SIEGESSÄULE Juni 2018

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FOTO: BEIT HAVERIM

Starke Symbole

LGBTI + Judentum – Welche Identität? Queere Juden zwischen Homophobie und Antisemitismus in Deutschland und in Frankreich, 03.06., 17:00, Wilde Oscar Im Anschluss: Aufführung des Coming-out-Musicals „Yalla“ab 20:00 (auf Französisch, Sprachenhilfe verfügbar) wildeoscar.de bleublancrose.com

> „Ich habe immer versucht, der perfekte Sohn zu sein. Und der konnte nicht schwul sein und seine ganze Familie ins Chaos stürzen.“ So dachte Alain Beit jahrelang. „Ich bin in einer konservativen jüdischen Familie groß geworden. Homosexualität war zu Hause kein Thema“, erzählt der gläubige Vater von zwei Kindern. Zwischen dem fleißigen Studenten von damals und dem Vorsitzenden des jüdischen LGBTI-Vereins Beit Haverim von heute liegen Welten. „Mein Leben war wie vorgeschrieben: Studium, Hochzeit, Kinder.“ Alain Beit lebte nach Plan – bis seine Frau nach zehn Jahren Ehe die Scheidung einreichte und ihn gegenüber Familie, FreundInnen und Bekannten outete. „Jahrelang hatte ich mich vor diesem Moment gefürchtet, dann war es aber erstaunlicherweise eine Erleichterung.“ Seine Familie kehrte ihm nicht den Rücken, auch wenn über das Thema nach wie vor kaum gesprochen wird. Viele FreundInnen dagegen hat er damals verloren. „Ich war plötzlich sehr einsam und hatte viel freie Zeit, von der ich nicht wusste, wie ich sie sinnvoll füllen könnte.“ Eine lesbische Jugendfreundin nahm ihn schließlich zu einer Veranstaltung des Vereins Beit Haverim mit. „Ich habe dort viele schwule und lesbische Jüdinnen und Juden getroffen, die ihre Homosexualität auf verschiedenste Art und Weise ausleben.“

Im Kontext eines wachsenden Antisemitismus in Deutschland und Frankreich lädt der queere deutsch-französische Verein Bleu Blanc Rose e. V. zu einem Podiumsgespräch mit VertreterInnen der jüdischen LGBTI-Community aus beiden Ländern. Dabei soll es um die Reibungspunkte zwischen der religiösen und der homosexuellen Identität gehen. Unter den Gästen befindet sich der Pariser Alain Beit, Vorsitzender des Vereins Beit Haverim, der seit mehr als 40 Jahren Homophobie und Antisemitismus in Frankreich bekämpft. Der persönliche Weg zu einem selbstbewussten Leben als schwuler Mann war für ihn allerdings alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Im Verein Beit Haverim fand der Financier und Familienvater nicht nur ein neues Zuhause, sondern auch eine politische Berufung

Tatsächlich leben viele Vereinsmitglieder „in the closet“, für sie ist der Verein mehr ein Refugium als eine politische Plattform. „Beit Haverim“ bedeutet „Haus der FreundInnen.“ Der Verein wurde 1977 von einer kleinen Gruppe schwuler und lesbischer Menschen aus jüdischen Communitys gegründet – zu einer Zeit, als Homosexualität in Frankreich noch strafbar war. Die Gründermütter und -väter waren eher nicht religiös, heutzutage gibt es deutlich mehr Mitglieder, die ihre Religion praktizieren. Neben Filmvorführungen, Ausflügen und Hebräischkursen bietet der Verein auch Shabatabende an. „Viele LGBTI-Juden denken immer noch: Diese Religion lehnt mich ab, also lehne ich sie auch ab“, erzählt Alain. „Es ist aber wichtig, dass wir auch in der religiösen Sphäre Präsenz zeigen, denn nur so können wir die Denkweise in jüdischen Gemeinden ändern.“ So rief Beit Haverim beispielsweise zu Protesten und Demonstrationen auf, als der ehemalige israelische Großrabbiner Shlomo Amar, der für seine homophoben Äußerungen bekannt ist, im vergangenen Jahr Frankreich einen offiziellen Besuch abstattete. Auf dem Pariser „Marche des Fiertés“, dem französischen CSD, ist der Verein jedes Jahr mit einem Truck dabei. In Frankreich wird Antisemitismus zunehmend zum Problem. Elf Menschen sind in den letzten zwölf Jahren getötet worden, weil sie Jüdinnen oder Juden waren. Das letzte Opfer ist Mireille Knoll, eine Holocaust-Überlebende, die im März in ihrer Wohnung ermordet wurde. Auch die jüngsten antisemitischen Übergriffe in Berlin beobachtet Alain Beit mit Sorge. Aktionen wie die Demo „Berlin trägt Kippa”, die am 25. April stattfand, geben ihm aber Hoffnung. Im Internet fand er Fotos von der Veranstaltung. „Es gab muslimische Frauen mit Kippa auf dem Kopf. So ein starkes Symbol, ich fand das großartig. Ich bin nicht sicher, ob eine solche Aktion in Frankreich heutzutage möglich wäre. Das ist schade, denn auch wir brauchen solche starken Symbole.“ < Annabelle Georgen


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