBEN OHNE wie
Text:
Instagram filtert vermeintlich sexuelle Inhalte. Doch während blanke Frauenbrüste konsequent gelöscht werden, darf ein nackter Männerhintern online bleiben. Nachdem das Feministinnen kritisierten, kündigte der Social-Media-Riese nun neue Richtlinien an. Die entpuppen sich allerdings als Mogelpackung.
Die Richtlinienänderung, welche die Ungleichheit in digitalen Räumen beseitigen soll, besagt nun, dass Bilder von nackten Frauenbrüsten ab sofort durchgewunken werden, wenn es sich um „medizinische Darstellungen“ handelt. Aber was heißt das?
Was Frau nun darf: Ein Kind auf Instagram stillen oder auch die eigene Brust nach einer OP zeigen. Cool! Wenn ich mein Leben oben ohne am
Strand genieße und ein Foto davon mit meinen Followern und Followerinnen teilen möchte, beurteilt die App das nach wie vor als pornografisch. Der weibliche Körper gilt nämlich nach Instagrams päpstlichen Regeln noch immer in seiner bloßen Existenz als anstößig, es werden nicht nur komplett oberkörperfreie Fotos von Frauen entfernt, sondern auch solche, auf denen die Nippel verdeckt sind. Eine Erklärung, was weibliche Nippel denn nun von männlichen unterscheidet, ist Instagram uns nach wie vor schul-
dig. Dass durch die App Frauenkörper als sexuell und anstößig ausgelegt werden, ist weniger das Resultat von Mark Zuckerbergs konservativen Ansichten, als Symptom einer sexistischen Gesellschaft. Vielleicht dürfen stillende Frauen jetzt ein Bild von sich auf Instagram hochladen, aber wenn sie dies in der Öffentlichkeit tun, werden sie trotzdem angegafft. Nicht nur Instagram, sondern auch der Rest der Gesellschaft muss lernen, dass ein Frauenkörper einfach nur ein Körper ist – und kein Sexobjekt.
Die plastische Chirurgie gilt als kostspielige Krücke für künstliche Schönheit. Dabei sind die Aufgaben in diesem Fach so vielfältig wie die Schicksale der Menschen, die eine solche Praxis betreten. Wir baten eine Chirurgin und zwei Chirurgen aus Tirol anonym um Antworten zu ihrer Arbeit – für einen realistischen Einblick. Lara* ordiniert in der Hauptstadt, genauso wie Markus*. Thomas* führt seine Praxis in einer kleineren Stadt.
Was hören Sie zuverlässig, wenn Sie sich mit ihrem Beruf vorstellen?
Markus: „Aha, ein Schönheitschirurg!“ Dabei ist die plastische Chirurgie ein absolut berechtigtes Fach der modernen Medizin.
Thomas: Man wird wirklich als reiner Schönheitschirurg abgestempelt. Der geschützte Fachbegriff der plastischen, ästhetischen und Rekonstruktionschirurgie enthält aber viel mehr.
Lara: Lassen Sie sich auch selbst behandeln? Wird man süchtig?
Das wollen wir aber auch wissen: Haben Sie schon etwas machen lassen?
Thomas: Ich hätte kein Problem damit. Im Moment sehe ich aber keinen Handlungsbedarf.
Lara: Im Moment noch nicht, aber ich werde auch älter. Eine Oberlid- oder Gesichtsstraffung
könnte ich mir vorstellen.
Markus: Ich habe eine Botox-Behandlung zwischen den Augenbrauen hinter mir. Weniger aus ästhetischen Gründen, sondern weil mir das auch bei meinem Kopfweh hilft. Für die Falten war das auch hilfreich, da habe ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Gibt es schwarze Schafe in Tirol – und zum Beispiel auch Botox-Partys?
Thomas: Sie werden immer einen Paradiesvogel finden. Die Partys gibt es, ja, etwa in Kitzbühel.
Da kommen Ärzte aus München übers Wochenende und treffen sich mit zwanzig Leuten, denen sie Botox injizieren. Davon halte ich nichts.
Lara: Es probieren sich zum Beispiel auch Zahnärztinnen oder Gynäkologen an Botox-Behandlungen aus. Da muss ich sagen: Schuster, bleib bei deinen Leisten! Ich würde auch nicht auf die Idee kommen, eine Geburt durchzuführen.
Markus: Von Botox-Partys erfahren wir oft durch unzufriedene Patienten. Das organisieren meist Kosmetikstudios oder Privatpersonen. Ich bin mir
„ICH ERKENNE SCHON, WENN EIN ANDERER CHIRURG NICHT MEINE ÄSTHETISCHEN VORSTELLUNGEN TEILT.“
aber sicher, dass der niedergelassene Bereich unserer Branche in Tirol seriös ist.
Sehen Sie einem Gesicht automatisch an, wenn darin eingegriffen wurde?
Thomas: Normalerweise schon, bei einem sehr guten Eingriff muss ich vielleicht zweimal hinschauen. Sagen wir es so: Ich erkenne, wenn ein anderer Chirurg nicht meine ästhetischen Vorstellungen teilt.
Markus: Nicht auf den ersten Blick, wenn es behutsam gemacht wurde. Übertriebene Ergebnisse sehen ja auch Laien. Es gibt aber kleine Narben im Gesicht, an denen nur Profis ein Facelifting erkennen.
Was war die kurioseste Anfrage, die sie je bekommen haben?
Thomas: Eine Dame wollte sich den G-Punkt mit Hyaluronsäure aufspritzen lassen. In den USA nennt man das wohl „The WOW Procedure“. Ich finde das grenzwertig, kann mir aber vorstellen, dass es ein, zwei Anlaufstellen in Tirol gibt, die das machen.
Markus: Unsere Patientin wollte eine kleine Brustvergrößerung. Zwei Wochen nach der Operation rief sie mich noch einmal an und wollte noch kleinere Implantate. Da waren wir verblüfft! Später kam heraus, dass ihr Mann die Implantate ablehnte. Sie hat ihm dann vorgegaukelt, es würde sich bei den kleineren nur um die Schwellungen von der zweiten OP handeln.
Lara: Eine Verbreiterung des Mundes, das war in meiner Assistenz-Zeit. Da haben wir dann einfach die Mundwinkel um einen Zentimeter eingeschnitten.
Wann lehnen Sie eine Behandlung ab?
Thomas: Wenn ich keinen objektiven Befund finde, keine wesentliche Verbesserung erreichen würde oder Patienten damit nichts Gutes tue. Menschen, die unter Dismorphophobie leiden (Körperbildstörung, siehe Seite 8), empfehle ich, sich an eine psychotherapeutische Fachkraft zu wenden.
Markus: Natürlichkeit ist mein Grundprinzip. Wenn Patientinnen und Patienten sich Verbesserungen in einem Ausmaß wünschen, die ihre Anatomie nicht mitmacht, schicke ich sie wieder nach Hause. Das kommt relativ häufig vor. Ein Alarmsignal ist auch, wenn Leute sich die Nase einer berühmten Person wünschen.
Lara: Ich lehne außerdem Menschen ab, die Ärztehopping betreiben. Manche wechseln jährlich die Praxis, weil sie nie genug kriegen. Eine sorgfältige Anamnese, in der ich auch Grenzen aufzeige, ist essenziell.
Was ist für Sie der beste Moment im Job?
Lara: Wenn meine Patientinnen und Patienten mich anstrahlen und ich weiß, dass sie glücklich sind.
Markus: Immer wieder höre ich: „Herr Doktor, sie haben mir ein neues Leben geschenkt!“ Das macht natürlich Freude.
Thomas: Wenn sich der Patient im Spiegel ansieht und vor Glück die Tränen fließen, weil der Leidensdruck endlich abfällt. Mir gefällt auch die manuelle Arbeit. Die Operationen sind so vielseitig, ich mache nie etwas nach Schema F. Am liebsten sind mir jene Tage, an denen ich von früh bis spät operieren kann, ohne eine einzige Mail zu beantworten.
Was macht einen schönen Menschen aus?
ETWAS
Thomas: Es gibt natürlich objektive Faktoren, wie die Symmetrie. Viel wichtiger ist aber die Energie, die ein Mensch ausstrahlt. Das klingt furchtbar abgedroschen, aber man sieht den Menschen an, wenn sie sich selbst lieben.
Markus: Die Harmonie des Körpers als Ganzes ist entscheidend, nicht nur Symmetrie. Es geht um einen ausgeglichenen Gesamteindruck. Lara: Wenn er oder sie glücklich aussieht.
Welche Trends sehen Sie in Ihrer Branche?
Thomas: Minimalinvasive Eingriffe mit Botox und Hyaluronsäure werden immer beliebter. Damit erreicht man Ergebnisse, für die es vor 25 Jahren noch eine umständliche OP brauchte. Deshalb haben auch Gesichtseingriffe zugenommen. Die Akzeptanz gegenüber ästhetischen Operationen ist generell höher geworden. Früher galt es gerade in Tirol noch als Sünde, den Körper zu verändern, den Gott dir geschenkt hat. Heute behandle ich die Verkäuferin vom Supermarkt genauso wie den Bürgermeister.
Markus: Kleinere Eingriffe im Gesicht, sogenannte Minilifts, sind häufiger geworden. Ich glaube aber nicht, dass ein „Schönheitswahn“ heute extremer in der Gesellschaft wütet als noch vor zwanzig Jahren.
Lara: Der Fokus aufs Gesicht hat sicher mit Botox und Hyaluronsäure zugenommen. Filler sind aber keine Wundermittel, manchmal kann ich mir nicht dasselbe Ergebnis erwarten wie bei einer Operation.
Wenn man einmal mit Fillern wie Hyaluronsäure oder auch mit Botox angefangen hat – ist es schwer, damit wieder aufzuhören?
Lara: Ja, denn man beginnt damit, dass man fri-
scher aussehen möchte. Dieses Bedürfnis geht nicht auf einmal verloren.
Thomas: Botox ist auch Prophylaxe, damit eine Falte nicht mehr tiefer wird. Wenn ich nach einem halben Jahr sehe, dass der Effekt nachlässt, will ich das wiederholen. Das erzeugt viele Wiederkehrer, die zum Stammklientel werden.
Markus: Wenn die Patientinnen und Patienten jünger anfangen, wollen sie ihr Level natürlich halten. Die meisten sind aber sehr vernünftig und bescheiden. Vor allem in Tirol, wenn man das mit München oder Wien vergleicht.
Bei welchem Eingriff ist das Preis-Schmerz-Leistungsverhältnis besonders schlecht?
Lara: Jeder Eingriff hat seine Berechtigung, wenn es einen Leidensdruck gibt, es gibt daher für mich nichts Überbewertetes.
Markus: Po-Implantate halte ich für absoluten Unsinn. Das macht der Patientin nur Probleme, ihre Kleidung sitzt nicht mehr und sie hat Schmerzen beim Sitzen. Weltweit ist das aber eine beliebte Operation, gerade in Miami ist das ein großer Trend. Ich mache das nicht.
Thomas: Ich würde bei maschinellen Behandlungen aufpassen, die versprechen, das Unterhautfettgewebe zu verbessern. Da wird die Sitzung mit 2.000 Euro verrechnet, weil die Maschinen extrem teuer sind, aber die Effekte sind mehr als umstritten.
Für welche Eingriffe sollte eigentlich die Krankenkasse schneller einspringen?
Markus: Brustvergrößerungen, insofern sie natürlich sind. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr manche Frauen unter einer kleinen, flachen Brust leiden.
Thomas: Die Brustreduktion. Die Krankenkasse schreibt da ein Mindestgewicht vor, ohne die Größe oder das Gewicht der Patientin zu berücksichtigen.
Lara: Erst ab einem halben Kilo Brustverkleinerung pro Seite übernimmt die Krankenkasse. Eine Frau mit 1,65 wird das niemals abgeben können. Dabei geht es diesen Frauen ja nicht um ästhetische Optimierung – sie leiden unter Rückenschmerzen.
*Alle Namen geändert.
„DIE OPERATIONEN SIND SO VIELSEITIG, ICH MACHE NIE
NACH SCHEMA F.“
„ES IST IMMER EIN ALARMSIGNAL, WENN LEUTE SICH DIE NASE EINER BERÜHMTEN PERSON WÜNSCHEN.“
Immer wieder liest man vom großen Druck in der Gay-Community, einen attraktiven Körper vorzuweisen. Das bestätigt mir eine private Umfrage unter fünf befreundeten Homosexuellen in Tirol: Sie erzählen mir von Schönheitsnormen wie dem Six-Pack, Körperidealen à la Kim Kardashian oder auch dass vorrangig ein großer praller Penis gefragt ist.
Selbst innerhalb einer marginalisierten Community sind also starre Strukturen des Patriarchats verankert, werden Rollenbilder bedient, in denen auch Diskriminierung und Rassismus ihren Platz haben. So müssen sich viele die Frage stellen, ob sie „zu schwul“ seien und man das sehen kann oder ob sie genug „Heterolike“ aussehen. Buba ist homosexuell und sagt mir, dass es „sehr schwierig ist, eine feste Beziehung einzugehen“ und das „Dating in der Gay-Community völlig anders abläuft, als ich mir das wünsche“. Viele sind auf Dating-Apps wie Planet Romeo oder Grindr, das
RASSISMUS wie
Äquivalent zu Tinder, angewiesen. Profiltexte werden selten gelesen, ausschlaggebend sind zwölf Kategorien, in denen man sich einordnen muss. Jock, Twink, Hunk, Bear oder Otter sind etwa Bezeichnungen, die beschreiben, ob jemand behaart und kräftig, zierlich und unbehaart, schlank und athletisch oder trainiert ist. „Nach diesem Maß wird entschieden, was du bist und wie du dich damit verhalten sollst“, sagt Elias. „Du kannst dir selbst eine Kategorie aussuchen, wirst aber dennoch von anderen zugeordnet und musst dich dann darin zurechtfinden. Sobald du keine Rolle bedienst, bist du komplett außen vor.“ Es gäbe sogenannte Tops und Bottoms – ein Hinweis auf die Vorlieben im Bett – und die würden wiederum mit den herkömmlichen Rollenbildern der Hetero-Community einhergehen. Es sei völlig egal, ob im Internet oder auf den Straßen, sagt Elias: Diese Kategorien würden vorherrschen, seien sexuell geprägt, oberflächlich
und schnelllebig. Gerade sei es in Mode, auf Dating-Plattformen den Hashtag #nofatsnofems zu nutzen – Menschen mit mehr Gewicht sind ausgeschlossen.
nur aufgrund ihres Aussehens in Gefahr. Eine Frau mit asiatischen Wurzeln, eine Schwarze Künstlerin und ein Kulturclub-Leiter mit Afro kämpfen für die Freiheit, anders auszusehen – ohne belästigt und bedroht zu werden.
ast jede fünfte Person in Tirol hat einen Migrationshintergrund. Manche stehen aufgrund ihrer äußerlichen Merkmale ständig im Rampenlicht: Eine Mutter aus Indonesien, ein Vater aus dem Kongo und schon ist man alles andere als ein „waschechter Tiroler“ – auch, wenn man in Tirol aufgewachsen ist, gerne Lederhose und Dirndl trägt oder im tiefsten Höttinger Dialekt redet.
Dabei werden diese Menschen sogar noch in „gute“ und „schlechte“ Ausländer unterteilt: Asiatischstämmige Personen stehen im Ruf, fleißige und höfliche Mitmenschen zu sein – Vorzeigemigranten und migrantinnen also –, während andere Gruppierungen als mehrheitlich gefährlich wahrgenommen werden. Eine Umfrage des österreichischen Parlaments aus dem Jahr 2019 verbildlicht das. Man wollte von den Befragten wis-
sen, welche Personen unerwünschte Nachbarn sind: 41 Prozent wollten nicht mit Menschen aus Afghanistan, 35 Prozent nicht mit Leuten aus dem arabischen Raum und 31 Prozent nicht mit Schwarzafrikanerinnen und -afrikanern Tür an Tür wohnen – asiatischstämmige Menschen wurden dabei nicht mal erfasst. Wir haben drei Personen mit afrikanischen und asiatischen Wurzeln getroffen, um mehr über ihre Erfahrungen zu
lernen. Die erste ist Jasmine Libis. Sie hat in Innsbruck Sprachen studiert. Ihr Vater ist Schweizer, ihre Mutter ist aus Indonesien – so gut wie ihr ganzes Leben hat sie in Mailand verbracht: „Ich sehe zwar asiatisch aus, habe mit meinen Wurzeln aber überhaupt nichts zu tun. In der Familie sprechen wir nur Italienisch und ich fühle mich auch als Italienerin.“ Sie ist nach allen gesellschaftlichen Standards eine auffallend hübsche Frau, deshalb wird sie ständig angemacht. Ob das nun damit zu tun hat, dass sie asiatische Wurzeln hat – in der Gaming-Szene gibt es auf Grund von Manga einen regelrechten Fetisch gegenüber asiatischen Frauen –, kann sie nicht sagen. Wer ihr blöd kommt, der wird in den Wind geschossen – mit welchen Intentionen man sich ihr nähert, ist Libis dabei egal.
Aktuell stehen asiatischstämmige Menschen aber aus einem ganz anderen Grund in der öffentlichen Wahrnehmung: Sie werden für die CoronaPandemie schuldig gemacht. Tätliche Angriffe haben sich besonders in den USA gehäuft, wo
Ex-Präsident Donald Trump noch vor kurzem Stimmung gegen China machte (Stichwort „China-Virus“). Der österreichische Verein ZARA (Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit) berichtet in seinem jährlichen Rassismus-Report
2020 auch in Österreich vermehrt über Anschläge auf asiatischstämmige Personen. Solche Angriffe erlebt Jasmine Libis zwar nicht, doch bemerkt sie: „Seit Corona bin ich weniger unter Leuten. Eine Möglichkeit, mich anzugreifen, gibt es kaum.“
Sie kann es nicht mit Humor nehmen. Gina Disobey erlebt es anders (Sie wird auch in der Rubrik Mensch auf Seite 86 vorgestellt). Vor einigen Monaten hat die italienische Künstlerin mit ihrem Debüt-Song „Seeking asylum is not a crime“ den Fm4-Protest-Song-Contest gewonnen, seit 15 Jahren lebt sie in Innsbruck, aber gerade muss sie vor Gericht ziehen, weil sie in ihrem eigenen Haus von einer Frau mit dem Tod bedroht worden ist. Das sei nur die Spitze des Eisberges. Diskriminierung aufgrund ihres Äußeren ist ihr Alltag. Sie muss sich oft anhören, sie sei auf
das Thema fixiert und sollte solche Angriffe doch mit Humor nehmen. „Als Schwarze Person kann ich das aber nicht“, sagt sie.
Für David Prieth war der Weg zur Gelassenheit, die er heute als Leiter der p.m.k. mit Anfang dreißig erreicht hat, ein sehr steiniger. Er ist in Innsbruck aufgewachsen und hat einen kongolesischen Vater. Seit wann er dieses dumpfe Gefühl hat, anders zu sein? „Das hat schon in der Volksschule begonnen, nur konnte ich damals die üblen Witze und Bemerkungen nicht zuordnen.“ Eine harte Teenager-Zeit und jede Menge Ärger mit Nazis sowie unangenehme Erfahrungen mit der Polizei hat Prieth hinter sich.
Bis vor einigen Jahren noch konnte er überhaupt nichts mit Leuten anfangen, die ihn nach seiner Herkunft fragten. „Lasst mich doch mit dem Scheiß in Ruhe“, war seine Reaktion. Er ist Tiroler und fand solche Fragen nur nervig. Das einzige Mal, dass er sich an einem Ort „0815“ fühlte, war in der Dominikanischen Republik. „Als Teenager habe ich dort zwei Monate verbracht und mir gedacht: Hier sehen alle aus wie ich –das war wirklich angenehm.“ Doch in Tirol hat es ihn jahrelange Gesprächstherapien gekostet, um sich so anzunehmen, wie er ist. Jetzt lässt er sich zum ersten Mal seinen Afro wachsen und geht mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit. Das Ergebnis sei überwältigend: „Es bestärkt mich, wenn mir Leute sagen, dass sie daraus Kraft schöpfen. Ich versuche mich daher regelmäßig zu engagieren und Mut zu machen. Es wiegt das Schlechte um ein Vielfaches auf.“
Aktivistin und Künstlerin Gina Disobey fährt eine ähnliche Schiene. Sie will Vorbild sein, denn ihrer Erfahrung nach fehlt Kindern und Jugendlichen oft einfach genau das: Zu sehen, dass auch eine Schwarze Frau Workshops leitet, Ausstellungen eröffnet, auf der Bühne singt und sich für ihre Rechte einsetzt. Die Black-Lives-MatterBewegung brachte für David Prieth in der allgemeinen Wahrnehmung einen großen Fortschritt: In Innsbruck sind Tausende Menschen gegen Rassismus auf die Straße gegangen. „Auch, wenn Einzelne glauben, die Bewegung sei nicht nachhaltig, hat sie zumindest gezeigt, dass wir nicht alleine sind. Diese Vernetzung kann uns keiner mehr nehmen“, so Prieth.
Es ist ein wahrer Luxus, sich mit Gerechtigkeit und Aktivismus beschäftigen zu können – das wissen Libis, Prieth und Disobey ganz genau. Denn der Alltag ist doch ein anderer: Probleme bei der Wohnungssuche, weniger Möglichkeiten im Job, schlechtere Behandlungen in Arztpraxen sind harte persönliche, wirtschaftliche und gesundheitliche Einschränkungen für Menschen mit Migrationshintergrund. All das, weil sie anders aussehen als die Mehrheit.
Manche Frauen spüren so viel Druck, dass sie trotz Babybauch Diät halten.
Wissen Sie, was das lustigste Lebensmittel der Welt ist? Nicht die Banane (obwohl sie durchaus Komik birgt). Nein, es ist Salat. Woher ich das weiß? Das beruht auf meiner jahrelangen empirischen Forschung in gynäkologischen Praxen.
Denn auf den Broschüren, die einem als schwangere Frau gemeinsam mit Folsäure und Vitaminen in die Hand gedrückt werden: lauter Frauen mit Kugelbauch, die den Salat auf ihrer Gabel angrinsen, als hätte er ihnen gerade einen besonders lustigen Witz erzählt. Oder sie betrachten ihn mit solcher Ehrfurcht, als würde er bald das gemeinsame Kind mit ihnen großziehen. Natürlich ist es nicht verwerflich, die Schwangere mit ein paar bunten, lebensfrohen Bildern zur gesunden Ernährung zu motivieren. Aber leider macht es einer hormonverwirrten, vielleicht schon besorgten Frau auch ganz schön Druck, dieses „Iss gesund, achte auf dich – tu es für dein Baby!“. Anstrengend ist eine Schwanger-
NICHT
GENUG GEWICHT
FÜR EIN GESUNDES BABY ZU.
schaft sowieso. Dass man dabei die Kontrolle über den eigenen Körper nicht nur an den wachsenden Menschen im eigenen Bauch abgibt, sondern vom gesamten Umfeld mit wohlmeinenden Ratschlägen gemaßregelt wird: mühsam. Unvergessen die Kassiererin im Bio-Supermarkt, die sich fast geweigert hätte, mir einen Brie zu verkaufen (die Listerien!). „Aber bitte, der ist doch für meinen Mann“, stammelte ich und ärgerte mich über die Bevormundung, obwohl ich den blöden Brie nie wollte. Auch bei der monatlichen ärztlichen Kontrolle muss man ja nicht nur brav seinen Urinbecher durch die Praxis tragen und Blut abzapfen lassen, sondern wird jedes Mal gewogen. Nicht alle Praxiskräfte können sich ein „Huch, da hatten wir aber wieder Appetit“ verkneifen, wenn die Frau etwas mehr als empfohlen zugelegt hat. Blöd, wenn so ein Kommentar nicht eine Schwangere mit stabilem Körperbild trifft, sondern eine, die schon immer mit ihrem Gewicht hadert. Bis zu 7,5 Prozent der Schwangeren leiden laut dem Magazin Spektrum
der Wissenschaft an Essstörungen wie Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating. Die Psychiaterin Nadia Micali fand 2013 am University College London heraus, dass 23 Prozent der schwangeren Frauen sich sehr um ihre Gewichtszunahme und ihr Aussehen sorgen. In den USA belegte eine Analyse von fast 160.000 Schwangerschaften, dass jede vierte Frau nicht so viel Gewicht zunahm, wie es für eine gesunde Entwicklung des Ungeborenen nötig wäre. Und in Japan, wo Ärzte und Ärztinnen schwangere Frauen offenbar aktiv zur Diät auffordern, hatten laut einer Studie des Journal of Clinical Medicine Research die neugeborenen Kinder im Jahr 2016 durchschnittlich nur drei Kilo auf die Waage gebracht (rund 200 bis 300 Gramm weniger als bei uns). Die weltweit zweithöchste Rate an Nierenerkrankungen sei auch auf die kleiner entwickelten Nieren japanischer Babys zurückzuführen. Während man österreichischen Frauen mit sogenanntem Normalgewicht eine Zunahme von elf bis sechzehn Kilo empfiehlt, gelten für Japanerinnen sechs bis sieben Kilo als erstrebenswert. Da bleibt einer Schwangeren wohl kaum etwas anderes übrig, als viel Salat zu essen. Ob sie dabei grinst, ist nicht überliefert.
ch mag meine Kurven sehr gerne. “ „Ich habe starke Narben.“ „Ich bin ein besonderer Typ.“ So stellen sich einige Kandidatinnen der aktuellen Staffel von Germany’s Next Topmodel vor. In kurzen Videoclips erzählen die Frauen, wie sie gelernt haben, mit roten Haaren, Narben und etwas rundlicheren Hüften umzugehen und ihre Besonderheiten in Szene zu setzen. Falls es jemand noch nicht verstanden hat: Die Sendung ist jetzt vielfältig und bunt! Vorbei sind die Zeiten von dünnen, makellosen Blondinen! Bühne frei für Plus-Size-Models und Transgender-Frauen! Das ist allerdings schon zu viel versprochen, denn in der diesjährigen Ausgabe der beliebten Fernsehshow gibt es nur ein einziges Model, das eine Geschlechtsumwandlung hinter sich hat, und wer nach Vertretung der Konfektionsgrößen M-XXL sucht, dem steht eine bittere Enttäuschung bevor. Denn die angepriesenen Plus-Size-Models sind immer noch mindestens fünf Kilo leichter als die Durchschnittsfrau. Damit das Publikum trotzdem merkt, dass Heidi Klum total am Puls der Zeit ist, wartet sie mit Shootings auf, die es vor allem jenen Models schwer machen, die für die Diversität stehen sollen. Denn nicht jede fühlt sich wohl dabei, sich in knappen Outfits lasziv auf einem Stuhl zu räkeln und die Beine zu spreizen. Auch das Nacktshooting, bei dem die intimsten Stellen mit Schaum bedeckt werden dürfen, bereitet Kummer. Soulin zum Beispiel, die als Syrerin den Punkt „ethnische Diversität“ erfüllt, möchte nur ungern ihren nackten Körper im Fernsehen zur Schau stellen. Dafür hat Heidi bestimmt viel Verständnis .
Frausein ist teurer. Die sogenannte „Pink Tax“ greift nämlich auch bei der Körperpflege. Das zeigte 2019 eine Studie zum „Gender Pricing“, durchgeführt vom Institut für höhere Studien in Wien: Sie verglich Durchschnittspreise für einen Körperpflegewarenkorb von Männern mit dem von Frauen. Für Produkte mit denselben Eigenschaften bezahlen diese im Schnitt um 9 Euro mehr pro Packung und um 6,8 Euro mehr pro 100 Milliliter.
Das Diabetes-Medikament Mediator war 33 Jahre auf dem Markt und wurde von etwa fünf Millionen Menschen genutzt – auch als Appetitzügler. Obwohl es Mitte der Neunzigerjahre schon Anzeichen für schwere Nebenwirkungen gab, nahm das französische Pharmaunternehmen Servier es erst 2009 vom Markt. Laut Experten starben mindestens 500 Menschen an Herzklappenproblemen deswegen und bei bis zu 2.000 Todesfällen soll es eine Rolle gespielt haben. Der jahrelange Strafprozess endete im März mit einem Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung. Das Gericht verhängte eine Geldstrafe von 2.7 Millionen Euro gegen Servier und auch die zuständige Arzneimittelbehörde muss 300.000 Euro zahlen.
Seit 2021 gehört Kim Kardashian, die vor allem durch Social Media und ihre TV-Show „Keeping Up with the Kardashians“ bekannt wurde, laut dem Magazin Forbes offiziell zu den 2.674 reichsten Menschen der Welt. Ihr Milliardenvermögen verdankt die 40 Jahre alte US-Amerikanerin vor allem ihrem inklusiven Kosmetiklabel KWK-Beauty, das Make-up in zwanzig – auch dunklen – Hauttönen anbietet. Und ihrem 2019 gegründeten Unterwäschelabel Skims, das Frauen mit Kurven im Blick hat.
Protokoll: MEDEA CANAZEI
findet die Künstlerin Gloria Dimmel.
Vor vier Jahren habe ich mich erstmals vermehrt mit der Vulva auseinandergesetzt und mir Gedanken über mein Verhältnis zu ihr gemacht. Relativ spontan entschied ich mich, von mir selbst einen Abdruck zu nehmen. Das funktionierte überraschend gut und ich war erstaunt darüber, wie meine Vulva wirklich aussieht.
Auch für andere fertige ich nun Gipsabdrücke an und will Frauen und nicht binären Menschen dabei helfen, ein besseres Verhältnis zu ihrem Geschlechtsteil zu bekommen. Aus manchen der Gipsabdrücke ist mein Mumory bzw. das Spiel Pussypairs entstanden. Dieses Memory soll spielerisch dazu anregen, hinzuschauen und die Kommunikation zum Thema vorantreiben. Das darf man lustig oder lächerlich finden, nur das Tabu finde ich doof – die Vulva ist so schambehaftet. Es gibt wenig sexuelle Aufklärung und teilweise
nicht mal richtige Abbildungen von anatomisch korrekten Vulven in Büchern. Stattdessen konsumieren Jugendliche Pornografie, die ein falsches Bild vermittelt, und sie verinnerlichen ein verzerrtes Selbstbild. Schönheitsoperationen in diesem Körperbereich boomen. Ich will zeigen, dass die Vulva nicht nur normschön ist, dass Vielfalt super ist und zelebriert werden darf. Ich finde auch nicht unbedingt, dass man seine Vulva konkret schön finden muss, aber man sollte okay mit ihr sein. Das Projekt ist auch eine Antwort auf Dickpicks, also Penisbilder, die im Netz verschickt werden. Wände im öffentlichen Raum sind gern mal mit Penissen verziert, mit Vulven passiert das nicht. Viele wissen nicht mal, wie sie die zeichnen sollten.
Nein, findet Rebecca Sandbichler.
Im Merchandise-Shop der Autorin und Karikaturistin Stefanie Sargnagel gibt es bald ein neues T-Shirt zu kaufen: „All Cocks are beautiful“ steht drauf. Dazu gezeichnet hat sie acht Penisse: dicke, dünne, kurze, lange. Haarige Hoden und einen herzförmigen, aus dem ein Regenwurm-Penis hervorschaut. Das ist lustig, weil es absurd ist, dass man Männern mit so einem T-Shirt Mut zusprechen müsste.
Ja, auch der Penis ist das Objekt harter Ideale, aber noch ist es nicht zur Mission geworden, den Mann mit seinem Genital zu versöhnen. Das ist scheinbar nur bei
Frauen nötig. Und so begegne ich am alternativen Weihnachtsmarkt nicht nur schön illustrierten Grußkarten, sondern auch allerlei Vulva-Accessoires. Wie festlich! Der feministische Kapitalismus hat längst Vulva-Malbücher, Vulva-Handyhüllen und Vulva-Blumentöpfe hervorgebracht. So sehr ich das Bemühen schätze, jungen Mädchen einen treffenden Begriff für ihren Körper zu vermitteln, statt Mumu zu sagen. Sie auch zu ermuntern, sich selbst zu erkunden – mit oder ohne Spiegel – und ihnen zu erklären, dass die kleinen Labien durchaus sichtbar und die großen behaart sein dürfen: So schwer fällt es mir, ins Mantra „All Vulvas are beautiful“ einzustimmen. Das Wort Schönheit ist für mich noch mit Ästhetik verknüpft, die ich an ganzen Menschen immer sehe, bei Genitalien aber nicht erkennen kann. Weder Penisse noch Vulven finde ich sonderlich hübsch. Das müssen sie auch gar nicht sein, um den Menschen Freude zu machen. Wie wärs denn mit: „All Vulvas are wonderful“?.
Seit Jahrhunderten bestimmt der männliche Blick, welche Frauenkörper attraktiv sind. Die Autorin Melodie Michelberger erzählt von ihrem eigenen Weg zur Selbstakzeptanz und fragt, wem es nützt, dass Millionen Frauen sich nicht hübsch genug fühlen .
Wie siehst du denn aus?: Warum es normal nicht gibt Ist mein Bauchnabel komisch? Wie muskulös sollte man sein? Warum sind meine Haare nicht glatt? Schon mit zehn gleichen Kinder ihre Körper mit medialen Bildern ab. Dieses Kinderbuch zeigt Körperteile in all ihrer Liebenswürdigkeit .
Sei kein Mann: Warum Männlichkeit ein Albtraum für Jungs ist.
Der Schriftsteller und ehemalige Sozialpädagoge JJ Bolde zeichnet in seinem Essay das allgegenwärtige patriarchalische System nach, untersucht das Konstrukt Männlichkeit und zeigt Auswege aus destruktiven Strukturen –auf allen Ebenen .
Entspricht eine Größe S eines Labels in Wahrheit eher einer üblichen Größe M, spricht man von Schmeichelgrößen. Doch wie entstehen die gewohnten Konfektionsgrößen und treffen sie zu?
Das deutsche Hohenstein Institute führt dafür seit 1957 regelmäßig Messungen an der Bevölkerung durch – zuletzt auch mit 3D-Scannern. Allerdings bilden die nur ein Drittel der Menschen gut ab, denn Formenvielfalt wird kaum berück-
sichtigt. Charakteristika wie „schmalhüftig“ und „starkhüftig“ könnten laut dem Institut etwa drei Vierteln der Konsumentinnen perfekt passende Kleidung verschaffen. Bei den Männern sei die Abweichung noch extremer: Eine Größe 50 müsste eigentlich in 25 unterschiedlichen Varianten produziert werden. Bei Kinderkleidung geht der Trend in die andere Richtung: fast alles ist slim fit. Martina Deuerlein gründete darum das Label Proud Little Cloud für mollige Mädchen. Zu oft habe sie mit ihrer Tochter erlebt, dass diese
in großen Handelsketten ein T-Shirt aussuchte, das niemals richtig passen und in dem sie sich unwohl fühlen würde. „Wir achten auf vorteilhafte Schnitte und machen die Vorderteile beispielsweise ein Stückchen länger, damit ein Bäuchlein etwas ausgeglichen wird“, erzählte sie dem Bayerischen Rundfunk. Wichtig sei auch die Stoffqualität: „So fällt das Shirt schön und bleibt nicht an jedem kleinsten Pölsterchen hängen.“ In fünf Monaten Online-Versand habe sie noch keine einzige Retoure bekommen.
Text:
Sie spielen mit dem Gedanken, Yoga zu beginnen? Gut für Sie! Denn es heißt sowas wie „Vereinigung von Körper und Geist“ und hat viele positive Effekte.
Regelmäßige Yoga-Übungen verbessern laut medizinischen Studien nicht nur die Atmung, Gleichgewicht, Dehnbarkeit und die notorisch unterentwickelte Rückenmuskulatur, sondern können auch lehrreich für einen liebevolleren Umgang mit dem eigenen Körper sein. Womit wir beim Knackpunkt wären: Viele Menschen scheuen nicht vor Yoga selbst zurück, sondern vor dem Bild, das sie von Yoga haben. Eines, das zuletzt Influencerinnen auf Bali prägten, die ihre durchtrainierten Bikini-Figuren an Traumstränden wie selbstverständlich in den Handstand bringen. Das ist eine beachtliche Leistung, aber nicht das oberste Ziel der Praxis. Oder wie sagte es meine Yoga-Lehrerin Anastasia so schön in ihrem ukrainischen Akzent? „Bleib auf deiner Matte!“ Was sie meinte: Schau auf deine eigenen Fortschritte, nicht auf die Verrenkungen des Nebenmanns. Als ehemalige Kunstturnerin konnte
Anastasia mühelos ihre Beine hinter den Kopf bringen und gleichzeitig auf den Händen stehen. Aber sie betonte: Jeder Körper ist anders, manche Hüften sind schmal, manche Beine kurz. Eine ist von Natur aus dehnbar, für den anderen ist es ein Erfolg, wenn er in der Vorwärtsbeuge zu den Knöcheln gelangt. Anastasias Sicht auf Yoga hat meine Praxis geprägt, genauso wie die etwas anderen Yoga-Influencerinnen, die es auf Instagram nämlich auch gibt. In Erinnerung blieb mir auch das Ende einer besonders anstrengenden Ashtanga-Vinyasa-Stunde. Nach der Endentspannung –für mich der beste Teil – sagte unsere Lehrerin: „Ihr seid heute Abend in diese stinkende Turnhalle gekommen, um Yoga zu praktizieren. Verneigt euch vor euch selbst. Denn wir alle wären heute lieber auf der Couch geblieben und hätten Topfenstrudel gegessen.“ Namaste, Anastasia.
Kleidung zu finden, scheitert oft schon am Etikett. Modefirmen entscheiden frei, wie sie ihre Ware auszeichnen, und produzieren wenig Vielfalt.
ZZUKUNFT wie
Der Terminator, Darth Vader oder gar Ikarus – die Popkultur belegt, dass uns der Cyborg, also das Mischwesen aus Mensch und Technik, seit jeher fasziniert. Hunderttausende Cyborgs weilen schon unter uns, sie werden mehr. Was bedeutet das für unser künftiges Verständnis von Körper und Schönheit?
Wohlgesinnte bezeichnen Neil Harbisson als Visionär, Kritiker wohl eher als Freak. Der irischbritische Künstler hat sich eine Antenne auf den Kopf implantieren lassen, deren Endstück beim Laufen vor seiner Stirn umherwippt. Mit der Technologie kann er laut eigenen Angaben Farben hören – das machte ihn 2004 zum ersten weltweit anerkannten Cyborg.
Doch Harbisson ist nicht mehr allein. Seine Freundin, die spanische Künstlerin Moon Ribas, kann mit einem Sensor Erdbeben auf der ganzen Welt wahrnehmen. Der Forscher Hugh Herr, der selbst bei einem Kletterunfall beide Unterschenkel verlor, hat sich künstliche Beine gebaut und klettert jetzt steilere Hänge als zuvor hinauf. Mehr als 300.000 Menschen besitzen weltweit ein Cochlea-Implantat, um besser zu hören – die Technologie treibt unter anderem das Unternehmen Med-El in Innsbruck voran. Der Cyborg ist im Mainstream angekommen.
Das Gute daran: Vom technischen Fortschritt profitiert zunächst die Medizin. Smarte Kontaktlinsen sollen bald den Blutzucker von Diabetikern messen können und elektronische Gehirnimplantate, die mit der Spritze injiziert werden, könnten in naher Zukunft Parkinson und Schlaganfällen vorbeugen. Doch vor welchen ethischen Fragen stehen wir, wenn gesunde Menschen die Technologie für bessere sportliche Leistungen, mehr Konzentration oder zur Verschönerung nutzen werden? Schon jetzt arbeitet die ästhetische Chirurgie an Hautimplantaten aus dem 3D-Drucker, die ewige Jugend versprechen. Sehen wir in Zukunft alle perfekt aus?
Christopher Coenen, Politologe am Institut für Technikfolgenabschätzung und Sys-
temanalyse des Karlsruher Instituts für Technologie, moniert vor allem die Gefahr eines Wettlaufs um das perfekte Aussehen. „Herrschende Schönheitsvorstellungen könnten noch stärker insbesondere Mädchen und Frauen psychisch belasten.“ Gewisse Eingriffe am eigenen Körper ließen sich als Selbstverletzungen begreifen. Die Fort-
schritte der plastischen Chirurgie könnten sogar neue Möglichkeiten der Identitätstarnung bieten: durch Gesichtsoperationen.
Doch Human Enhancement, wie Forscher die Optimierung des eigenen Körpers nennen, ist kein neues Phänomen, das erst Cyborgs wie Neil Harbisson zur Debatte machten. Leistungssteigerung ist ein menschliches Urbedürfnis. Seit Jahrhunderten trinken wir Kaffee, um wach zu bleiben, und seit Jahren entwickeln wir technische Geräte, die uns den Alltag erleichtern. Mit Smartphones und -watches rücken sie nur immer näher an unsere Körper heran. Auch die plastische Chirurgie und die Anti-Aging-Medizin sind laut Coenen im weitesten Sinne „Human Enhancement“, weil Menschen durch sie ihr Selbstbewusstsein steigern und ihr berufliches wie soziales Ansehen erhöhen wollen.
Neu ist lediglich die zunehmende Geschwindigkeit, in der wir Menschen mit unseren Hilfsmitteln verschmelzen. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari stellt die These auf, dass sich unsere Nachkommen in hundert Jahren so stark von uns unterscheiden werden, wie wir heute von Schimpansen. Zeit, für ein paar Fragen, die Zukunft betreffend: Ab wann geht Selbstoptimierung zu weit? Wie viel Zugriff gewähren wir der Technik auf unseren Körper? Und wie viel wollen wir von dem Körper übriglassen, den uns die Natur geschenkt hat?.
Der weltweit erste Cyborg: Neil Harbisson © WikiCommons
Viktoria Keller (30) hält einen Schlüssel zum Wasserschloss der IKB in ihren Händen. Für Innsbrucker Häuslbauer*innen öffnet sie damit die feinen Schleusen zu quellfrischem Trinkwasser. Und findet die besten Lösungen. Weil sie das 462.980 Meter umfassende IKB-Leitungsnetz bestens kennt. „Wie ihre Westentasche“, könnte man sagen. Wenn sie denn eine hätte.
it dem Wasser ist es so eine Sache. Erst, wenn das Lebenselixier nicht fließt, erkennen die diesbezüglich Verwöhnten, wie verwöhnt sie sind. Und das sind sie – die Innsbruckerinnen und Innsbrucker. Verwöhnt mit einer Wasserqualität, die manch teures Mineralwasser vor Neid den Sprudel verlieren lässt. Und verwöhnt durch ein auf Abruf beständiges Fließen des quellfrischen Trinkwassers.
Dass das Wasser in der Form verwöhnen kann, ist kein Naturgesetz, selbst wenn die Höhe der Innsbrucker Wasserschlösser für ausreichend Druck sorgt. Um die Bewohner der Landeshauptstadt jährlich mit sagenhaften 10.026.126 Kubikmeter
Wasser zu versorgen (bevor Sie Google fragen – ein Kubikmeter entspricht 1000 Litern), ist einerseits ein komplexes Wasserleitungsnetz nötig und andererseits die kleine Heerschar an knapp 50 Mitarbeiter*innen im IKB-Geschäftsbereich Wasser, die sich genau darum kümmert. Viktoria Keller (30) ist eine von ihnen.
„Ziemlich genau seit vier Jahren. Anfang April 2017 habe ich bei der IKB angefangen“, erzählt sie. Gleich mehrfach wurde sie dazu animiert. Die Job-Annonce in der Zeitung, die Erinnerung an einen Ferialjob im IKB-Geschäftsbereich Wasser und nicht zuletzt ihr ziemlich ausgeprägtes technisches Interesse gaben den Ausschlag. Viktoria: „Ich habe die HTL für Bautechnik absolviert und dann habe ich berufsbegleitend Bauingenieurswesen studiert.“
Als sie den Job bei der IKB annahm, war Viktoria etwa bei der Hälfte des Studiums angelangt. „Die Firma war da sehr entgegenkommend und für die Diplomarbeit habe ich ein firmenbezogenes Thema gewählt“, erzählt sie. „Potenzialanalyse der Innsbrucker Ringrohrleitung. Hydraulische Konsequenzen der Trinkwasserversorgung durch Querschnittverringerung“ lautet der Titel der Arbeit, mit der sie das Studium abgeschlossen und ihr Wissen um die feinen Zusammenhänge und Möglichkeiten der Innsbrucker Trinkwasserwelt mit ihrem 462.980 Meter umfassenden Leitungsnetz vertieft hat.
Zusätzlich mit dem Wissen als ÖVGW-Wassermeisterin gewappnet, kümmert sich Viktoria beispielsweise darum, dass die Häuslbauerinnen und Häuslbauer der Landeshauptstadt so technisch perfekt wie gesetzlich korrekt mit Wasser versorgt werden. Viktoria hält damit einen Schlüssel zum IKB-Wasserschloss in ihren Händen. Ein schöner Schlüssel – ist der Moment, in dem erstmals Wasser in einem neuen Haus oder einer umgebauten Wohnung fließt, der Moment, in dem dort geduscht, gewaschen, Kaffee gekocht – ja, gelebt werden kann.
„Aber ich mache nicht nur dieses Thema, es ist noch ein bissele mehr“, sagt Viktoria. Ein „bissele“ klingt ein bissele zu klein. Viktoria ist nämlich auch für die Löschwasseranschlüsse zuständig, ist Datenschutzkoordinatorin im Geschäftsbereich Wasser, stark im Digitalisierungsprozess involviert und hat sie Bereitschaft, kümmert sie sich mit den Kolleg*innen dieser Rund-um-die-UhrTask Force darum, dass Probleme, die ja gerne zu Unzeiten auftreten, in Windeseile gelöst werden. Damit das Wasser wieder in gewohnter Verlässlichkeit fließen – und die Innsbrucker*innen verwöhnen kann.
Das ist ein Foto von meinem siebenjährigen Sohn Arash und meiner zwölfjährigen Tochter Seina. Ich habe noch eine ältere Tochter, Sohaila, die siebzehn Jahre alt ist. Ich betrachte ihre Bilder oft, denn alle drei leben derzeit mit meiner Frau in Afghanistan. Dort gibt es zahlreiche Probleme, vor allem mit den Taliban. Für meine Töchter ist es zu gefährlich, zur Schule zu gehen. Zum Glück konnten wir es einrichten, dass sie zuhause unterrichtet werden. Nach dem Abzug der Amerikaner werden sich die Zustände
weiter verschlechtern. Ich selbst bin auch aufgrund der Taliban aus meiner Heimat geflüchtet. Mein Onkel arbeitete bei der Polizei und mit den NATO-Truppen zusammen, so kam auch ich in deren Visier. Seit fast sechs Jahren lebe ich in nun in Österreich und warte wie auf Nadeln sitzend auf meinen Asylbescheid, der hoffentlich positiv ist. Meine Familie ist in Gefahr und ich will sie hierherbringen. Im Moment kann ich nur per Whatsapp mit ihnen kommunizieren, dabei fließen fast immer Tränen. Die Situation stresst mich ständig, ich hoffe, dass meine Familie bald in Sicherheit leben kann.
Protokoll: TOBIAS LEO
Amina und Adil Kazem* sind aus dem Irak geflohen und leben mit ihren drei Kindern in einem Haus für geflüchtete Menschen in Innsbruck. 2017 haben sie den ersten negativen Asylbescheid bekommen. Beendet ist ihre Flucht für sie erst, wenn sie keine Angst vor einer Abschiebung mehr haben müssen.
Weil ich schiitisch bin und mein Mann sunnitisch ist, können wir weder in einem sunnitischen noch in einem schiitischen Land sicher leben. Also sind wir 2015 zusammen mit unserer damals eineinhalb Jahre alten Tochter nach Österreich gekommen. In Innsbruck haben wir noch zwei Kinder bekommen. Die
Menschen hier sind sehr nett zu uns, unterstützen uns mit Kleidung für die Kinder und beim Deutschlernen. Während Corona kommen wir aber nur noch wenig mit anderen Menschen in Innsbruck zusammen. Damit wurde die Einsamkeit größer und wir haben das Gefühl, unsere deutsche Sprache zu verlieren. Denn auch der regelmäßige Deutschkurs wurde während Corona abgesagt. Erst seit eineinhalb Monaten gibt es wieder zweimal in der Woche einen – online. In Bagdad habe ich acht Jahre als Kundenbetreuerin für eine Telekommunikationsfirma gearbeitet und Adil führte als Friseur sein eigenes Studio. Jetzt hilft er hier als Hausmeister aus, und zweimal in der Woche beim Roten Kreuz oder
im Kindergarten. Zum Teil freiwillig, zum Teil für drei Euro pro Stunde von der Gemeinde. Schon mehrmals bot man ihm eine feste Anstellung an. Aber ohne positiven Bescheid dürfen wir keine Arbeit annehmen. Alles hängt von diesem positiven Bescheid ab. Das Asylverfahren bedeutet große Unsicherheit für uns. Seit sechs Jahren begleitet uns die Angst, abgeschoben zu werden. Wenn sie hochkommt, lachen wir, um uns vor unseren Kindern nichts anmerken zu lassen. Aber das macht müde. Wir wollen, dass unsere Flucht zu Ende ist.
Protokoll: LUKAS ENGELBERGER
Illustration: AMBER CATFORD *Namen geändert.
Einrichtung: Unsere Möbel stellt die Betreuung des Hauses oder wir suchen etwas Gebrauchtes im Internet. Wir bekommen auch viele Spenden von den Nachbarinnen und Nachbarn. Das Geschirr kommt vom Roten Kreuz. Die Teller sind alle unterschiedlich.
Zusammenkommen: Wir sind neugierig und möchten neue Menschen kennenlernen, deshalb laden wir gerne Leute zu uns ein. Als wir noch weniger Stühle hatten, setzten wir uns oft auf den Teppich am Boden. In der Pandemie geht das gerade natürlich nicht.
Privatsphäre: Bis vor zwei Monaten lebten wir zu fünft in einem Zimmer mit 25 Quadratmetern und einer kleinen Küche. Wenn die Kinder spielten und ich lernen musste, ging ich in die Toilette. Mit unserer Zwei-Zimmerwohnung ist das besser geworden.
Asif Sawari.Zelte stehen im Schlamm, Menschen müssen im Freien duschen, Frauen und Kinder stehen stundenlang bei der Essensausgabe Schlange. Die Zustände im Geflüchtetenlager Kara Tepe auf der griechischen Insel
Lesbos sind katastrophal. Weil NGOs und Medien keinen Zugang bekommen oder die Insel verlassen haben, helfen sich die Insassen selbst. Damit senden sie eine klare Botschaft nach Europa.
Raids tiefe Stimme klingt am Telefon mal melancholisch, mal stolz und bestimmt. Der 46 Jahre alte Syrer erzählt, wie er 2016 nach Nordsyrien floh, bis er 2019 zunächst in der Türkei und schließlich im Dezember des gleichen Jahres auf Lesbos landete. „Ich verlor meinen Job, mein Land und einen Großteil meiner Familie. Aber ich mache weiter.“ Raid war Sicherheits- und Umweltberater für Ölunternehmen, bevor der Krieg in Syrien hereinbrach. Neun Jahre ist es her, dass er seinen Job aufgeben musste.
Doch Raid hörte auf der Flucht nie auf, zu arbeiten. Im März 2020 gründete er die Moria White Helmets, eine Selbsthilfeorganisation im Camp,
mit zunächst zwanzig Mitgliedern. Der Name ist den Syrian White Helmets gewidmet, die im Norden Syriens zu Kriegszeiten nach Bombeneinschlägen in eingestürzte Häuser rannten, Menschen evakuierten und etliche Leben retteten.
Die Moria White Helmets bergen zwar keine Menschen aus Betontrümmern, doch halten sie in Zusammenarbeit mit der griechischen NGO Stand by Me Lesvos das Lager Kara Tepe am Laufen. Als Moria im September vergangenen Jahres brannte, verließen viele Hilfsorganisationen die Insel. „Wir mussten mit denen, die noch übrig waren, überlegen, wie wir die Infrastruktur wieder aufbauen und uns vor Corona schützen.“ Denn die griechische Regierung nutze den Lockdown auch, um das Lager noch stärker vom Rest der Welt abzuschirmen.
„Anfangs waren wir hauptsächlich für das Abfallmanagement zuständig“, erzählt Raid. Bis heute klappert täglich ein Team die Wege zwischen den Zelten ab und sammelt Müll ein. Auch den Weg zwischen dem alten und dem neuen Camp haben die White Helmets sauber gemacht. Sie arbeiten mit der Stadtkommune zusammen und haben eine Sondergenehmigung, das Lager hin und wieder zu verlassen. Das ist nur wenigen vorbehalten. Mit
steigender Mitgliederzahl kamen neue Aufgabenbereiche hinzu. „Wir haben separate Teams aus Feuerwehrmännern, Sanitätern und Elektrikern, die das Lager verkabeln.“ Egal wo es brennt, dunkel ist oder Menschen sich verletzen, sind die White Helmets schnell zur Stelle. Einige unterrichten auch Kinder in Englisch oder Arabisch. Wenn ein Instrument aufgetrieben werden kann, gibt es auch mal eine Musikstunde.
Raid spricht von einem Vollzeitjob, es gibt täglich viel zu tun. Als seinen Antrieb nennt er die Kinder, denen er ein erträgliches Leben ermöglichen will. Mehr als vierzig Prozent der Menschen im Camp sind minderjährig. Auch Raid lebt mit seiner Tochter und ihrer Familie in einem Zelt, vor kurzem wurde er Großvater. Seine Tochter wird bald nach Europa weiterziehen dürfen, womit er wieder allein ist. Was ihm bleibt, ist die Hoffnung: „Ich will mein Leben fortsetzen. Wir wollen Europa doch mit unseren Fähigkeiten, unseren Geschichten und unseren Talenten bereichern.“
Raid arbeitet auch mit Qiong Wu zusammen, einem Software-Entwickler aus Hessen, der schon seit Jahren als Freiwilliger in der Geflüchtetenhilfe aktiv ist und im November 2020 nach Lesbos kam. Für Low Tech with Refugees nutzt Wu seine Talente als Tüftler. Die NGO besitzt eine kleine Werkstatt in der Nähe des Lagers, er ist dort technischer Koordinator. „Wir reparieren Fahrräder, Mobiltelefone oder Wasserkocher, manchmal auch Waschmaschinen.“ Im sogenannten
„Makerspace“ sind Geflüchtete dazu eingeladen, ebenfalls ihre Talente zu nutzen, an Projekten und Workshops teilzunehmen und selbst kleine Dinge zu kreieren. So bauen Tischler, Schreiner und Elektriker aus Syrien und Afghanistan gerade mit der NGO zusammen einen alten Linienbus zu einem Klassenzimmer um, in dem es Computer-Unterricht geben soll. Aus alten Laptopbatterien löten sie eine große Ladestation für elektronische Geräte mit USB-Anschluss zusammen. „Die Menschen verhindern so, dass ihre Fähigkeiten einrosten. Manche können vieles besser als wir“, erzählt Qiong Wu.
Die sogenannten „Community Volunteers“ sind ein modernes Phänomen, das laut Wu aber auch Schattenseiten birgt. „Früher waren Geflüchtete nur Empfänger von Hilfe, jetzt engagieren sie sich selbst.“ Das sei zwar eine Form von Selbstermächtigung, spielt aber auch Organisationen in die Karten, die kostenlose Arbeitskräfte einsetzen können. „Dass Geflüchtete in ihrem eigenen Camp Strom verlegen, zeigt leider auch, wie sich die eigentlichen Verantwortlichen hier aus der Affäre ziehen.“
Dabei würde es nicht an Geld mangeln, um die Zustände im Camp zu verbessern oder gar alle Insassen auf Sozialwohnungen aufzuteilen. Ganze 2,8 Milliarden Euro hat Griechenland seit 2015 von der EU für die Geflüchtetenversorgung bekommen, lässt sich aber bei der Finanzierung nicht in die Karten schauen. Erik Marquart, deutscher EU-Abgeordneter der Grünen, leitet eine NGO auf Lesbos und geht von einer gezielten Abschreckungspolitik Griechenlands aus. „Es fehlt jeglicher politische Wille, um die Flüchtlinge angemessen zu versorgen“, schreibt er auf seiner Website.
Hinzu komme laut Qiong Wu, dass viele NGOs fahrlässig mit Geld und dem Konzept Hilfe umgehen. Laut dem Moria Corona Awareness Team, das aus Geflüchteten im Camp besteht, werden Spendengelder für die eigene Organisationstruk-
tur ausgegeben, statt in nachhaltige Projekte zu investieren. „Die Leute sind teilweise sehr unerfahren“, sagt Qiong. Ein Problem sei auch die Selbstdarstellung: „Am besten, man bricht vor den Flüchtlingen noch in Tränen aus und lässt sich dann noch ein wenig von ihnen bedauern“, schreibt der deutsche Journalist Thomas von der Osten-Sacken auf Facebook.
Das Einzige, was sich im neuen Lager verbessert habe, sei die Sicherheit, sagt Raid. „Wir haben fast keinen Diebstahl und Gewaltdelikte mehr.“ Das ist zum einen auf die geringere Auslastung zurückzuführen, zum anderen wurde das Sicherheitspersonal massiv aufgestockt. Laut Qiong Wu nur ein bedingter Grund zur Erleichterung: „Das bedeutet mehr Überwachung, Kontrolle und systematische Freiheitsbe-
raubung.“ Diese neue Autorität bekam auch der 21 Jahre alte Afghane Amir zu spüren. Für das internationale Projekt „Now you see me Moria“ dokumentiert er den Alltag im Camp mit seiner Handykamera. Dadurch läuft er ständig Gefahr, dass die Beamten sein Handy abnehmen und es zerstören, wie es zwei seiner Bekannten widerfahren ist.
Die spanische Fotografin Noemi, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, sah im Sommer vergangenen Jahres Amirs Bilder auf Facebook und nahm Kontakt zu ihm auf. Amir und
„Manche NGOLeute, die zum Helfen kommen, sind selbst völlig unerfahren.“Qiong Wu und sein Team bauten mit Geflüchteten einen alten Linienbus zu einem Klassenzimmer aus. Darin sollen künftig Computerkurse stattfinden. © Low Tech with Refugees
zwei weitere Schutzsuchende – Ali und Qutaiba – agieren für Now You See Me Moria als Amateurreporter. Ihre Fotos schicken sie an Noemi, die die Bilder nachträglich bearbeitet und samt Texten, die teils lyrisch, teils politisch sind, in soziale Netzwerke stellt. Im Februar schickte sie einen Aufruf an Kreative in ganz Europa, die aus den Fotos professionell designte Poster machen. Sie sind frei zum Download verfügbar und hängen in den Städten Europas aus. Auch Graffiti- und Streetart-Künstler und -Künstlerinnen arbeiten mit dem Kollektiv zusammen, bald soll ein Buch mit den Entwürfen in Museen ausliegen.
„Wir wollen das Leben im Camp mit den Postern sichtbar machen, damit Europa nicht mehr wegschauen kann“, sagt Noemi. Wichtig sei dabei, dass die Bilder nicht nur schockieren, wie man es von den Medien gewohnt ist: „Man sieht immer nur weinende Kinder oder betende Menschen. Aber die Menschen sind nicht nur Opfer.“ Amir,
Ali und Qutaiba halten auch Sonnenuntergänge, ein spontan gegründetes Gitarrenensemble oder einen Geburtstagskuchen fest. „Die drei entscheiden selbst, was sie zeigen wollen, und was nicht.“ Zeitungen zahlen für die Bilder manchmal Geld, das Noemi den Reportern schickt.
Amir und seine Kollegen leisten journalistische Arbeit – essenzielle Arbeit, die von der griechischen Regierung kriminalisiert wird, und anderen längst zu gefährlich geworden ist. Amir und Raid arbeiten, weil sie müssen, aber auch, weil sie Talent haben und ihre Fähigkeiten selbst unter den widrigsten Umständen beweisen wollen. Amir träumt davon, später einmal Fotograf zu werden. Es ist schon ausgemacht, dass er bei einem telefonischen Interview etwas mehr darüber erzählt, doch kurz vor dem Termin sagt er das Gespräch ab. „Ich bin zu traurig, weil ich gestern meinen negativen Asylbescheid bekommen habe“, schreibt er. Bald muss er zurück in die Türkei.
Europäische Designer gestalteten Poster für das Projekt Now You See Me Moria. © now_you_see_me_moria
WIR
Judith Kohlenberger, Kremayr & Scheriau
Die Wiener Migrationsforscherin gehört dieser Tage zu den wichtigsten Stimmen für eine respektvolle, inklusive Gesellschaft. Denn sie widerlegt konsequent populistische Wahrheiten über PullFaktoren und passend gemachte Asylzahlen. In ihrem Essay skizziert sie den Weg zu einer Gesellschaft, die das Verbindende über das Trennende stellt, und keine Angst vor neuen Einflüssen hat. Die Forscherin der Wirtschaftsuni Wien basiert das nicht auf Träumen, sondern einer soliden Faktenlage, die für die Teilhabe von allen spricht.
Parag Khanna, Rowohlt
Der indisch-amerikanische Strategieberater, Politikexperte und Bestsellerautor hat mit „Move. Das Zeitalter der Migration“ den Blick in die Zukunft gewagt. Er sagt basierend auf unserer stets mobilen Historie und allem, was wir über Klimawandel, Ressourcenknappheit und Co wissen, ein Zeitalter des Nomadentums voraus. Dabei beleuchtet er auch demografische Effekte. Die Menschen werden sich auf dem Planeten neu verteilen (müssen), sagt er. Man muss das nicht zu hundert Prozent unterschreiben, um in diesem Buch viel Spannendes zu finden.
Es gibt im Camp auch mal Gitarrenklänge oder Geburtstagskuchen.
Tausende Menschen, die sich im vergangenen Jahr im Tiroler Wintersport-Ort Ischgl mit dem Corona-Virus infiziert haben, belangen nun die Republik in einer Sammelklage. Es könnte teuer werden.
Am 12. März flog HansHarald Lippisch mit seiner Freundin von Hannover nach München, wo ein Mietwagen wartete. Der Geschäftsmann hatte schon gehört, das Coronavirus sei wohl von Südtirol auch nach Österreich eingedrungen, und rief im Hotel an, um zu fragen, was es mit der Schließung des Skigebiets auf sich habe.
„Auf meine Frage, wie ernst das Infektionsrisiko vor Ort ist, hatte man mir erklärt, dass nur das Skigebiet Ischgl schließt, alle anderen Skigebiete, unter anderen auch Kappl, bleiben geöffnet. Wir könnten also getrost anreisen.“ Wenige Stunden nachdem sie im Fünfsternepalast in Kappl eincheckten, erfuhren sie, dass nur noch am Freitag, dem 13. März die Lifte gehen würden. Man beschloss, den einzigen Tag zu nützen. Um 15:15, so vermerkt Lippisch später in seinem Corona-Tagebuch, kam eine E-Mail vom Hotel, mit Bitte um Rückruf. Ischgl würde „endgültig zugesperrt“. Schon eine Viertelstunde später standen die Bergbahnen still. „Betriebsstörung“, hieß es offiziell. Nach 40 Minuten seien die Gondeln wieder gelaufen, um die Gäste ins Tal zu bringen.
In Ischgl herrschte bereits Chaos. Das Shuttle nach Kappl ging nicht mehr, an der Busstation warteten mehr Menschen, als der Bus fassen konnte. „Wir ließen die Skier stehen und machten uns zu Fuß auf den Weg“, erzählt Lippisch am Telefon. Eine Frau habe sie nach zwei Kilometern aufgelesen und am Hotel abgesetzt. Wenig später saßen sie im Mietwagen im Stau. Zu Hause wurde er positiv auf Covid getestet. Lippisch will jetzt die Republik Österreich für Unkosten und Verdienstausfall auf 22.905,78 Euro klagen. Für
ihn und mehr als 6.000 Covid-Geschädigte, die sich in den Märztagen des vergangenen Jahres in Tirol angesteckt haben, ist Peter Kolba der Hoffnungsträger. Der bekannte Verbraucherschützer hat eine Serie von Prozessen gegen die Republik Österreich angestrengt, die am 9. April am Oberlandesgericht Wien beginnen sollte, wegen der hohen Fallzahlen aber verschoben wurde.
Sammelklage nach österreichischem Recht. Im Büro seines Verbraucherschutzvereins (VSV) in Wien sitzt Kolba mit grau-weißem Vierzehntagebart an seinem Schreibtisch. Im völlig schmucklosen Raum hängt ein Poster, das die Ischgl-Prozesse zusammenfasst: „Ischgl März 2020, Covid-19-Hotspot. 6.000 Beschwerden aus 45 Ländern, 30 Tote, Tausende Geschädigte. Verbraucherschutzverein klagt die Republik Öster-
reich“. Als Hintergrundbild dient ein Hotelkomplex mit Berggipfel, darüber schwebt wie eine riesige rote Sonne ein stacheliges Coronavirus. Inzwischen sind es mehr als 6.000 Geschädigte, die sich an den VSV gewandt haben, und Angehörige von 32 Toten, darunter 20 allein aus Deutschland. Die österreichische Zivilprozessordnung kennt keine Sammelklage wie in den USA, wo Anwaltsbüros ihre Mandantinnen und Mandanten mit ähnlichen Ansprüchen gegenüber
einem Unternehmen, einer Gemeinde oder auch einem Staat vertreten. Sie finanzieren sich mit einem Prozentsatz der erstrittenen Entschädigung. Scheitern sie, gehen sie leer aus. Peter Kolba, der 27 Jahre lang die Rechtsabteilung des österreichischen Vereins für Konsumenteninformation (VKI) aufgebaut und geleitet hatte, erfand vor zwanzig Jahren eine österreichische Variante der Sammelklage. Anlassfall war ein massenhaft auftretender Brechdurchfall in einer Ferienanlage im türkischen Bodrum. Die Betroffenen traten ihre Ansprüche an den VKI ab, der schließlich in einem Vergleich eine angemessene Entschädigung durchsetzte. Kolba: „Vorher versuchte der Veranstalter die Kläger mit Gutscheinen abzufinden.“
Die Klage des VSV richtet sich gegen die Republik Österreich. Denn zuständig für das Verhängen einer Sperre wäre das Gesundheitsministerium gewesen, so Peter Kolba, dem wohl bewusst ist, dass sich der Gesundheitsminister in der Praxis gegen die lokalen Machthaber nicht durchsetzen kann. Er listet drei Verordnungen der administrativ zuständigen Bezirkshauptmannschaft Landeck auf, die von den Hoteliers und Liftbetreibern in Ischgl und Umgebung ignoriert worden seien: die Schließung von 14 AprèsSki-Bars in Ischgl, das Verbot für Ansammlungen von mehr als 500 Menschen und die Schließung der Seilbahnen. Dass sich vor einzelnen Lokalen Menschen gedrängt haben, ist durch Fotos der Polizei anschaulich dokumentiert
Après-Ski wurde zum Restaurant. Dabei hätten ab dem 11. März alle Après-SkiLokale schließen müssen. „Als wir an dem Tag vom Berg kamen, wurden die Après-Ski-Bars dann als Restaurants verkauft“, sagt Marcel Baenisch aus Hameln, der ebenfalls unter den Klägern ist: „Es wurde einfach das ‘Après-Ski’ überklebt. Die Party ging weiter. Alle saßen dicht an dicht und tanzten, nur ohne professionelle Tänzerinnen und Musik.“
Spätestens dann hätten sich wohl die letzten Gäste infiziert. Der dreißig Jahre alte Cheftrainer der Tennis Academy Weserbergland war mit fünf Freunden unterwegs: „Bis auf einen haben sich alle angesteckt, einer hatte einen schweren Verlauf.“ Sein Kreislauf sei auf der Heimfahrt kollabiert, nach Fieberattacken und schwerem Husten habe sich eine Herzmuskelentzündung eingestellt. Baenisch: „Er hat immer noch starke Nachwirkungen und ist nicht wirklich belastungsfähig.“ Baenisch
selbst habe längere Zeit unter Geruchsverlust gelitten und neige noch immer „zu Konzentrationsproblemen bis hin zu leichten Gedächtnisstörungen“.
Beim bevorstehenden Prozess kommt Kolba entgegen, dass etwa jede und jeder Zweite der deutschen Geschädigten über eine Rechtsschutzversicherung verfügt, die für die Gerichtskosten aufkommt. Für die anderen ist er mit einem deutschen Prozessfinanzierer im Gespräch. Der Prozess wird daher in mehreren Etappen stattfinden.
„Niemand, kein Land und kein Ort der Welt, war auf eine derartige Situation vorbereitet. Ischgl wurde dabei mit voller Wucht als erste Destination getroffen, vergleichbar mit einer unvorhersehbaren Naturkatastrophe“, so Andreas Steibl, Geschäftsführer des Tourismusverbands Paznaun – Ischgl, zu den Vorwürfen. Die Tiroler Behörden und auch die Hoteliers und Liftbetreiber hatten keine Erfahrung mit Pandemien und mögen das Infektionsrisiko unterschätzt haben. Peter Kolba will ihnen aber keine mildernden Umstände anrechnen. Spätestens seit Mitglieder einer isländischen Reisegruppe zu Hause positiv auf Covid getestet wurden, müssen die Behörden informiert gewesen sein. Eine Reiseleiterin und kurz darauf die isländischen Gesundheitsbehörden hatten am 3. März Bescheid gegeben, dass isländische Gäste aus mehreren Hotels in Tirol nach ihrer Heimkehr positiv auf Covid-19 getestet worden seien. Hotellerie und Politik in Tirol konnten ab diesem Zeitpunkt nicht mehr behaupten, dass das Paznauntal Corona-frei sei. Genau das hätten sie aber mehr als eine Woche getan, so der deutsche Blogger Sebastian Reinfeldt, der für Kolba vor Ort recherchierte. Deutsche Gäste wie Hans-Harald Lippisch hatten sich vor ihrer Abreise nach Ischgl telefonisch vergewissert, dass dort keine Gefahr drohe. Keiner von ihnen wurde gewarnt. Eine von Landeshauptmann Günther Platter
eingesetzte Expertenkommission unterstützt mit ihrem im vergangenen Oktober vorgelegten Bericht diese Vorwürfe: „Aus epidemiologischer Sicht“ sei es falsch gewesen, das Skigebiet Ischgl nicht früher zu schließen. Und auch das AusreiseChaos sei vermeidbar gewesen, wäre man in Tirol auf die bevorstehenden Quarantäne-Maßnahmen vorbereitet gewesen.
Fifty-Fifty für die Republik.
Für Peter Bußjäger, Professor für Verfassungsund Verwaltungsrecht an der Uni Innsbruck, stehen die Chancen für die Republik 50 zu 50. Das Amtshaftungsgesetz setze für einen Schuldspruch voraus, „dass staatliche Organe in der Vollziehung rechtswidrig und schuldhaft gehandelt haben“. In der Sammelklage wird geltend gemacht, dass die Bezirkshauptmannschaft das berüchtigte Kitzloch zu spät geschlossen und das Abreisechaos zu verantworten habe. Bußjäger: „Grundsätzlich kann man sagen, im Nachhinein betrachtet, hat die Bezirkshauptmannschaft zu spät gehandelt und damit liegt die Rechtswidrigkeit vor, das Epidemiegesetz zu spät angewendet zu haben.“ Wäre er Berater der Regierung, so würde er einen Vergleich empfehlen. Weniger wegen der möglichen Entschädigungssumme sondern der Beispielwirkung: „Wenn ich den Prozess verliere, wäre das ein sehr sehr ungünstiges Urteil mit möglicherweise weitreichenden Folgen“.
„Ischgl wurde als erste Destination mit voller Wucht getroffen.“
Mit viel Fantasie und Spin lässt sich eventuell noch die Diagnose Burn-out als persönliches Asset verkaufen. Eine Depression ist hingegen ein absolutes No-Go. Mit Beginn der Pandemie tauchte etwas Neues auf, eine seltsame Art der „Erschöpfung“. Aber was ist das eigentlich? Sind wir ausgebrannt, sind wir hoffnungslos? Einige beschreiben das Gefühl als eine Art Nebel, der jegliche intensive Emotion unmöglich mache. In der New York Times beschrieb sie der prominente US-Psychologe Adam Grant als „Leere zwischen Depression und Aufblühen“ – das Fehlen von Wohlbefinden. Dieser Zustand des „Languishing“ (des Ermattens) ist nicht unangenehm, angenehm auch nicht.
Was passiert, wenn man über viele Monate, jedoch eben nicht auf voller Höhe funktioniert? Wenn durch Lockdowns und Mehrfachbelastungen die Konzentrations und Motivationsfähigkeit chronisch beeinträchtigt sind, alle Arbeiten dadurch auf niedrigerem Level den
HERZ FRAGT, HIRN ANTWORTET – Die Philosophin Lisz Hirn stellt sich monatlich Fragen, die zum Nachdenken auffordern.
Noch immer werden psychische Krankheiten hierzulande stiefkindlich behandelt. Für mentales Unwohlsein ist in einer hochoptimierten, kompetitiven Welt einfach kein Platz.
noch erledigt werden? Macht „Languishing“ krank? Die gute Nachricht ist: Nein, noch nicht. Die schlechte ist: Neue Studien zeigen zum Beispiel, dass das italienische Gesundheitspersonal, das im Frühjahr 2020 unter Ermattung litt, heuer dreimal häufiger mit einer posttraumatischen Belastungsstörung diagnostiziert wurde. Languishing funktioniert eine Zeit, genau das ist das Problem. Wenn ich nicht fühle, dass ich mir und der Welt gegenüber völlig indifferent bin, dann hole ich mir auch keine Hilfe. Diese
scheinbare Seelenruhe birgt ein reales, mentales Gesundheitsrisiko. Gleichgültigkeit und Seelenruhe sind eben nicht dasselbe. Das betonte schon die antike Philosophenschule der Stoiker. „Ataraxia“ , die Seelenruhe der Stoiker, stellt sich nicht nur ein, wenn man frei von Lust und Schmerz ist, sondern auch wenn man die wichtigsten Lebensfragen für sich geklärt hat. Als Belohnung für die Mühen winkt die berühmte stoische Ruhe. Wie diese inmitten einer Pandemie erlangen? Die einen sind draußen maskiert im
APROPOS – In jeder Ausgabe fädelt Alexandra-Marlène Puchner die Perlen der Assoziationskette für uns auf.
Etliches dreht sich heut um Selbstoptimierung. Der Mensch strebt seit jeher nach einem at trak tiven Äußeren, doch das ist nicht neu. Verrückte Schönheitsrituale gabs schon immer. Die alten Griechen badeten in Krokodilkot. Grausig? Geht noch gruseliger! Elisabeth Báthory, die sogenannte Blutgräfin von Ungarn, ließ angeblich junge Frauen abschlachten, weil sie gern in vermeintlich konservierendem Blut badete. Fürs Baden im Meer boomt in Asien dagegen der Facekini. Ähnelt einer FetischMaske und bewahrt den ElfenbeinTeint. Am besten wird er ergänzt mit einem Ganzkörperbadeanzug, so
bleibt einem das Prozedere der Körperenthaarung erspart. Diese hätte frau sich in den USA der Vierziger besser sparen sollen. In BeautySalons wurde nämlich mit Röntgenstrahlen enthaart. Viele Kundinnen starben an Hautkrebs. Todschick! Das wollte auch Elizabeth I. sein und kleisterte sich mit tonnenweise Make up aus Quecksilber zu, was wohl zu einer schleichenden Bleivergiftung führte. MarieAntoinette cremte lieber mit Taubenessenz. Bei solch exzessiven Schmierereien fällt es der Haut schwer, sich zu erholen, obwohl das Organ von robuster Natur ist: Etwa achthundertmal in unserem Leben er
Einsatz, die anderen scheinen auf Dauerpause gestellt. Während einige geimpft sind, bangen manche, ob sie sich vor ihrem Impftermin noch infizieren werden. Inmitten von lärmenden Kids im HomeSchooling oder in den Pausen zwischen den ZoomMeetings scheint allein der Versuch absurd. Doch es gibt Hoffnung! Inmitten der damaligen PestEpidemie und ständiger militärischer Grabenkämpfe schrieb der römische Kaiser Marc Aurel an seinen stoischen Selbstbetrachtungen. Zugegeben, der Philosophenkaiser war weit fortgeschritten, aber auch Anfänger sollten sich kleine Aufgaben zutrauen. Beispielsweise könnte ich nächstes Mal auf die banale Frage „Wie geht es dir?“ mit einem „Ehrlich gesagt, ich bin so was von matt.“ antworten. Diese Übung wirkt übrigens auch hervorragend gegen „toxische Positivität“. Die ermattet mich jedenfalls.
UNSERE KOLUMNISTIN LISZ HIRN Die Philosophin, Sängerin und Autorin Lisz Hirn lehrt „Philosophische Praxis“ an der Uni Wien.
neuert sie sich. Jede Minute verlieren wir etwa 40.000 Hautzellen. Das entspricht 3,5 Kilo pro Jahr. Pflege mit Urea, also Harnstoff, tut ihren Mikroorganismen besonders gut. Das wusste bereits Simonetta Vespucci – sie stand für Sandro Botticellis Meisterwerke unter anderem als Venus Modell. In Urin getünchte Gesichts und Haarmasken erhielten ihre noble Blässe. Vor allem LöwenPipi machte im alten Italien die Haare schön. Und hell. Entstellten Kriegsveteranen halfen leider keine BeautyHacks mehr. Daher kreierte Anna Coleman Ladd um 1917 speziell angefertigte Masken und verhalf den Soldaten zurück ins gesellschaftliche Leben. Jede Zeit hat ihre Möglichkeit. Das ist, na ja, manchmal mehr oder weniger schön. UNSERE
Die Kunsthistorikerin und Literaturwissenschaftlerin lebt in Salzburg und hat ein Herz für die kleinen und kuriosen Dinge des Lebens.
Schloss Itter, die kleine Trutzburg am Eingang zum Tiroler Brixental, ist eine Schatzkiste für skurrile Geschichten, mit schillernden Figuren. Und Schauplatz einer der seltsamsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges. Erinnerung an den 4. und 5. Mai 1945.
Es war ein bizarrer Höhepunkt. Wie in einem Film. Als hätte ein Drehbuchautor alle dramaturgischen Register gezogen. Mit einer mittelalterlichen Burg als Kulisse und einem Captain der US-Armee, der deutsche Wehrmachtssoldaten im Kampf gegen düster verbissene SS-Soldaten befehligt. Mit einem tapferen Koch, einem furchtlosen Tennisstar und einem geläuterten Nazi, der sich dem Widerstand angeschlossen hatte und am Ende sein Leben verlor, als er einen ehemaligen französischen Premierminister rettete und dabei von der Kugel eines SS-Scharfschützen getroffen wurde.
Das ist die Kurzfassung dessen, was am 4. und 5. Mai 1945 rund um Schloss Itter passierte, der kleinen Trutzburg im Tiroler Unterland. Adolf Hitler hatte sich vor ein paar Tagen erst erschossen und kurz darauf sollte der Zweite Weltkrieg zumindest in Europa enden, doch rund um Schloss Itter wurde geschossen, als gäbe es kein Morgen – oder eben doch ein Morgen für das Deutsche Reich.
1938 war Österreich Teil des Deutschen Reiches geworden. Auch Tirol und damit die Gemeinde Itter, die erhaben auf einer kleinen Terrasse am Eingang zum Brixental liegt. Mit ihrem Schloss, das aufgrund seiner malerischen Zinnen mehr an eine Burg erinnert. Im 13. Jahrhundert wurde Schloss Itter erstmals urkundlich erwähnt und seine Geschichte ist so turbulent
wie die Geschichte der Gemeinde selbst, die erst im Jahr 1816 permanent tirolerisch wurde.
Eine Zeit lang war im Schloss die Gerichtsbarkeit untergebracht, dann zogen die Richter ins nahe Hopfgarten und das Schloss wurde zerstört, dann wieder aufgebaut und wieder zerstört. „Zu Zeiten Napoleons und der bayerischen Besatzung wurde die Ruine um 15 Gulden der Gemeinde Itter überlassen. Die Einwohner haben sie als Steinbruch verwendet. So ist auch der Ittererwirt entstanden. Unser Haus wurde aus Steinen des Schlosses erbaut“, sagt Hans Ager.
Hans Ager, 71 Jahre alt, ist ehemaliger Nationalratsabgeordneter, ehemaliger Gemeinderat von Itter und ehemaliger Wirt des dem Schloss nahegelegenen Dorfgasthauses im Zentrum. Seine Großmutter war die als sehr resolute Frau in Erinnerung gebliebene „Ittererwirtin“ Burgi Doll.
Text: ALEXANDRA KELLER„Sie war meine Geschichtenerzählerin“, sagt Ager. Von all den Schlossherren erzählte sie zum Beispiel, die mit vollen Taschen und großen Plänen kamen, um nach dem Scheitern ihrer ItterProjekte mit leeren Taschen und planlos wieder zu gehen. Von der deutschen StarPianistin und Komponistin Sophie Menter auch, die das Schloss 1884 erworben und Itter zu einem zauberhaften musikalischen Schauplatz verwandelt hatte. „Frédéric Chopin, Peter I. Tschaikowski oder Franz Liszt waren beispielsweise bei ihr zu Gast“, erzählt Hans Ager das ihm Erzählte. Von Menters Zeit als Schlossherrin heißt es, dass die Gemeindebewohner sich an den Konzertabenden gerne ums Schloss scharten und im Schlosspark sogar die zahllosen Katzen der Musikerin zu den göttlichen Pianoklängen miauten.
Glücklich endete nur eine Geschichte hier. „Keiner der Schlossherren ist in Itter begraben. Meine Großmutter sagte immer, es liegt ein Fluch auf dem Schloss“, sagt Hans Ager. Vielleicht hatte sie recht. Der rote Faden der Schlossgeschichten ist stets ein wenig skurril und keine endet wirklich glücklich. Außer die eine Geschichte, die Geschichte der Schlacht um Schloss Itter und die hochrangigen französischen KZ Gefangenen, die dabei auf abenteuerliche Weise gerettet wur
den. Von einer in der Form einzigartigen Truppe aus US und Wehrmachtssoldaten. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges.
Weltweit sind Zeithistoriker entzückt von dem Thema. In Itter selbst wurde jedoch kaum darüber gesprochen. „Das ist immer ein Tabu gewesen. Wahrscheinlich, weil es mit der SS oder der nationalsozialistischen Zeit zu tun hat, mit der man keine Berührungspunkte haben wollte“, vermutet Ager. Er wurde 1949 geboren, wuchs in einer Zeit auf, in der Österreich krampfhaft versuchte, sich als erstes Opfer des NS Regimes zu definieren und den eigenen Anteil am Gräuel der Ideologie und des Krieges zu ignorieren.
Jedenfalls waren es nur kleine Fetzen einer großen Geschichte, die dem heranwachsenden Hans Ager erzählt wurden. „Die Itterer wussten, dass
Jean Borotra war ein berühmter französischer Tennis-Champion der Zwanziger und Dreißiger. Er war im Vichy-Regime für Sport verantwortlich, wurde aber 1942 schon von der Gestapo verhaftet, weil er zu fliehen versuchte. Er lebte später in Australien.
französische Gefangene auf Schloss Itter von der SS bewacht wurden. Die feinen Zusammenhänge kannte niemand. Keiner wusste, warum und weshalb“, sagt er. Später sollten sein Onkel Georg Ager oder der langjährige Bürgermeister Hans Fuchs den offenen Fragen auf die Spur gehen. Und versuchen, sie abseits der internationalen Archive auch aus Itterer Sicht zu beantworten. Das Buch „Die letzte Schlacht“, in dem der US amerikanische Historiker Stephen Harding den Kampf um Schloss Itter umfangreich beschreibt, ist erst 2015 auf Deutsch erschienen. 70 Jahre später. „Die Itterer haben die Gefangenen damals nicht zu Gesicht bekommen“, weiß Ager, „die durften ja nicht raus aus ihrem Gefängnis.“
Politprominenz im goldenen Käfig. Im Februar 1943 hatte die deutsche NaziRegierung beziehungsweise die SS Schloss Itter erst in Besitz genommen und bald zu einer Außenstelle des KZ Dachau umfunktioniert. Mit den Verhältnissen in den Todeslagern hatte diese Außenstelle nichts gemein. Das Schloss war zwischenzeitlich zu einem Luxushotel im BelleEpoqueStil umgebaut und letztlich dazu auserkoren worden, hochrangige und berühmte französische Gefangene unterzubringen. Als Faustpfand, wie es heißt. Die Liste der „Ehrenhäftlinge“ ist nicht lang, doch beeindruckend. Und der Druck, der mit ihnen respektive der Bedrohung ihres Lebens ausgeübt werden konnte, erschließt sich schon
Prominenz auf Schloss Itter (von vorne): Edouard Daladier, französischer Ex-Premierminister; der amerikanische General Anthony B. McAuliffe; Paul Reynaud, ebenfalls französischer Ex-Premierminister, gefolgt von General Maurice Gamelin, französischer Chefkommandant und der französische General Maxime Weygand (mit der Hand in der Tasche) am achten Mai 1945, Ende des Zweiten Weltkrieges.
mit einem flüchtigen Blick auf den Kriegsschauplatz. Nach der Niederlage Frankreichs gegen NaziDeutschland regierte ab 1940 das Hitlertreue VichyRegime die Grande Nation und die französische Widerstandsbewegung kämpfte gegen die deutsche Besatzung. Am 6. Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie und General Charles de Gaulle gründete am 3. Juni 1944 die Provisorische Regierung, unter deren Führung Frankreich befreit werden sollte.
Charles de Gaulles ältere Schwester, MarieAgnès Cailliau, zählte genauso zu den Gefangenen auf Schloss Itter, wie die beiden ehemaligen Premierminister Èdouard Daladier und Paul Reynaud, der Tennischampion Jean Borotra, zwei ehemalige Hauptbefehlshaber, ein führendes Mitglied der Résistance und der Gewerkschaftsführer Léon Jouhaux. Gefangene aus osteuropäischen Ländern wurden auf Schloss Itter als Bedienstete der Ehrenhäftlinge eingesetzt und bewacht wurden sie alle von SS Soldaten unter dem Kommando von SS Sturmbannführer Sebastian Wimmer.
Eskalation am Kriegsende. Kurz nachdem Hitler sich am 30. April 1945 das Leben genommen hatte, spitzte sich die Lage für die Gefangenen auf Schloss Itter zu. Ihre Gefängniswärter hatten die Flucht ergriffen. Am 3. Mai 1945 war das, dem Tag, an dem der Krieg in Tirol offiziell für beendet galt. „Doch im Unterland hatten sie davon noch nichts mitbekommen und die WaffenSS kämpfte weiter“, erklärt Hans Ager. Es war eine brenzlige Situation, denn die SS Truppen hatten Schloss Itter und die Gefangenen im Visier. Wohl um den Befehl auszuführen, dem zu entsprechen sich Sturmbannführer Wimmer geweigert hatte: die Gefangenen zu liquidieren.
Die Gefahr war groß. In einem Krieg gibt es keine kleine. Nur langsam rückten die alliierten US Truppen von Innsbruck her Richtung
Osten vor und am 4. Mai 1945 beschloss Andreas Kobot, ein tschechischer Gefangener, der für die französischen Häftlinge gekocht hatte, von Itter nach Wörgl zu radeln, um Hilfe zu holen. Auf abenteuerlichem Weg traf er dort auf Josef „Sepp“ Gangl, einen deutschen WehrmachtsMajor, der sich mittlerweile dem österreichischen Widerstand angeschlossen hatte und die Wörgler gegen marodierende SS Truppen schützen wollte. Gangls Einheit umfasste aber nur noch vierzehn Soldaten. Zu wenige, um den knapp 150 Soldaten der WaffenSS entgegenzutreten, die Schloss Itter einnehmen wollten. Rasch entschloss Gangl sich, Hilfe bei den US Truppen zu suchen. Der erste Soldat, dem er bei Kufstein begegnete, war John „Jack“ Lee, Hauptmann einer Panzerdi
vision der US Army. Auch Lee erklärte sich sofort bereit, den französischen Gefangenen zu Hilfe zu eilen.
So entstand die außergewöhnliche und für den Zweiten Weltkrieg einzigartige Situation, dass sich zehn amerikanische Soldaten, 14 Soldaten der deutschen Wehrmacht und deren hochdekorierter Major unter dem Kommando des USArmyHauptmanns Jack Lee nach Itter durchschlugen, um zusammen gegen die SSTruppen zu kämpfen.
Alles passierte im Stakkato von Maschinengewehrsalven. Drei weitere Widerstandskämpfer aus Wörgl und teils auch die Gefangenen schlossen sich der seltsamen Truppe an und kämpften am Morgen des 5. Mai 1945 gegen die immer näher den Hügel heranrückende, zahlenmäßig weit überlegene Abordnung der SS. Auch der ehemalige Premierminister Paul Reynaud griff zur Waffe. Dabei wagte er sich zu weit vor. Josef Gangl wollte ihn in Deckung bringen und wurde von einem Scharfschützen der WaffenSS in den Kopf getroffen. Unter den Verteidigern des Schlosses sollte Gangl der einzige Tote bleiben.
Das letzte Gefecht am Nachmittag. Dem Tennischampion Jean Borotra war es in der Zwischenzeit gelungen, als Bauer verkleidet den bereits alarmierten Rettungstrupp der US Army zu erreichen und ihn über die Stellungen der SS Einheiten zu informieren. Mit den Worten „die schießen uns hier den Arsch aus der Hose“, hatte Lee „seine Kollegen“ per Telefon zur Eile angetrieben. Sie beeilten sich und besiegten die SS Soldaten am Nachmittag des 5. Mai 1945. Die befreiten Franzosen wurden ins sichere Innsbruck gebracht und erreichten am 10. Mai 1945 Paris. Rund hundert SS Soldaten wurden gefangen genommen. Josef Gangl wurde als Held des österreichischen Widerstandes geehrt und die Schlacht um Schloss Itter ging in die Geschichte ein – als seltsam.
„Ja, eine verworrene Geschichte war das“, sagt Hans Ager, der die sukzessive Entwirrung dieser filmreifen Episoden über die Jahre mit Spannung verfolgte und irgendwann selbst begann, Informationen zu sammeln und zu archivieren. Das
Josef „Sepp“ Gangl schloss sich in Wörgl dem Widerstand an, kämpfte für die Befreiung von Schloss Itter und gab sein Leben für einen Kriegsgefangenen der Nazis.
weitere Schicksal des Schlosses erlebte er hautnah mit. Das Kommen und Gehen des „verrücktesten aller Schlossherren“ Willi Woldrich etwa und die Zeit, in der das Schloss ein Nobelhotel für betuchte, meist amerikanische Gäste gewesen war.
Als der jüngst verstorbene österreichische Journalist Hugo Portisch in Itter für seine Dokumentationsserie Österreich II drehte, war sein Onkel Georg Ager als Gesprächspartner dabei. Und als Regisseur Franz Antel auf dem Schlossgelände den Streifen „Liebesgrüße aus Tirol“ drehte, wirkte er selbst als Komparse mit. „Vorher wurden auch amerikanische Spielfilme hier gedreht – unter anderem mit Charlton Heston“, erinnert sich Ager.
Seit vielen Jahren ist das Schloss in Privatbesitz und nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich. Gerne hätte Hans Ager gesehen, dass die Gemeinde Schloss Itter kauft und zum Museum umfunktioniert, um all die Geschichten vor Ort erlebbar zu machen und die Erinnerungen lebendig zu halten. Ager: „Das hat die Gemeinde aber nicht gemacht. Und das ist sehr schade.“ Stimmt.
„Die schießen uns hier den Arsch aus der Hose“, teilte der Amerikaner am Telefon den Kollegen mit.© ARCHIV NORBERT GANGL
ARTSCHNITT – In jeder Ausgabe stellen wir aufstrebende Talente oder etablierte Größen der Malerei, Fotografie und Grafik vor. Das dreizehnte 20er-Kunstposter stammt von Simon Lehner.
Der Fotograf Simon Lehner nimmt Symptome übersteigerter Männlichkeit und die eigene Biographie in den Fokus. Mit computergenerierten Bildern verwischt er zunehmend die Linie zwischen Gesehenem und seinen Gedanken. Porträt eines Grenzgängers.
Ein Junge tanzt allein durch einen leeren Raum, wie von einer unsichtbaren Kraft gelenkt. Niemand sonst ist hier, doch ein Baseballschläger im Anschnitt erzeugt eine komische Ahnung. Etwas stimmt hier nicht, man möchte diesen computergenerierten Jungen beschützen.
Das Video ist offensichtlich nicht real, aber eine Interpretation von Erinnerungen des österreichi
rät ein. „Die Haut, die Haare, es kommt mir schon sehr nahe“, sagt Lehner. Und doch sei interessant, dass jedes der rund zwanzig Programme, die er dazu benötigt, beim Rechnen kleine Fehler einbaut, Lücken lässt, das Bild ein wenig umschreibt. „So macht es auch unser Gehirn mit unseren eigenen Erinnerungen, wir
„Mein Lehrer hat drei Minuten skizziert, worum es in der Fotografie gehen kann. Ich wusste: das wird mein Werkzeug.“
mierten Amsterdamer Fotografie Museum FOAM in die Riege der besten jungen Fotografinnen und Fotografen gewählt worden, zuvor erhielt er das Ö1TalenteStipendium 2020. Ein Jahr lang kann er sich nur seiner Kunst widmen. „Das bedeutet große Freiheit für mich“, sagt Lehner. Dass er, dem man als Kind prophezeit hatte, später bei der Müllabfuhr zu arbeiten, seine Werke nun im Leopold Museum ausstellt – er kann es schwer fassen. Zufrieden sei er sowieso nie, immer bleibe der Zweifel: Irgendwann kommt raus, dass ich eigentlich nichts kann. „Dabei ist da gar nichts, was auffliegen könnte“, sagt Lehner und lacht.
Aufnahmen aus der eigenen Kindheit ergänzt Lehner mit Fragmenten seiner Erinnerungen.
Für die Kunst braucht man keine Matura. Gerade sei er – zur Sicherheit mit einem perfekten Plan – im Salzburger Fotohof angerückt, um seine große Einzelschau aufzubauen. Es ist eine von sechs oder sieben Ausstellungen in diesem Jahr, genau hat er es nicht mal im Kopf. Aber diese bedeutet eine Art Heimkehr: „Die Leute vom Fotohof haben mich schon früh unterstützt.“ Sechzehn war er, als er dem Team einige Bilder seiner dokumentarische „Jaga“Serie über die Jagd schickte. Gefördert habe ihn auch sein Kunstlehrer und Mentor Leopold Kislinger: „Der kam in unsere Klasse und hat in drei Minuten skizziert, worum es in der Fotografie gehen kann“, erzählt er. „In dem Moment wurde mir klar: das ist mein Werkzeug.“ Kurze Zeit später schmiss er die Schule, wurde zuerst auf der Kunstakademie in Linz, dann an der Angewandten in Wien aufgenommen. „Dazu braucht man ja zum Glück keine Matura“, sagt er. Einen Plan B hatte er nie. Aber schon früh einen klaren Fokus
auf alles, was mit idealisierter Männlichkeit zu tun hatte – wenn auch unbewusst. „Erst später ist bei mir ein Knoten aufgegangen. Ich verstand, dass sich der Kern meiner Themen oft um männliche Identitätsbildung und psychologische Aspekte von Erinnerungen drehte.“
Über Jahre arbeitete er am Schlachtfeld. Mit welchem mentalen und körperlichen Einsatz er diese Erkenntnis erlangte, ist am besten anhand der Serie „Men don’t play“ ersichtlich: Über mehrere Jahre fuhr der junge Kunststudent dafür an den Wochenenden nach Tschechien, Ungarn oder Polen, um große, realistische Kriegsinszenierungen mit tausenden Teilnehmern zu fotografieren. „Da gab es Panzer und Helikopter, es wurde geschossen und echte Granaten flogen dir um die Ohren.“ Seine Männlichkeit zu beweisen, war hier alternativlos. „Obwohl ich innerlich ständig flüchten wollte, durfte ich mir nichts anmerken lassen.“
Künstlerisch interessant wurde es für ihn, als die Härte und zur Schau gestellte Kraft der spielenden Soldaten langsam schwand. „Nach dreißig Stunden ohne Schlaf wurde es richtig spannend.“ Lehner hielt auf einmal zärtliche Berührungen fest, Momente der gegenseitigen Hilfe. Was vorher als schwules Verhalten abgetan wurde, war plötzlich erlaubt. Die Serie war auch ein methodi
scher Wendepunkt für den Dokumentarfotografen. Schlaflos sei auch ihm der falsche Krieg bald real erschienen. Die Frage, was ein echtes Foto ausmacht und ob es Objektivität in der Kriegsfotografie geben kann –er bringt sie am Ende der Serie mit bearbeiteten und gänzlich computergenerierten Bildern ein. Rund 38.000 Aufnahmen habe er von dieser Langzeitbeobachtung, sagt Lehner. „Gezeigt habe ich vielleicht vierzig.“ Es würde ihn sogar reizen, mit frischem Blick zu den Männern zurückzukehren. Wie ein Veteran spricht er über die psychologische Wirkung des simulierten Krieges: „Wenn du nach so einem Wochenende mit konstant hohem Adrenalinpegel wieder im Spar vor dem Regal stehst, erscheint dir eine Weile alles nur noch langweilig.“
Auch im Atelier reizt der Fotokünstler seine Grenzen aus. Ausstellungen, Auftragsarbeiten und aufwändige Computerprozesse fordern ihren Tribut – „mehr als drei Stunden Schlaf sind seit Wochen kaum drin.“ Wann er computergenerierte Bilder nutzt, sei eine Entscheidung, die aus dem Werk heraus entsteht. „Für die Beschäftigung mit meinem Vater nutzte ich das Digitale, um Zeit und Entfernung zu überbrücken. Es war der Versuch, ein Porträt von ihm zu machen, ohne physischen Kontakt zu haben.“ Er nutzte dafür Bilder, die er von einem einzigen gemeinsamen Urlaub im Jahr 2005 hat. Für solche Werke entwirft er in monatelanger Schreibarbeit regelrechte Storyboards. Die Bilder selbst entstehen in einem flüssigen Prozess. „Das ist, als würde ich einen Baum fällen“, sagt er. „Du arbeitest dich Schicht für Schicht vor und irgendwann bist du an der Wurzel angelangt.“
Einen Versuch, den Kern der Dinge in Bildern zu fassen, hat er schon als Kind gemacht. Sechs oder sieben Jahre alt war er, als er mit seinem Großvater, der ihn vieles gelehrt habe, auf einem Berg in Oberösterreich wanderte. „Ich habe gestoppt und gesagt: ‚Opa, warte mal, ich muss schnell ein Foto machen.‘“ Der junge Simon Lehner hatte damals aber noch gar keine Kamera. Als Kind hat er einfach nur fest die Augen zusammengekniffen und das Bild in sein Hirn gebrannt.
„Das Digitale nutze ich, um Zeit und Entfernung zu überbrücken.“Balance Study with Boy, 2018. © Simon Lehner
SUBKULTURARCHIV TITEL DATUM
Legendäre Clubs, abgedrehte Bands und kleine Revolutionen: das Innsbrucker Subkultur-Archiv sucht solche Geschichten. Und erzählt davon einmal im Monat im 20er.
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Demokratische Gesellschaften leben davon, dass Menschen auf ihre Rechte bestehen können, wenn diese nicht eingehalten werden. Dafür muss man seine Rechte in einem Staat aber erst kennen.
Genau hier setzte der 1986 gegründete Rechtsladen in der Angerzellgasse in Innsbruck an, erzählt der damalige Mitbegründer und jetzige Rechtsanwalt Joachim Tschütscher. „Damals haben wir etwas gemacht, das heute noch eine gute Geschichte ist und wo wir der Zeit voraus waren, obwohl es längst überfällig war.“ Eine offene Anlaufstelle für Rechtsfragen sollte es geben, wo Ratsuchende durch den juristischen Paragra
www.subkulturarchiv.at
phendschungel geführt würden – vom Mietrecht bis zum Strafrecht. Im Gegensatz zu klassischer Rechtsberatung, wurden dort die sozialen Zusammenhänge miteinbezogen. Es ging immer darum: Wie ist das Rechtsproblem überhaupt entstanden? Deshalb sollten im offenen Rechtsladen Juristinnen und Juristen auch Teams mit Menschen aus der Sozialarbeit bilden. Die progressive Rechtsberatung sollte nicht fertige Lösungen präsentieren, sondern mit Betroffenen eine Strategie zur Bewältigung der Probleme erarbeiten.
Tschütscher nennt es „ein Rechtsverständnis, das über den Tellerrand hinausgeht.“ Er selbst war damals im Arbeitskreis
Im Rechtsladen gab es Hilfe für jeden – vom Mietrecht bis zum Strafrecht.
Kritische Justiz engagiert, der einen kritischen Blick auf die Aushöhlung des Rechtsstaates warf. „Ende der Siebzigerjahre gab es die Terroristenprozesse gegen Mitglieder der Rote Armee Fraktion (RAF)“, erklärt er. „Das war ein gefundenes Fressen für kritische Juristen, da es zu Eingriffen in die Rechtsstaatlichkeit und zu Einschränkungen der Grundrechte gekommen ist.“ Themen, die jetzt – wenn auch unter anderen Vorzeichen – wieder aktuell seien, so Tschütscher.
Ein handfester Justizskandal.
Verletzungen von Grundrechten waren auch die Motivation für die Gründung eines weiteren Arbeitskreises. Im Jahr 1980 waren Folterpraktiken in der Justizanstalt Innsbruck öffentlich geworden. Auslöser für die Veröffentlichung war die „Verwahrung“ eines Häftlings in den „speziellen“ Zellen der Justizanstalt. Damals gab es sogenannte B Zellen (Beruhigungszellen) und KZellen (Korrektionszellen). Das waren leere Einzelhaftzellen, in denen Häftlinge verwahrt wurden, die sich nicht an die Anstaltsordnung gehalten hat
pia. Sie wollten die Bedingungen in der Haft verbessern und wiesen öffentlichkeitswirksam auf Missstände hin. Mehr als 1.500 interessierte Menschen wollten bei einer Veranstaltung im Stadtsaal zum Beispiel wissen: „Was ist los im Zieglstadl?“
Die Misshandlung des Innsbrucker Gefangenen Johann Brunner schlug ein wie eine Bombe.
ten. Als der Insasse Johann Brunner nackt vierzig Stunden lang in Ketten gelegt worden war, entschied sich der Justizbeamte Jakob Fuchs, nicht mehr zuschauen zu wollen. Er wandte sich mit dem Hinweis auf Menschenrechtsverletzungen an den Innsbrucker Rechtsanwalt Albert Heiss, über den der Fall publik wurde: Das Magazin Profil griff den Justizskandal auf, mit der Schlagzeile: „40 Stunden nackt in Ketten“.
Das schlug ein wie eine Bombe und rund um den damaligen Bewährungshelfer Peter Jordan gründete sich die Gruppe AK Strafvollzug. Am Arbeitskreis beteiligten sich Juristen wie Joachim Tschütscher, Bewährungshelfer wie der heutige Journalist und Autor Hannes Schlosser, aber auch ein ehemaliger Gefängnisinsasse, nämlich Klaus Bucher, Gründer des Kulturzentrums Uto
Die Aktivitäten dieses Arbeitskreises flauten wieder ab, aber die Idee, Menschen in ihren Rechten zu bestärken, blieb. Joachim Tschütscher brachte den Ansatz des Rechtsladens auf. Vorbilder waren Rechtsboutiquen in Holland oder die französischen Vorbilder namens „boutiques de droit“ (Rechtsläden). Es gab auch bereits ein abgewandeltes Konzept in Wien, das vom späteren Innenminister Caspar Einem in der Volkshochschule Margareten etabliert wurde und ebenfalls auf einen sozialarbeiterischen Zugang zur Rechtsberatung setzte. 1986 gründete sich der „Verein Rechtsladen – Verein zu Förderung von Rechts und Sozialberatung“ in Innsbruck und zahlreiche Personen unterstützten das Projekt. Darunter waren der Leiter der Bewährungshilfe Edmund Pilgram, der in der Arbeiterkammer angestellte Jurist Klaus Schönach und die damalige Obfrau des Frauenhauses, MarieLuise PokornyReitter. Im Rechtsladen selbst arbeitete ein Jurist in Vollzeit, punktuell kamen Sozialarbeiterinnen und arbeiter dazu. Der Neubau des Kulturzentrums Treibhaus sollte die Heimat des neuen Angebots sein. Als klar wurde, dass dort doch kein Platz war, vermittelte der heutige Obmann von Innsbruck Tourismus, Karl Gostner, einen Raum im Nachbarhaus.
Schießereien in Innsbruck?
Ein zentraler Bestandteil des Angebots waren öffentliche Infoveranstaltungen in Form von Podiumsdiskussionen und Stammtischen. Tschütscher erinnert sich schmunzelnd an eine Veranstaltung zum Thema „Was darf die Polizei?“, bei der die Juristen Karl Weber, Verfassungsexperte und 20erKolumnist, und der Strafrechtsexperte Frank Höpfel die Anwesenden im Treibhauskeller informierten. „Ich erinnere mich an eine Geschichte, wo eine Frau erzählt hat, dass sie als Beifahrerin in einem Auto von der Polizei verfolgt worden sei. Die habe auf das Auto geschossen und sie sogar verletzt“, erzählt Tschütscher. „Sie fragte uns, ob die Polizei das darf? Wir sind zusammengesessen und haben uns alle verwundert angeschaut: sowas in Innsbruck?“ Gruppenberatungen wie diese sollten den Erfahrungsaustausch zwischen den Menschen forcieren: „Menschen er
kannten so, dass auch andere das gleiche Problem haben und es konnte etwas Neues entstehen, indem sie sich zusammenschlossen.“ Der Rechtsladen war auch in den Innsbrucker Stadtteilen unterwegs, um auf Bedürfnisse vor Ort eingehen zu können. Thematisch war die Beratung breit aufgestellt, mit der Zeit ging der Schwerpunkt jedoch in Richtung Schulden, weshalb sich in den Neunzigerjahren die eigene Schuldnerberatung entwickelte. Inzwischen existiert wieder ein Rechtsladen in Tirol – teilweise sogar mit den gleichen Menschen dahinter. Sie setzen ihren Fokus auf Infoveranstaltungen bei Wohnrechtsfragen und soziale Absicherung.
MAURICE MUNISCH KUMAR
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Der Rechtsanwalt Joachim Tschütscher war einer der Gründer und bei zahlreichen Veranstaltungen dabei.
Die Prozesse gegen Mitglieder der Terror-Organisation Rote Armee Fraktion wurden auch in Österreich von Juristinnen und Juristen kritisch beobachtet.
© Konrad Giehr / dpa
AUS FÜR DIE WIENER ZEITUNG
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LAUT FÜR GERECHTIGKEIT
S. 50
WAS WURDE AUS? S. 52
CLAUS GATTERERS EHRENRETTUNG S. 53
INTERVIEW: STEVE SCHAPIRO S. 54
Am 8. August wird die Wiener Zeitung 318 Jahre alt.
Doch, ob sie weiterbestehen wird, ist ungewiss. Ihr Schicksal ist Symptom einer verfehlten Medienpolitik in Österreich.
KOMMENTAR: TOBIAS LEO
a, wir wollen unsere kulturelle Identität aufrechterhalten. Denn wir sind stolz auf unsere Traditionen, unsere Bräuche und unsere Kultur“, ließ Bundeskanzler Sebastian Kurz noch im Wahlkampf 2019 auf seiner Facebook-Seite verlautbaren. Die 1703 gegründete Wiener Zeitung, die älteste noch existierende Tageszeitung der Welt, war damit wohl nicht mitgemeint. Sie ist zwar zu hundert Prozent Eigentum der Republik Österreich, aber ihre Zukunft und ihr Weiterbestehen ist ungewiss.
Warum das? Die Wiener Zeitung enthält das offizielle Amtsblatt der Republik Österreich, in dem zum Beispiel Stellen für den öffentlichen Dienst ausgeschrieben werden. Ebenfalls veröf-
fentlicht sie sogenannte Pflichtinserate für Firmen, zum Beispiel über Unternehmungsgründungen oder Jahresabschlüsse. Diese Pflichtinserate sollen jetzt abgeschafft werden. Der Grund: eine EU-Richtlinie, wonach solche Informationen rein digital veröffentlicht werden sollen. Damit würde die Zeitung große Teile ihrer Einnahmen verlieren. Zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Medienbranche hoffen jedoch auf ein Weiterbestehen. Der Kabarettist Thomas Maurer sagt: „Es gibt einige Tageszeitungen, in Österreich, nach deren Einstellung einem nichts abgehen würde. Die Wiener Zeitung ge-
Mit nur vierzehn Tageszeitungen ist der Markt in Österreich dünn gesät.
hört nicht dazu.“ Chris Burger, Community-Manager von standard.at und ehemaliger Mitarbeiter der Zeitung, schreibt auf Twitter aber: „Es braucht Strukturen, die es jungen Leuten ermöglichen, eine gute, innovative Zeitung zu machen, und eine vollkommen neue Finanzierung.“
Es stellt sich zwar wirklich die Frage, ob Pflichtinserate noch zeitgemäß sind. Andererseits stellen sich noch viel mehr Fragen, wenn man sich die aktuellen Entwicklungen in der österreichischen Medienpolitik ansieht. Es wäre vermutlich nicht allzu schwer für das Bundeskanzleramt, der Wiener Zeitung zu helfen,
Die Titelseite der Wiener Zeitung vom 31. Jänner 1889 verkündete den Tod von Rudolf, dem österreichischen Kronprinzen am Tag zuvor. © Wiki Commons
Der Index der Pressefreiheit wird von der Organisation Reporter ohne Grenzen anhand eines umfangreichen Fragebogens ermittelt, der weltweit an journalistische Interessensvertretungen und an Nichtregierungsorganisationen geht. Österreich ist im Index zwar gegenüber dem Vorjahr mit Platz 17 beim Ranking um einen Platz nach oben gerutscht, aber nur, weil sich die Pressefreiheit fast überall verschlechtert hat. Mit einer Punktezahl von 16,34 steht Österreich so schlecht da wie noch nie. Die ausschlaggebenden Faktoren sind: nicht nachvollziehbare CoronaMedienförderung, Inseratenpolitik, politische Interventionen bei Redaktionen und „Message Control“.
zumal es auch deren Eigentümervertreter ist. Mit dem Blick auf die Corona-Presseförderung wird aber deutlich, wofür Geld da ist: vor allem für den Boulevard. Denn die Kriterien waren nicht an die Qualität gebunden, sondern rein an die Auflage – und flossen reichlich an die in Wien verbreiteten Gratiszeitungen. Hinzu kommt die problematische Inseratenpolitik, eine Art indirekte Medienförderung für wohlwollende Berichterstattung, die in Österreich so hohe Ausmaße hat wie in kaum einem anderen Land. Es ist nicht lange her, dass sich die Regierung ein gigantisches PR-Budget im Ausmaß von 210 Millionen Euro gegönnt hat.
Abgesehen davon wäre das Aus für die Wiener Zeitung, die für unaufgeregten und sachlichen Journalismus steht, ein Verlust für die Medienlandschaft, selbst wenn sie im Westen Österreichs kaum gelesen wird. Mit nur vierzehn Tageszeitungen ist der Markt in Österreich relativ dünn gesät, in Schweden gibt es im Vergleich dazu weit über hundert. Daneben wird auch online der Zugang zu Qualitätsjournalismus für Menschen mit geringem Einkommen aufgrund von Bezahlschranken immer schwieriger. Gleichzeitig feierten Parteimedien ein digitales Revival, angefangen bei
unzensuriert.at (FPÖ) sowie kontrast.at (SPÖ), zuletzt mit dem Blog Zur Sache des ÖVP-Parlamentsklubs, geleitet vom ehemligen TT-Chefredakteur Claus Reitan. Und ob das neue digitale Boulevardmedium eXXpress.at vom ehemaligen oe24.at- und krone.at-Chefredakteur Richard Schmitt den Medienmarkt in puncto Qualität bereichern wird, darf bezweifelt werden.
Es sind viele kleine Stellschrauben, an denen gerade gedreht wird, und in Summe bewegt sich die österreichische Medienlandschaft derzeit in eine Richtung, die besorgniserregend ist. Das Aus der Wiener Zeitung wäre ein weiterer großer Schritt in die falsche Richtung.
OHNE RÜCKSICHT
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Mats Schönauer und Moritz Tschermak, KiWi, 2021 bildblog.de goes Buch: Unermüdlich weist dieser watchdog im Netz auf die spaltende, unsaubere Berichterstattung der Boulevardzeitung Bild hin. Ein halbes Jahrhundert nach Günter Wallraff zeigen die Autoren: Es hat sich wenig geändert.