Ausstellung - Kulturerbe der Wolgadeutschen in Argentinien

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Kulturerbe

Patri

monio cultural der de los Alemanes Wolgadeutschen del Volga in Argentinien en Argentina

Stiftung Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland

Bayerisches Kulturzentrum der Deutschen aus Russland

Autoren:

Dr. Olga Litzenberger

Dr. Sergey Terekhin

1.„Jenseits des Ozeans, am anderen Ende der Welt …“: Zur Frage der Gründung historischer Siedlungen

D as dritte Viertel des 19. Jahrhunderts war für die Russlanddeutschen eine Zeit neuer Herausforderungen. Eine Kombination aus gesellschaftspolitischen Gründen und wirtschaftlichen Problemen veranlasste Kolonisten aus dem Wolgagebiet, sich im asiatischen Teil des Reiches niederzulassen und, was noch einschneidender war, in die Länder der Neuen Welt auszuwandern. Eine der wichtigsten überseeischen Migrationsrouten führte nach Lateinamerika. Die beiden größten lateinamerikanischen Staaten, Brasilien und Argentinien, litten nach der Befreiung von der Kolonialherrschaft unter einem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften.

Gerade zu dieser Zeit (1876) trat in Argentinien ein Einwanderungs- und Kolonisationsgesetz in Kraft, das nach dem damaligen Präsidenten benannt wurde: die „Ley Avellaneda“. Ein wichtiges Kapitel des Gesetzes befasste

Ansiedlungsgebiete der Wolgadeutschen in Lateinamerika

sich mit der Neuaufteilung jener Landesteile, die durch europäische Siedler besiedelt werden sollten. Der Staat bot den Siedlern Unterstützung bei der Umsiedlung und dem Hausbau, er vergab günstige Kredite und garantierte ihnen Religionsfreiheit und Bürgerrechte. Innerhalb eines halben Jahrhunderts wanderten Tausende von Wolgadeutschen nach Argentinien aus. 1927 lebten dort mehr als 75.000 Russlanddeutsche, 1940 waren es 130.000 und heute leben mehr als 800.000 Nachkommen von Wolgadeutschen im Land. Die wolgadeutsche Besiedlung des Gebietes zwischen den Flüssen Paraná und Uruguay begann 1878 mit der Gründung der Kolonie Partido General Alvear. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es auf einem Gebiet von etwa 240 km Durchmesser bis zu 40 neugegründete und durch Wolgadeutsche besiedelte Ortschaften.

Nicolás Avellaneda (1837-1885), argentinischer Staatspräsident

Gründerdenkmal. Aldea Brasilera

Wiesen und Wälder von Paraná, Graslandschaften und bewaldete Savanne … erscheinen als neue Wolga mit Berg- und Wiesenseite [Jean-Pierre Blancpain]

Karte des Departements Diamante, Provinz Entre Rios, Argentinien, 1928. Fragment

Kolonistenversammlung in San Bonifacio, Entre Ríos [Riffel]

2 . Von der Dorfplanung zum Konzept der Kulturlandschaften

D as Gesetz umfasste die Auskundschaftung und Aufteilung des Landes wie auch die Gründung der Ansiedlungen. Als Grundprinzip gibt es den Partido als modulare Territorialeinheit im Maß von 20 auf 20 Kilometern vor, wobei dieser in 400 gleichgroße Parzellen (Lote) von 1 Quadratkilometer Größe – also einer Fläche von 100 Hektar – aufgeteilt ist. 4 Lotes im geometrischen Zentrum des Moduls waren für das Pueblo („Städtchen“ –faktisch der zentrale Teil der Siedlung (Kolonie), wo in einigen Vierteln dichte Bebauung städtischen Typs vorherrscht) reserviert, 76 Randparzellen mit Ackerland trugen die Bezeichnung Ejido. Die übrigen 320 Lotes waren zum Verkauf bestimmt. Jeder Einwanderer konnte dort mit zehnjähriger Ratenzahlung Land im Umfang von ¼ bis 2 Lote (25–200 ha) zur landwirtschaftlichen Nutzung sowie ein Solar genanntes Grundstück (üblicherweise 50 auf 50 Meter = ¼ ha) in den Pueblo-Vierteln erwerben.

Es wurde davon ausgegangen, dass die Bevölkerung eines Partido etwa 7.000 bis 8.000 Menschen beträgt, von denen das bedingt urbane Pueblo etwa 4.000 bis 5.000 beherbergt.

Das Partido ist eine Variante einer harmonisch angelegten „Idealstadt“. Aber auch die praktische Bedeutung eines solchen Mega-Rasters als Erschließungsmethode für Brachland ist über alle Zweifel erhaben. Der Staat sagte sich in etwa: „Jedes Quadrat soll einen an ihm interessierten Besitzer haben, nur dann werden die Grundstücke bestellt, gepflegt und die Steuern bezahlt“.

In verschiedenen Provinzen – zu denen auch Entre Ríos gehört – wurden hunderte Quadratkilometer in Quadrate aufgeteilt. Davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man einen Blick auf eine gewöhnliche Google-Karte dieser Gegend wirft.

Die modulare Einheit „Partido“ und ihr zentraler Teil „Pueblo“

Siedlung nach klassischem Muster. Gegenwärtiger Zustand. Aldea Valle Maria

Der in der vorstehenden Art geteilte Abschnitt wird als Partido bezeichnet … [La Ley de Inmigración y Colonización Nº 817, Segunda parte, Capítulo II, § 71]

Los-Lapachos-Straße an einem Frühlingstag. Aldea Protestante

Straßendorf. Aldea San Antonio

3. Architektur und materielle Milieus: Typisches

und Einzigartiges

D as Phänomen der Baupraxis wolgadeutscher Kolonisten in den argentinischen Aldeas ist klar und deutlich mit den aus den Wolga-Kolonien mitgebrachten Erfahrungen und Traditionen verbunden. Umso interessanter ist es, Unterschiede festzustellen und Erklärungen für Ausprägungen zu finden, die während der Übersiedlung und im Verlauf der Adaption an die klimatischen Bedingungen, die Baukultur und die Stilmuster der neuen Region erworben wurden. Vor allem stößt man recht oft auf einstöckige, gering ausgeschmückte Wohnhäuser aus rotem Ziegelstein verschiedener Schattierungen, die als typisch für die Siedlerarchitektur gelten können, wobei einige planerische Lösungen, Bautechnologien und Schmuckelemente auf eine direkte Verwandtschaft mit ihren Prototypen aus der Wolgaregion hinweisen.

So fallen z.B. die Holzschnitzereien (Plattenbänder, Trauflatten) oder die charakteristischen Gauben (Lukarnen) an den Flanken des Firstes des Walmdaches sofort ins Auge.

In einer Reihe von regionalen Besonderheiten sind neben den Hofgalerien die überwiegend vorkommenden sanft geneigten Pultdächer zu nennen (ein solches Dach würde wahrscheinlich keinen schneereichen Winter in der Wolgaregion überstehen) sowie die Lamellenfensterläden aus Holz oder Metall an der absoluten Mehrheit der Fenster.

Unterschiede sind auch in der Stilistik (Dominanz neubarocker Details in der Fassadendekoration) und in der Gebäudetypologie (besonderer Typus des Eckhauses) erkennbar.

Straßenabschnitt. Urdinarrain

Nun mussten sie ein neues Haus errichten. Es war schwer, aber sie haben es aus ihrer Erinnerung aufgebaut [Aus den Notizen der Autoren]

Fragmente typischer ländlicher Häuser: Türen, Fenster
Typisches ländliches Wohnhaus aus Backstein. Aldea Protestante
Typisches Wohnhaus. Aldea San Juan
Typisches „stilisiertes“ Wohnhaus. Aldea Valle Maria
Ziegelei. Aldea San Juan

F

4. Deutsche Kirchen: Schmuckstücke des religiösen Erbes

ür die erste Kolonistengeneration bedeutete die Kirche alles: Sie war Ort von festlichen und traurigen Anlässen, Schule, Hospital, Schutzraum vor Unwetter und anderem Unheil. Aber hauptsächlich ein vertrauter Ort … Heute hat die Kirche bei den Wolgadeutschen Argentiniens weiterhin hohes Ansehen. Die meisten Einwohner sind regelmäßige Kirchgänger – und sie kommen nicht nur zum Gottesdienst, sondern nehmen aktiv Anteil am Gemeindeleben, sei es mit Spenden oder mit Freiwilligenarbeit. Doch die Kirche ist nicht nur geistiges und kulturelles Zentrum, sie ist auch architektonisches Denkmal und städtebauliche Dominante. Nicht zufällig wurde für den Kirchenbau a priori der jeweils beste Standort ausgewählt, etwa auf dem Hauptplatz oder einem Hügel: weithin sichtbar und mit melodischem Glockengeläut war die Kirche Bestandteil eines das ganze Umland erfassenden Orientierungs- und Informationssystems.

Drei Kirchenbauten in den Dörfern Santa Anita, Aldea Valle Maria und Aldea Brasilera stechen durch ihre Ausmaße und die fachkundige Ausführung hervor. Doch auch andere Kirchen – in Aldea Spatzenkutter, Aldea Salto, San Juan, Aldea San Francisco (die erste in Entre Ríos errichtete Kirche) und San Antonio – sind ungeachtet ihrer geringeren Ausmaße attraktiv. Gute Kenner der Sakralbauten werden sich besonders für das aus zwei Bauten bestehende Ensemble im Dörfchen Santa Celia begeistern können: Es handelt sich um ein kompaktes, mit seinen weiß verputzten Wänden strahlendes neobarockes Kirchengebäude, das durch einen separat stehenden Sonderglockenturm ergänzt wird – und das aussieht, als wäre es von den Kolonisten im Gepäck aus dem Wolgagebiet mitgebracht worden, wo derartige Glockentürme weit verbreitet waren.

Kirche der

Hilf deinem Volk und segne dein Erbe und weide sie und erhöhe sie ewiglich!

[Psalm 28:9]

Evang. Betsaal (1899) mit Sonderglockenturm. Aldea Santa Celia
St.-Josef-Kirche (1895). Aldea Brasilera
Kath. Christus-König-Kirche (1900er-Jahre). Santa Anita
Evang. Kirche. Aldea San Juan
Evang. Kirche. Aldea San Antonio
Katholische
Unbefleckten Empfängnis Mariä (1886, Anbau des Glockenturms 1971). Aldea Valle Maria

M5.Museen als

an kann ohne Übertreibung sagen, dass es in den meisten Orten in Entre Ríos ein richtiges Museum oder zumindest eine kleine Privatsammlung gibt. Vielleicht überrascht das niemanden, nur die Reisenden. Auch wir waren überrascht und hielten es für wichtig, diese Objekte in der Reihenfolge ihrer Entstehung/Eröffnung zu präsentieren. (2012) Campingplatz-Museum „Mi Recuerdo“ („Mein Andenken“): Die Privatsammlung von Familie Riedel war die erste der Öffentlichkeit zugängliche Kollektion in der Provinz. Das 20 ha große Gelände verfügt über eine Vielzahl an ethnografischen Exponaten, die im Stil einer wolgadeutschen Siedlung angelegt wurden.

(2013) Museum, Archiv und Bibliothek „Kulturerbe der Wolgadeutschen“ in Gualeguaychú befinden sich im nach Jakob Riffel (Pastor, Historiker und Ethnologe,1893–1958) benannten Saal. Direktor des Museums ist dessen Gründer Leandro Hildt. Der Theologieprofessor Dr. René Krüger

ist ehrenamtlich für das Museum tätig. Alle Exponate sind dem Museum von Nachkommen der Einwanderer überlassen worden.

(2014) Das Museum „Hilando Recuerdos“ („An Erinnerungen anknüpfen“) in Aldea Valle María (Direktor seit 2016 Dario Roberto Wendler) wurde mit Unterstützung der lokalen Behörden gegründet. Das Museum befindet sich in einem typischen wolgadeutschen Haus.

(2016) Beim Gemeindemuseum Santa Anita (Direktor Hugo Kloster) handelt es sich nicht nur um die von Umfang bedeutsamste museale Sammlung (mehr als 2.000 Exponate). Das Museum bietet den Besuchern Musikstücke und Theaterepisoden aus dem Leben der ersten Siedler.

(2017) Das Museum „Unsere deutschen Wurzeln“ in Aldea Spatzenkutter ist heute eines der besten der Provinz. Im Verlauf von fünf Jahren hatte die Ortsverwaltung die Mittel für die Renovierung eines Gebäudes zusammengetragen.

(2018) „Wolga-Museum Pedro A. Sack“ in Aldea Santa Maria: 2009 gründeten Jose Luis Sack den Verein „Museum der Wolgadeutschen“. Im Laufe mehrerer Jahre haben die Vereinsmitglieder ein typisches Haus nachgebaut, wobei Möbel und Gegenstände aus dem Besitz der Kolonistennachkommen stammen. (2022) Museum für Padre Enrique Becher in Santa Anita „Casa del Fundador“ („Haus des Gründers“): Der katholische Geistliche Heinrich Becher erwarb 1900 mit einem Darlehen Land zum Zweck der Gründung der landwirtschaftlichen Kolonie Santa Anita. In Bechers rekonstruiertem Haus befindet sich heute eine Ausstellung mit persönlichen Objekten, Dokumenten und Fotos des Paters.

(2023) Das „Religiöse Museum Flora Jacob“ in Aldea Santa Maria. Auf 150 qm Ausstellungsfläche werden Exponate gezeigt, die Einwanderer aus der Wolgaregion mitgebracht hatten. Das Museum wird durch freiwillige Spenden finanziert.

Ein Museum ist eine Tür in die Vergangenheit und ein Fenster in die Zukunft [Volksweisheit]

Museum „Unsere deutschen Wurzeln“. Spatzenkutter
Museum „Hilando Recuerdos“. Aldea Valle Maria
Museum „Mi Recuerdo“. Santa Anita
Statue. Museum in Aldea Spatzenkutter
Museum, Archiv, Bibliothek. Gualeguaychú
„Religiöses Museum Flora Jacob”. Aldea Santa Maria
Gemeindemuseum. Santa Anita
Wagen. Sammlung des Museums in Santa Anita

6. Vom Grabmal zur Erinnerung: Die Nekropole

als Element des kulturellen Erbes

Die Tradition der Friedhofsbesuche ist für die Deutschen in Argentinien eine wichtige Form der täglichen philosophischen Besinnung. Fremdenführer halten es für ihre Pflicht, Friedhofsbesuche in das touristische Basisprogramm einzubauen, um dabei die Vielfalt der bildhauerischen wie architektonischen Lösungen und die Besonderheiten der Gestaltung von Kreuzen und anderer christlicher Symbolik zu präsentieren. Die Einheimischen verstehen sich darauf, beim lauten Vorlesen der Namen schon lange verstorbener Vorfahren über die Geschichte ihres Volkes zu reflektieren – und an den Gräbern stehend stundenlang von den Schicksalen der Verstorbenen zu erzählen.

Ein solches Verhältnis zu Friedhöfen als Besichtigungsobjekt lässt sich in anderen Ländern wohl kaum finden. Für Europäer ist dies ebenso erstaunlich wie hochinteressant.

Die prägnanteste und eindrucksvollste Nekropole ist jene von Aldea San Francisco, die dank der anmutigen Gestaltung der Grabsteine und der grazilen Formen ihrer Gruften enorme Popularität gewonnen hat. Da gibt es wunderliche Gruften, filigranes Schnitzwerk, Schmiede- und Gussarbeiten sowie an lebende Menschen gemahnende Engelsfiguren.

Die Friedhofsareale sind mit der Geschichte der Siedlungen eng verbunden; sie betrachten sie als eine besondere Chronik des Gemeindelebens und seiner Genealogie und bemühen sich, Bedingungen für deren Schutz als Denkmäler und die Revitalisierung von geschlossenen oder vernachlässigten Nekropolen zu schaffen. Eine solche Tradition bremst die Auslöschung des kulturellen Codes im kollektiven Gedächtnis und gewährleistet ihren Trägern eine gewisse „soziale Unsterblichkeit”.

Anhand ihrer Friedhöfe, Grabsteine und Grabinschriften kann man über eine Nation und ihre Unwissenheit oder Noblesse urteilen [Joseph Addison]

Friedhofskapelle in Aldea Santa Anita
Grabmal auf dem Friedhof in Aldea San Francisco
Nekropole in Aldea San Francisco
Friedhof. Aldea Protestante

7. „Die wolgadeutsche Sprachinsel“ oder

„Ein

Staat – eine Sprache“?

I m Verlauf der 250-jährigen Geschichte war die Sprache der Wolgadeutschen wie ein Lebewesen immer in Bewegung: Sie entwickelte sich, sie unterlag Veränderungen und äußeren Einflüssen und befindet sich nun am Rande des Untergangs. Seit mehr als 40 Jahren wird von den Gemeindeverwaltungen und Schulbehörden in vielen Ortschaften aktiv Deutschunterricht angeboten. Mit dem Moment der Ansiedlung in den deutschen Kolonien Argentiniens begann ein Prozess der Formierung eines einheitlichen Sprachraums. In dem abgegrenzten Siedlungsraum, in dessen Innerem gemeinsame religiöse, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen wirksam waren, kam mit der Zeit eine einheitliche Sprechvariante des Dialekts in Umlauf. Dank der Lektüre neuer deut scher Bücher und Zeitungen reicherte sich der Dialekt nach und nach um neues Vokabular aus der Literatursprache an. Darüber hinaus kam es zu zahlreichen

Kirchenbücher der Wolgadeutschen in Argentinien

Werbung für einen Deutschsprachkurs

Entlehnungen aus dem Spanischen als der Sprache des Umfeldes.

Assimilationsprozesse haben den seine Reinheit verlierenden Dialekt schrittweise zurückgedrängt und bereits im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts zu deutschspanischer Bilingualität geführt, auf die das natürliche Phänomen eines intensiven Verlusts der Muttersprache folgte. In der Zeit des Verbots des deutschen Sprachunterrichts bemühten sich deutschsprachige Geistliche entgegen dem Prinzip „ein Staat – eine Sprache” den Deutsch-Unterricht zu bewahren. Gegenwärtig ist die junge Generation schon monolingual und der Dialekt wird endgültig vom Spanischen als der Sprache des Umfelds verdrängt. Doch während in den Städten der Prozess der sprachlichen Assimilation bereits komplett abgeschlossen ist, wird auf dem Land der wolgadeutsche Dialekt noch gesprochen.

Liederbuch

Wir sollten ernsthaft unsere Prioritäten überdenken, sonst geht die Linguistik als einzige Wissenschaft in die Geschichte ein, die das Verschwinden von 90 Prozent ihres Studienobjekts verpasst hat.

Rekonstruktion eines Klassenzimmers aus dem frühen 20. Jh. Museum in Santa Anita

[Michael E. Krauss]
Hier spricht und singt man im Dialekt. Verein „Unser Dorf“. Aldea San Juan

A8. Kuchen mit Mate-Tee: Die Wolgadeutschen im Mosaik der argentinischen Identität

rgentinien bildete sich als multikultureller Vielvölkerstaat heraus, in dessen Gesellschaftsmosaik, sich aus den unterschiedlichsten nationalen Ideen eine gemeinsame nationale Identität zusammenfügte. Laut Volkszählungsdaten von 1914 stellten ausländische Migranten über 30 Prozent der argentinischen Bevölkerung, wobei Emigranten aus dem Russischen Reich unter ihnen die zahlenmäßig viertgrößte Gruppe bildeten. Die Migrationsströme aus dem russischen Wolgagebiet haben komplexen Einfluss auf die Entwicklung einiger Provinzen des Landes gehabt.

Die Wolgadeutschen haben definitiv einen bedeutsamen Beitrag zur Stärkung der Wirtschaft des Landes geleistet; auch spielten sie eine unbestrittene Rolle in der Einwicklung der Landwirtschaft – beispielsweise kultivierten sie hier als erste die von der Wolga mitgebrachte Luzerne. Unzählige Nachkommen wolga-

Gedenktafeln zur Erinnerung an die Ereignisse der Vergangenheit. Aldea Valle Maria

deutscher Kolonisten arbeiteten später in den unterschiedlichsten Wirtschaftssektoren. Sie nahmen auch bedeutenden Einfluss auf das Bildungssystem, da sie ein Netz deutscher Schulen schufen.

Die Wolgadeutschen wurden zu einem bedeutsamen Element des komplexen Mosaiks der argentinischen Identität. In ihrer schon fast 150-jährigen Geschichte trugen sie dazu nur ihnen eigene kulturelle und linguistische Besonderheiten bei. Viele von ihnen empfinden bis heute, ungeachtet ihrer argentinischen Staatsbürgerschaft, intensiv ihre durch einzigartiges Brauchtum und Sprache manifestierte wolgadeutsche ethnische Zugehörigkeit. Gegenwärtig stellen die Nachkommen der nur einige zehntausend ersten wolgadeutschen Kolonisten eine der großen ethnischen Gruppen Argentiniens, da sich einige Millionen Menschen als ihre Nachfahren betrachten.

In den wolgadeutschen Orten Argentiniens finden häufig Volksfeste statt

„Mama, wir sind doch argentinische Wolgadeutsche?” – „Ja, mein Kind.” „Und die Wolga ist ein deutsches Bundesland? Ich frage nur, weil ich sie auf der Deutschlandkarte nicht finden kann …” [Aus einem Gespräch zwischen Mutter und Kind] Kalebassen für Mate-Tee mit Bombillas aus Aldea Brasilera und Urdinarrain mit Inschrift „Asoc. Desc. de Alemanes del Volga Unser Weg“

Wo Saratow die Wolgadeutschen-Straße kreuzt: Straßenschilder in Entre RÍos Platz der Immigranten. Fragment der Gedenkmauer. Santa Anita

I9. Wolgadeutsche Vereine: Tendenzen und Entwicklungsperspektiven

n Argentinien gibt es überall wolgadeutsche Vereine –in den großen Metropolen wie in Kleinstädten, in Regionalzentren wie auch in kleinen Ortschaften. Sie alle erfüllen die wichtige Aufgabe der Bewahrung der Identität wie auch der ethnokulturellen und sprachlichen Vielfalt und der Unterstützung von Frieden und Einklang zwischen den Volksgruppen.

In Crespo, einer Stadt in der Provinz Entre Ríos, befand sich ab 1975 das Zentrum eines ersten großen Zusammenschlusses der Wolgadeutschen, der bis 2014 etwa 20 Organisationen aus den Provinzen Entre Ríos, La Pampa, Chaco und Buenos Aires vereinte: die „Asociación Argentina de Descendientes de Alemanes del Volga“, (AADAV). Die heutige „Argentinische Föderation der Verbände der Nachkommen der Wolgadeutschen” („Federación Argentina de Asociaciones de Descendientes de Alemanes del Volga”, FADADAV) mit

Sit z in Buenos Aires vereint allein in Entre Ríos acht Organisationen. Neben den FADADAV-Mitgliedsvereinen existieren auch unabhängige Vereinigungen. Die meisten Vereine unterhalten auch engen Kontakt zur FAAG („Federación de Asociaciones Argentino-Germanas”, Buenos Aires), die als Dachverband der zahlreichen deutsch-argentinischen Kulturvereine ohne wolgadeutschen Hintergrund fungiert. In ihrer Rolle als Institutionen der Zivilgesellschaft akkumulieren sie enorme kreative Aufbau-Potentiale. Ihre Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit den lokalen Verwaltungen umfassen zahlreiche positive Praxisbeispiele, wie z.B. die Gründung von Museen oder die Organisation von traditionellen Festen. Die wolgadeutschen Vereine haben es mit umfangreichen ethnokulturellen Veranstaltungen geschafft, in die Palette des gesellschaftlichen Lebens ihrer Region einzugehen.

Dr. Sergey Terekhin, Dr. Olga Litzenberger, Leandro Hildt, Dr. René Krüger, Evgenii Moshkov im Jakob-Riffel-Saal. Gualeguaychú

Fassadenfragment des Gebäudes des Wolgadeutschen Vereins. Aldea Protestante

Tanzgruppe „Immer jung“. Urdinarrain

Guten Menschen Gesellschaft zu leisten ist die beste Methode, selbst ein guter Mensch zu werden [Miguel de Cervantes]

Jahreskongress der deutschen Landesgruppen und Regionalverbände in Urdinarrain, Entre Ríos. September 2023

Germán Lehrke (Präsident, FAAG) und Mariano Matías Baimler (Präsident, FADADAV)
Schild am Eingang des deutschen Vereins in Aldea San Juan

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