Nr. 1 Saison 23/24 – Beflügelt

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BEFLÜGELT

30./31. 8. 2023

19. 30 UHR STADTCASINO BASEL

PROGRAMM-MAGAZIN NR. 1

SAISON 23/24

Sinfonieorchester Basel

Lucas und Arthur Jussen, Klavier

Ivor Bolton, Leitung

CHF 5

ÜBERSICHT DER SYMBOLE

über eine

Nummerierte Rollstuhlplätze im Vorverkauf erhältlich

Rollstuhlgängig

Entdeckerprogramm

Das Sinfonieorchester Basel verwendet geschlechtergerechte Formulierungen und weist Autor*innen bei der Vergabe von Textaufträgen im Vorfeld darauf hin. Es steht den Autor*innen jedoch frei, ihre Texte individuell zu gestalten.

INHALT PROGRAMM 5 ENTDECKERPROGRAMM 6 FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY Konzert für zwei Klaviere und Orchester E-Dur 8 INTERVIEW Lucas und Arthur Jussen, Klavier 10 UNSUK CHIN Alaraph ‹Ritus des Herzschlags› 14 INTERVIEW Unsuk Chin, ‹Composer in Residence› 16 JOHANNES BRAHMS Sinfonie Nr. 2 D-Dur 20 PORTRÄT Ivor Bolton, Leitung 22 FAMILIENGESCHICHTEN von Sigfried Schibli 24 ORCHESTERFAMILIEN Eda Paçacı und Domenico Catalano 28 LEXIKON DES ORCHESTERS von Benjamin Herzog 32 IN ENGLISH by Bart de Vries 34 VEREIN ‹FREUNDESKREIS SINFONIEORCHESTER BASEL› 35 IM FOKUS 37 DEMNÄCHST 38
Institution verfügt
Höranlage
Diese

BEFLÜGELT

Liebes Konzertpublikum

Herzlich willkommen zum Start in die neue Konzertsaison. Wir haben uns unter dem Motto ‹Familienbande› viel vorgenommen. Den Auftakt machen die Brüder Lucas und Arthur Jussen, denen das vierhändige Klavierspiel buchstäblich in die Wiege gelegt wurde. Bereits als Kinder durften sie vor der niederländischen Königin Beatrix auftreten und sorgen seither für Furore. Ins Stadtcasino Basel kommen sie mit einem Konzert für zwei Klaviere, das der vierzehnjährige Felix Mendelssohn Bartholdy sei ner vier Jahre älteren Schwester Fanny zum Geburtstag komponierte.

Es erwartet Sie ausserdem eine Welt premiere unserer ‹Composer in Residence› Unsuk Chin – die Uraufführung ihres neuesten Werks Alaraph ‹Ritus des Herzschlags›. In dieser Komposition stehen vor allem unsere Schlagzeuger im Fokus. Unsuk Chin verbindet hier Elemente der koreanischen rituellen Hofmusik mit Kompositionstechniken der Gegenwart und findet dabei zu einer ganz eigenen Musiksprache.

Wenn Sie mehr über unsere Residenz-Komponistin erfahren möchten, sind Sie herzlich zum Entdeckerprogramm am 30. August ab 17.30 Uhr im Hans Huber-Saal eingeladen. Unsuk Chin wird dann persönlich in Podiumsgesprächen zu erleben sein.

SINFONIEKONZERT
Herzliche Grüsse

Niederländisches

VORVERKAUF, PREISE UND INFOS

VORVERKAUF

Bider & Tanner – Ihr Kulturhaus in Basel

Aeschenvorstadt 2, 4051 Basel

+41 (0)61 206 99 96

ticket@biderundtanner.ch

Billettkasse Stadtcasino Basel

Steinenberg 14 / Tourist Info

4051 Basel

+41 (0)61 226 36 30

tickets@stadtcasino-basel.ch

Sinfonieorchester Basel

+41 (0)61 272 25 25

ticket@sinfonieorchesterbasel.ch

www.sinfonieorchesterbasel.ch

ZUGÄNGLICHKEIT

Das Stadtcasino Basel ist rollstuhlgängig und mit einer Induktionsschleife versehen. Das Mitnehmen von Assistenzhunden ist erlaubt.

PREISE

CHF 105/85/70/55/35

ERMÄSSIGUNGEN

• Junge Menschen in Ausbildung: 50 %

• AHV/IV: CHF 5

• KulturLegi: 50 %

• Mit der Kundenkarte Bider & Tanner: CHF 5

• Begleitpersonen von Menschen, die für den Konzertbesuch eine Begleitung beanspruchen, haben freien Eintritt. Die Anmeldung erfolgt über das Orchesterbüro.

GEHÖRSCHUTZ

Gehörschutz ist an der Abendkasse sowie am Welcome Desk im Foyer des Stadtcasinos Basel erhältlich.

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VORVERKAUF
Klavierduo: Die Brüder Lucas und Arthur Jussen spielen Felix Mendelssohn Bartholdys Konzert für zwei Klaviere und Orchester E-Dur © Marco Borggreve

BEFLÜGELT

Mi, 30. August 2023, 19.30 Uhr

Do, 31. August 2023, 19.30 Uhr

Stadtcasino Basel, Musiksaal

Mi, 30. August, 17.30 Uhr, Hans Huber-Saal: Entdeckerprogramm mit ‹Composer in Residence› Unsuk Chin, Lucas und Arthur Jussen u.a. → S. 6

Do, 31. August, 18.45 Uhr, Hans Huber-Saal: Konzerteinführung mit Hans-Georg Hofmann

Das Konzert wird von Radio SRF2 Kultur aufgezeichnet.

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847):

Konzert für zwei Klaviere und Orchester

E-Dur, MWV O 5 (1823)

I. Allegro vivace

II. Adagio non troppo

III. Allegro

Unsuk Chin (*1961):

Alaraph ‹Ritus des Herzschlags› für Orchester (2022, Uraufführung), Auftragswerk des Sinfonieorchesters Basel, des Concertgebouworkest Amsterdam, des National Symphony Orchestra

Taiwan und der San Francisco Symphony

PAUSE

Johannes Brahms (1833–1897):

Sinfonie Nr. 2 D-Dur, op. 73 (1877)

I. Allegro non troppo

II. Adagio non troppo

III. Allegretto grazioso (quasi Andantino)

IV. Allegro con spirito

Sinfonieorchester Basel

Lucas und Arthur Jussen, Klavier

Ivor Bolton, Leitung

ca. 30’

ca. 18’

ca. 45’

Konzertende: ca. 21.45 Uhr

PROGRAMM 5
HÖR’ REIN

FOKUS: UNSUK CHIN

Mi, 30. August 2023, 17.30 Uhr

Stadtcasino Basel, Hans Huber-Saal

PODIUMSGESPRÄCH

Unsuk Chin und Benjamin François

Unsuk Chin (*1961):

Advice from a Caterpillar (aus Alice in Won derland ) für Bassklarinette solo (2015)

Junko Otani Mast, Bassklarinette

Unsuk Chin:

Allegro ma non troppo (1993/94) Robin Fourmeau, Perkussion

PODIUMSGESPRÄCH

Lucas und Arthur Jussen, Unsuk Chin, Hans-Georg Hofmann und Benjamin François

Unsuk Chin gilt als eine der wichtigsten Komponist*innen der Gegenwart. Ihre spannungsgeladene, geradezu märchenhafte Musik bezeichnet sie als «Abbild ihrer Träume». Wir freuen uns sehr, dass wir zum Start in die neue Saison ihr neuestes Orchesterwerk zur Uraufführung bringen können. Vor der Weltpremiere haben Sie im Rahmen des Entdeckerprogramms Gelegenheit, die Komponistin im Gespräch aber auch mit ihrer Musik näher kennenzulernen. Später werden die Solisten des Abendprogramms Lucas und Arthur Jussen zum Gespräch dazustossen.

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ENTDECKERPROGRAMM ©
Priska Ketterer
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FELIX MENDELS SOHN

BARTHOLDY

Konzert für zwei Klaviere und Orchester E-Dur

EINE GROSSE GESCHWISTERLIEBE

VON OTTO HAGEDORN

Bei den Sonntagsmusiken im Hause der Mendelssohns spielten Felix und Fanny häufig gemeinsam – ob nun auf der Violine und dem Klavier oder beide an den Tasten. So auch am 7. Dezember 1823. Fanny war achtzehn, Felix gerade einmal vierzehn Jahre alt. Und sie präsentierten ein kürzlich vom Bruder zum Geburtstag der Schwester komponiertes Doppel-Klavierkonzert.

Anders als in der drei Jahre später entstandenen Sommernachtstraum- Ouvertüre hat Mendelssohn sich in diesem Stück noch nicht von seinen Vorbildern freigeschwommen: Mozart und vor allem Beethoven sind sehr präsent. Der Spielfreude tut das aber keinen Abbruch: der quirligen Champagnerlaune im 1. Satz so wenig wie dem Dahinträumen im Adagio oder dem Voranpreschen im Finale . Fanny und Felix also an zwei Klavieren – und weil ein Orchester nicht so leicht zusammenzutrommeln ist, übernahmen sie dessen Part gleich mit. Einer der damals bekanntesten Klaviervirtuos*innen, Friedrich Kalkbrenner, ist unter den Zuhörer*innen und tief beeindruckt. Ein knappes Jahr später, an Fannys 19. Geburtstag, spielen die beiden das E-DurKonzert bei einer weiteren Mendelssohn’schen Sonntagsmusik, und wieder teilen sie sich auch die Orchesterbegleitung. Diesmal anwesend: der ebenso berühmte Pianist Ignaz Moscheles. Auch er staunt nicht schlecht und hält in seinem Tagebuch fest: «Der fünfzehnjährige Felix ist eine Erscheinung, wie es keine mehr gibt! Was sind alle Wunderkinder neben ihm? Sie sind eben Wunderkinder und sonst nichts; dieser Felix Mendelssohn ist ein reifer Künstler.» Moscheles ist bereit, ihn zu unterrichten. Aber nach nur einigen Wochen meint er, seinem Schüler nichts mehr beibringen zu können. Der Ritterschlag des Virtuosen für den Vir-

ZUM WERK 8

tuosen. Man meint, dem Konzert anzuhören, wie herzlich Felix und Fanny einander verbunden waren. Eine grosse Geschwisterliebe, die sich ebenso im Übermut wie in besonderer Innigkeit offenbart. Insofern scheint gerade dieses Werk auch den Solisten Lucas und Arthur Jussen wie auf den Leib geschneidert. Mendelssohn hat die meisten seiner Jugendwerke verworfen, nicht so dieses E-Dur-Doppelkonzert. Zeit seines Lebens spürte er darin die Nähe zur Schwester – etwa auch, als er das Stück 1830 (gemeinsam mit Moscheles!) mit grossem Erfolg in London vorstellte.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Westdeutschen Rundfunks Köln (WDR)

Konzert für zwei Klaviere und Orchester E-Dur

BESETZUNG

2 Klaviere solo, Flöte, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, Pauke, Streicher

ENTSTEHUNG 1823

URAUFFÜHRUNG

7. Dezember 1823 mit Fanny und Felix Mendelssohn als Solist*innen

DAUER ca. 30 Minuten

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FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY ZUM WERK
Das Musikzimmer von Fanny Hensel (geb. Mendelssohn)
© akg-images

HOLLÄNDISCHE HARMONIELEHRE

VON CHRISTA SIGG

Sie sind kein Fall für die Oper. Da kriegen sich Brüder gerne in die Haare, doch dafür verstehen sich Lucas (30) und Arthur (26) Jussen einfach zu gut. Und sie leiden auch noch mit ein und demselben Verein: Ajax Amsterdam. «Es geht schon wieder aufwärts», seufzt Arthur. Spätestens, wenn die zwei am Klavier sitzen, ist der Fussball sowieso vergessen. Nicht ganz. Die beiden spielen sich so phänomenal die Bälle zu, dass man hört und staunt. Schön also, dass sie mit dem Sinfonieorchester Basel Felix Mendelssohn Bartholdys

Konzert für zwei Klaviere

in E-Dur spielen. Auch bei der Uraufführung sassen zwei Geschwister einträchtig an den Tasten–der Komponist und seine Schwester Fanny.

CS Lucas und Arthur, Sie wirken überaus harmonisch. War das immer so?

AJ Ja! Als jüngerer Bruder hatte ich aber auch Glück, dass mich Lucas immer mitspielen liess. Am Klavier und genauso mit den Freunden. Wir kennen einige Geschwister, die ganz schön streiten, doch wir können sehr gut miteinander.

CS Eigentlich sind Sie doch auch Konkurrenten.

LJ Anders, wir haben einander immer beflügelt. Ich weiss von Arthur, dass er hundertprozentig vorbereitet ist, und Arthur weiss das von mir. Wir wollen beide einfach sehr gut sein, das hat nichts mit Rivalität, sondern mit Motivation und Inspiration zu tun.

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«Wir haben einander immer beflügelt.»
INTERVIEW
LUCAS UND ARTHUR JUSSEN im Gespräch
11 LUCAS UND ARTHUR JUSSEN INTERVIEW
© Sanja Marusic

CS Bei so viel Harmonie müsste Ihnen Mendelssohns E-Dur-Konzert für zwei Klaviere doch auf den Leib geschrieben sein?

AJ Wir spielen das Konzert wirklich gerne, es steckt so viel Energie und Fröhlichkeit in dieser Musik. Felix war vierzehn Jahre alt, als er es 1823 für seine Schwester Fanny geschrieben hat, unfassbar! Wenn man die spätere Entwicklung kennt, spürt man zwar, dass er noch nicht so recht weiss, wohin er will. Aber man realisiert sofort sein grosses Talent.

LJ Es ist wie bei einem ausserordentlich talentierten Fussballspieler, der zum ersten Mal in der 1. Liga spielen darf. Der rennt und versucht, alles zu zeigen, was er draufhat. Manchmal ist es aber besser, nicht alles einzubringen. Und dennoch sind die Melodien unglaublich schön. Wenn man mit vierzehn Jahren so etwas schreiben kann, ist man ein Wunderkind! Im Vergleich dazu sind wir das überhaupt nicht.

CS Das Konzert scheint zunächst nicht sonderlich kompliziert, ist das gerade die Schwierigkeit?

AJ Die Themen mögen einfach klingen, aber es ist technisch wirklich anspruchsvoll, gerade im 1. und 3. Satz. Und man merkt einfach, dass Mendelssohn ein toller Pianist war. Wie Rachmaninow oder Chopin. Auch die haben für ihr Niveau geschrieben. Wir müssen also viel proben, um das gut zu spielen.

CS Die Partitur lag lange vergessen im Mendelssohn-Nachlass im Osten Berlins und kam erst in den 1960er-Jahren wieder ins Bewusstsein der Konzertbesucher. Welchen Stellenwert hat das Stück für Sie – auch im Vergleich zu Mozart?

LJ Seit etwa zwei Jahren spielt es eine wichtige Rolle in unserem Repertoire. Wir haben die beiden Mozart-Doppelkonzerte häufig gespielt – sie werden auch viel angefragt. Aber für uns ist dieses Mendelssohn-Konzert jetzt sehr erfri-

schend. Obwohl hier noch viel Mozart mit reinspielt, geht es schon deutlich in Richtung Romantik. Das Publikum ist übrigens jedes Mal positiv überrascht und verlässt den Saal auffallend froh gestimmt.

CS Es gibt Überlegungen, die beiden Stimmen den Geschwistern zuzuordnen. Etwa im langsamen Mit telsatz den lyrischen Part der Schwester, den ‹zupackenderen› dem Bruder. Wie sehen Sie das?

LJ In unserer Zeit sind solche Typisierungen nicht mehr so angebracht. Aber ich verstehe natürlich, wie das gemeint ist. Es gibt dieses zweite Thema, das etwas schwerer, etwas tiefer ist als das erste, das eher einen naiven, lieblichen Klang hat. Das erste Thema wäre demzufolge ‹weiblicher›, das zweite ‹männlicher›. Mir fallen gerade Powerfrauen wie Martha Argerich ein, der würde ich eher das zweite Thema zuordnen.

CS Und wer von Ihnen spielt nun ‹Fannys Part›?

LJ Wenn man Fanny den ersten Part zuordnet, dann spiele ich den. Sagen wir es mal so: Ich beginne den 2. Satz –ich bin der Ältere, aber trotzdem der Kleinere. Und dann kommt Arthur.

CS Wer entscheidet das?

AJ Wir werfen bei jedem neuen Stück eine Münze.

CS Sie haben beide bei Jan Wijn und Maria João Pirez studiert, es gab dann auch unterschiedliche Lehrer. Wie wirkt sich das aus?

AJ Sehr gut sogar. Als Lucas mit dem Abitur fertig war, ist er nach Amerika gegangen, um bei Menahem Pressler zu studieren. Viele haben uns gewarnt und

12 LUCAS UND ARTHUR JUSSEN INTERVIEW
«Wir werfen bei jedem neuen Stück eine Münze.»

gesagt, das sei schlecht fürs Duo. Dabei war es genau richtig. Wir haben uns beide in dieser Zeit persönlich weiterentwickelt. Und als wir wieder zusammenkamen, war alles wie immer. Das Zusammenspiel verlernt man nicht. Dafür hatten wir beide frische Ideen und uns einfach in der Mitte wieder getroffen. Wir proben übrigens zu 90 Prozent alleine. Jeder muss seinen eigenen Part genau erkunden und die vollkommene Kontrolle über ihn gewinnen.

CS Worin liegt der Vorteil, mit dem Bruder zu spielen?

LJ Es war schon immer sehr einfach, zusammen zu proben. Das ist die praktische Seite, aber Arthur ist einfach auch ein sehr guter Freund für mich. Wenn wir reisen, sind wir nie allein. Nach einem Konzert trinkt man ein Bier zusammen und hat eine Erfahrung und überhaupt etwas, das man teilt. Wir können übrigens auch sehr direkt zueinander sein, uns kritisieren. Da brauchen wir keinen Höflichkeitsfilter.

CS Und jetzt bitte die Nachteile.

LJ Wir teilen immer ein Hotelzimmer, weil wir das gemütlich finden. Aber wenn man dann zusammen am Waschtisch steht, um sich die Frisur ein bisschen zu modellieren, fehlt der Platz. AJ Mir geht es genauso!

CS Na, wenn das alles ist … Sie betonen, dass Sie ganz normal aufgewachsen sind. Geht das überhaupt, wenn man mehrere Stunden am Tag Klavier übt?

AJ Wir haben eine ganz normale Schule besucht und Fussball und Tennis gespielt – und mit Freunden gefeiert. Vielleicht nicht so viel, man kann ja nicht alles haben im Leben. Das geht aber nicht nur uns so. Durch das Klavierspielen haben wir viel zurückbekommen –und Erfolg. Ich kann allen Kindern und jungen Leuten nur sagen, dass es wunderbar ist, für etwas richtig zu arbeiten und dann zu erleben, dass es klappt.

CS Dafür gibt es ja Social Media. Ist das wichtig für Sie?

LJ Wir reden oft über dieses Thema und kommen immer häufiger zum Ergebnis, dass das gar nicht so wichtig ist. Klar, wir machen es nebenbei und auch mal ganz gerne. Man kann Dinge ausprobieren, die etwas weniger ernsthaft sind. Aber wir wollen damit auch nicht so viel Zeit verlieren wie einige Musiker.

CS Können Sie sich vorstellen, getrennte Wege zu gehen?

AJ Wir spielen auch manchmal getrennt. Vor allem in Holland, wo man uns regelmässig zu einem Soloabend einlädt. Ausserdem machen wir zwischendurch Projekte wie etwa alle Klavierkonzerte von Beethoven. Da spielt ja auch nur einer. Die Mischung, die wir jetzt haben –hauptsächlich zusammen, ab und zu solo –, ist perfekt. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass wir nur noch getrennt spielen. Wir fühlen uns so wohl und so stark zusammen, und wir bieten etwas, das es nicht so oft gibt. Jedenfalls sind wir noch lange nicht fertig.

13 LUCAS UND ARTHUR JUSSEN INTERVIEW

UNSUK CHIN

Alaraph ‹Ritus des Herzschlags›

MUSIKALISCHE KOSMOLOGIE

Der Titel Alaraph stammt aus der Kosmologie, und mit dem Untertitel

‹Ritus des Herzschlags› stellt Unsuk Chin eine Verbindung zum musikalischen Rhythmus her. Die Komponistin erklärt, dass sie während des Komponierens von zwei Bildern inspiriert wurde.

«Einerseits reizte mich das Konzept der sogenannten ‹Herzschlag-Sterne› mit ihrem regel mässigen Pulsieren. Darauf bezieht sich auch der Titel: ‹Alaraph› ist einer der Herzschlag-Sterne. Das sind sich rhythmisch bewegende, veränderliche Doppel sternsysteme auf exzentrischen Bahnen, deren Schwingungen durch Gezeitenkräfte verursacht werden. Der Begriff ‹Herzschlag-Sterne› bezieht sich auf das folgende Phänomen: Wenn die Helligkeit eines Sterns langfristig aufgezeichnet wird, ähnelt seine Lichtkurve einem Herzschlag, wie er in einem Elek trokardiogramm zu sehen ist. Als zweite entscheidende Inspirationsquelle für die Komposition fungierten bestimmte Aspekte der traditionellen koreanischen Musik, die ‹statische› höfische Ritualmusik wie die lebendige Volksmusik. Ich habe beide nicht in Form von Zitaten verwendet, sondern spiele komprimiert und stark stilisiert in Gestaltung und Struktur des Werks auf sie an. Die Schlagzeuggruppe spielt dabei eine zentrale Rolle. Im Gegensatz zu meinen anderen Orchesterwerken verzichte ich völlig auf melodisches Schlag werk wie Vibrafon oder Glockenspiel. Stattdessen schöpfe ich die Eigenschaften der rhythmischen Schlaginstrumente voll aus. Folglich weist das Werk eine beträchtliche Energie und Körperlichkeit auf. Meine Neugier auf den Gebieten Wissenschaft und Kosmologie besteht schon

ZUM WERK 14

seit etwa vierzig Jahren. Bereits als Kind hatte ich begonnen, mich über Träume zu wundern, die für mich Begegnungen mit einer anderen Welt mit ganz anderen physikalischen Gesetzen bedeuteten. Träume sind – der Musik nicht unähnlich – Phänomene, die sich mit der Zeit verändern und gleichzeitig wie eine Skulptur in einem winzigen Moment der Zeitlosigkeit eingefroren sind. All dies liess mich vermuten, dass das, was wir in unserem Alltag wahrnehmen, nur ein Bruchteil der Realität ist. Um diesen Fragen weiter nachzugehen, entwickelte ich einen grossen Wissensdurst im Hinblick auf Kosmologie und Physik.»

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Boosey & Hawkes-Verlags

Alaraph ‹Ritus des Herzschlags›

BESETZUNG

3 Flöten, 3 Oboen, 3 Klarinetten, 3 Fagotte, 6 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen, 2 Tuben, Pauken, Schlagzeug, 2 Harfen, Akkordeon, Streicher

ENTSTEHUNG 2022

URAUFFÜHRUNG

30. August 2023 im Stadtcasino Basel mit dem Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Ivor Bolton

DAUER ca. 18 Minuten

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ZUM WERK UNSUK CHIN
© Wikimedia Commons Dreiecksgalaxie (M33), fotografiert von Tõrva, Estland

UNSUK CHIN im Gespräch

LAND DER STERNE

VON BENJAMIN FRANÇOIS

Die ‹Composer in Residence› Unsuk Chin beginnt ihre Basler Residenz mit der Ur aufführung des Orchesterwerks Alaraph ‹Ritus des Herzschlags› – eine wunder bare Gelegenheit, die in Berlin lebende Künstlerin besser kennenzulernen.

BF Unsuk Chin, Ihre Werke führen uns in ein schillerndes Zeiterlebnis mit unglaublichen Beschleunigungen, Lupeneffekten und Ellipsen. Was bedeutet Zeit für Sie als Tonkünstlerin?

UC Ich merke seit etwa zehn Jahren, dass sich die Welt beschleunigt. Sie ändert sich so schnell, dass ich mich ernsthaft frage, ob ich in zehn bis zwanzig Jahren in dieser Welt leben möchte, wenn ich überhaupt noch lebe! Es geht alles so rasant: Es gibt auch Künstler* innen in anderen Sparten, die sich sehr schnell an diese Geschwindigkeit gewöh nen und daraus etwas Schöpferisches kreieren. Wir Musiker*innen oder Komponist*in nen eher nicht! Wir üben einen Beruf aus, für den man sehr viel Zeit braucht und in dem sich alles langsam entwickelt. Man muss nicht nach aussen, sondern mehr ins Innere gehen. An trüben Tagen denke ich manchmal, dass es diesen Beruf in Zukunft gar nicht mehr geben wird oder dass das, was wir zeitgenössische Komponist*innen machen, vielleicht das letzte Urgestein der Musikgeschichte sein wird. Vielleicht wird sich

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«Ich komponiere nicht für Zuhörer* innen, die in hundert Jahren leben werden.»
INTERVIEW
17 UNSUK CHIN INTERVIEW © Priska Ketterer

die Geschichte auch in eine ganz andere Richtung entwickeln, man kann es nie wissen. Jedenfalls komponiere ich nicht für Zuhörer*innen, die in hundert Jahren leben werden. Ich konzentriere mich lieber auf meine eigene, mir gegebene Zeit.

BF Denken Sie nie an die Nachwelt oder an die Langlebigkeit Ihrer Musik, die Generationen nach Ihnen immer noch hellhörig machen und faszinieren wird?

UC Das kann ich so nicht sagen, ich bin keine Hellseherin. Aber ich denke mir, dass diese klassische, ernste Musik vielleicht irgendwann aufhört und etwas anderes eintritt. Trotzdem bin ich mir sicher, dass gute Werke bleiben werden. Man schreibt heutzutage nicht mehr wie Beethoven; so wird es vielleicht in der Zukunft eine ganz andere Art von ‹klassischer› Musik geben. Der Bezug des Menschen zur Musik wird anders sein als heute oder vor zwei Jahrhunderten: vielleicht oberflächlicher oder – ich merke die Tendenz schon heute – wie ein Einwegprodukt produziert und genutzt. Ich vermute und hoffe gleichzeitig, dass sich die Menschheit besinnen wird und zu reflektieren anfängt.

BF Sie komponieren für traditionelle Besetzungen und Instrumente der abendländischen Musik. Daneben weisen Ihre Werke zahlreiche aussereuropäische Ein flüsse auf. Wie gehen Sie mit diesem Wechselverhältnis um?

UC Ich fühle mich nicht als eingefleischte Koreanerin, obwohl ich dort aufgewachsen bin. Ich habe auch dort studiert, habe mich als Musikerin in Südkorea entwickelt, war aber immer Kosmopolitin. Ich sehnte mich hinaus in die weite Welt, aber seitdem ich in Europa bin, komponiere ich eine Musik mit einem ausgeprägten Interesse für etwas anderes, zum Beispiel für traditionelle koreanische Musik. Ich habe ausserdem eine starke Affinität zur Musik von

Bartók oder Strawinsky und gleichzeitig zu Kompositionen, die mit europäischer Tradition überhaupt nichts zu tun haben. Meine Musik wird nicht mehr als koreanische klassische Musik betrachtet: Diese Differenzierung, die ich oft als Herabsetzung und Vorwurf erlebt habe, muss ich mir zum Glück nicht mehr anhören.

BF Nachdem die Uraufführung von Alaraph ‹Ritus des Herzschlags› beim Festival ‹Présences› in Paris im Februar 2023 ausfallen musste, findet sie jetzt am 30. August in Basel statt. Ihr kosmologisches Wunschland im Stück ist grösser als der Raum zwischen Korea und Europa ... UC Tatsächlich hat Alaraph keinen besonderen geografischen Bezug. Vielmehr möchte ich die Zuhörer*innen in ein kosmologisches Land mitnehmen, das ich in meiner Fantasie kreiert habe, in die sogenannten ‹Herzschlagsterne›. Die Lichtkurve des Sterns ähnelt dem Herzschlag in einem Elektrokardiogramm, wenn seine Helligkeit über die Zeit aufgezeichnet wird. In meinem Stück verwende ich viele verschiedene Pulsschläge, von langsamen bis zu extrem schnellen. Einige rituelle Komponenten sind auch zu vermerken: Ich verzichte auf melodisches Schlagwerk wie Vibrafon oder Glockenspiel und habe stattdessen für die rhythmischen Schlaginstrumente komponiert. Es erklingen statisch aufgebaute Klangflächen, die zum Teil quasi meditativ im Raum schweben.

18 UNSUK CHIN INTERVIEW
«Es erklingen statisch aufgebaute Klangflächen, die zum Teil quasi meditativ im Raum schweben.»

… von den Werken alter Meister, erleben wir bis heute die Dynamik eines Mercedes-Benz. Präzision, Charme und Technik – ein Mercedes-Benz hat schon immer die Sinne bewegt.

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JOHANNES BRAHMS

Sinfonie Nr. 2 D-Dur

DIE LYRISCHSTE UNTER DEN BRAHMS-SINFONIEN

VON WALTER WEIDRINGER Über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren hatte

sich Johannes Brahms mit seiner Sinfonie Nr. 1 beschäftigt und wohl auch gequält. Deshalb mag erstaunen, dass er die Zweite innerhalb weniger Monate zu Papier bringen konnte. Doch hatte Brahms den Som mer 1877 in Pörtschach am Wörthersee verbracht.

Dem Kritiker Eduard Hanslick schrieb er: «Ich bin Dir von Herzen verbunden, und zum Dank soll’s auch, wenn ich Dir etwa den Winter eine Symphonie vorspielen lasse, so heiter und lieblich klingen, dass Du glaubst, ich habe sie extra für Dich oder gar Deine junge Frau geschrieben! Das ist kein Kunststück, wirst Du sagen, Brahms ist pfiffig, der Wörther See ist ein jungfräulicher Boden, da fliegen die Melodien, dass man [sich] hüten muss, keine zu treten.»

Die Zweite ist die lyrischste unter den Brahms-Sinfonien. Der Brahms-Bio-

graf Siegfried Kross konstatiert für alle in den drei Pörtschacher Sommern entstandenen Kompositionen, darunter auch das gleichfalls in D-Dur stehende Violinkonzert, «ein eigenartiges Flair des Hellen, Lichten, Melodiösen, das man anderswo in seinem Werk sonst nicht wiederfindet», und bekräftigt die oft geäusserte Ansicht, bei der Sinfonie Nr. 2 handele es sich gleichsam um Brahms’ ‹Pastorale›. Die Kritiken der höchst erfolgreichen Uraufführung am 30. Dezember 1877 mit den Wiener Philharmonikern unter Hans Richter schlugen in dieselbe Kerbe, rühmten die «son nige Klarheit», den «lieblichen, heiteren Pastoralton» und die «freundliche, liebenswürdige Idylle» des Werks, zu denen der Meister nun gefunden habe, der sich, wie Hanslick schrieb, nach dem «Pathos faustischer Seelenkämpfe» nun der «frühlingsblühenden Erde wieder zuwandte». Dennoch kennt die hier ausgebreitete Idylle auch dunkle Wolken, die jedoch anders als in Beethovens Pastorale nicht in einem einzelnen Gewitter-Satz kulminieren, sondern sich über das ganze Werk verteilen, die sonnige Heiterkeit immer wieder relativieren und umdüstern. Freilich war es Brahms’ Gewohnheit, in selbstironischer Manier von neuen Werken zu sprechen und Erwartungen in die Irre zu führen. Aber mit welcher Beharrlichkeit er die an der Oberfläche doch so unbeschwert-heitere Zweite als Zeugnis

ZUM WERK 20

trüber Bekümmernis ankündigt, ist doch auffällig. «Die neue Sinfonie ist so melancholisch, dass Sie es nicht aushalten. Ich habe noch nie so etwas Trauriges, Mol liges geschrieben: die Partitur muss mit Trauerrand erscheinen», schrieb er an seinen Verleger Simrock und gab gegenüber Clara Schumann vor, die Musik sei «ganz elegischen Charakters». Das dreiklangselige Hauptthema der Hörner im Stirnsatz wird bei genauerem Hinhören durch den unregelmässig darin verzahnten Bass zu einer Komplexität geführt, die alle ländliche Einfachheit weit hinter sich lässt. Der Skeptizismus des Komponisten wird auch im gleichsam dumpfen Grollen von Posaunen und Pauken spürbar, und immer wieder verdeutlichen Eintrübungen und harsche Rhythmen, dass hinter der lieblichen Fassade gekämpft wird. Elegisch tönt da jedenfalls auch das fis-Moll-Seitenthema, welches an Brahms’ Lied Guten Abend, gut’ Nacht erinnert. Nominell ist die Zweite die einzige BrahmsSinfonie, in der alle Sätze in Dur stehen – doch immer wieder biegt Brahms das Geschehen in Moll-Gefilde ab. Das gilt besonders auch für den komplexesten Satz, das Adagio non troppo in Sonatenhauptsatz form mit verknappter Reprise, mit seinen nicht weniger als vier zum Teil kontrapunktisch ineinandergreifenden

Themen: Den Tonfall tiefer Wehmut unterbrechen immer wieder dramatische Kon flikte, nicht zuletzt in Gestalt erregter Tremoli, scharfer Akzente und fugierter Episoden. Ein Gegengewicht dazu bildet der schon bei der Uraufführung da capo verlangte 3. Satz, ein gleichsam inverses fünfteiliges Scherzo mit lieblichen Rah menteilen im gemächlichen 3/4-Takt und zwei rhythmisch akzentuierten Presto-Trios (2/4- und 3/8-Takt) – eine «Art Suite aus verschiedenen Tanzcharakteren» (Siegfried Kross). Das Finale schliesslich überhöht mit seinem aus dem 1. Satz abgeleiteten, zunächst leise raunenden Haupt thema klassische Satztypen von Mozart und Haydn mit romantischen Mitteln, die bei Brahms

JOHANNES

Johannes Brahms (1833–1897) um 1885, Fotografie von Fritz Luckhardt

BESETZUNG

2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauke, Streicher

ENTSTEHUNG

1877 in Pörtschach am Wörthersee

URAUFFÜHRUNG

30. Dezember 1877 in Wien mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Hans Richter

DAUER ca. 45 Minuten

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stets auch barocke kontrapunktische Finessen miteinschliessen – und steigert sich in der brillanten Coda zu einem der mitreissendsten Höhepunkte der Sinfonik seit Beethoven. BRAHMS ZUM WERK
© Fritz Luckhardt / Wikimedia Commons Sinfonie Nr. 2 D-Dur

IVOR BOLTON

Der Chefdirigent des Sinfonieorchesters Basel seit der Saison 2016/17, Ivor Bolton, ist einer der angesehensten Dirigent*innen nicht nur des barocken und klassischen Repertoires. So spielte er mit dem Mozarteumorchester Salzburg, dessen Chefdirigent er zwölf Jahre lang war, eine von der Presse hochgelobte Serie von Bruck ner-Sinfonien ein. Am Teatro Real in Madrid wurde er 2022 bei den Premios Ópera für die beste musikalische Leitung ausgezeichnet. Kürzlich wurde er als ‹Commander of the Order of the British Empire› (CBE) für seine Dienste für die Musik auf der britischen Honours List ausgezeichnet.

Ivor Bolton ist Ehrendirigent des Mozarteumorchesters Salzburg, Chefdirigent des Dresdner Festspielorchesters und erfreut sich seit 1994 einer engen Beziehung zur Bayerischen Staatsoper. Für seine herausragende Arbeit in München wurde ihm der Bayerische Theaterpreis verliehen. Der Brite war ausserdem musikalischer Leiter der English Touring Opera, der Glyndebourne Touring Opera und Chefdirigent des Scottish Chamber Orchestra.

Weitere Opernengagements hatte er im Covent Garden, an der English National Opera, in Bologna, Amsterdam, Lissabon, Hamburg und Sydney. Orchesterengagements führten ihn zu den BBC Proms in London und ins Lincoln Center New York sowie zu Konzer-

ten mit dem Tonhalle-Orchester Zürich, dem Concertgebouworkest Amsterdam, den Wiener Symphonikern und dem Orchestre de Paris.

22 PORTRÄT
IVOR BOLTON
©
Leitung
Pia Clodi / Peaches & Mint

Schon ab CHF 1.–im ersten Monat

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bzbasel.ch

BRAHMS, FAMILIENMENSCH OHNE FAMILIE

VON SIGFRIED SCHIBLI

Zugegeben: Eine neue Rubrik über musikalische Familiengeschichten ausgerechnet mit Johannes Brahms zu beginnen, ist verwegen. Denn der norddeutsche Komponist war zeitlebens ehe- und kinderlos. Doch der Wunsch nach Gemeinschaft beflügelte auch ihn. Und auf eine sehr spezielle

Art gelang es ihm, die Einsamkeit zu überwinden.

Seine 2. Sinfonie spielt in diese Thematik hinein.

Dabei fehlte es Brahms nicht an Leidenschaft für Frauen. Mit 25 Jahren verlobte er sich in Göttingen mit der Professorentochter Agathe von Siebold. Eine Ehe wurde nicht daraus, doch erinnert das Streichsextett op. 36 an Agathe. Brahms soll über dieses Werk geäussert haben: «Da habe ich mich von meiner letzten Liebe losgemacht.»

Möglicherweise war Brahms nicht frei für eine feste Beziehung zu einer Frau. Bekannt war seine starke Mutterbindung, erst zur eigenen Mutter Christiana, die 1865 starb, dann zur Stiefmutter Caroline Louise. 1877 schrieb Brahms an den Schweizer Schriftsteller Josef Viktor Widmann: «Habe ich Ihnen nie von meinen schönen Prinzipien gesprochen? Dazu gehört: keine Oper und keine Heirat mehr zu versuchen.»

Im Grunde gab es nur eine Frau in seinem Leben: Clara Schumann. Brahms kannte die Schumanns seit 1853. Damals lernte er sie neben Joseph Joachim, Franz Liszt und Ferdinand Hiller kennen und wurde durch Robert Schumanns Aufsatz Neue Bahnen in den Adelsstand der Komponisten erhoben. Nun trat nicht nur der geniale Robert, sondern auch dessen Ehefrau Clara mitsamt den Kindern in das Leben des Junggesellen Johannes Brahms. Brahms widmete ihr «verehrend» seine Klaviersonate in fisMoll und folgte ihr auf Schritt und Tritt. Man musizierte und philosophierte und bildete eine eingeschworene Gemeinschaft selbstständiger Künstler.

Als Robert Schumann nach seinem Selbstmordversuch in die Nervenheilanstalt in Endenich eingewiesen worden war (Diagnose: «Melancholie mit Wahn»), hütete Brahms öfter die Kinder des Ehepaars. Das erlaubte Clara Schumann, ihre Karriere als reisende Konzertpia-

FAMILIENGESCHICHTEN 24

nistin weiterzuverfolgen. Johannes hatte freien Zugang zur Düsseldorfer Wohnung der Schumanns und verbrachte viel Zeit mit den Kindern. Er muss ihnen ein liebevoller Ersatzvater gewesen sein, der mehr mit ihnen spielte als ihr gesundheitlich angeschlagener Vater. Er zeigte ihnen, wie man auf dem Treppengeländer herunterrutscht und mit einem kühnen Sprung unten an kommt. Brahms war ja erst 21-jährig und vielleicht noch selbst ein wenig kindlich.

Während des fast zweieinhalbjährigen Klinikaufenthalts von Robert Schumann gab Brahms sein Zimmer am Schadowplatz in Düsseldorf auf und zog ganz zu Clara. Er führte das zuvor von Robert verwaltete ‹Haushaltbuch› fort, notierte Ausgaben und Einnahmen. Im Unterschied zu Clara besuchte er Robert öfter in Endenich, schickte ihm Briefund Notenpapier. Robert sandte zum 22. Geburtstag «unsres Geliebten» Johannes innige Frühlingsgrüsse.

Jahrzehnte nach dem Tod von Clara Schumann und Johannes Brahms streute der Enkel Alfred Schumann das Gerücht einer sexuellen Beziehung zwischen den beiden. Alfred sprach diplomatisch von einer «Macht, die keinen Widerstand duldet» und äusserte die Vermutung, Brahms könne der Vater von Clara Schumanns achtem und letztem Kind gewesen sein. Felix wurde am 11. Juni 1854 geboren, und Robert gratulierte Clara aus der Klinik dazu, dass der Himmel ihr «einen prächtigen Knaben geschenkt» habe. Brahms seinerseits brachte dem kleinen Felix, seinem Patensohn, einen «prächtigen Purzelmann», während Clara ihm angeblich nie etwas heimbrachte. Ende Juli 1856 konnte sich Clara endlich dazu durchringen, ihren kranken Mann in der Nervenheilanstalt zu besuchen. Als Robert Schumann am 29. Juli 1856 starb, sass Clara gerade mit Johannes beim Mittagessen.

In Lichtenthal bei Baden-Baden fand Clara Schumann ein Sommerhaus, in dem sie häufiger mit dem Organisten

Theodor Kirchner und seltener mit Johannes Brahms weilte. Dort vollendete Brahms 1877 seine 2. Sinfonie. Das neue Werk sei «ganz elegischen Charakters», wusste Clara Schumann zu berichten. Brahms gab den Kontakt zu Clara und den Kindern nie auf und unterstützte die Familie finanziell, bekannte aber, «vertrauter Umgang mit Frauen» sei schwer. Das Andenken an Felix behielt er wach. «Ich weiss nicht, was ich vor Glück anfinge, wenn ich einen Sohn hätte wie Felix», schrieb er einmal an Clara. Seit 1872 war Felix Schumann von der Tuberkulose befallen. In der Schweiz und in Italien suchte er Heilung, und Brahms besuchte ihn 1878 in Palermo in Begleitung des Arztes Theodor Billroth. Ein Jahr später starb Felix, noch nicht 25-jährig. Zum Gedenken an Felix, der Geige gespielt hatte, komponierte sein ‹Götti› Brahms die Violinsonate in G-Dur. Es ist «ein kleines Requiem für Felix» (Johannes Schild).

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Die Kinder von Robert und Clara Schumann (v.l.): Ludwig, Marie, Felix, Elise, Ferdinand und Eugenie. Julie und Emil fehlen. Ambroty pie von 1854 © Wikimedia Commons

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EDA PAÇACI UND DOMENICO CATALANO im Gespräch

AM ANFANG STAND

DAS ALPHORN

VON LEA VATERLAUS

Die Hornistin Eda Paçacı und der Posaunist Domenico

Catalano haben sich im Sinfonieorchester Basel über die Blasregisterreihen hinweg kennengelernt, sind seit einem knappen Jahr verheiratet und machen derzeit den Spagat zwischen Basel und Leipzig.

LV Eda und Domenico, wir führen dieses Gespräch über das Telefon. Wo erreiche ich Euch gerade?

DC Ich bin in Wien! Zurzeit bin ich mit dem Mahler Chamber Orchestra auf Tournee. Wir waren bereits in Amsterdam und Düsseldorf, sind heute in Wien und reisen noch weiter nach Berlin, Hamburg und Paris.

EP Wir sind wirklich viel unterwegs! Ich befinde mich ‹ausnahmsweise› in Basel, weil ich hier diese Woche viele Vorstellungen und Proben habe.

LV Beim Sinfonieorchester Basel habt Ihr bei vielen gemeinsamen Projekten gespielt. Vor einem

Jahr ist Domenico zum Gewandhausorchester Leipzig gewechselt. Wie ist es für Euch, in zwei verschiedenen Orchestern zu spielen?

EP Es hat sich viel verändert, denn wir sind jetzt oft weit entfernt voneinander. Diese Entscheidung war schwer, schlussendlich aber auch irgendwie machbar. Ich finde es für Domenico als Musiker sehr wertvoll, dass er diese Gelegen heit genutzt hat und nach Leipzig gegan gen ist. Das Gewandhaus ist eine Institution, und so eine Möglichkeit ergibt sich nicht oft!

DC Wir vermissen die Vorzüge, die wir hatten, als wir im selben Orchester spielten, schon – gleichzeitig hat es aber auch viele Vorteile, für unterschiedliche Klangkörper zu arbeiten. Wir haben nun eigene Arbeitsleben, und unsere Aufgaben und Probleme mischen sich nicht mehr so oft wie früher. Bei gemeinsamen Telefonaten und Treffen haben wir trotzdem das Bedürfnis, uns über die Arbeit zu unterhalten. In Basel fand ich es deshalb einfacher, das Berufliche vom Privaten zu trennen. Es war dort klar festgelegt, wann die Dienstzeit endet und das Privatleben beginnt.

LV Trefft Ihr Euch zwischen Basel und Leipzig in der Mitte?

DC Eigentlich treffen wir uns nicht ‹in der Mitte›, es sei denn, wir besuchen

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ORCHESTERFAMILIEN
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ORCHESTERFAMILIEN
EDA PAÇACI UND DOMENICO CATALANO
© Eliyah Reichen

einander an einem Konzertort. Kürzlich hatte ich mit dem Gewandhausorchester Konzerte in Salzburg, und Eda hatte Zeit, um nach Österreich zu kommen. Für uns fühlte sich das wie Urlaub an!

EP In der ersten Hälfte der Spielzeit kam Domenico häufig nach Basel zurück. Die anschliessenden Monate waren sehr intensiv, und wir konnten uns jeweils mehrere Wochen nicht sehen. Die Sommerpause überschneidet sich bei uns aber, und wir werden viel gemeinsam unternehmen können.

LV Im Orchester verbringen die Musiker*innen viel Zeit zusammen – fast wie eine Familie!

DC Das Orchester ist eine spezielle Form von Beziehung, die ich aber nicht als ‹Familie› bezeichnen würde. Die private Familie verbindet man mit engen zwischenmenschlichen Beziehungen, was durchaus auch im Orchester der Fall ist. Zu Hause kann man aber sehr direkt sein, während es im Beruf mehr Feingefühl braucht. Es ist sehr schön, mit den Kolleg*innen nach einem Dienst noch etwas zu trinken oder essen zu gehen – eine gewisse Distanz zum Beruflichen braucht es trotzdem.

EP Im Orchester treffen viele verschiedene Familien, Kulturen und Gewohnheiten aufeinander, und man wahrt eine kollegiale Distanz. Familiäre Situationen ergeben sich beispielsweise, wenn jemand eine Solopassage hat und vom gesamten Register unterstützt wird. Oder an den Kammermusikkonzerten der Museumsnacht, bei denen man die Kolleg*innen plötzlich von ganz anderen, privaten Seiten kennenlernt.

EP Domenico war eine Ausnahme! (lacht) Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, nie ein privates Verhältnis mit jemandem aus dem Orchester zu haben. Als ich in der Saison 2018/19 zum Sinfonieorchester Basel kam, kannten wir uns erst nur vom Dienst. Gegen Ende meines Probejahres wurde daraus etwas mehr … DC Ein Alphorn war ausschlaggebend. Im Rahmen eines Kammermusikprojekts besorgte ich Eda ein Alphorn, worauf wir uns zum ersten Mal richtig austauschten und intensive Gespräche führten. Dabei entdeckten wir plötzlich ganz viele Gemeinsamkeiten.

LV Welche Leidenschaften verbinden Euch denn?

DC Die Musik, die sowohl Leidenschaft wie auch Beruf ist, steht natürlich zuoberst. Einander neue Musikstücke zu zeigen, war spannend und oft überraschend. Besonders faszinierend ist für uns die Barockzeit, denn diese Literatur spielen wir in den Orchestern selten.

EP Wir sind zudem beide grosse Kaffeeliebhaber*innen und mögen gute Gastronomie. Wir rösten auch selbst Kaffeebohnen und probieren ständig neue Sorten aus. Was die Musikgenres betrifft, konnten wir sehr viel voneinander lernen und entdecken.

LV Wie habt Ihr Euch eigentlich kennengelernt? Die Hörner sitzen ganz links und die Posaunen ganz rechts …

LV Wie kommen zwei Blechbläser*innen miteinander aus? Im Orchester und beim Üben in derselben Wohnung?

EP Wir haben sehr unterschiedliche Funktionen im Orchester und auch verschiedene zeitliche Abläufe. Ich bin immer sehr früh an einem Probe- oder Konzertort, um mich einzuspielen. In Basel haben wir uns manchmal fast nie

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DOMENICO CATALANO ORCHESTERFAMILIEN
PAÇACI UND
«Domenico war eine Ausnahme!»
«Wir sind ziemlich ehrlich zueinander –manchmal zu ehrlich! Das macht uns stark.»

gesehen, obwohl wir am selben Projekt beteiligt waren. Deshalb war es nie ein Problem, im selben Orchester zu spielen. Wir respektieren den persönlichen Raum, den die andere Person benötigt.

DC Zu Hause haben wir einen Übungsraum, den wir teilen. Wenn sich unsere Tagesrhythmen überschneiden, gehen wir an einen Ort, an dem mehrere Räume zur Verfügung stehen, beispielsweise ins Theater. Oft spielen wir auch Duette oder hören einander beim Spielen zu. Dass wir beide aus demselben Register kommen, ist dabei ein grosser Vorteil. Wenn ich Eda nicht an meiner Seite gehabt und mir ihre Kritik nicht zu Herzen genommen hätte, wäre ich beim Probespiel in Leipzig wohl nicht so erfolgreich gewesen!

EP Das klingt romantisch. (lacht) Wir sind ziemlich ehrlich zueinander –manchmal zu ehrlich! Das macht uns stark.

LV Was schätzt Ihr aneinander besonders?

DC Ich bewundere Edas Ehrlichkeit, ihren Ehrgeiz und ihre Ehrfurcht vor dem, was sie macht. Ich habe unheimlichen Respekt vor der Aufgabe, die Eda als Hornistin bewältigt. Ich weiss, was es dazu braucht, dieses Instrument zu spielen – deshalb spiele ich es nicht. (lacht)

EP Domenico ist auch ehrgeizig, hat dabei aber eine andere Herangehensweise. Ich komme aus der Türkei, wo ich mich anders beweisen musste als er in der Schweiz. Diese ‹Ur-Ruhe›, die er ausstrahlt, seine positive Art und sein Vertrauen geben mir viel Kraft.

LV Wo seht Ihr Euch in zehn Jahren?

EP Ich würde mich sehr freuen, eine eigene Hornklasse aufzubauen!

DC Es stehen viele Türen offen … Wir möchten sicher nicht längere Zeit auf Distanz leben. Das ist nicht im Sinne einer Familie, die gerade frisch gegründet worden ist.

EP Wir sind offen für alles, was auf uns zukommt!

31 EDA PAÇACI UND DOMENICO CATALANO ORCHESTERFAMILIEN
«Ich habe unheimlichen Respekt vor der Aufgabe, die Eda als Hornistin bewältigt.»
© Eliyah Reichen

K WIE KUNST

VON BENJAMIN HERZOG

Vom Pianisten Rudolf Serkin ist der Ausspruch überliefert, Kunst bestehe zu zehn Prozent aus Inspiration und zu neunzig Prozent aus Transpiration. Der Geist also, der in eine Künstlerseele bläst, wozu hier speziell Musiker*innen gerechnet seien, hat meistens Pause. In der Regel dient er bloss als Schweisstuchhalter, wenn es wieder einmal heisst: «üben, üben, üben». Postkarten mit diesem Motto üb rigens finden sich in so manchem Geigen kasten. Wie aber steht’s um die Verduns tungskälte auf Musikerstirnen, wenn es weniger ums Üben geht als vielmehr um die professionelle Vorbereitung auf ein neues Werk im Programm eines Orchesters?

Perlt der Schweiss auf Glatzen auch während einer gemeinsamen Probe, eines Konzerts gar? Oder flügelt er dann doch durch Streich- und Blassektionen, der Geist der Inspiration? Kurz: Ist ein Konzert kunst- oder schweisstreibend? Spricht man mit dem Gros der arbeitenden Restbevölkerung, so sind Orchestermusiker*innen ganz gewiss Künstler*innen . Schliesslich ist deren Metier ja verbunden mit den grossen Namen der Kunst: Komponisten, Dirigentinnen, Solisten, Sängerinnen. Im Orchester selbst sieht man das meist etwas anders. Ja, es komme immer wieder zu ‹Kunst-Momenten›, ist zu hören. Aber planbar sei das nicht, und oft lasse sich ein solcher

Moment (der durchaus auch eine ganze Sternstunde dauern kann) erst rückwirkend als solcher identifizieren.

Und wir, das Publikum? Die meisten von uns würden ein Konzert als Kunsterlebnis bezeichnen. Haben wir doch unseren Walter Benjamin gelesen oder wissen zumindest um die Aura, die so ein Konzert umhüllt im Gegensatz zu einer Reproduktion von Musik mittels Tonträger. Den Begriff «Aura» definierte Benjamin als «einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag». Streicht man «einmalig» aus diesem Satz, so tauchen allerdings doch Zweifel auf, ob eine Brahms-Sinfonie, konzentriert mit Kopfhörern gehört, nicht genauso die romantische Sehnsucht nach Überbrückung dieser «Ferne» auszulösen mag, wie wenn man sie im Konzert hört. Wie dem auch sei. Gemäss Benjamin ist das Abonnements-Konzert Kunst. Punkt. Gemäss Orchestermusiker*innen ist es dann Kunst, wenn der Dirigent, die Dirigentin ‹nicht stört›. Wenn er oder sie die Kunst des Zuhörens beherrscht und dem potenzierten Können der Orchesterschar vertrauensvoll entgegenblickt. Wenn, wie in den meisten Orchestern heute, Kontrolle nicht mehr nötig ist und einem vielleicht am besten als «zauberhaft» bezeichneten Miteinander weicht. Oder gar, wie mir eine Musikerin verriet, wenn «der Dirigent auf uns als Klangkörper reagiert». So tönt Selbst-

32 LEXIKON
DES ORCHESTERS

ermächtigung. Das Orchester schwingt in diesem Spiel den Zauberstab! Man sollte dieser magischen Umverteilung eigentlich nur beipflichten. Dirigent*innen kommen und gehen, die Orchester aber bleiben.

Aus Sicht vieler Orchestermusiker*innen übrigens spielt die Kunst vor allem auch ausserhalb ihres Berufs eine wichtige Rolle. Wer möchte ihnen da nicht beipflichten? Dort also, wo Momente der Versöhnung herbeigeführt werden in unserem vermeintlich so widerspruchsvollen Leben. Wo das Leben, mit Hegel, sich kunstvoll zum Ideal erhebt. Oder eben einfach, wo niemand «stört» und kontrolliert. Solche Freiräume öffnen sich nicht zwingend in der Beschäftigung mit Kunst im engeren Sinne, also beim Museumsbesuch, bei der Lektüre oder im Theater. Das sicher auch. Musiker*innen aber ziehen solchem Kunstgenuss nicht selten Währschafteres vor. Das Kochen zum Beispiel.

Viele Orchestermusiker*innen kochen ausgezeichnet und hingebungsvoll. Das Kartoffelsoufflé, das Kalbskotelett als Ausgleich zum Orchesteralltag. Selbstbestimmung und Individualität, wo man sich sonst oft einordnen muss. Oder der Gang in die Natur. Raus aus dem Konzertsaal! Transpiration beim Wandern auf den Berggipfel. Und, wir wissen das, die so rare Inspiration, wofür auch immer, stellt sich beim Wandern gerne

und leicht ein. «An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont folgen oder einem Zweig, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft», so schrieb Walter Benjamin in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, «das heisst, die Aura dieser Berge, dieser Zweige atmen».

Das nächste Mal: L wie Langeweile

LEXIKON DES ORCHESTERS 33
© Janine Wiget
K WIE KUNST

CURRY MUST BE SPICY

As a pianist Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) has been likened to Mozart. At the tender age of 12, he had to prove his skills in front of Goethe, who had known the famous composer from Salzburg. The comparison may have been strengthened by a similarity in the relation to their older sisters. Nannerl was to Wolfgang what Fanny was to Felix. Both were highly talented pianists and composers in their own right, though from the first no compositions have remained. As such, Nannerl and Fanny were at the heart of some of their brothers’ compositions.

Felix Mendelssohn Bartholdy’s concerto for two pianos in E Major, for instance, which he wrote when he was only 14 years old, had been composed with Fanny in mind. It was premiered in 1823 with the two siblings as the soloists. Mendelssohn didn’t think much of his composition, finding it too immature. Despite his later improvements, it wasn’t published until 1961. In Lucas and Arthur Jussen, the Dutch former child stars among the clas sical pianists, the 200year-old work has found two ardent advocates.

Over the phone, while driving from one concert to another, they share their enthusiasm for the concerto. “It is genius and naïve at the same time. Incredible that this work was created by a 14-year-old. The progression of the harmonies is brilliant and precocious. It is youthful and fresh, and the long virtuoso runs make it brim with energy. The themes and the concerto as a whole could have been more concise, but overall, it is a feast to play, and it is received very well by the audience.”

The Jussens never bicker about who plays which part. “We just toss a coin,” they say. “Besides, in a good concerto the parts are equal, which is certainly the case in this work.” In the first movement the two pianists play a game of question-and-answer, and the motifs are passed from one to another and back. The second movement consists of two long solos, one each, with minimal accompaniment of the orchestra. While the first solo is romantic, naïve and gentle, the second is dark, gloomy and dramatic. In the third and final movement the pianos play different themes, but the atmosphere is the same.

Although the Jussens may have passed the age at which Mendelssohn composed his concerto – Lucas is 30, Arthur is 26 – their youthfulness helps to convey the spirit of the work. “Seeing two old people shuffling onto the stage and playing the piece a tad too slow, just doesn’t get the message across. Curry must be spicy, so to speak”, the brothers explain. Should we hence expect a fast interpretation? “No, we will play the concerto at the appropriate speed.”

Contrasting Mendelssohn’s fervent composition, the SOB will play Johan nes Brahms’ Second Symphony. Written in only four months while vacationing at Wörthersee in Austria, the work, at first glance, is idyllic, cheerful and expansive. But underlying the major key of all four movements is a stark melancholy current that reflects the composer’s bleak outlook on life, musically symbolized by the trombones and the tubas.

IN ENGLISH 34

MUSIK VERBINDET –FREUNDSCHAFT AUCH

Der Freundeskreis ist eine engagierte Gemeinschaft, die Freude an klassischer Musik sowie eine hohe Wertschätzung gegenüber dem Sinfonieorchester Basel verbindet.

Wir unterstützen die Arbeit der Musiker*innen des Sinfonieorchesters Basel auf vielfältige Weise. Wir tragen dazu bei, in der Stadt und der Region Basel eine positive Atmosphäre und Grundgestimmtheit für das Orchester und das Musikleben zu schaffen. Unser Verein stellt für seine Mitglieder ein reichhaltiges Programm an exklusiven Anlässen mit dem Sinfonieorchester Basel zusammen. Dabei bietet sich die besondere Möglichkeit des direkten Kontakts zu den Musiker*innen. In der letzten Spielzeit konnten wir erstmals zu einer fünfteiligen Kammermusikreihe einladen. Für diese Saison planen wir eine ganze Reihe an vergleichbaren Angeboten –eine aktuelle Vorschau finden Sie auf unserer Website. Als Mitglied erhalten Sie jeweils per Mail Informationen zu den bevorstehenden Anlässen und Angeboten.

Wir heissen Sie sehr herzlich will kommen! Nehmen Sie direkt Kontakt mit uns auf: freundeskreis@sinfonieorchesterbasel.ch oder besuchen Sie unsere Website www.sinfonieorchesterbasel.ch/freundeskreis

35 VEREIN ‹ FREUNDESKREIS SINFONIEORCHESTER BASEL ›
© Benno Hunziker
FESTIVAL IM STADTCASINO BASEL ofsb.ch 1 – 16 SEPTEMBER 2023 KARNEVAL DER TIERE STREET DANCE SINFONIE MIT ORGEL  AIRË (UA)  SWISS GOSPEL SINGERS DUO LATRY | LE SAGE OPERNGALA
© ©

ORGELFESTIVAL IM STADTCASINO BASEL –‹FRISCHER WIND AUS BASEL›

Fr, 8. September 2023, 19.30 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal

Perkussionisten und Blechbläser des Sinfonieorchesters Basel

Christian Schmitt und

Ilja Völlmy-Kudrjavtsev, Orgel

Sarah Brady, Sopran

Matthias Höfs, Trompete und Leitung (Mussorgsky)

Domenico Melchiorre, Leitung (Airë)

Franz Liszt (1811–1886):

Fantasie und Fuge über Ad nos, ad salutarem undam für Orgel (1850)

Domenico Melchiorre (*1982):

Airë für Lunason-Instrumentarium, Sopran und Orgel (2023, Uraufführung), Auftragswerk

Giuseppe Verdi (1813–1901) /

Arr. Matthias Höfs (*1965):

Ouvertüre zur Oper La forza del destino für Blechbläser und Schlagwerk

Modest Mussorgsky (1839–1881) /

Arr. Matthias Höfs:

Bilder einer Ausstellung für Orgel, Blechbläser und Perkussion

Seit der Einweihung der neuen Orgel im Musiksaal beim ersten Orgelfestival im Stadtcasino Basel im September 2020 ist die Kultur- und Musikstadt Basel um ei nen bedeutenden Akteur reicher. Die ‹Königin› des neuen Konzertsaals soll nach der ersten Ausgabe des Festivals nun regelmässig ins Zentrum gerückt werden. Das Orgelfestival im Stadtca sino Basel ist mit dem Fokus auf die ‹Orgel als Instrument des Konzertsaals› ein neuer Bei trag zur Basler Festivalkultur.

Auf diesem Konzertprogramm stand zunächst Liszts Fantasie und Fuge über den Choral Ad nos, ad salutarem undam. Domenico Melchiorre, Solopauker des Sinfonieorchesters Basel, hat daraus die Komposition Airë erschaf fen, in deren unerhörte Klangwelten er uns mit seinem Lunason-Instrumentarium gemeinsam mit Ilja Völlmy-Kudrjavtsev (Orgel) und Sarah Brady (Sopran) entführt. Frischen Wind bringen auch die spektakulären neuen Bearbeitungen von Mussorgskys Meisterwerk Bilder einer Ausstellung sowie von Verdis Ouvertüre zu La forza del destino durch Matthias Höfs (Trompete) mit Blechbläsern und Perkussionisten des Sinfonieorchesters Basel und Christian Schmitt (Orgel).

IM FOKUS 37
TICKETS & INFORMATIONEN www.ofsb.ch

DEMNÄCHST

KOOPERATION ORGELFESTIVAL IM STADTCASINO BASEL FRISCHER WIND

AUS BASEL

Fr, 8.9.2023, 19.30 Uhr

Stadtcasino Basel, Musiksaal

Sinfonieorchester Basel, Christian Schmitt, Ilja Völlmy-Kudrjavtsev, Sarah Brady, Matthias Höfs, Domenico

Melchiorre

WEITERES KONZERT

DAPHNIS & CHLOÉ

Do, 21.9.2023, 19.30 Uhr

Stadtcasino Basel, Musiksaal

Sinfonieorchester Basel, Onutė Gražinytė, Mirga Gražinytė-Tyla

SINFONIEKONZERT LEMMINKÄINEN

Mi, 27.9.2023, 19.30 Uhr

Do, 28.9.2023, 19.30 Uhr

Stadtcasino Basel, Musiksaal

Sinfonieorchester Basel, Marie-Ange

Nguci, Mirga Gražinytė-Tyla

VERMITTLUNG

1. SCHULKONZERT

Do, 28.9.2023, 10 Uhr

Stadtcasino Basel, Musiksaal

Sinfonieorchester Basel, Marie-Ange

Nguci, Mirga Gražinytė-Tyla

KOOPERATION HOCHSCHULE FÜR MUSIK BASEL FHNW

OUVERTURE

Do, 5.10.2023, 19.30 Uhr

Stadtcasino Basel, Musiksaal

Sinfonieorchester Basel, Varvara

Vasylieva, Jaume Andreu Angelès I Fité, Daniil Rumiantsev, Vilem Vlcek, Jiayi Liu, Michal Balas, Philippe Bach

VORVERKAUF (falls nicht anders angegeben)

Bider & Tanner – Ihr Kulturhaus in Basel

Aeschenvorstadt 2, 4051 Basel

+41 (0)61 206 99 96 ticket@biderundtanner.ch www.biderundtanner.ch

Billettkasse Stadtcasino Basel

Steinenberg 14 / Tourist Info 4051 Basel

+41 (0)61 226 36 30 info@stadtcasino-basel.ch

Detaillierte Informationen und Online-Verkauf: www.sinfonieorchesterbasel.ch

IMPRESSUM

Sinfonieorchester Basel

Picassoplatz 2

4052 Basel

+41 (0)61 226 36 00 info@sinfonieorchesterbasel.ch www.sinfonieorchesterbasel.ch

Orchesterdirektor: Franziskus Theurillat

Künstlerischer Direktor: Hans-Georg Hofmann Redaktion Programm-Magazin: Lea Vaterlaus

Korrektorat: Ulrich Hechtfischer

Gestaltung: Atelier Nord, Basel

Druck: Druckerei Lutz AG

Auflage: 1500 Exemplare

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SPALENBERG 26 ST.JOHANNS-VORSTADT 47 BASLERLECKERLY.CH
Andrea Büttner, Erntender (Detail), 2021 © Andrea Büttner / 2023, ProLitteris, Zurich, Foto: Ralph Feiner, Courtesy Galerie Tschudi, Zuoz
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