BühnenSeiten Jan-Mrz 2017 - Oldenburgisches Staatstheater

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BÜHNEN

Seiten Magazin des OldenburgischeN Staatstheaters

‚Das Rheingold‘ – Auftakt zum Ringzyklus Test: Welcher Theatertyp sind Sie?

BANDEN! – Ein Festival neuer performativer Allianzen Jens Ochlast im Gespräch PortrÄt: Martin Schläpfer – ein Magier

JAN-MRZ

2017


Sponsoren des Oldenburger Opernballs 2017 Hauptsponsor

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Industriestr. 24 • 26160 Bad Zwischenahn • Tel. 0 44 03-22 22

Der Oldenburger Opernball wird freundlich unterstützt von


EDITORIAL

Liebes Publikum, Sie halten unser neues Theatermagazin BÜHNENSEITEN in den Händen, mit dem wir Sie künftig noch intensiver als bisher an unserer Arbeit auf, neben und hinter der Bühne teilhaben lassen wollen. Besonders freut es mich, dass die Premiere der BÜHNENSEITEN mit dem zweiten Oldenburger Opernball zusammenfällt, der sich schon nach kürzester Zeit zu einem äußerst gefragten gesellschaftlichen Ereignis in der Stadt entwickelt hat. Hier stehen SIE im Rampenlicht: Sie sind es, die auf der Bühne tanzen und die Seitenbühnen erobern. Wir sorgen für das festliche Ambiente und ich möchte mich an dieser Stelle sehr herzlich bei allen Sponsoren und Partnern bedanken, ohne die diese einzigartige Veranstaltung nicht möglich wäre. Ein großer Dank gilt auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die monatelang unermüdlich mit den künstlerischen, technischen und auch kulinarischen Vorbereitungen zum Opernball beschäftigt waren. Anfang Februar fällt mit ‚Das Rheingold‘ der Startschuss zu unserem Großprojekt ‚Der Ring des Nibelungen‘ von Richard Wagner. Und mit besonderer Spannung erwarten wir mehrere Festivals, darunter das Theaterfestival BANDEN! und die Internationalen Tanztage, die dabei sind, sich mit 50 Aufführungen und vielen internationalen Compagnien zum größten Tanzfestival Deutschlands zu entwickeln. Darüber und über viele weitere Premieren und Projekte werden Sie auf diesen BÜHNENSEITEN viel Neues erfahren. In einer Zeit, in der uns politische Umbrüche und technischer Fortschritt nicht selten zu überrollen drohen, verstehen wir Theater als Bastion der analogen Auseinandersetzung mit den wesentlichen Themen des Lebens. Daran wollen wir festhalten! Wir wünschen Ihnen und uns ein möglichst friedvolles Jahr 2017 und freuen uns auf viele spannende und bereichernde Begegnungen hier im Oldenburgischen Staatstheater!

Herzlich, Ihr

Christian Firmbach Generalintendant

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Inhalt

KulissenGeflüster Neuigkeiten aus dem Oldenburgischen Staatstheater

OPERNSeiten ‚Yvonne, Princesse de Bourgogne‘ erfährt ihre deutsche Erstaufführung am Oldenburgischen Staatstheater

Seite 8 Seite 32 OPERNSeiten Der Oldenburger Opernball

KONZERTSeiten Ein Gespräch mit Soloflötistin Stephania Lixfeld

Seite 11 Seite 34

Der Ring Mit ‚Rheingold‘ fällt der Startschuss für den ‚Ring des Nibelungen‘

Offene Bühne Über das Potential nichtprofessioneller Theatergruppen

Seite 14 BallettSeiten Ein Porträt des Choreografen Martin Schläpfer

Seite 21 BANDEN! Ein Festival neuer performativer Allianzen

Seite 26 QUIZ Welcher Theatertyp sind Sie?

Seite 28 SchauspielSeiten Schauspieler Jens Ochlast im Gespräch

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ürfen wir Ihnen unsere ersten Titelhelden vorstellen – die Rheintöchter! Oder besser gesagt: So imaginiert sie unser Theaterfotograf Stephan Walzl hinter seiner Kameralinse. Auf der Bühne werden sie ab dem 4. Februar in Richard Wagners ‚Rheingold‘ sicherlich weniger fischförmig daherkommen und auch der Goldschatz dürfte sich dort anders präsentieren. Erhalten Sie Hintergrundinformationen zur Produktion ab Seite 10 und erfreuen Sie sich an weiteren Fotografien Stephan Walzls durch die ganze erste Ausgabe der BühneNSeiten hindurch. Wir wünschen viel Vergnügen beim Stöbern!

SEITENBLICK Die Moderne ist unsere Antike

Seite 38 SEITENBühne Die Schlosserei

Seite 40 JUNGESeiten Frösche im Schloss

Seite 41 Theatergeheimnis Wie klingt eigentlich Nibelheim?

Seite 41 GASTSPIEL Eine theatralische Kolumne von Kat Kaufmann


KulissenGeflüster

NEWS Emanuel Mendes ist neuer Kulturberater Angolas Schon immer hatte Kunst auch eine politische und gesellschaftliche Verantwortung – wie weit diese gehen kann, zeigt sich an Emanuel Mendes. Seit August zählte der Tenor zum Opernensemble des Oldenburgischen Staatstheaters und begeisterte u. a. als Macduff in Verdis ‚Macbeth‘. Doch die Opernbühne weicht nun der politischen Plattform: Von der aktuellen Regierung seines Heimatlandes Angola wurde Emanuel Mendes im Dezember 2016 zum führenden Berater des Kultusministeriums erkoren – ein Ruf, dem er folgen muss. Schweren Herzens trennen wir uns deshalb von Emanuel Mendes und entlassen ihn in seine Heimat, wo er einen Fahrplan für die künstlerische Entwicklung von Schülern und Studenten in Angola ausarbeitet. Wir wünschen ihm hierfür von Herzen alles Gute.

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Der Generalintendant einmal anders! Am 26. Februar schlüpft Generalintendant Christian Firmbach wieder einmal in die Rolle des quirligen Professor Florestan, wenn es heißt, im 2. Familienkonzert gemeinsam mit Maestro Eusebius alias Thomas Honickel eine geheimnisvolle Truhe aus dem Nachlass Robert Schumanns zu öffnen und darin nicht nur wunderbare Musik, sondern auch viele spannende Geschichten aus dem Alltag des Komponisten zu finden. Seit fünfzehn Jahren packt Christian Firmbach, der einst seine Theaterlaufbahn mit einem Gesangsstudium an der Kölner Musikhochschule begonnen hat, die Hinterlassenschaften zahlreicher Komponisten aus – in Bonn, Darmstadt, Karlsruhe, Zürich und nun zum dritten Mal auch in Oldenburg. Junge Leute auf diese Art und Weise für Musik(-geschichte) zu begeistern, lässt der vierfache Vater sich einfach nicht nehmen.

Chefchoreograf arbeitet mit Oldenburger Künstlerin Für die kommende Premiere der BallettCompagnie Oldenburg ,Men and Women‘ zur Musik des schwedischen Komponisten Allan Pettersson wird Chefchoreograf Antoine Jully erstmalig mit der Oldenburger Malerin und Goldschmiedemeisterin Alexandra Telgmann zusammenarbeiten. Beide werden gemeinsam das Bühnenbild gestalten, das die Zeichnungen der Künstlerin im besonderen Maße zeigt.


KulissenGeflüster

… Ein Wiedersehen mit Timothy Oliver Lisa Jopt goes Reichstag!

Tänzer Herick Moreira drückt Schulbank Der brasilianische Tänzer Herick Moreira, der seit August 2014 Ensemblemitglied der BallettCompagnie Oldenburg ist, drückt wieder die Schulbank! Seit Beginn dieser Spielzeit geht er an drei Abenden in der Woche zur Abendschule, um sein deutsches Abitur zu machen. Das alles leistet er neben seinem täglichen Balletttraining, den Proben und abendlichen Vorstellungen. Wir haben großen Respekt vor dieser Leistung und wünschen ihm nur die besten Noten!

Seit fast zwei Jahren sorgt das ensemble-netzwerk für Furore und hat es in den letzten Monaten sogar auf die Titelseite von Theater Heute und in den Spiegel geschafft. Gegründet wurde die Initiative unter anderem von Lisa Jopt und Johannes Lange, Ensemblemitgliedern des Oldenburgischen Staatstheaters, die sich bereits zuvor gemeinsam mit der Theater-leitung für verbesserte Arbeitsbedingungen am Theater einsetzten. Seit einiger Zeit findet das ensemblenetzwerk auch auf politischer Ebene Gehör: Am 26. Januar begrüßen die beiden Gründungsmitglieder Frau Heinen-Kljajic, die niedersächsische Ministerin für Wirtschaft und Kultur, in Oldenburg. Am 22. März ist Lisa Jopt außerdem zum Kulturempfang der Grünen Bundestagsfraktion unter der Reichstagskuppel geladen. Wir sagen Chapeau!, und sind uns sicher: Diese Leidenschaft wird sich auszahlen.

Wer ihn hier erleben konnte, hat ihn garantiert nicht vergessen: In verblüffender Ausdauer und Stringenz brillierte Timothy Oliver, Tenor im Ensemble der Semperoper Dresden, in der vergangenen Saison als Gandhi in ‚Satyagraha‘. Ein wahres Zählkunstwerk musste er in Philip Glass’ Minimal Music vollbringen und das Ganze auch noch auf Sanskrit! Da erscheint die neue Aufgabe für den Tenor fast spielend: Als feuerzüngelnder Loge kehrt´ er im ‚Rheingold‘ nach Oldenburg zurück, um hier an der Seite von Johannes Schwärsky als Alberich, Ann-Beth Solvang als Erda, Randall Jakobsh als Fasolt und Julia Faylenbogen als Floßhilde das illustre Gastensemble zu ergänzen. Wir freuen uns über den Sängerzuwachs – willkommen zurück!

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OPERNSeiten

Der reinste Genuss! Das Staatstheater lädt zum Oldenburger Opernball 2017

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esser kann ein neues Kalenderjahr gar nicht begin- kann Angela Weller nach einem kurzen Blick in ihre Nonen: Die Weihnachtsplätzchen sind vertilgt, die Kor- tizen helfen. „Sie sind links des roten Teppichs aus Licht sage des Ballkleides ist geschnürt und die Rentiersocken positioniert, um die Gäste festlich zu empfangen. Wollen wurden gegen mörderische Pumps getauscht – denn: Es wir nur hoffen, dass es keinen Frost gibt – obwohl: Darauf ist Opernballzeit! Bereits zum zweiten Mal in Folge lädt das haben wir ja bei der Farbgebung geachtet“, fügt sie lachend Staatstheater zum unvergesslichen Fest und auch dieses hinzu. Um der dunklen Jahreszeit entgegenzuwirken, fiel Jahr wird aus dem Vollen geschöpft: Ein im hellen Schein- die Entscheidung dieses Mal für ein frühlingshaft-frisches Limette. „Nach dem kalorienreichen werferlicht erstrahlendes Theaterhaus, ein Advent sehnt sich jeder nach etwas vielseitiges Künstlerensemble, der deli„Hier steht Leichtem. Das reicht sogar bis zu den kateste Gaumenschmaus – nichts darf am Farben, mit denen man sich umge14. Januar 2017 fehlen. Schließlich gilt es also nicht nur ben will.“ Angela Weller, seit dieser nicht nur, die Erwartungen des Vorjahrs zu Spielzeit Referentin des Generalinerfüllen, nein, das Ziel ist es, sie zu übertrefStaatstheater tendanten Christian Firmbach, steht fen! dem sogenannten Opernballkomitee drauf, hier ist vor. Ihre Aufgabe war es während der Neben illustren Gästen und einem überletzten Monate, alle unterschiedlichen wältigenden künstlerischen Programm auch wirklich Abteilungen und Arbeitsschritte zuverlangt der Ball aber vor allem viel orgasammenzuführen. Dabei stand ihr als nisatorisches Geschick. Dementsprechend Staatstheater wichtigste Unterstützung Veronika aufgeregt ist dann auch die Stimmung in Hoberg zur Seite, die technische Proden ersten Januarwochen des noch jungen drin!“ duktionsleiterin des Hauses. GemeinJahres. „Wann werden noch mal die Blumen geliefert?“, fragt Felix Schrödinger, der als Regisseur sam überlegte man, wie schnell die Sitzreihen im Großen die Balleröffnung verantwortet. Ein letztes Mal haben sich Haus ausgebaut werden können oder wie die Gestaltung die Köpfe der unterschiedlichen Abteilungen am großen der Tische auf der Seitenbühne aussehen soll. „Immerhin Tisch im Intendanzbüro versammelt. Jetzt heißt es, genau sind wir ein Theaterhaus und kein fertiger Ballsaal“, gibt zu sein: Alle Absprachen müssen noch einmal überprüft, Veronika Hoberg zu bedenken. „Da ist einiges umzugestalübriggebliebene Aufgaben verteilt und der Ablauf des ten und darf kein Detail vergessen werden.“ Abends detailliert durchgesprochen werden. „Um 15 Uhr kommen die großen Säulengestecke von ‚Blumen am The- Details gibt es bei dieser Veranstaltung ausreichend – ater‘, die wir wieder vor dem Eingang aufstellen werden“, schließlich ist das Aushängeschild des Oldenburger Opernball-Gala 2016

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OPERNSeiten

Opernballs die Verbindung von qualitativer Kunst und glänzender Feierlichkeit. So wird auch dieses Jahr eine circa einstündige Konzertgala das Festpublikum in die Welt des Theaters entführen, bevor unterschiedliche Bands und Instrumentalisten dazu einladen, das Tanzbein zu schwingen. Unverzichtbar sind dabei die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses. „Der Opernball heißt nicht nur ‚Oldenburger Opernball‘, weil er in dieser Stadt stattfindet“, betont Christian Firmbach, „sondern vor allem, weil er von den Oldenburgerinnen und Oldenburgern ausgetragen wird. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal: Wir engagieren keine fremden Sänger oder beauftragen eine externe Cateringfirma. Bei uns singt das Oldenburger Opernensemble und treten Oldenburger Künstlerinnen und Künstler auf. Unser Generalmusikdirektor Hendrik Vestmann dirigiert und unsere Leiterin der Gastronomie Susanne Diekmann kreiert schon seit Monaten eine neue Vielfalt an Speisen. Hier steht also nicht nur Staatstheater drauf, hier ist auch wirklich Staatstheater drin!“ Was als hehres Ziel gesetzt wurde, muss durch frühzeitige Planung und arbeitsintensive Umsetzung auch erreicht werden. Bereits kurz nach der Sommerpause traf sich das Opernballkomitee deshalb zum ersten Mal. Wichtigster Tagesordnungspunkt: Was soll nach dem Erfolg im letzten Jahr anders werden, was gleich bleiben? Lange Gespräche mit Gästen, Sponsoren und Mitarbeitern ergaben eine einhellige Meinung: Die programmatische Basis des Abends

dürfe sich nicht ändern, die Details der Gestaltung allerdings könnten variieren. Auch am 14. Januar 2017 kann man sich deshalb auf exquisiten Wein und Prosecco von ‚Da Luigi‘ freuen und auch dieses Mal laden Sängerinnen und Sänger zum beschwingten Opern- und Operettenprogramm ein. Im Gegensatz zum vorigen Jahr wird die musikalische Gala aber 2017 durch die BallettCompagnie Oldenburg unter ihrem Chefchoreografen Antoine Jully erweitert, die nach dem Galaprogramm für eine spektakuläre Balleröffnung sorgt. Ein zusätzliches Restaurant im ebenerdigen Glasturm vergrößert darüber hinaus die Gastronomie von Susanne Diekmann, während neue Ensembles die Tanzmusik des Kleinen Hauses verantworten. „Der begeisterte Ballgänger kann so jedes Jahr wiederkommen und erlebt doch einen völlig neuen Abend“, verspricht Angela Weller, während sie zu einer Testpraline greift, die Susanne Diekmann gerade in die Runde reicht. „Für diese Pralinen zum Beispiel haben sich unsere Gastro-Expertinnen extra in die Geheimnisse der Pralinenfüllung einweihen lassen. Herausgekommen ist eine ganz eigene Kostbarkeit, die die Gäste als süßes Willkommensgeschenk am Eingang erwartet – so etwas haben unsere Gäste noch nie getestet und werden es auch in dieser Form nie wieder bekommen.“ Mit diesen Worten wandern die Patisseriekunstwerke in die Münder des Opernballkomitees und ein Blick auf die verzückt geschlossenen Augen spricht Bände: Dieser Opernball wird der reinste Genuss! Valeska Stern

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Richard Wagner

DER RING 2017–2020

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Der ‚Ring des Nibelungen‘ im Oldenburgischen Staatstheater Die Oldenburger Inszenierungsgeschichte des ‚Ring des Nibelungen‘ zeigt über 100 Jahre anschaulich, dass die vollständige Umsetzung dieses von vielen als „größtes Werk der Musikgeschichte“ angesehenen Zyklus’ keine Selbstverständlichkeit ist …

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aum war im Jahre 1921 die Oldenburger Opernsparte gegründet worden, schallte auch schon zum ersten Mal das „Hojotoho“ der Walküren über die Bühne: Ende Mai 1922 wurden in der Regie von Intendant Renato Mordo und unter Leitung des Landesmusikdirektors Julius Kopsch zwei Vorstellungen von Richard Wagners ‚Walküre‘, dem zweiten Teil des ‚Ring des Nibelungen‘, angesetzt und hochkarätig besetzt: Als Titelheldin Brünnhilde war Melanie Kurt zu Gast, die sonst in Dresden, München und Salzburg, an der Mailänder Scala sowie vor allem an der Metropolitan Opera sang. Den Wotan gab Friedrich Plaschke, der seit 1900 zum Ensemble der Dresdner Hofoper gehörte, daneben aber auch regelmäßig in den USA, bei den Bayreuther Festspielen und am Royal Opera House in London gastierte.

In geistiger Nähe zu Bayreuth, 1925 Die Ära Mordo/Kopsch endete schon bald jäh und streitvoll. Es folgte 1924 ein neues künstlerisches Team, an dessen Spitze als Intendant Richard Gsell und als Musikdirektor Werner Ladwig standen. Kaum hatte Gsell seinen Vertrag unterschrieben und mit der Zusammenstellung seines Mitarbeiterstabs begonnen, reiste er nach Weimar zu Wolfram Humperdinck. In seinem Streben nach einer „modern-romantischen“ Opernregie sah er in dem Sohn Engelbert Humperdincks einen idealen Partner und bot ihm an, in Oldenburg Oberregisseur zu werden. Neben seinen Tätigkeiten als Spielleiter in Neustrelitz und Weimar war Humperdinck vor allem als Assistent von Max Reinhardt und Siegfried Wagner in der internationalen Opernszene gut vernetzt. Und mit dem Haus Wagner verband ihn weitaus mehr als die Arbeit – war er doch Patensohn Cosimas und von klein auf regelmäßig in Bayreuth zu Gast. Durch diesen Bezug stand auch das Oldenburgische Landestheater den Bayreuther Festspielen in jenen Jahren besonders nahe: Noch bevor Humperdinck im Spätsommer 1924 seinen Dienst in Oldenburg antrat, war er in Bayreuth für die Inspizienz und Bühnenbeleuchtung vom ‚Ring‘ und von ‚Parsifal‘ zuständig. Nachdem in Bayreuth der letzte Vorhang gefallen war, zog Humperdinck mit Frau und Kind in sein neues Heim am Mühlgraben in Oldenburg und plante recht spontan für seine erste Spielzeit den Beginn eines Oldenburger ‚Ring‘: Im März 1925 hatte

‚Das Rheingold‘, knapp zwei Monate später ‚Die Walküre‘ in seiner Regie und unter der musikalischen Leitung von Werner Ladwig Premiere und man darf vermuten, dass die Bayreuther ‚Ring‘-Erfahrung nicht ohne Einfluss auf diesen ersten – halben – Oldenburger Zyklus blieb. Hier sang die später besonders als Wagnersängerin international gefragte, aus Oldenburg stammende Sängerin Erna Schlüter einundzwanzigjährig als Rheintochter Floßhilde ihre erste Wagner-Partie. Zu einer Fortsetzung des ‚Ring‘ kam es in den darauffolgenden Spielzeiten jedoch nicht – über die Gründe wäre an dieser Stelle nur zu spekulieren. Nicht unerwähnt bleiben sollte jedoch, dass sich ein Oldenburger Personalwechsel indirekt auf die Bayreuther Festspiele des Jahres 1925 (und möglicherweise auch auf die Oldenburger Spielplangestaltung) auswirkte: Um den Ersten Kapellmeister Arthur Rosenstein, der als GMD nach Helsinki wechselte, feierlich zu verabschieden, setzte Gsell für den 25. Juni 1925 eine Neu-Inszenierung von ‚Otello‘ auf den Spielplan, die ausdrücklich von Humperdinck vorgenommen werden sollte. Der musste deshalb seinen bereits bewilligten Urlaub für Bayreuth schweren Herzens zurückziehen und empfahl als Ersatz den jungen Oldenburger Inspizienten Kurt Löffler zu den Bayreuther Festspielen …

Einzelinszenierungen mit Staraufgebot Was Richard Wagner ursprünglich strikt abgelehnt hatte, war mittlerweile überall gang und gäbe: Im Spielbetrieb der Repertoirehäuser wurden die einzelnen Teile des ‚Ring‘ immer häufiger aus ihrem Zusammenhang gelöst und als Einzelwerke oder Teilzyklus aufgeführt. Und so wurden auch in Oldenburg in den folgenden fünfzig Jahren immer wieder nur einzelne Teile des ‚Ring‘ gespielt. Dabei kam das Oldenburger Opernpublikum in den Genuss zahlreicher vielversprechender oder bereits prominenter Wagner-Stimmen: darunter die lettische Sopranistin Paula Brivkalne, die seit 1947 zum Oldenburger Ensemble gehörte und hier als Wagner-Sängerin bekannt wurde, so dass sie schon bald nach Bayreuth (u. a. als Göttin Freia und Walküre Ortlinde) engagiert wurde und in Wien und Paris auf der Bühne stand. In der ‚Götterdämmerung‘ der Spielzeit 1953/54 sang den Siegfried Kammersänger Peter Lustig, der in den darauffol11


genden Jahren als Erik (‚Fliegender Holländer‘) und Loge (‚Rheingold‘) bei den Bayreuther Festspielen gefeiert wurde.

Ring mit Liebestod, 1973 Ein vollständiger ‚Ring‘-Zyklus wurde in Oldenburg offenbar erstmals wieder in Angriff genommen, als mit der Spielzeit 1967/68 Fritz Janota das Amt des Generalmusikdirektors antrat: Das Projekt startete in der Spielzeit 1970/71 mit ‚Das Rheingold‘. Regie führte der Wiener Hanns Zimmerl, der sein Handwerk u. a. bei Walter Felsenstein und Wieland Wagner gelernt hatte. Die großen Wagnerpartien wurden zunächst aus dem Ensemble und mit fortschreitendem Zyklus üblicherweise mit Gastsängern besetzt, darunter als ‚Götterdämmerung‘-Brünnhilde Isabel Strauss – eine europaweit gastierende Sopranistin, deren Stimme auf mehreren CD-Einspielungen erhalten ist. (Sie wurde besonders als Martha in Eugen d’Alberts ‚Tiefland‘ an der Seite von Rudolf Schock gefeiert.) Als hortbewachender Drache Fafner im ‚Siegfried‘ grollte Fritz Vitu, ein langjähriges Oldenburger Ensemblemitglied, dessen Sohn Stefan Vitu heute als Inspizient und in Sonderrollen oft im Staatstheater zu erleben ist. Da kurz vor Janotas Amtsantritt, in der Spielzeit 1966/67, die ‚Walküre‘ bereits als Einzelinszenierung achtmal gespielt worden war, schien man beschlossen zu haben, den neuen Zyklus nicht streng chronologisch anzugehen, sondern die ‚Walküre‘ als letztes dazuzunehmen. So kam es, dass nach dem ‚Rheingold‘ (1970/71) erst ‚Siegfried‘ (1971/72) und dann die ‚Götterdämmerung‘ (1973/74) auf dem Spielplan standen. Zu einer Neuinszenierung der ‚Walküre‘, die den Ring beschlossen hätte, kam es nicht mehr und der Grund dafür hätte aus Richard Wagners Feder stammen können: Der ‚Ring‘-Dirigent Fritz Janota und die Gast-Brünnhilde Isabel Strauss entbrannten in wahrhaft bühnenreifer Liebe zueinander. Dadurch gerieten sie in tiefe emotionale und familiäre Konflikte, aus denen sie letztlich keinen anderen Ausweg sahen, als zusammen in den Tod zu gehen: Nach einer gemeinsamen Oldenburger Vorstellung der ‚Götterdämmerung’ am 2. Dezember 1973 fuhren sie in die Schweiz, wo sie sich am 5. Dezember in einem Wald bei Bern in ihrem Opel Rekord mit den Abgasen vergifteten. In ihrem Abschiedsbrief baten sie darum, gemeinsam beerdigt zu werden; und statt der ‚Walküre‘ stand nun anderthalb Jahre später, zur Spielzeiteröffnung im September 1975 ‚Tristan und Isolde‘ auf dem Oldenburger Spielplan … Erneut also kam ein ‚Ring‘-Projekt nicht zur Vollendung. Es folgten wieder Einzelaufführungen, u. a. der ‚Götterdämme12

Melanie Lang (Fricka) und Timothy Oliver (Loge) bei der Probe

rung‘ (1989/99) und der ‚Walküre‘ (2010/11). Mit dieser Spielzeit nun startet das Oldenburgische Staatstheater einen neuen Ring-Zyklus, dessen ‚Rheingold‘-Proben seit dem 4. Dezember laufen. Chronologisch in seiner Entstehung wird der Zyklus im Jahre 2020 – pünktlich zur Jubiläumsspielzeit – vollendet sein. Es sei denn … Stephanie Twiehaus

‚Das Rheingold‘ Vorabend des Bühnenfestspiels ‚Der Ring des Nibelungen‘ von Richard Wagner In deutscher Sprache mit Übertiteln Musikalische Leitung — Hendrik Vestmann Regie — Paul Esterhazy Premiere am 04.02.2017, 19.30 Uhr, Großes Haus

Gastspiel: STEFAN MICKISCH Spielt und ERKLÄRT ‚DAS RHEINGOLD‘ Zwei Wochen vor der ‚Rheingold‘-Premiere ist Deutschlands gefragtester Wagner-Opernführer zu Gast in Oldenburg: Der Pianist, Moderator und Entertainer Stefan Mickisch führt in die Geheimnisse des ‚Ring‘-Vorabends ein. „Man lernt, genießt, frischt auf - und das alles mit Humor!“, schwärmte einst Dietrich Fischer-Dieskau über Mickischs unnachahmliche Fähigkeit, ebenso kompetent wie kurzweilig für Wagners Werk zu begeistern. Sonntag, 22. Januar 2017, 19.30 Uhr, Großes Haus


Auditiv den ‚Ring‘ erleben Der Geschäftsführer des Audi Zentrum Oldenburg Bernd Weber und Generalintendant Christian Firmbach im Gespräch mit Dramaturgin Stephanie Twiehaus über die Gemeinsamkeiten von Audi und Wagners ‚Ring des Nibelungen‘.

Das Audi Zentrum Oldenburg ist Sponsor zur ‚Ring‘Produktion des Staatstheaters – wie kam es dazu? Christian Firmbach: Bei verschiedenen Events sind wir immer wieder miteinander ins Gespräch gekommen. Bernd Weber: Und als Sie mir Ihre Idee von der Ring-Parallele vorgestellt haben, war ich total begeistert und habe mir gleich den ‚Ring‘ auf CD bestellt. CF: Ab da hatte ich einen Wagnerianer mehr in Oldenburg. BW: So weit bin ich noch nicht. Aber entscheidend ist, dass mein Interesse für das Theater und besonders den ‚Ring‘ geweckt worden ist. Ich komme aus einer konservativen Bauunternehmer-Familie und mein Vater sagte immer: „Kunst ist Dunst“. Dieser Lebensgrundsatz steckt erst einmal tief in einem drin und lässt sich auch so schnell nicht leugnen. Aber letztlich fehlte mir nur ein Anstoß … Wenn man in der Firmengeschichte von Audi stöbert, findet man erstaunliche Parallelen zum ‚Ring‘, sodass eine Zusammenarbeit geradezu prädestiniert scheint … CF: Die Parallelität der Ringe liegt ja auf der Hand: Die vier Audi-Ringe sind mit den vier Teilen des ‚Ring des Nibelungen‘ gleichzusetzen, vier in sich geschlossene Teile, die ineinander verschränkt sind und ein Ganzes bilden. BW: Bei Audi stehen sie für die vier ursprünglichen Marken, die sich zusammengeschlossen haben: DK W, Horch, Audi und Wanderer … CF: Kurios ist doch schon allein die Tatsache, dass eine Audi-Marke ‚Wanderer‘ heißt: So heißt auch Wotan im dritten ‚Ring‘-Teil ‚Siegfried‘. Eine weitere Parallele ist, dass die Wurzeln von Audi ebenso wie die von Richard Wagner in Sachsen und insbesondere in Chemnitz liegen. Spannend ist auch die Herkunft des Namens Audi … BW: Der Unternehmensgründer August Horch war nach einem Firmenstreit aus Köln nach Chemnitz gegangen, um

dort neu anzufangen. Dafür musste er aber einen neuen Namen suchen. Und dann brachte eines Tages sein Sohn aus dem Lateinunterricht die Vokabel „audi!“ mit, was auf Deutsch ja „horch!“ heißt – so war der neue Name geboren. Deutlicher kann eine Automarke wohl kaum zum ‚Hören’ einer Oper auffordern … CF: Deshalb heißt auch unser gemeinsamer Slogan: „ Auditiv den ‚Ring‘ erleben.“ Audi hat ja eine gewisse Tradition beim Sponsoring herausragender kultureller Events, wie z. B. bei den Salzburger Festspielen. Reizt Sie der Einsatz für den Oldenburger ‚Ring‘ auch aus wirtschaftlichen Erwägungen? BW: Die Idee entstand zu einem günstigen Zeitpunkt: Die Planungen eines neuen Audi-Showrooms sind in vollem Gange und wir richten uns für die Zukunft neu aus. Deshalb freuen wir uns auf einen möglichen Imagetransfer des Oldenburgischen Staatstheaters. CF: Sowohl das Theater als auch das Audi Zentrum haben in der Region das Alleinstellungsmerkmal. Und wenn die Kunden zum einen kommen, erwacht vielleicht auch ihr Interesse am anderen … BW: … zumal wir auch aktiv versuchen, Audi-Kunden für das Theater zu begeistern, z. B. mit Probenbesuchen und dem Kulturtalk, bei dem wir im Audi Zentrum eine Veranstaltung zum ‚Ring‘ anbieten. Was erwarten Sie persönlich, wenn Sie am 4. Februar in die Premiere des ‚Rheingold‘ gehen? BW: Ich hoffe, meine Begeisterung wird dafür sorgen, dass ich künftig häufiger den Weg ins Theater finde. Szenisch bin ich ganz offen – es ist ja mein erster ‚Ring‘. CF: Wenn man keine Bilder im Kopf hat, kann man besonders frei an ungewöhnliche Erzählweisen herangehen. Der Oldenburger ‚Ring‘ wird – obgleich er sehr nah am Stück ist – eine ziemlich neuartige Bilderwelt zeigen.

Kulturtalk im Audi Zentrum Oldenburg Generalintendant Christian Firmbach sowie Künstlerinnen und Künstler des Oldenburgischen Staatstheaters geben Einblicke in die ‚Rheingold‘-Produktion. Am 09.02.2017, 19.00 Uhr Anmeldung bis zum 06.02.2017 bei: Josephine Riemann, Tel.: 0441.21010862, riemann@audizentrum.net

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BallettSeiten

Choreografie aus dem MagGIAtal WDR/Arte-Redaktionsleiterin Prof. Dr. Sabine Rollberg über den Choreografen Martin Schläpfer

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artin Schläpfer, Choreograf und künstlerischer Leiter des Balletts an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg, zählt zu den bedeutendsten Tanzschöpfern Europas. Gemeinsam mit dem Chefchoreografen des Oldenburgischen Staatstheaters Antoine Jully, der lange in Schläpfers Compagnien getanzt hat, gestaltete er einen Abend, wie die beiden das auch schon in Düsseldorf getan haben. Das Programm mit vier Balletten läuft im Kleinen Haus des Oldenburgischen Staatstheaters. Wir haben für die Bühnenseiten Prof. Dr. Sabine Rollberg um einen Beitrag aus ihrer persönlichen Sicht gebeten.

die raue Alpnatur zu einer sanften, hügeligharmlosen Parklandschaft.“ Die Theatersommerferien verbringt Martin Schläpfer gerne allein hoch oben über dem Maggiatal in einer völlig abgeschiedenen Berghütte. Der steile Aufstieg zu Fuß dauert über zwei Stunden. Er hat das winzige Refugium vor vier Jahren erstanden, als er es leid war, sich die Ruhe einer kreativen Pause in teuren Luxushotels zu erkaufen. Von dort oben hat er einen anderen Blick auf die Welt, ist er eins mit der Natur, denkt schreibend darüber nach, was ihn unten im Tal davon trennt. Daraus ist der erste Abschnitt ein Zitat. In seinen unveröffentlichten Texten schreibt der Kosmopolit, der in Kanada und England gelebt und in der ganzen Welt mit seiner inzwischen dritten von ihm aufgebauten Compagnie „Wenn die Julisonne beginnt, herunterzuklettern, trifft gastiert hat, in fliegendem Wechsel deutsch, englisch und schwyzerdütsch. So spricht er auch. ihr orangenes Licht direkt dieDas Schweizerdeutsch fällt allersen Weg, werfen sich ihre Strah„Vielleicht arbeite dings weg, wenn keine Eidgenossen len mit einer fröhlichen Wucht dabei sind. Aber seine Heimat in in ihn hinein, rollen sich in ihm ich heute nur deshalb Sankt Gallen schwingt in allem mit, herum, dass alles plötzlich ein was ihn ausmacht. Er erzählt, dass einziges Leuchten wird: Die tonim Theater, weil ich das er eine glückliche Kindheit in einer nenschwere Steinwand scheint zu liebevollen Familie, in einem altanzen vor lauter auf ihr herumsuche, was ich früher ten Haus, umkreist von Kuhfladen, gaukelnden Gelbschattierungen … so selbstverständlich Kaninchen, Katzen und KirschbäuDer Wind haucht dem Ganzen zumen, hatte. Sein Vater großzügig, sätzlich Bewegung und verrückte hatte, so unverkrampft freigeistig, offen, die Mutter hochLebendigkeit ein, eine zittrige Gobolichtlandschaft flattert überall mein Eigen nennen durfte: intelligent, diszipliniert, streng, vorsichtig gegenüber allem Neuen und herum. Die verdorrten, ausgewaeher in Schablonen denkend. Um schenen Blätter, die auf dem BoVorstellungskraft.“ die Mittagszeit hatte sie ein köstden liegen, leuchten rotkehlchenbrustähnlich, magisch ist der heutige Abend. Eine Harmo- liches Essen für die drei Buben und den Vater gekocht und nie sondergleichen liegt über dem Land. Ein Gleichmaß an konnte sehr ungehalten werden, wenn der Vater in seinem Ingredienzen von Licht, Temperatur und Stille verwandelt olivefarbenen Citroën mal wieder zu spät kam. Ist es Zufall

Nicol Omezzolli in ‚Ramifications‘

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BallettSeiten

Marié Shimada und Herick Moreira in ‚Quartz‘

oder Bestimmung, dass sich in den zugeschriebenen Eigenschaften der Eltern Adjektive finden, die zu Kategorien der Ballettgeschichte zwischen Klassik und Moderne passen können? Wie kommt ein Junge aus dieser bilderbuchhaften Schweizer Idylle auf die großen Bühnen dieser Welt und wird mit 15 internationalen Tanzpreisen ausgezeichnet? Warum wurde er nicht Biobauer in den Fußstapfen seines Appenzeller Großvaters oder angesichts seines frühen Geigenunterrichts Musiker oder Arzt wie seine Brüder? Diese gesegnete Kindheit hat ihm das Gefühl beschert, sehr vieles zu können, schneller als andere zu rennen, auf höhere Bäume zu steigen und gleichzeitig von den beiden älteren Brüdern vor dunklen Gefahren gewarnt zu wer-

den, was er nicht wirklich ernst nahm. All das hat ihm seine schöpferische Kraft geschenkt: „Vielleicht arbeite ich heute nur deshalb im Theater, weil ich das suche, was ich früher so selbstverständlich hatte, so unverkrampft mein Eigen nennen durfte: Vorstellungskraft. Als ich noch Bub war, waren sich Vorstellungswelt und Realitätserleben ebenbürtig, waren gleich hoch, gleich wichtig, twin towers. So stark ausgeprägt war sie in mir, dass sie wie eine zusätzliche Sinneswahrnehmung fungierte“, schreibt er in seinen ,Alpfragmenten‘. „Irgendwann auf dem Weg durchs Leben habe ich sie verloren. Unmerklich schleichend ging das vonstatten. Heute ist ein Baum ein Baum, kann seine Rinde nicht plötzlich zum struppigen Bärenfell werden, sein Stamm nicht zu einem furchterregenden, 15


BallettSeiten

mich angreifenden uprighten Grizzly.“ Aber seine Vorstel- Er ist felsenfest überzeugt, dass uns langfristig nur Bildung lungskraft hat heute einen anderen Ausdruck gefunden: Sie retten kann. Bildung ist ihm eine Herzenssache, denn er zeigt sich in seinen einmaligen Kreationen, die universell musste sich, da er mit 15 eine Ballettausbildung begann, unser Bewusstsein, unsere Ängste, Unsicherheiten, unsere vieles auf anderen Wegen als den Universitätsbahnen selbst Schwächen, unser Hadern mit der Welt, wie sie ist, ausdrü- erlesen. Martin Schläpfer hat den Politikern sein Verbleiben cken. Wir begegnen in diesen Bildern und Bewegungen in Düsseldorf mit einem neuen großen Tanzhaus, einem uns selbst. So hat er mit dem Verlust an kindlicher Vorstel- Haus zum Kreieren und Proben, das den räumlichen Auslungskraft uns, sein Publikum, gewonnen. Es ist sicher auch maßen der Bühne am Opernhaus entspricht, abgerungen. sein permanenter Passionsweg, das Abnabeln von Schwei- Sehr wichtig war ihm dabei auch, dass dieses Tanzhaus eine zer Wurzeln zu ertragen: „Das UnBallettschule integriert. glaubliche an der Schweiz ist, dass sie neutral ist, sein will, zumindest Lehrer, Ausbilder, Vorbild für jun„Er ist ein Lehrer so tut, als ob. Das Rote Kreuz eben ge Menschen zu sein, ist ihm eine und Ballettdirektor, und so. Gleichzeitig unglaublich zwar aufreibende, aber lohnende brillant Nationalismus kaschierend und wichtige Herausforderung. Er der für seine alles abschirmt, von sich weghält, stellt sich und seine Rolle immer was draußen auf dem Planeten hewieder in Frage, teilt seine Zweifel, Überzeugungen rumdonnert, zu ihr hin möchte, für fordert seine Schüler dadurch mehr gut oder schlecht, sie inspirieren heraus, denn sie müssen auch seiund Werte auf oder gefährden könnte.“ Schweizer ne Irritationen aushalten, aber sie Bauern glauben nicht an den Staat, wachsen daran und spüren, dass sanfte Art kämpft.“ glauben an niemanden, der über ihdieser Weg sich lohnt. Schläpfer nen steht: Deutsche Bürger glauben nicht an sich selbst und kann durch sein durchdringenwarten auf Hilfe von oben. Martin Schläpfer verzweifelt am des Musikverständnis deutlich machen, wie man zum Mangel an Eigenverantwortlichkeit in seiner neuen Heimat Beispiel in Beethovens Tönen wahrnehmen kann, „dass am Mittelrhein. Der Künstler sitzt nicht im Elfenbeinturm man das Leben auch ohne Gott und seine nachschleifenund wartet auf Inspiration. Hellwach, aufmerksam und kri- den Gnadenschweifpakete lieben und umarmen kann, es tisch verfolgt er Politik auf allen Ebenen und analysiert die auszuhalten vermag, es eben zu nehmen fähig ist, grad so Gesellschaft, in der er lebt: „Wir brauchen eine Politiker- wie es ist.“ Er ist ein Lehrer und Ballettdirektor, der für seigeneration, die zwar auch das Geld handhaben kann, aber ne Überzeugungen und Werte auf sanfte Art kämpft und wieder aus dem Geistigen heraus handelt.“ sich auch dann dafür einsetzt, wenn die Kasse nicht dabei

Sabine Rollberg ist seit 1999 Arte-Beauftragte des WDR und WDR/ARTE-Redaktionsleiterin. Sie lehrt an der Kölner Hochschule für Medien Künstlerische Fernsehformate, war davor freie Journalistin beim SWF, bei der Badischen Zeitung und der FR. Seit 1980 ist sie festangestellt beim WDR und war u. a. ARD-Korrespondentin in Paris und ARTE-Chefredakteurin. Die für ihre Dokumentarfilme mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnete Redakteurin verantwortete auch das Porträt ‚Feuer bewahren – nicht Asche anbeten‘ über Martin Schläpfer der Filmemacherin Annette von Wangenheim.

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BallettSeiten

klingelt. Eine Bildung in seinem Tanzhaus will den Eleven das Rüstzeug geben, „welches befähigt, als sinnenwacher, sensibler, mitfühlender und denkender Mensch durchs Leben zu gehen, dies kriegt man nicht mit auf dem Weg in diesen ‚Hochschulprachtsjachten‘“, schreibt er von der Höhe des Maggiatals. Der erste Absatz dieses Textes erschien Ihnen vielleicht wie eine Szenenbeschreibung für eine Schläpfer-Choreografie. Dort oben an der Grenze zu Italien inhaliert er Inspirationen für Bewegungen, Bühnenbilder, Beleuchtungen, auch wenn er sagt, er „hat die Nacht lieber als den Tag, den feuchtwarmen Dschungel lieber als die klare Wüste“, denn „in der Nacht wird alles kreativer, freudvoller, tiefer empfunden“. Die dunklen Stunden sind auf dem Berg noch intensiver, angstbesetzter, ein Gang auf die Toilette kann zur Mutprobe werden. Die Alp wird da schnell zum Alb. Geister wie aus Hieronymus-Bosch-Gemälden schleichen ums Haus und schüren Ängste, nicht mehr zu genügen, zu enttäuschen; Melancholie und Zweifel werden zu Begleitern. Aber ohne diese Zweifel und diese Selbstreflexion würden seine Stücke nicht entstehen können. Martin Schläpfer hat

bisher kein Handlungsballett choreografiert. Seine Assoziationsketten weben einen Teppich von Bewegung und Musik. Die Handlungsstränge fabulieren sich in der Vorstellungskraft der Zuschauer. Beethoven, Liszt, Schubert …Die von ihm vertanzten Stücke höre ich später nur noch mit den Bewegungen im Kopf. Er ist ein Choreograf, der nicht nur fürs Auge arbeitet, er befördert das Hören. Als er sich mit Mahlers 7. Sinfonie befasste, hatte er an seine Wand im Büro ein Zitat des Komponisten geschrieben: „Feuer bewahren – nicht Asche anbeten“. Ich bin sicher, wir werden noch viele von ihm entfachte Feuer erleben, auf der Bühne, in der Welt und am Berg. Sabine Rollberg

Schläpfer/Jully Vierteiliger Ballettabend von Martin Schläpfer und Antoine Jully Concertante (UA)/Ramifications/Quartz/ Begegnen ohne sich zu sehen (UA)

05.05. — 14.05.2017

13. INTERNATIONALE

BALLET DU GRAND THÉÂTRE DE GENÉVE

THÉÂTRE DE SURESNES JEAN VILAR

BALLETTCOMPAGNIE OLDENBURG

10 & 10 DANZA

CIA DE DANZA SOL PICÓ COMPAGNIE RETOURAMONT

LES BALLETS BUBENÍČEK IT DANSA

TANZFUCHS PRODUKTION

GO.OLD SENIORCOMPANY GUDRUN WEGENER

COMPAGNIE HERVÉ KOUBI

ANTIPODE DANSE TANZ

HUBBARD STREET DANCE CHICAGO

DIE BARRACUDAS GUNNAR & LASSE LYAMBIKO

TEL 0441.2225-111 | WWW.STAATSTHEATER.DE

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BALLET DU GRAND THÉÂTRE DE GENÈVE, GLORY, GTG/GREGORY BATARDON

TANZTAGE


Agnes Kammerer und Maximilian Pekrul in der Uraufführung ‚Titanic‘

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FESTIVAL NEUER PERFORMATIVER ALLIANZEN

30.03.

20

—

01.04.

2017


Trotz alleM und gerade deshalb … „Trotz allem und gerade deshalb gehen wir am Staatstheater neue theatrale Wege für Oldenburg, denn gerade jetzt sind diskursive, widerständige, bunte Freiräume von immenser politischer Wichtigkeit.“

Bildet BANDEN! Während die EU wankt und der Terror uns in Atem hält, werden allenthalben sicher geglaubte Werte der Toleranz und Errungenschaften der Freiheit über Bord geworfen. In Russland, Polen, Ungarn, in der Türkei sind die Entwicklungen besorgniserregend. In Frankreich bringt sich der Front National in Stellung, in Österreich die FPÖ, bei uns zieht die AfD in die Parlamente ein, jetzt droht auch noch Mario Barth, in die Politik zu gehen, und der neue mächtigste Mann der Erde gewann die Wahl durch hemmungslosen Rechtspopulismus. Seit einiger Zeit beschleicht einen ein mulmiges Gefühl: Die gesellschaftliche Vielfalt ist in Gefahr und muss verteidigt werden. Orte der Freiheit und Diversität werden rarer und kostbarer. Trotz allem und gerade deshalb gehen wir am Staatstheater neue theatrale Wege für Oldenburg, denn gerade jetzt sind diskursive, widerständige, bunte Freiräume von immenser politischer Wichtigkeit. BANDEN!, ein Festival neuer performativer Allianzen, welches erstmals vom 30.03.– 01.04.2017 stattfinden wird, steht für die künstlerische Öffnung des Staatstheaters. Einzigartig dabei ist, dass das Schauspielensemble und Performergruppen aus der Freien Szene über mehrere Konzeptions-, Recherche- und Probenphasen hinweg in gemeinsamer Autorenschaft zusammenarbeiten. Die enge Kooperation mit dem Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim sowie mit dem Zentrum für Performance Studies der Universität Bremen sorgt dabei für den Anschluss an aktuelle Diskurse der Theateravantgarde sowie neueste Entwicklungen der

Performance. Durch seine Festivalstruktur mit breitgefächerten Formaten der Vermittlung bietet BANDEN! dem Zuschauer zahlreiche Möglichkeiten der Begegnung und des spielerischen Diskurses. Durch die Verbindung mit den Jugendtheatertagen ist das Festival ein Ort des generationsübergreifenden Austausches. Es hat eine breit vernetzte Struktur und ist von einer umfassenden Kooperationskultur getragen. Es ist ein niedrigschwelliges Angebot für alle. Es bildet Banden von vermeintlich Andersartigen, verbindet Künstler verschiedener Genres, Jugendliche und Erwachsene, Alt- und Neuoldenburger, Theaterfreunde und Theaterfremde in einem innovativen Theaterfest. Es mag nur ein bescheidener Beitrag sein, aber das ist die Münze, mit der wir Theater bar zahlen können: Wir schaffen einen Freiraum, der die Sehgewohnheiten und die Toleranz herausfordert, wo der Mensch sich selbst im Zustand der konstruktiven Verunsicherung erleben, darüber in einen lebendigen Diskurs eintreten und die eigene Wahrnehmung erweitern kann. Das ist gerade jetzt wichtig, denn „wenn Menschen aufhören, sich spielerisch und großzügig zu verhalten, dann verlernen sie, souverän zu sein. Ihr ganzes Leben gerät zu einer knechtischen Existenz“, wie der Philosoph Robert Pfaller sehr treffend bemerkt. In diesem Sinne laden wir Sie herzlich zu unserem neuen Festival ein: Haben Sie keine Angst! Kultivieren Sie Ihre Neugier! Bleiben Sie offen und knüpfen Sie bei uns im Theater neue BANDEN! Herzlich willkommen! Marc-Oliver Krampe

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Den Stereotypen entgegen Ein Interview mit der freien Gruppe Das Helmi zu ihrer BANDEN!-Produktion ‚Gulliveras Reisen‘ Habt ihr ein Thema, eine Fragestellung, die ihr mit ‚Gulliveras Reisen‘ verfolgt? Florian Loycke: Milo Manara hat 1992 auf der Grundlage von Swifts ‚Gullivers Reisen‘ eine erotische ComicPersiflage namens ‚Gullivera‘ veröffentlicht – mit einer weiblichen Protagonistin. Vor diesem Hintergrund setzen wir uns mit Frauen- und Männerbildern auseinander. Unser Projekt ist eine „Reclaim-Aktion“, das heißt, die Frauen sollen sich die Männerfantasien zurückerobern. Man merkt oft gar nicht, wie geprägt man selber von diesen stereotypen Vorstellungen ist. Dass Frauen für Männer sexy sein sollen, findet man ganz normal. Andersherum ist das ungewohnter. Durch erotische und körperliche Improvisationen untersuchen wir diese Stereotypen auf den Proben und flechten die Erfahrungen in unsere Performance mit ein. Solene Garnier: Sowohl Männer als auch Frauen stecken in diesen Strukturen fest. Auch wir Frauen folgen sexistischen Reflexen, indem wir zum Beispiel andere Frauen abwerten. Diese Strukturen zu dekonstruieren, ist eine Menge Arbeit. Wir Männer und Frauen bauen diese Machtpositionen gemeinsam weiter aus. Es ist nicht nur der böse Mann, der die Macht übernimmt … Wie würdet ihr eure Probenarbeit beschreiben? SG: Bei BANDEN! geht es ja unter anderem darum, dass wir als freie Gruppe ein Stück gemeinsam mit den Schauspielerinnen und Schauspielern entwickeln. Deswegen machen wir viel zusammen, das Aufwärmen zum Beispiel, das schafft gegenseitiges Vertrauen. Außerdem diskutieren wir sehr viel und fangen auf Grundlage dieser unterschiedlichen Meinungen an, Szenen zu probieren. FL: Früher konnte ich diese freie, improvisierte Art zu proben nicht besonders gut aushalten, da habe ich aus Nervosität Szenen zusammengebaut, damit schon mal was stand. Heute habe ich mehr Vertrauen, dass eine Performance gut wird, auch wenn der rote Faden nicht immer sichtbar ist. Dafür finde ich es wichtig, miteinander zu sprechen. Es soll ja kein autoritärer Prozess sein, sondern eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe. Ludmila Skripkina: Der Probencharakter zeichnet sich bei diesem Projekt auch dadurch aus, dass wir uns gegenseitig Dinge beibringen. Gullivera soll etwas Heldenhaftes haben, deswegen habe ich den anderen zum Beispiel Nahkampf beigebracht. Jeder darf seine Ideen mit einbringen.

Dasniya Sommer und Klaas Schramm bei den Proben

Es herrscht also komplette Gleichberechtigung? FL: Komplett nicht. Wenn man auf jedes Bedürfnis in jedem Moment eingehen würde, käme man nicht voran. Aber wir nehmen jede Anregung auf, setzen sie nur vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt um. Das ist nicht eure erste Produktion mit einem Stadttheater. Welche Vor- und Nachteile hat eine solche Zusammenarbeit? FL: Man hat mehr Möglichkeiten, man hat diesen großen Apparat, es kommen Leute, die Fragen stellen und helfen. Das ist schön, sonst musst du immer alles selbst machen. Außerdem ist es fantastisch, so eine Theaterfamilie kennenzulernen. Mir macht es auch keine Angst mehr, auf Schauspielerinnen und Schauspieler mit anderen Probengewohnheiten zu treffen, dann diskutiert man und hilft sich gegenseitig bei den unterschiedlichen Spielstilen. SG: Ich wünsche mir, dass man die Strukturen des Stadttheaters in Deutschland weiterentwickelt, um mehr Raum und Zeit für künstlerische Entfaltung zu haben. Natürlich ermöglichen diese Strukturen auch ökonomische und dadurch psychologische Sicherheit. Unsere Situation als freie Gruppe ist prekär, weil wir von heute auf morgen arbeitslos sein können. Ich fände es interessant, sich mit Theaterleuten aus unterschiedlichen Ländern zusammenzusetzen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Das Interview führte Anna-Teresa Schmidt.

Gulliveras Reisen (UA) Regie und Konzept — Solene Garnier/Florian Loycke/ Ludmila Skripkina/Dasniya Sommer (Das Helmi)/ Johannes Lange/ Klaas Schramm Premiere am 30.03.2017, 18 Uhr, Exerzierhalle

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Zwei Kulturen, ein Mythos Franziska Werner und Ali Moraly im Gespräch über ihre Banden!-Produktion ‚Eurydike. Orpheus.‘ Franziska, welches Interesse hattest du an einer eigenen Produktion und Regiearbeit? Franziska Werner: Ich bin sehr glücklich, als Schauspielerin arbeiten zu können. Doch alle paar Jahre suche ich nach einer Überforderung, nach einem Projekt, das mir unschaffbar erscheint. Für mich gehört das zur künstlerischen Weiterentwicklung dazu. Ein Stück zu schreiben und es selbst zu inszenieren, ist für mich positive Überforderung. Und warum der Mythos von Orpheus und Eurydike? War das eine gemeinsame Entscheidung von dir und Ali Moraly? FW: Wir haben nach einem Stoff gesucht, der uns beiden etwas bedeutet. Der die Schauspielerin und den Musiker, deren Geschichten bis jetzt sehr unterschiedlich waren, zusammenbringt. Der Mythos von Orpheus und Eurydike hat mich inspiriert, weil dort so viele große Themen angesprochen werden. Als ich Ali davon erzählte, war er sofort begeistert. Ali Moraly: Das stimmt. Das Thema der griechischen Mythologie interessiert mich, weil die Geschichte von Orpheus und Eurydike in meinem Leben und in der Beziehung zu meiner Musik immer eine Rolle gespielt hat. Außerdem hat die griechische Mythologie eine historische Bedeutung in der kulturellen Vermittlung zwischen West und Ost. Ich finde es sehr interessant, dass sie dem Projekt eine andere, interkulturelle Dimension gibt. Franziska, warum interessiert dich die Selbstermächtigung Eurydikes? FW: Viele Geschichten, wie auch dieser Mythos, werden aus der Sicht von Männern erzählt, mich interessieren aber genauso die Perspektiven der Frauen. In der Sage bleibt Eurydike passiv. Ich habe ihr eine Geschichte geschrieben, in der ich ihr Handlungsspielraum gebe und sie frage: Wie kam es zu dieser Passivität? Wieso bist du in dieser großen Geschichte, dieser großen Liebe verloren gegangen? Ich fand es toll, dass Ali sich schon mit Orpheus beschäftigt hatte. Ali spricht auf der Bühne Arabisch, ich spreche Deutsch, um zu zeigen, dass wir aus verschiedenen Sprachwelten kommen, uns künstlerisch aber trotzdem sehr gut verstehen. Und natürlich erzählt es, dass Eurydike und Orpheus sich lieben konnten, ohne einander nach der Vergangenheit zu fragen.

Und wie gestaltet sich eure gemeinsame Arbeit? FW: Wir haben großen Respekt voreinander, was sehr viel Spaß macht. Das bedeutet, Ali hat musikalisch absolute Freiheit und ich beim Schreiben und meinen Inszenierungsideen. Wir bringen unsere Ideen dann zusammen, ohne uns gegenseitig einzuschränken. AM: Ja, absolut. Für mich ist es auch ein total anderer Einsatz der Bühne. Jetzt stehe ich auf der Bühne, nicht nur als Musiker, sondern auch als Figur aus dem Stück. Ich lerne viel durch diese Erfahrung. Gibt es Unterschiede, Geige in Syrien oder Deutschland zu spielen? AM: Nein, in Damaskus hatte ich eine total klassische, westliche Ausbildung. Ich habe bei einem russischen Lehrer Geige gelernt und habe das ganze klassische Repertoire absolviert. Natürlich hatte ich, als ich in Syrien lebte, auch den Zugang zu arabischer Musik, aber meine Ausbildung ist klassisch-westlich. FW: Du hast die Musik für das Stück komponiert, es gibt arabische und westliche Themen für die verschiedenen Figuren. AM: Aber ich bin kein arabischer Musiker oder Komponist. Die arabischen Themen sind nur Mittel für meinen persönlichen Ausdruck. Es ist egal, was rauskommt, ob klassische Musik oder westliche Musik, es sind nur die „Tools“, die ich nutze, um meine eigene Musik zu spielen, die meine Identität ausdrückt. Wen möchtet ihr mit dem Stück ansprechen? FW: Da wir es zweisprachig spielen, freuen wir uns über arabischsprechende Zuschauer, aber es soll natürlich jede und jeden ansprechen. Ich glaube, dass Liebe, Selbstbilder, Illusionen, Einsamkeit, Hoffnung und Angst vor Veränderungen universelle Themen sind, die jeder interessant finden kann, unwichtig, woher er kommt. AM: Ich finde, dass die Themen so kosmopolitisch sind, dass sie die beste Brücke darstellen, um die verschiedenen kulturellen Elemente zusammenzubringen. Das Interview führte Gesine Geppert.

Eurydike. Orpheus. (UA) von Ali Moraly und Franziska Werner In deutscher und arabischer Sprache mit deutschen Übertiteln

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Dahin, wo es weh tut Ein Interview mit der freien Gruppe Markus&Markus zu ihrem BANDEN!-Projekt ‚Die Rache‘ Wie würdet ihr eure Arbeit beschreiben? M&M: Wir sind Markus&Markus (Katarina Eckold, LaraJoy Hamann, Markus Schäfer, Markus Wenzel) und wir sitzen vor allem am Tisch. Wenn wir nicht am Tisch sitzen, verreisen wir. Dahin, wo es weh tut: in die Schweiz, nach Düsseldorf, in diverse Freizeitparks, nach Transsilvanien und zuletzt für die aktuelle Produktion nach Ammerland am Starnberger See. In einer fertigen Markus&Markus-Produktion stecken vier große Produktionsphasen: Konzeption, Recherche, Drehzeit und Inszenierung. Eine Besonderheit unserer Arbeitsweise ist sicherlich, dass wir die Inszenierung am Tisch konstruieren, die Probe als solche haben wir vor vier oder fünf Jahren weitestgehend abgeschafft. In unserer Arbeit interessiert uns immer der Punkt, an dem sich Theater und Leben kreuzen. Bisher haben wir hauptsächlich mit Menschen zusammengearbeitet, die in irgendeiner Form besondere biografische Eigenheiten mit sich bringen oder besondere Fähigkeiten besitzen, die aber dennoch Menschen des Alltags sind, z. B. mit Obdachlosen, dem selbsternannten Reichskanzler des Deutschen Reiches, rumänischen Gastarbeitern, Dementen, Messies, Missbrauchsopfern der Katholischen Kirche, Fischverkäufern aus Hamburg oder Menschen, die gerne sterben wollen. Euer Projekt heißt ‚Die Rache‘. Was erwartet uns? M&M: Wir arbeiten dafür zum ersten Mal mit Schauspielerinnen und Schauspielern zusammen. Gemeinsam haben wir auf der einen Seite die Dramenliteratur, auf der anderen Seite die eigenen Biografien durchforstet. Dabei sind wir auf eine massiv offene Rechnung gestoßen, die im Rahmen dieses Projektes endgültig beglichen werden muss: Rache! Ihr seid eine freie Gruppe. Was hat euch dazu bewogen, mit der Institution Staatstheater zusammen zu arbeiten? M&M: Wenn wir in der Freien Szene produzieren, suchen wir uns immer Koproduktionshäuser. Ganz allein, ohne finanzielle, personelle oder ideelle Unterstützung eines Hauses eine Produktion zu stemmen, das wäre zu viel des Guten. Insofern gibt es auch bei uns Bindungen.

Haltet ihr die Vermischung beider Formen für sinnvoll? M&M: Uns erscheinen Reibungsflächen in vielen Fällen unbedingt sinnvoll. Wichtig bleibt aber, dass es sich dabei nicht um einen Selbstzweck handelt. Die Frage muss also lauten: Wie kann man die Durchmischung der Systeme produktiv nutzbar machen? Wohin sollte sich eurer Sicht nach das deutsche Stadttheater entwickeln? M&M: Es sollte sich dahin entwickeln, dass es eine viel flexiblere Rahmengestaltung für unterschiedliche Formen künstlerischen Arbeitens ermöglicht. In unserem Fall bedeutet das: Wir brauchen z. B. zwei Wochen Recherchezeit ein Jahr vor der Premiere, eine zweiwöchige Drehzeit ein halbes Jahr vor der Premiere und sechs Wochen Inszenierungszeit unmittelbar vor der Premiere. Das erfordert eine gewisse Verfügbarkeit der beteiligten Personen. Wenn wir z. B. aus inhaltlichen Gründen in Bayern drehen wollen, müssen alle Zeit haben, zwei Wochen dort zu sein. Ein Schauspieler, der morgens Anprobe für Produktion A, mittags Wiederaufnahme von Produktion B und abends Vorstellung C hat, kann parallel nicht im Ammerland sein. Und noch weniger kann er kreativ an einer Projektentwicklung arbeiten. Wir gewinnen zuweilen den Eindruck, dass es sich bei diesem Schauspieler um eine hauptsächlich ausführende Person handelt, die kaum Raum für künstlerisches Schaffen hat. Das Interview führte Anna-Teresa Schmidt.

Die Rache (UA) Inszenierung — Markus Wenzel/Markus Schäfer/ Lara-Joy Hamann/Katarina Eckold (Markus&Markus) Lisa Jopt/Pirmin Sedlmeir/Jens Ochlast Premiere am 30.03.2017, 21 Uhr, Exerzierhalle

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Gastspiele – Diese BANDEN! kollaborieren mit uns: Fr 31.03. | 21 UHR | Kleines Haus SCHUBLADEN von She She Pop Sa 01.04 | 21.30 UHR | Kleines Haus IBSEN: GESPENSTER von und mit Markus&Markus Sa 01.04 | 17.30 UHR | Exerzierhalle GROSSE VÖGEL, KLEINE VÖGEL von und mit Das Helmi Sa 01.04. | 21 UHR | Großes Haus KONZERT: ROCKO SCHAMONI Und täglich auf dem Vorplatz der Exerzierhalle: WORKSHOPS, LECTURES, OFF-PROGRAMM, FESTIVAL-SAUNA, KONZERTE

KLASSISCHE UND NEUE FARBEN

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WELCHER THEATERTYP SIND SIE? GEHEN SIE HÄUFIG INS THEATER? JA Bevorzugen Sie dabei bekannte Titel?

NEIN Setzen Sie gerne Trends?

JA Glauben Sie, dass Lachen die beste Medizin ist?

NEIN

NEIN

JA NEIN

Mögen Sie sagenumwobene Stoffe?

JA NEIN JA

Haben Sie ‚Der Herr der Ringe‘ mehr als einmal gelesen?

NEIN

JA

JA

Denken Sie auch, es kommt auf die Größe an?

JA NEIN

DIE NEUGIERIGE Sie lieben das Unbekannte und freuen sich auf Entdeckungen? Dann sind Sie bei Uraufführungen wie dem Ballettabend ‚Men and Women‘ oder der Kassettenreise durch das Oldenburger Schloss mit ‚Frosch in Not‘ genau richtig! Auch die unbekannte Oper ‚Yvonne, Princesse de Bourgogne‘, die zum ersten Mal in Deutschland zu sehen ist, könnte Ihnen gefallen, genauso wie das berühmte Unikum Stefan Mickisch, der am 22. Januar ‚Das Rheingold‘ musikalisch auseinandernehmen wird. Mit modernen Komponisten führt Sie weiterhin unser 4. Kammerkonzert zusammen und experimentelle Theaterformen begegnen Ihnen in dem brandneuen Festival BANDEN!. Fassen Sie sich deshalb ein Herz und greifen Sie zu: Damit sind Sie ganz weit vorn an der Neugier-Front!

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DER GIGANTISCHE Sagenstoffe wie ‚Der Herr der Ringe‘ oder Calderóns berühmtes ‚Das Leben ein Traum‘ haben es Ihnen angetan, ein längerer Sitzmarathon ist überhaupt kein Problem und bei großen Orchesterbesetzungen gehen Ihnen erst recht die Ohren auf – Hauptsache, es ist überwältigend, gigantisch und beeindruckend! Verpassen Sie deshalb nicht die Mär des verfluchten Ringes im ‚Rheingold‘, die nie dagewesene Spannung, die Jens Ochlast als einziger Schauspieler in ‚Unterwerfung‘ aufrechterhält, das Phänomen der Da-capo-Ewigschleife in ‚Agrippina‘ oder die donnergewaltigen Klänge von Mahlers ‚9. Sinfonie‘. Das ist Ihr gigantisches Paket des ersten Jahresviertels!


Sie gehen gerne ins Theater, wissen aber nicht, für welche der zahlreichen Produktionen am Oldenburgischen Staatstheater Sie sich entscheiden sollen? Kein Problem: Unser Quiz verrät es Ihnen! Beantworten Sie einfach folgende Fragen mit „Ja“ oder „Nein“ und finden Sie so heraus, welcher Theater-Typ Sie sind. Auf die Plätze, fertig, los!

NEIN Lesen Sie in Ihrer Freizeit gerne Biografien?

JA

NEIN

Haben Sie Durchhaltevermögen und scheuen auch keine Überlängen?

NEIN

NEIN

Lieben Sie das Außergewöhnliche?

Bilden Sie sich auch bei Ihrer Abendgestaltung gerne weiter?

JA Stehen Sie gerne im Mittelpunkt? Lieben Sie moderne Musik?

NEIN

JA JA

NEIN JA

Hören Sie sich selbst gerne reden?

NEIN Lernen Sie gerne Fremdsprachen?

NEIN

JA NEIN Lieben Sie die leichte Kost?

JA JA

NEIN

JA

DIE UNTERHALTSAME

DER INTERAKTIVE

Leid und Schmerz gibt es genug im echten Leben, Theater soll unterhalten! Das ist Ihre Devise und nach dieser wählen Sie Ihre Theaterabende aus. Die amüsante Revue ‚Titanic‘, das Horror-Musical ‚Sweeney Todd‘, der niederdeutsche Spaß ‚Meier Müller Schulz‘ oder die Koloraturfreude von ‚La Fille du régiment‘ passen perfekt in dieses Beuteschema. Auch Stefan Mickischs Ausführungen zum ‚Rheingold‘ gelten als Lachgarantie und die Premiere ‚Die Tanten‘ des Jungen Staatstheaters lockt mit einer preisgekrönten Komödie. Fehlt nur noch Hamlets berühmter Monolog, zu dem ‚Sein oder Nichtsein‘ immer wieder ansetzt – et voilà!, fertig ist das Unterhaltungspaket!

Wer sagt denn, dass immer nur Schauspieler und Sängerinnen auf der Bühne stehen dürfen? Was die vermögen, können Sie schon lange! Deshalb rauf auf die Bühne in der übermütigen Komödie ‚Titanic‘, ran an die Noten im 4. Mitsingkonzert und raus mit der Kohle bei ‚Melodien für Moneten‘! Hier prägen Sie Ihren eigenen Theaterabend, hier singen und spielen Sie mit, hier ist Theater so lebendig, wie Sie es noch nie erfahren haben. Und als I-Tüpfelchen setzen Sie im ‚Theater-Talk‘ noch Ihre diskursive Meinung aufs Podium. Spiel, Satz und Sieg: Das Theater gehört Ihnen!

Caroline Schramm/Valeska Stern

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SchauspielSeiten

„Monolog ist ein bisschen wie einzelhaft!“ Schauspieler Jens Ochlast im Gespräch mit Dramaturgin Daphne Ebner über Theaterschurken, schauspielerische Schamgrenzen und die Arbeit an ‚Unterwerfung‘ Erinnerst du dich noch an deinen allerersten Monolog in der Schauspielschule? Jens Ochlast: Das ist lange her, aber ja: Hamlet. Bei ‚Unterwerfung‘ stehst du nun fast drei Stunden lang alleine auf der Bühne. Kam dir da nicht zum ersten Mal selbst der Gedanke, den Zuschauer so oft haben, nämlich: „Wie zur Hölle soll man sich denn den ganzen Text merken?“ JO: Das Gefühl hatte ich vorher einmal viel schlimmer und zwar bei meinem ersten Monologstück, ‚Kolik‘ von Rainald Goetz. Es ist mir bis heute ein Rätsel, wie ich das geschafft habe. Hauptwort an Hauptwort an Hauptwort. Komplett assoziativ. Das war bei ‚Unterwerfung‘ anders, da wusste ich: Das ist ein Text, den man gut lernen kann, es wird aber richtig lang dauern und bedeutet viel, viel Arbeit. Jens Ochlast in ‚Unterwerfung‘

Das klingt in erster Linie nach Fleißarbeit. Gab es keine Überraschungen im Probenprozess? JO: Dass ich nicht durchgedreht bin! Zwei Wochen vor der Premiere dachte ich ab und zu, ich pack das mental nicht, ich werde wahnsinnig. Und was ist dir noch durch den Kopf geschossen, als Regisseur Peter Hailer dir von dem Soloprojekt erzählt hat? JO: Monolog ist ein bisschen wie Einzelhaft. Ich vermisse die anderen Spieler. Deswegen habe ich darum gebeten, hinterher wieder ins Ensemble integriert zu werden. Als Resozialisierung, gewissermaßen. Aber ich dachte auch: Ok, wenn, dann mit Peter. Du spielst den Literaturwissenschaftler François, der zunehmend in eine Lebenskrise gerät. Dann überschlagen sich die politischen Ereignisse und die Gesellschaft um ihn herum verändert sich radikal. Für François selbst entsteht dadurch jedoch überraschend eine Art Ausweg. Ist er für dich eher Opfer oder Täter? JO: Das fällt mir schwer zu beantworten. Um ihn zu spielen, will ich ihn nicht moralisch bewerten. Houellebecq hat François raffiniert konstruiert. Er lässt ihn nämlich richtig schön leiden, bevor er ihm den Köder vorwirft. François ist beides, Opfer und Täter. Ein apolitischer, bequemer und unreflektierter Sexist, der versucht, sich „durchzuschlängeln“. Ein völlig unheroischer Anpasser. Wie spielt man eine so ambivalente Figur? JO: Mit viel Verständnis. Und außerdem sind ambivalente und schurkische Charaktere ja bekanntermaßen auch interessanter als eindimensionale. Musst du als Schauspieler eine gewisse Grundsympathie aufbringen, um „böse“ Figuren überhaupt spielen zu können? JO: Schurken, zumindest die mit Witz versehenen, werden doch geradezu geliebt! Ich denke da an Richard III., Mephisto, Franz Moor oder Francis Underwood aus der Serie ‚House of Cards‘. Mir persönlich macht das darstellerisch

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Jens Ochlast vor der Vorstellung in der Maske bei Silvia Schlottag

„Mir persönlich macht das darstellerisch viel mehr Spaß als langweilige Tugendapostel oder kreuzbrave Helden. Und ich erspare mir dadurch jede Menge Therapien …“

viel mehr Spaß als langweilige Tugendapostel oder kreuzbrave Helden. Und ich erspare mir dadurch jede Menge Therapien.

Schatten springe. Fühlt es sich danach gut an, hat man seine Grenzen erweitert. Fühlt es sich unangenehm an, ist etwas schiefgelaufen.

Wie verhält es sich mit den recht explizit geschilderten Sexszenen, denen Houellebecq seinen Ruf als „Skandalautor“ verdankt. Ist es unangenehm, das Publikum damit zu konfrontieren? JO: Nein, gar nicht, das gehört doch zum Leben. Houellebecq beschönigt natürlich nicht oder idealisiert. Bei der Sexualität wird es nun mal kompliziert und extrem persönlich, aber genau das muss sich doch in ihrer Beschreibung widerspiegeln. Sonst ist es entweder belanglos oder Porno.

Das Thema Islamismus sorgt im Roman ebenfalls für Zündstoff. Wir erleben derzeit verstärkt, wie das Thema zu Wahlkampfzwecken instrumentalisiert und der Hass auf Muslime bewusst von Politikern wie Donald Trump oder Frauke Petry geschürt wird. Siehst du eine Gefahr darin, diese feindselige Stimmung womöglich zusätzlich anzuheizen, indem wir einen Roman wie ‚Unterwerfung‘ auf die Bühne bringen? JO: In meinen Augen sind das Volksverhetzer und Demagogen. ‚Unterwerfung‘ ist auf gar keinen Fall islamfeindlich. Es ist auch nicht islamkritisch. Es geht gar nicht um „den Islam“. Den gibt es ja auch so nicht. Genauso gut könnte man sagen, es geht um „das Christentum“.

Was passiert, wenn du als Schauspieler an deine Schamgrenzen stößt? JO: Genau da wird es spannend. Wenn ich denke, och nee, das wird jetzt aber irgendwie heikel, und dann über den

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Jens Ochlast in ‚Unterwerfung‘

SchauspielSeiten

Worum geht es dann in deinen Augen? JO: Es geht darum, zu zeigen, wie ein männliches Individuum, das schön exemplarisch für den gebildeten, materiell gut versorgten, prinzipienlosen und bequemen Westeuropäer steht, versucht, sich neuen Verhältnissen anzupassen, ohne dabei seine Prinzipienlosigkeit und seinen Wohlstand aufgeben zu müssen. Und der bei all dem noch das Gesicht wahren möchte. Also um die große Mehrheit von uns. Houellebeqcs Roman spielt im Jahr 2022, in sehr naher Zukunft also. Was glaubst du, welche Aspekte seines Gedankenspiels könnten tatsächlich auf uns zukommen? JO: Die Rechtsradikalisierung und Verrohung unserer Gesellschaft. Das ist schon jetzt fürchterlich. Ich verachte vor allem die, die auf Menschen einschlagen, welche in unserer Hierarchie noch weiter unten stehen, also die Armen, Notleidenden, Schwachen. Die Errichtung eines islamistischen Kalifats auf deutschem Staatsgebiet erscheint mir dagegen momentan eher unwahrscheinlich. Verändert sich die Vorstellung eigentlich, je öfter du sie spielst? JO: Oh ja. Zu meiner großen Überraschung und Freude sind die Nervosität und das Lampenfieber im Laufe der ersten drei Vorstellungen auf ein normales Maß zurückgegangen, sodass ich das Spielen mit dem Publikum mehr und mehr genieße. 30

Derzeit probst du die Komödie ‚Sein oder Nichtsein‘. Du spielst einen Schauspieler, der jeden Abend erleben muss, wie ein Zuschauer genau in dem Moment lautstark den Saal verlässt, als er zum großen Hamlet-Monolog ansetzen will. Kannst du darüber überhaupt noch lachen? Oder macht dir allein schon die Vorstellung schweißnasse Hände? JO: Aber klar! Für mich ist das eine der größten, humansten Komödien der Weltliteratur. Noch komischer als ‚Der nackte Wahnsinn‘! Hand aufs Herz: Wann wärst du bereit für den nächsten großen Monologabend? JO: Wie wär’s mit dem Klassiker: ganz zum Schluss! Das Interview führte Daphne Ebner.

Unterwerfung nach dem Roman von Michel Houellebecq Bühnenfassung von Peter Hailer, Jens Ochlast und Daphne Ebner Regie — Peter Hailer


OpernSeiten

„Du stehst da wie ein Gewissensbiss“ Deutsche Erstaufführung der Oper ‚Yvonne, Princesse de Bourgogne‘ von Philippe Boesmans

„E

s war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin heiraten …“ Nein! Eher müsste man sagen, „der SOLLTE eine Prinzessin heiraten“, denn von Wollen kann keine Rede sein! – Prinz Philippe ist vom Hofleben angeödet. Schöne Mädchen zuhauf, doch wen interessiert das noch? Da taucht plötzlich Yvonne auf. Unappetitlich, lethargisch und mundfaul, wirkt das Mädchen wie die personifizierte Verweigerung eines Männertraums und erregt genau dadurch das Interesse des Prinzen, der sie ungeachtet seiner physischen Abneigung und ihres offensichtlichen Desinteresses – sei es aus Trotz gegen die höfische Konvention, als Befreiungsschlag gegen ein übermächtiges Elternhaus oder einfach zur Belebung des eigenen eingeschlaPhilippe Boesmans fenen Gefühlslebens – auf der Stelle um ihre Hand bittet. Die große Empörung bleibt aus. Man gesteht dem Prinzen die Verlobung als vorübergehende Laune zu, doch deren Folgen sind „Man gesteht dem ebenso ungeahnt wie gewaltig. Ist Yvonne in all ihren UnzulänglichPrinzen die Verlobung keiten zunächst ein willkommenes Objekt des höfischen Spotts, als vorübergehende so beginnen sich die Seiten bald Laune zu, doch deren unmerklich zu wenden: Konfrontiert mit ihren Defekten, erkennt Folgen sind ebenso der Hof seine eigenen Schwächen. Aggressionen brechen aus und ungeahnt wie erschüttern das System in seinen Grundfesten. gewaltig.“

Der belgische Komponist Philippe Boesmans (* 1936) vergleicht Gombrowiczs groteskes Märchen mit Pasolinis Film ‚Teorema. Geometrie der Liebe‘: Entlarvt in Letzterem der schöne mysteriöse Gast die innere Leere einer großbürgerlichen Familie, ist es bei Gombrowicz gerade Yvonnes Hässlichkeit, die den Hof und dessen Konventionen in Frage stellt. Während Pasolinis Familie jedoch an ihrer Erfahrung zerbricht, formiert sich am Hof aggressiver Widerstand, der letztendlich einzig und allein darauf zielt, den Störfaktor Yvonne auszuschalten und in die vertrauten Bahnen der Konvention zurückzukehren. Als nahezu stumme Sprechrolle steht Yvonne im Mittelpunkt der Oper und wirkt wie ein Stachel im Fleisch des musikalischen Geschehens. Seine stets an Psychologie und Emotion orientierte Musiksprache setzt Boesmans hier

zur grotesken Überzeichnung der Figuren und Situationen ein: Da rezitiert die Königin in zartesten Tönen ihre unterirdisch schlechten Gedichte, bricht der Hofstaat aus seinem galant-künstlichen Grundgestus plötzlich in exaltiertes Lachen aus oder beweint den heiß ersehnten Tod der Titelfigur am Ende mit einem fast hämischen „Lacrimosa“. Yvonne selbst erscheint übrigens, wenn sie nicht gerade von Stille umgeben ist, gerne einmal in Begleitung eines Tuba-Solos. Dass dieses an Wagners Fafner erinnert, dürfte dabei kein Zufall sein. Hier hat sich der Prinz offensichtlich für den Drachen statt für die Prinzessin entschieden. Annabelle Köhler

Yvonne, Princesse de Bourgogne von Philippe Boesmans Tragikomödie in vier Akten von Luc Bondy und Marie Louise Bischofberger nach dem gleichnamigen Stück von Witold Gombrowicz In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln Musikalische Leitung — Vito Cristofaro Regie — Andrea Schwalbach Premiere am 25.03.2017, 19.30 Uhr, Großes Haus

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KonzertSeiten

„Es ist zuweilen anstrengend, aber nie langweilig“ In den kommenden Monaten stehen wieder eine Reihe vielseitiger Konzertprogramme auf dem Spielplan: das 5. Sinfoniekonzert, in dem der Mahler-Zyklus fortgeführt wird, zwei ganz unterschiedliche Kammerkonzerte, die in den Jazz sowie in französische und russische Werke des 20. Jahrhunderts hineinschnuppern, und ein Familienkonzert mit Fokus auf Robert Schumann. Ist das eine spannende Herausforderung oder ein schweißtreibend voller Terminkalender für eine Orchestermusikerin? Soloflötistin Stephania Lixfeld spricht mit Dramaturgin Annabelle Köhler über die täglichen Anforderungen im Opern- und Konzertbetrieb, interessante Konzertprogramme und die Bedeutung musikalischer Kinder- und Jugendformate. Als Soloflötistin des Oldenburgischen Staatsorchesters bist du stets mit einer ungeheuren Vielfalt von Musikstilen konfrontiert. Konkret heißt das heute ‚Macbeth‘, morgen ‚Agrippina‘ (auf Holzflöte) und übermorgen Musical – vom Konzertspielplan einmal ganz zu schweigen. Was fordert das von dir als Musikerin? Stephania Lixfeld: Zuerst natürlich Flexibilität, ganz gelegentlich auch mal Toleranz. Man darf ja auch nicht vergessen, dass wir zwischen den Vorstellungs- und Probendiensten in unserer individuellen Vorbereitung unter Umständen schon zwei Produktionen voraus sind. Es ist zuweilen anstrengend, aber nie langweilig und hält, neben den Fingern, die grauen Zellen fit! Eine Woche nach der ‚Rheingold‘-Premiere wird beim 5. Sinfoniekonzert der Oldenburger MahlerZyklus weitergesponnen. Von Wagner zu Mahler – ein kleiner Schritt oder doch eine ganz andere Welt? SL: Aus Sicht einer Flötistin in jedem Fall ein kleiner Schritt: Die Anzahl der zu spielenden Töne dürfte bei beiden Stücken für die 1. Flöte etwa gleich sein – bei Mahler hat man dann aber höchstens nur ein Viertel der Zeit, diese zu spielen. Oder anders ausgedrückt: Bei Wagner haben die Flötisten viel Zeit zuzuhören ... Aber ich finde den Schritt tatsächlich nicht groß: viele satte Klänge, motivische rote Fäden, mutige Harmonik – nur Mahler findet aus seinen Verstrickungen schneller wieder heraus. Der Oldenburger Mahler-Zyklus wurde 2012 vom damaligen GMD Roger Epple mit Mahlers 5. Sinfonie ins Leben gerufen. Inzwischen sind nahezu alle Mahler’schen Sinfonien erklungen. Was bedeutet für dich ein solch umfassender Blick auf einen Komponisten? 32

SL: Es vervollständigt ein Bild und zeichnet eine Entwicklung des Komponisten. Gerade bei Mahler, der beim Komponieren hörbar nie aus seiner Haut konnte, entdeckt man immer wieder „alte Bekannte“, Motive, die er schon in früheren Sinfonien verwandte und weiterentwickelte. Zudem „sammelt“ man auch als Musiker – so bekommen wir alle Mahler-Sinfonien zusammen. Mir fehlen noch ein paar von Schostakowitsch ... Die Kammerkonzert-Reihe des Oldenburgischen Staatstheaters lebt vom äußersten Engagement der Orchestermitglieder. Wie kommen die Programme zustande? SL: Das ist unsere programmatische Spielwiese: Hier dürfen wir Programme selbst zusammenstellen. Die Ensembles, die diese Programme dann interpretieren, finden sich auf diese Weise auch eigenverantwortlich zusammen. An manchen Stellen fällt uns aufgrund des SinfoniekonzertProgramms etwas Passendes ein, an anderen Stellen wollte man ein Stück schon ewig mal spielen; einige Programme reifen auch über Jahre. Die Kammerkonzert-Programme sind sehr persönlich – eine gute Gelegenheit, uns Musiker näher kennenzulernen. Du selbst spielst im 4. Kammerkonzert, das unter dem Titel ‚Quasi improvisando‘ einen Blick über den Tellerrand des gängigen Repertoires wagt. Auf dem Programm stehen u. a. Jazz und zeitgenössische Musik. Was fasziniert dich an diesem Repertoire? SL: Ganz schnell vorweg und bevor jemand Angst bekommt: Die Uraufführung in diesem Programm stammt aus der Feder eines Saxophonisten, eines Jazzers. Es wird also auch in die jazzige Richtung gehen. Für uns „Klassiker“ kommt Jazz und Improvisation ja einer Mutprobe nah – sich trauen, die Musik frei laufen zu lassen, die Augen zu


KonzertSeiten

schließen und (im Rahmen der doch vorhandenen Regeln) einfach drauflos zu spielen, schnell harmonisch weiterzudenken, eigene melodische Spannungsbögen in der Situation spontan zu kreieren, kann man im Laufe eines Orchester-Lebens verlernen. Ich bewundere z. B. Jazz-Pianisten, die sowohl melodisch als auch harmonisch unterwegs sind – deren „Rechner-Leistung“ ist beeindruckend! Ich freue mich sehr auf das Programm, weil es so etwas ganz anderes ist. Das Konzert wird nie so sein wie die Proben, sehr spannend! Auch dem jungen musikliebenden Publikum hat das Oldenburgische Staatstheater einiges zu bieten: Im zweiten Familienkonzert am 26. Februar beispielsweise werden „Professor Florestan und Maestro Eusebius“ auf Forschungsreise im Leben Robert Schumanns zweifellos wieder Ungeheuerliches zutage fördern. Hat die Begegnung mit Kindern und Familien im Konzert für dich als Musikerin auch einen gewissen Abenteuer-Charakter, etwas Ungewohntes, Überraschendes? SL: Ganz eindeutig: Nein! Für mich ist es etwas Selbstverständliches, Kinder an die „große“ Musik heranzuführen. Und das geht sinnvollerweise nur live und zum Anfassen. Ich sehe das in mehrfacher Hinsicht als Zukunftssicherung: Zum einen hoffen wir ja, den Abonnenten von morgen zu akquirieren, zum anderen erweitern wir den kulturellen Horizont dieser Konzertbesucher in einer Zeit, in der man um den Erhalt gesellschaftlich wichtiger Kulturgüter (leider auch Theater) bangen muss, weil sie vielen Menschen als unwichtig erscheinen. Besonders eng gestaltet sich der Kontakt mit der jungen Generation bei ‚Kinder im Orchester‘ und dem Projekt ‚Klangwerkstatt‘. Wie erlebst du das junge Publikum dort? SL: Gerade diese beiden Formate sind besonders wichtig! Bei Familien- und Kinderkonzerten erreichen wir die Kinder, die durch Eltern oder Großeltern herangeführt werden. Die .Klangwerkstatt‘ und ‚Kinder im Orchester‘ werden von Schulklassen besucht. So kommen auch Kinder zu uns, deren Eltern oder Großeltern keine Karten bei uns kaufen oder für die klassische Musik komplettes Neuland ist. Wenn dann nachher Briefe kommen, in denen steht „Geige ist geil“, schmerzt mich das als Flötistin zwar ein wenig, aber wir haben ein wichtiges Teilziel erreicht. Und last but not least heißt es bei ‚Classic meets Pop‘ wieder: „Nieder mit den Schranken zwischen

Stephania Lixfeld

E und U!“ Rammstein und Udo Jürgens statt Verdi und Mahler – die große Freiheit für eine Orchestermusikerin? SL: Nicht wirklich, denn auch hier stehen Noten vor meiner Nase und ich tue nur das, was der Arrangeur und Dirigent von mir verlangt – also im Prinzip ein ganz normaler Dienst, nur in einem ganz anderen, auch wesentlich lauteren Umfeld. Trotzdem macht es Spaß, diese Musik zu spielen und auch zu überprüfen, wie die Pop-Songs für das Orchester arrangiert wurden. Ein gut gemachter Pop-Song ist schon etwas Feines. Ich tue mich eher schwer mit der Unterscheidung zwischen „U“ und „E“. Das drängt das „U“ immer so in die „billige“ und das „E“ immer in die „spießige“ Ecke und damit tut man beiden Unrecht. Wirklich gute Musik braucht keine Klassifizierung dieser Art. Angenommen, du hättest gänzlich freie Wahl: Was würdest du deinem Konzert-Publikum gerne kredenzen? SL: Wenn Hendrik Vestmann mir eine Wildcard ausstellen würde, stünde Paul Hindemiths ‚Lustige Sinfonietta‘ mit den ‚Galgenliedern‘ von Christian Morgenstern ziemlich weit oben. Ich liebe auch die Brahms-Sinfonien. Irgendwann hoffe ich, noch einmal Schönbergs ‚GurreLieder‘ (das ist die größte Orchesterbesetzung überhaupt, da kommt noch nicht einmal Wagner mit) spielen zu können, das ist schon ein Erlebnis ... Das Interview führte Annabelle Köhler. 33


OFFENEBühne

Über das Potential nicht-professioneller Darstellerinnen und Darsteller An zahlreichen Stadt- und Staatstheatern der Bundesrepublik Deutschland entstanden in den letzten Jahren die sogenannten Bürgerbühnen. Ihr Ziel sind Projekte, in denen Menschen unterschiedlichen Alters, verschiedener sozialer Herkunft und Berufe zusammenkommen. In diversen Kontexten der Niederdeutschen Bühne und der Theaterpädagogik finden am Oldenburgischen Staatstheater vergleichbare Produktionen wie ‚Pampa Blues‘ und ‚Von Kadmus nach Europa‘ statt. Ben (Thorge Cramer) kümmert sich um seinen demenzkranken Großvater (Dieterfritz Arning).

PAMPA BLUES

„M

o-hoin!“ erklingt es aus allen Ecken der Probebühne. Man schüttelt sich die Hand. Klopft drei Mal auf den Tisch, hält einen kurzen Schnack über das Schietwetter oder die Parkplatzsuche in der Innenstadt, bis der Regisseur oder die Regisseurin die Probe beginnen lässt. Es sind besondere Proben, denn wir befinden uns beim Niederdeutschen Schauspiel des Oldenburgischen Staatstheaters. Mit der August-Hinrichs-Bühne als Herzstück dieser Sparte ist sie seit 2007 fest ans Oldenburgische Staatstheater gebunden. Die August-Hinrichs-Bühne, die als Verein strukturiert ist und deren Mitglieder als Darstellerinnen und Darsteller in den Produktionen der Niederdeutschen Sparte spielen, liefert hiermit ein Ensemble an Bürgerinnen und Bürgern aus der Region. Menschen aus vier Generationen, die ihrer gemeinsamen Leidenschaft nachgehen: Theaterspielen auf Niederdeutsch. Acht bis neun Wochen lang proben sie jeden Abend neben ihrer Berufstätigkeit, ihrem Familien- und Privatleben. Da die Produktionen von professionellen Regieteams umgesetzt und im Vorstellungsbetrieb die Funktionen hinter 34

der Bühne von Theatermitgliedern übernommen werden, findet hier eine ganz neue Art der Theater-Begegnung statt. Professionelle Teams treffen auf Bürgerinnen und Bürger, Jung trifft auf Alt und eine traditionsreiche Sprache wird lebendig und originell. Themen, die stets einen Regionalbezug herstellen, machen es möglich, dass das Niederdeutsche Schauspiel in den sozialen Raum, in die Stadt hinein agiert. So wurde zum Beispiel in dem Volksstück ‚Kasimir und Karoline‘ von Ödön van Horváth (Regie: Ekat Cordes) das ursprüngliche Oktoberfest zum Oldenburger Kramermarkt umgewandelt, wo verschiedene Gesellschaftsschichten der Stadt und der Umgebung aufeinander prallen. Mehrere Generationen trafen sich in der Produktion ‚Pampa Blues‘ (Regie: Michael Uhl). Die Geschichte des 17- jährigen Ben, der von der weiten Welt träumt, sich aber um seinen demenzkranken Großvater kümmern muss, zeigt einen jungen Menschen im Konflikt zwischen Sehnsucht und Verantwortung. So werden Brücken geschlagen zwischen den unterschiedlichsten Themen. Ob Alt und Jung, Tradition und Moderne oder schlichtweg die Kunst und das Leben: Das Theater wird mit dem Niederdeutschen Schauspiel mehr denn je zu einem Ort, der verbindet.

Von Kadmus nach Europa

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erbst 2015. Während in Europa eine Diskussion über die Menschen, die neu nach Europa kommen, ihren Höhepunkt erreicht, trifft sich eine Gruppe von Syrern und Oldenburgern, um zusammen ein Musiktheater-Stück über das Thema Heimat zu entwickeln. Viele im Land sind in heller Aufregung ob derer, die da kommen – das Theaterprojekt versucht, dem entgegenzuarbeiten, indem es Begegnungsräume schafft, die Menschen, die neu im Lande sind, mit denen, die schon lange hier wohnen, zusammenbringt und somit Theater als Instrument der Auseinandersetzung für diese Gesellschaft denkt. In der


OFFENEBÜHNE

Gruppe wird versucht, erfahrbar zu machen, was gerade im Land passiert: Wer sind diese neuen Menschen? Was denken sie? Was ist ihre Geschichte? Und wie können wir zusammen eine Zukunft gestalten? Das Theater sucht seit jeher nach der Verbindung zwischen Kunst und Leben. Die Darstellerinnen und Darsteller erforschen zusammen mit der Spielleitung während der folgenden Monate Bilder, Klänge und Texte, um all diese Fragen künstlerisch darzustellen. Das auf der Bühne Dargestellte wird angebunden an die Privatperson der Darstellenden – der Blick in das Leben der Spielenden wird zwingend. Plötzlich kommen Geschichten zutage, die lange verborgen waren, und man entdeckt Gemeinsamkeiten, die man nicht für möglich gehalten hätte. Die Fluchtgeschichte eines jungen Syrers triggert auf einmal eine lang vergessene Fluchtgeschichte im Gedächtnis einer deutschen Teilnehmerin, deren Vater nach dem zweiten Weltkrieg fliehen musste und in Oldenburg landet. Die biografische Erfahrung der Teilnehmenden wird zur Basis, zum „Material“ für das zu beackernde, theatrale Feld der Darstellung. Man findet heraus, dass die Lage der Fliehenden, wie sie im Herbst 2015 diskutiert wird, auch schon vor 300 Jahren Thema war – mit dem Unterschied, dass damals Deutsche massenweise nach England auswanderten und somit die damalige Königin maßlos überforderten.

Die Themen und Stoffe des Theaters und der Bezug des Theaters zum Leben werden erweitert. Das Selbst- und Weltverständnis der Personen erscheint in neuer, theatraler Form und wird transparent im Aneignungsprozess der eigenen und fremden Biografie. Während der Zeit des Theaterprojektes wird in vielen Momenten immer wieder klar, dass Kultur keine feste Größe ist, sondern selbst gestaltet wird, von den Menschen, die zusammenkommen. Ein Grund unter vielen dafür, dass die Arbeit mit nicht-professionellen Spielerinnen und Spielern eine notwendige Einrichtung unserer Gesellschaft ist. In der Gruppe entwickeln sich Freundschaften, die über die wöchentlichen Theatertreffen hinausgehen. Gemeinsame Ausflüge, Koch- und Musikabende werden organisiert. Man hilft sich: bei Deutsch-Hausaufgaben, Behördengängen, Wohnungssuche und dem Nachzug von Familienmitgliedern. Viele kleine und große, negative und positive Ereignisse werden zusammen erlebt und verarbeitet. Wir befinden uns jetzt im Januar 2017. Viele der Darsteller aus der „Kadmus-Gruppe“ spielen weiter Theater am Staatstheater und entwickeln gerade ein Stück über das Thema „Diktatoren“, das im März in der Exerzierhalle Premiere haben wird. Die Geschichte der Gruppe geht weiter … Sandra Rasch/Sarit Streicher

Hekmat Mufleh: „Die Seele lässt sich schwer integieren.“

Clubpremieren Premieren der Kinderclubs: ‚Folge dem weißen Kaninchen …‘ 04.03.2017, 16 Uhr, Exerzierhalle ‚De Daalslag‘ 04.03.2017, 18 Uhr, Exerzierhalle Premiere des Erwachsenenclubs: ‚Diktatoren‘ 04.03.2017, 20 Uhr, Exerzierhalle

Unsere CLUBS 2 Kinderclubs, Platt´n Studio 8+, 5 Jugendclubs, Platt´n Studio 14+, 1 Tanzclub 1 Erwachsenenclub, Platt´n Studio 18+; 12 Stückentwicklungen, 180 Mitwirkende pro Spielzeit

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Der Spielplan SeitenBLICK

Die Moderne ist unsere Antike Das Abendland geht mal wieder nicht unter. Überlegungen zu neuen alten Themen auf den Spielplänen der Theater

‚D

racula‘, ‚Robinson Crusoe‘, ‚Titanic‘, ‚Casablanca‘, ‚Krieg der Welten‘, ‚Jekyll & Hyde‘, Kafkas ‚Prozess‘, die ‚Buddenbrooks‘ oder ‚Schöne Neue Welt‘ – wer auf den Spielplan deutschsprachiger Sprechtheaterbühnen schaut, findet zunehmend seltener das, was die Schulbildung einst als „unsere Klassiker“ bezeichnete. Zwar stehen Kleist, Lessing, Schiller, Goethe, Büchner und allen voran Shakespeare nach wie vor auf den vorderen Plätzen der „Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins“ – also des Verzeichnisses der meistgespielten Theaterstücke –, doch ihre Vormachtstellung wurde in den vergangen 30 Jahren zunehmend infrage gestellt.

Auffallend ist hieran zunächst, dass es sich bei vielen der neu aufgeführten Werke um Adaptionen – also Übertragungen – bekannter Romane oder Novellen handelt. Doch ist dieser Umstand nicht weiter verwunderlich, wenn man sich vor Augen hält, dass drei Viertel aller Stücke Shakespeares aus zeitgenössischen Novellen hervorgingen. Auch Goethes ‚Faust‘ hatte zahlreiche literarische Vorgänger. Somit ist die Adaption keine Ausnahme, sondern eine jahrhundertealte Kulturpraxis, derer sich von Sophokles bis Elfriede Jelinek fast jede/r bediente. Viel bemerkenswerter dagegen ist, dass bei den populären Stücken der vergangenen Jahrzehnte offenbar eine große thematische Neuorientierung stattgefunden hat. Hiermit sind allerdings nicht zeitgenössische, tagesaktuelle Themen gemeint, sondern quasi die Verschiebung des inhaltliche Fokus zu „neuen“ historischen Themen. Dies ist eine Entwicklung, welche die Geisteswissenschaften in allen Medien, egal ob Radio, Fernsehen, Kino, Internet oder Theater, konstatieren und die mancherorts mit dem ebenso kurzen wie kryptischen Credo „Die Moderne ist unsere Antike“ zusammengefasst wurde. Die Moderne ist unsere Antike. Ein unbestritten kluger Satz, der leider all jenen unverständlich bleibt, die keine zwölf Semester Kulturwissenschaften studiert haben, und der es dennoch wert ist, verstanden zu werden. Zunächst muss man hierzu natürlich die beiden historischen Epochen kennen, die in dieser These benannt werden. Allein das ist schon schwierig, da verschiedene wissenschaftliche Fachrichtungen die Begriffe „ Antike“ und „Moderne“ unterschiedlich benutzen. Aber dennoch kann man wohl folgende recht grobe Einordnung festmachen: Die Antike, 36

welche meist in griechische und römische unterteilt wird, ist die historische Phase von ungefähr 600 vor bis 600 nach der Zeitenwende. Sie beschreibt die Epoche der hellenistischen Stadtstaaten und des römischen Imperiums – die Zeit der großen Heroen und Philosophen: Alexander der Große, Platon, Aristoteles, Jesus von Nazareth, Cicero, Caesar, Augustus, Konstantin usw. Die zweite Epoche, die Moderne, ist sogar noch schwieriger zu umrahmen, weil sie in den verschiedenen Teilen Europas zu unterschiedlichen Zeiten begann und endete, aber, grob gesprochen, ist sie die Epoche der großen politischen Ideen: der Demokratie, des Nationalismus, des Kommunismus. Als Eckdaten werden hier immer wieder gerne die Jahre 1789 (der Sturm auf die Bastille als Fanal für die Französische Revolution) und 1991 (der Untergang der Sowjetunion) genannt. Doch im engeren Sinne rechnet man die Moderne in der westlichen Welt von der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945. Sie ist eine Zeit des rasenden technischen und gesellschaftlichen Fortschritts sowie dessen großer Katastrophen. Ihren Ursprung hat die Moderne allerdings in einer weiteren „Epoche“, die genannt werden muss, um zu verstehen, warum die Moderne unsere Antike sein soll. Es ist die Zeit, in der die oben angeführten kanonisierten „Klassiker“ – also Lessing, Kleist, Schiller, Goethe, Hölderlin, Büchner usw. – wirkten. Die Ära der Aufklärung, des Sturm und Drang, der Weimarer Klassik und der Romantik, die Zeit des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Wenn wir uns populäre Werke – Dramen, Balladen, Gedichte, Publikationen und Neuübersetzungen – dieser Epochen anschauen, so heißen diese: ‚Iphigenie auf Tauris‘, ‚Antigone‘, ‚Elektra‘, ‚Titus Andronicus‘, ‚Salome‘, ‚Julius Caesar‘, ‚Die Horen‘, ‚Phädra‘, ‚Orestie‘, ‚Phöbus‘, ‚Amphitryon‘, ‚Die Braut von Korinth‘, ‚Die Kraniche des Ibykus‘ usw. Die Literatur der Epochen unserer kanonisierten „Klassiker“ strotzte nur so von Figuren und Motiven aus alten Sagen, Legenden, Mythen und Fabeln der Antike, derer man sich eines literarischen Steinbruchs gleich bediente. Man entdeckte die Welt des antiken Europa – übrigens nur unter Zuhilfenahme arabischer Bibliotheken – wieder, indem man das Personal der alten Mythenwelt benutzte, um die Probleme der eigenen Zeit zu beschreiben und zu kritisieren. So umging man nicht nur die damals allerorts übliche


SEITENBLICK

Zensur, sondern stellte sich auch selbst in die Tradition der großen Erzähler. Man schrieb sich in die Geschichte ein, indem man sie weiter- und umerzählte. Gleichzeitig allerdings programmierte man damit den Kunstwerken ein gewisses Verfallsdatum ein. Eine Halbwertszeit, die mit der Kenntnis über die antike Sagenwelt in der allgemeinen Bildung einherging. Dies führt uns zum Ausgangsproblem zurück. Die Kenntnis der Personnage in den Erzählungen der Antike ist heute als Hintergrundwissen nur noch wenigen bekannt. Sie ist beinahe überall aus dem kulturellen Gedächtnis verschwunden. Gustav Schwabs ‚Die schönsten Sagen des klassischen Altertums‘, ein Buch, das früher viele Heranwachsende zur Konfirmation bekamen, um sie zu ordentlichen Bildungsbürgern heranzuziehen, kennt heute kaum noch jemand. Damit einher geht natürlich auch ein zunehmend geringeres Verständnis unserer sogenannten „Klassiker“, was es umso schwieriger macht, sie unkommentiert auf die Bühne zu bringen. Das ist allerdings keine Katastrophe, wie manche Kulturpessimisten behaupten. Es ist nur ein weiteres Kapitel in der

kulturellen Entwicklung. Die Kunstschaffenden unserer Zeit, der Postmoderne, haben sich längst neue saftige Wiesen zum Grasen gesucht und diese in der Moderne gefunden. So wie die Klassiker sie eben in der Antike fanden. Dieser Prozess stellt somit eine Verschiebung des historischen Fokus vieler Kunstgattungen dar, wie wir sie in fast allen Medien finden können: Wo früher am Lagerfeuer über den Teufel und Dämonen fabuliert wurde, sieht man heute Dokumentationen über Stalin oder Hitler. Wo früher vom Auszug der Israeliten aus Ägypten gepredigt wurde, debattiert man heute über den Völkermord an den Herero oder den Armeniern. Wo einst die Oper die Heldentaten des Herkules besang, dreht man heute Filme über den Kampf der Suffragetten um das Frauenwahlrecht. Und wo man früher Lieder über den Untergang Pompejis dichtete, spielt man heute Theaterstücke über den Untergang der Titanic als eine der großen symbolischen Schlüsselkatastrophen der Moderne. Jonas Hennicke

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SEITENBühne

Sweeney Todds mörderischer Barbierstuhl Ein Werk der Schlosserei des Oldenburgischen Staatstheaters

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ine kleine Gratisrasur gefällig? „Nein!“, will man als Zuschauer dem Barbierkunden gerade noch zurufen, da wird sein blutiges Schicksal auch schon besiegelt. Ratzfatz schneidet Sweeney Todd dem Ahnungslosen die Kehle durch und befördert seinen leblosen Körper in Mrs. Lovetts Backstube, wo er zu saftigen Pasteten weiterverarbeitet wird. Was klingt wie ein leichter – wenn auch zugegebenermaßen brutaler – Vorgang, erfordert auf der Bühne doch einiges an Tricks und Vorbereitung. Schließlich befinden wir uns hier im Theater, wo, anders als im Film, eine separat gedrehte Szene nicht einfach an die nächste geschnitten werden kann! Als sich Regisseur Michael Moxham und sein Ausstatter Jason Southgate entschlossen, die mörderischen Vorgänge in Sondheims Musical eins zu eins auf der Bühne zu zeigen, musste deshalb eine technisch realisierbare Lösung gefunden werden. „Das Team wünschte sich einen Spezialstuhl, von dem die jeweiligen ‚getöteten‘ Sängerinnen und Sänger hinunter in die Backstube rutschen können“,

Sweeney Todds Opfer rutscht aus dem Barbiersalon in die Backstube.

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erinnert sich Veronika Hoberg, die technische Produktionsleiterin des Oldenburgischen Staatstheaters. „So etwas haben wir natürlich nicht auf Lager, das muss extra konstruiert werden.“ Veronika Hobergs Aufgabe besteht unter anderem darin, Bühnenbildentwürfe zusammen mit der Technischen Direktion auf ihre Machbarkeit zu prüfen, um anschließend ihre Umsetzung in den verschiedenen Gewerken zu organisieren. Im Fall von ‚Sweeney Todd‘ war schnell klar: „Der Barbierstuhl konnte nur Sache der Schlosserei sein!“ Während der Bühnenbildner zunächst eine optische Vorstellung des besonderen Sitzmöbels präsentierte, entwickelte Schlossermeister Jens HorstmannKnust ein Konzept seiner technischen Realisierung. „Jens entschied sich für eine mechanische Lösung“, erklärt die Produktionsleiterin, „das heißt, für eine Variante, die per Hand ausgeführt wird. Diese habe ich dann nachkonstruiert.“ Und Horstmann-Knust ergänzt: „Wir wollten einen Stuhl, der nicht nur alt aussieht – das Stück spielt ja im viktorianischen Zeitalter –, sondern der auch ohne Maschinenantrieb bedient werden kann. Das Prinzip, das wir


gefunden haben, ist eigentlich ganz einfach: Sweeney Todd betätigt einen ersten Hebel, der die Rückenlehne des Stuhles nach hinten klappt, sodass Hals und Gesicht des Opfers zum Rasieren – und Durchschneiden – freiliegen. Ein zweiter Hebel stellt nach dem Mord die Sitzfläche des Stuhles schräg, wodurch der ermordete Kunde automatisch ins Rutschen gerät und durch eine per Hand geöffnete Bodenklappe nach unten saust.“ Dem sicherheitsbesorgten Zuschauer dürfte an dieser Stelle gleich die erste Frage auf der Zunge brennen: Und was, wenn die Bodenklappe einmal versehentlich aufgeht?! „Das kann gar nicht passieren“, versichert Jens Horstmann-Knust. „Die Klappe ist quasi doppelt gesichert: Sie öffnet sich nur, wenn unten am Bühnenwagen ein Bühnentechniker den notwendigen Knopf drückt und gleichzeitig oben auf dem Wagen der Darsteller des Sweeney Todd mit einem Fußpedal die endgültige Bewegung auslöst. Die Klappe wird dann wiederum von einem dritten Mann händisch in die Schräglage gebracht und bildet so die nötige Rutschrampe.“ Wie immer im Theater ist auch dieses Bühnenelement eine Teamarbeit: Während die Eisen-Alu-Konstruktion des Stuhls von der Schlosserei stammt, stiftete die Dekoration seine Polsterung und sorgte der Malersaal für die antike Optik. Die Tischlerei wiederum ergänzte das Grundgestell um eine Holzrutsche, die aus dem Barbier-Bühnenwagen in die Backstube führt. Obwohl Horstmann-Knust bereits seit 1998 am Oldenburgischen Staatstheater tätig ist und seit 2000 der Schlosserei vorsteht, begeistert ihn ein derartiges gemeinsames Arbeiten am großen Ganzen nach wie vor: „ Auch in diesem Fall habe ich zusammen mit meinen Kollegen gebrainstormt: Welche Materialien liegen uns vor, was passt wie zusammen und welches Teil bedingt das andere?“ Zusammen mit seinem Stellvertreter Uwe Timmermann sowie den Kollegen Matthias Brunken und Fred Gode, der in Alternation mit Lars Schröder von der Betriebstechnik zum Schlosserei-Kleeblatt gehört, ist Jens Horstmann-Knust für „die Unterkonstruktionen und tragenden Teile eines Bühnenbildes“ zuständig. „Das sind alles Einzelanfertigungen!“, betont der Abteilungsleiter, „Einzelanfertigungen aus Eisen, Stahl oder Metall. Und manchmal auch aus Aluminium – wenn es mal leichter sein soll für die Bühnentechnik“, fügt er zwinkernd hinzu. Ganze anderthalb Wochen benötigten die Schlossermeister für das Unikat des Barbierstuhls – dann konnten sie das Prachtstück an die Bühnentechnik übergeben. Bevor der Stuhl allerdings wirklich auf der Szene Verwendung finden durfte, musste er noch die von Christian Köpper, dem Leiter des Bühnenbetriebes, angeführte

BU ergänzen!!! Der Barbierstuhl in einer Skizze des Bühnenbildners Jason Southgate

„Rutsch-Bewährungsprobe“ bestehen. Einer nach dem anderen hatten die Darstellerinnen und Darsteller das Folterinstrument auszuprobieren und wurde dabei von Köpper in seine genaue Handhabung eingewiesen: Hände an den Körper, Kopf einziehen und mit den Füßen selbst die Rutschgeschwindigkeit bestimmen! Auch die Technik nahm noch kleine Verbesserungen vor – hier musste ein Loch vergrößert werden, dort eine Polsterung erweitert –, bevor der Stuhl endlich, pünktlich zu den Endproben, ein go! erhielt und seinen Platz im Barbiersalon einnehmen konnte. „Ist dieser Stuhl nicht eine Pracht? Und wohl durchdacht die ganze Maschinerie! Nur ein Genie hat das vollbracht“, begrüßt ihn Sweeney Todd seitdem bei jeder Vorstellung. Und wir wissen: Das Genie, das war in diesem Fall die Schlosserei des Oldenburgischen Staatstheaters. Valeska Stern

Sweeney Todd von Stephen Sondheim Musical-Thriller in zwei Akten Musik und Texte von Stephen Sondheim Buch von Hugh Wheeler nach einer Adaption von Christopher Bond Orchestrierung von Jonathan Tunick Deutsch von Wilfried Steiner Musikalische Leitung — Carlos Vázquez Regie — Michael Moxham

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JungeSeiten

Frösche im Schloss Begehbares Hörspiel über die märchenhafte Geschichte des Oldenburger Schlosses

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as Oldenburger Schloss ist eines der Wahrzeichen der Stadt Oldenburg. Früher Sitz der Grafen und Herzöge von Oldenburg, ist es heute Standort des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte. Die vielen historischen Säle und kunstvollen Porträts an den Wänden vermitteln einen guten Eindruck, wie das Schloss in den verschiedenen Epochen eingerichtet war und wie die Menschen in früheren Zeiten ausgesehen haben. Der älteste Bauabschnitt des gegenwärtigen Schlosses wurde im Auftrag des Grafen Anton Günther gebaut. Weil dieser jedoch 1667 ohne legitimen Erben verstarb, fiel die damalige Grafschaft Oldenburg für mehr als hundert Jahre an das verwandte dänische Königshaus.

Was wäre wohl aus der alten Grafschaft geworden, wenn Graf Anton Günther einen Nachkommen gehabt hätte? Einen Erben, der möglicherweise unerkannt blieb, weil er zu klein und unscheinbar war? Nicht auszuschließen, denn es war ja die Zeit der Märchen. Wie wir von den Göttinger Geschichtensammlern Grimm wissen, gab es im 17. Jahrhundert überall im Lande Vorfälle, in denen Prinzen etwa in Frösche verwandelt wurden und aus dem Grund ihr angestammtes Erbe nicht antreten konnten. Manchmal gelang, wie von den Brüdern Grimm berichtet wurde, die Rückverwandlung eines Frosches. Aber in den meisten Fällen blieben die verwandelten Prinzen verschollen. Bis auf den heutigen Tag.

Von einer solchen Geschichte handelt das Stück ‚Frosch in Not‘. Die beiden Kulturwissenschaftlerinnen Insa Schwartz und Lotte Schwarz haben sich intensiv mit der Geschichte des Oldenburger Schlosses beschäftigt und sind dabei auf erstaunliche Erkenntnisse gestoßen. Ganz in der Tradition von Jacob und Wilhelm Grimm haben sie ihre Forschungsergebnisse jedoch nicht einfach in einem Wissenschaftsmagazin veröffentlicht, sondern in eine Geschichte verpackt, die ab dem 25. März 2017 am Originalschauplatz im Oldenburger Schloss zu erleben ist. Ausgerüstet mit Kopfhörern und Mp3-Playern, können dann Besucher des Schlosses zusammen mit dem Kunsthistoriker Prof. Dr. Wilfried Wiechmann durch die historischen Repräsentationsräume wandern und mehr erfahren über die unbekannte Geschichte des Schlosses. Für die Mitarbeiter des Schlosses indes hat diese „Froschgeschichte“ eine ganz andere Dimension. Denn im Roten und Grünen Salon, im Marmorsaal und im Idyllenzimmer wurden in letzter Zeit vermehrt Spuren von lebendigen Fröschen gefunden. Vor allem an einem der beiden historischen Öfen im Stracksaal wurden merkwürdige Schleimspuren und sogar winzige Schriftstücke entdeckt. Für Prof. Wiechmann waren diese Vorkommnisse Anlass für eine neue Ausstellung. Sie soll „Der königliche Frosch in Ölgemälden des 19. und 20. Jahrhunderts“ heißen. Im Archiv des Museums hat er viele Bilder von Fröschen gefunden und im benachbarten Prinzenpalais hängt ja auch das Bild ‚Froschprinzessin‘ von Christian Rohlfs. Wir sind gespannt, was er zu erzählen hat. Matthias Grön

Frosch in Not (UA) Ein begehbares Hörspiel frei nach den Gebrüdern Grimm von KassettenKind Ab 9 Jahren Konzept, Skript und Regie — Insa Schwartz/Lotte Schwarz Eine Kooperation zwischen dem Oldenburgischen Staatstheater und dem Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg Premiere: 26.03.2017, 14.30 Uhr, Oldenburger Schloss

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HINTERBühne

THEATERGEHEIMNIS Wie klingt eigentlich Nibelheim? Wenn Göttervater Wotan und der listige Loge am Ende der zweiten Szene des ‚Rheingold‘ die Fahrt zu den Nibelungen nach Nibelheim antreten, gibt Richard Wagner alles: „Der Schwefeldampf verdüstert sich zu ganz schwarzem Gewölk, welches von unten nach oben steigt“, heißt es in seiner Regieanweisung, „dann verwandelt sich dieses in festes, finstres Steingeklüft, das sich immer aufwärts bewegt, sodass es den Anschein hat, als sänke die Szene immer tiefer in die Erde hinab. – Von verschiedenen Seiten her dämmert aus der Ferne dunkelroter Schein auf. Wachsendes Geräusch wie von Schmiedenden wird überallher vernommen.“ Mit dem „wachsenden Geräusch“ ist das sogenannte „Schmiede-Motiv“ gemeint, zu dem die Nibelungen unter Ring-Besitzer Alberich den Goldhort klopfen. 18 Ambosse wünscht sich der Komponist für diesen solistischen Schlagwerkeinsatz – ein Ding der Unmöglichkeit? „ Ambosse sind teuer, laut und brauchen Platz“, erklärt Generalmusikdirektor Hendrik Vestmann, der die musikalische Leitung des Oldenburger ‚Ring‘ innehat. „Deshalb wird diese Stelle oft aufgenommen und in der Vorstellung vom Band eingespielt.“ Für Vestmann keine Option: „Wir bringen zum ersten Mal in der Geschichte Oldenburgs den kompletten ‚Ring‘ auf die Bühne. Da machen wir keine Kompromisse!“ Vestmann hat es sich deshalb zum Ziel gesetzt, die Ambosse selbst herzustellen. Zusammen mit den Schlagwerkern des Oldenburgischen Staatsorchesters probierte er im Vorfeld mehrere Schlaguntergründe aus – und kürte eine

Gereralmusikdirektor Hendrik Vestmann …

riesige Stahlplatte, drei LK W-Blattfedern und ein Eisenbahngleis zu den Siegern des Amboss-Tests. Auf diesen ursprünglichen „Schrottteilen“ fassen die Instrumentalisten im ‚Rheingold‘ nun das Schmieden in Klänge. Dabei teilen sie sich auf der Seitenbühne in unterschiedliche Tonhöhen und Rhythmen auf, um einen natürlichen Arbeitseindruck entstehen zu lassen. „Es soll sich anhören, als würde eine Schar Zwerge gleichzeitig emsig vor sich hin klopfen“, erklärt der Generalmusikdirektor. Im Staatstheater sind es zwar nur sieben „Zwerge“ alias Schlagwerker, doch sie allein sorgen schon für eine gehörige Portion Lärm: „Hui, da fliegen dir die Ohren weg!“, grinst Vestmann. Direkt neben den Ambossen sollte man sich also besser nicht aufhalten. Lieber genießt man ihre berühmte Nibelungen-Szene aus dem Zuschauerraum – in einer der ‚Rheingold‘-Vorstellungen, die ab 4. Februar 2017 den Oldenburger ‚Ring‘ einläuten. Valeska Stern

… und die Schlagzeuger des Oldenburgischen Staatsorchestern testen ihr Amboss-Material.

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GASTSPIEL

Kat Kaufmann

Eine theatralische Kolumne von … Kat Kaufmann

We all need Magic to develop dreams

N

och nicht einmal bis zum Bauchnabel der Menschen konnte ich sehen, ohne meinen Kopf nach oben zu strecken – da nannte ich sie schon zuhause: diese Welt aus Pailletten, die die Böden der langen Gänge zierten, die Tänzerinnen mit Federschmuck, die nach teuren Importparfums rochen und von deren schillernden Kostümen diese Pailletten stammen. Die wild gestikulierenden, nervösen Regisseure, die von einer Tür in die Nächste verschwanden, nervös und kriegerisch aufgeladen, in Sorge, dass die Produktion, die sogleich das erste Mal auf der Bühne, hinter dem noch geschlossenen Vorhang, in den Zuschauersaal erstrahlen würde, das Publikum verzaubert. Einer dieser Regisseure war mein Vater. Eine dieser Tänzerinnen meine Mutter. Und das glückliche Kind, das bei jeder Probe, jeder Premiere mit staunenden Augen und angehaltenem Atem zusehen durfte, war ich. Und dieses Kind bin ich immer noch. Jedes Theater, die Atmosphäre, die versteckten Werkstätten, in denen die Kostüm-­, Bühnen-­, Maskenbildner sitzen, und arbeiten wie die Elfen am Nordpol, die Stoffe, die Bühnen, die Lichter – all das ist Magie. 42

Draußen weht der Orkan der Realität kalt über alles hinweg – und er wehte schon immer und ein Ende ist nicht in Sicht. Aber in diesen Mauern, in den gedimmten Sälen, in den weichen Sesseln, wenn die Musik erklingt und der Vorhang sich öffnet, passiert das, was uns wieder zu staunenden Kindern macht – wir sind im Geschehen, spüren die Vibrationen auf der Bühne, hören das Atmen der Akteure, werden Teil von ihnen. Das Theater ist und bleibt unser Niemalsland, eine Insel der Träume inmitten des Realitätsgewitters. Wir brauchen Träume. Und wir brauchen die Magie, um neue, größere Träume zu ersinnen.

Kat Kaufmann lebt als Komponistin und Schriftstellerin in Berlin. Mit ihrem Debüt-Roman SUPERPOSITION (Hoffmann&Campe) gewann sie 2015 den ASPEKTE-Literaturpreis. Ihr neuer Roman „Die Nacht ist Laut, der Tag ist Finster“ erscheint am 11.4.2017 (TEMPO). In der vorletzten Spielzeit war Kat Kaufmann Gast am Oldenburgischen Staatstheater und zeichnete in der Schauspiel-Produktion ,Was ihr wollt‘ für die musikalische Leitung verantwortlich.


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Impressum Spielzeit 16/17 Oldenburgisches Staatstheater Generalintendant: Christian Firmbach Redaktion: Dramaturgie und Öffentlichkeitsarbeit Chefredaktion: Caroline Schramm und Valeska Stern Fotografie: Stephan Walzl Layout und Satz: Gerlinde Domininghaus Druck: Prull-Druck GmbH & Co. KG, Oldenburg Stand der Drucklegung: 04.01.2017, Änderungen vorbehalten. www.staatstheater.de Theaterkasse 0441. 2225-111

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Tänzer der BallettCompagnie Oldenburg

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