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DIE LYRISCHSTE UNTER DEN BRAHMS-SINFONIEN
VON WALTER WEIDRINGER Über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren hatte sich Johannes Brahms mit seiner Sinfonie Nr. 1 beschäftigt und wohl auch gequält. Deshalb mag erstaunen, dass er die Zweite innerhalb weniger Monate zu Papier bringen konnte. Doch hatte Brahms den Som mer 1877 in Pörtschach am Wörthersee verbracht.
Dem Kritiker Eduard Hanslick schrieb er: «Ich bin Dir von Herzen verbunden, und zum Dank soll’s auch, wenn ich Dir etwa den Winter eine Symphonie vorspielen lasse, so heiter und lieblich klingen, dass Du glaubst, ich habe sie extra für Dich oder gar Deine junge Frau geschrieben! Das ist kein Kunststück, wirst Du sagen, Brahms ist pfiffig, der Wörther See ist ein jungfräulicher Boden, da fliegen die Melodien, dass man [sich] hüten muss, keine zu treten.»
Die Zweite ist die lyrischste unter den Brahms-Sinfonien. Der Brahms-Bio- graf Siegfried Kross konstatiert für alle in den drei Pörtschacher Sommern entstandenen Kompositionen, darunter auch das gleichfalls in D-Dur stehende Violinkonzert, «ein eigenartiges Flair des Hellen, Lichten, Melodiösen, das man anderswo in seinem Werk sonst nicht wiederfindet», und bekräftigt die oft geäusserte Ansicht, bei der Sinfonie Nr. 2 handele es sich gleichsam um Brahms’ ‹Pastorale›. Die Kritiken der höchst erfolgreichen Uraufführung am 30. Dezember 1877 mit den Wiener Philharmonikern unter Hans Richter schlugen in dieselbe Kerbe, rühmten die «son nige Klarheit», den «lieblichen, heiteren Pastoralton» und die «freundliche, liebenswürdige Idylle» des Werks, zu denen der Meister nun gefunden habe, der sich, wie Hanslick schrieb, nach dem «Pathos faustischer Seelenkämpfe» nun der «frühlingsblühenden Erde wieder zuwandte». Dennoch kennt die hier ausgebreitete Idylle auch dunkle Wolken, die jedoch anders als in Beethovens Pastorale nicht in einem einzelnen Gewitter-Satz kulminieren, sondern sich über das ganze Werk verteilen, die sonnige Heiterkeit immer wieder relativieren und umdüstern. Freilich war es Brahms’ Gewohnheit, in selbstironischer Manier von neuen Werken zu sprechen und Erwartungen in die Irre zu führen. Aber mit welcher Beharrlichkeit er die an der Oberfläche doch so unbeschwert-heitere Zweite als Zeugnis trüber Bekümmernis ankündigt, ist doch auffällig. «Die neue Sinfonie ist so melancholisch, dass Sie es nicht aushalten. Ich habe noch nie so etwas Trauriges, Mol liges geschrieben: die Partitur muss mit Trauerrand erscheinen», schrieb er an seinen Verleger Simrock und gab gegenüber Clara Schumann vor, die Musik sei «ganz elegischen Charakters». Das dreiklangselige Hauptthema der Hörner im Stirnsatz wird bei genauerem Hinhören durch den unregelmässig darin verzahnten Bass zu einer Komplexität geführt, die alle ländliche Einfachheit weit hinter sich lässt. Der Skeptizismus des Komponisten wird auch im gleichsam dumpfen Grollen von Posaunen und Pauken spürbar, und immer wieder verdeutlichen Eintrübungen und harsche Rhythmen, dass hinter der lieblichen Fassade gekämpft wird. Elegisch tönt da jedenfalls auch das fis-Moll-Seitenthema, welches an Brahms’ Lied Guten Abend, gut’ Nacht erinnert. Nominell ist die Zweite die einzige BrahmsSinfonie, in der alle Sätze in Dur stehen – doch immer wieder biegt Brahms das Geschehen in Moll-Gefilde ab. Das gilt besonders auch für den komplexesten Satz, das Adagio non troppo in Sonatenhauptsatz form mit verknappter Reprise, mit seinen nicht weniger als vier zum Teil kontrapunktisch ineinandergreifenden
Themen: Den Tonfall tiefer Wehmut unterbrechen immer wieder dramatische Kon flikte, nicht zuletzt in Gestalt erregter Tremoli, scharfer Akzente und fugierter Episoden. Ein Gegengewicht dazu bildet der schon bei der Uraufführung da capo verlangte 3. Satz, ein gleichsam inverses fünfteiliges Scherzo mit lieblichen Rah menteilen im gemächlichen 3/4-Takt und zwei rhythmisch akzentuierten Presto-Trios (2/4- und 3/8-Takt) – eine «Art Suite aus verschiedenen Tanzcharakteren» (Siegfried Kross). Das Finale schliesslich überhöht mit seinem aus dem 1. Satz abgeleiteten, zunächst leise raunenden Haupt thema klassische Satztypen von Mozart und Haydn mit romantischen Mitteln, die bei Brahms
JOHANNES
Johannes Brahms (1833–1897) um 1885, Fotografie von Fritz Luckhardt
BESETZUNG
2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauke, Streicher
ENTSTEHUNG
1877 in Pörtschach am Wörthersee
URAUFFÜHRUNG
30. Dezember 1877 in Wien mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Hans Richter
DAUER ca. 45 Minuten