B* Preview Version.

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rau S. 52 Sternekoch Tim Raue über Individualität als Erfolgsrezept. zart S. 26 Frauke van Bevern im Gespräch mit Handwerkskammerpräsidentin Carola Zarth über die Frage, wie golden die Zukunft der Branche ist.

himmlisch S. 40 Mahnmal, Architekturjuwel und Dauerbaustelle:

Warum die Sanierung der Gedächtniskirche für Berlin so wichtig ist.

geerdet S. 31 Der Berliner Speckgürtel dehnt sich aus – weil

­Unternehmens­gründer in Brandenburg beste Voraussetzungen vorfinden.

* das  businessmagazin  der  berliner  volksbank

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Chefetage oder Beletage? Führungskultur neu denken.

frühling| sommer 2020



editorial

Wo geht’s hier zur Chefetage? Unser Businessmagazin B* geht in die zweite Runde, und nach der sehr positiven Resonanz auf die erste Ausgabe haben wir noch eine Schüppe draufgelegt. B* 02 widmet sich nahezu durchgängig dem Thema Führungskultur. Und sie ist vom ersten bis zum letzten Beitrag hochkarätig besetzt: Wir haben Sternekoch Tim Raue, Museumsdirektorin Ortrud Westheider, Handwerkskammerpräsidentin Carola Zarth und viele andere ­Persönlichkeiten gefragt, was gute Führung für sie bedeutet. Auf die sehr unterschiedlichen Antworten können Sie sich wirklich freuen. Doch beantworten wir die Frage erst mal selbst: Für uns als Berliner Volksbank bedeutet moderne Führung, dass Strategie und Kultur nur im Doppelpack zu haben sind. Heißt: Unsere kulturelle Entwicklung treibt strategische ­Prozesse an und umge­ kehrt. Ohnehin findet Kultur laufend statt. Sie beeinflusst den Führungs­s til – und wird beeinflusst von einem erlebbaren Führungsstil. Was ist erlebbare Führung? Erlebbar bedeutet, dass Führung wertschätzend sein muss. Dass Mitarbeiter erfahren: ihre Ideen gelten, ihr Potenzial wird gebraucht. Allein und im Schwarm. Führungskräfte unterstützen sie dabei. Sie vermitteln ­z wischen Vision und Ziel. Leben Werte vor und fordern ein, dass Werte gelebt

Carsten Jung, Vorstandsvorsitzender.

werden. Für uns als Berliner Volksbank ist Führung ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Thema für die Kulturent­ wicklung. Ohne Strategie und Kultur kein wirtschaftlicher Erfolg. Und für den stehen wir als Bank!

von christlichen Werten leiten. Außerdem erzählen drei Unternehmer im Speckgürtel rund um Berlin, warum sie sich in Bran­ denburg optimal entfalten können – gene­ rell steht Brandenburg in dieser Ausgabe stark im Vordergrund.

Den Weg zum Ziel einer modernen Führungskultur gehen die Protagonisten dieser Ausgabe sehr unterschiedlich. Aber alle gehen ihn. Weil Digitalisierung und Globalisierung ein neues Miteinander erfordern. Für Belinda Scott, Geschäftsfüh­ rerin des Unternehmens mirontell, stehen dabei Offenheit und Vertrauen im Vorder­ grund. Für die Intendantin des RBB, Pat­ ricia Schlesinger, ist es Kommunikation. Die Brandenburger Großbäckerfamilie Plentz lässt sich dagegen insbesondere

Chef sein geht heute anders. Lassen Sie sich anregen von vielen Gesprächen mit Persönlichkeiten unserer Region Brandenburg und unserer Stadt Berlin. Sie geben Antworten und vor allem Inspiration! Ihr Carsten Jung

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde in B* auf eine geschlechtsspezifische Personenbezeichnung verzichtet. Selbstverständlich beziehen sich die Angaben auf alle Geschlechter.

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Inhalt

führungskultur neu denken

6 Chef sein heute Wertschätzung, Feedback und alle Türen offen 8 So wollen wir arbeiten! Vorstellungen und Wünsche der Generationen Y und Z

20 Sei mutig! rbb-Intendantin Patricia Schlesinger verrät, wie man einen Sender führt Editorial

auf ein glas mit … unternehmertum

arbeit in zahlen

3 Wo geht’s hier zur Chefetage? Carsten Jung über Etagenwechsel in Unternehmen – und die neue B*

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10 Kultur muss stimmen Experteninterview mit Prof. Dr. Anja Lüthy über moderne Führungsmethoden

12 Alte Werte, neue Wege Zwei branden­ burgische Unter­ nehmen gehen in Veränderungs­prozesse

24 Weibliche Innovativregion Datenvisualisierung zur Arbeit in Berlin und Brandenburg

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26 Goldenes Handwerk? Frauke van Bevern im Gespräch mit Handwerkskammer­­ präsidentin Carola Zarth

31 Reise durch den Speckgürtel Unternehmen wachsen in Berlins Umland hinein


Szenario kulinarik

40 Blaues Wunder Kaiser-WilhelmGedächtniskirche: Berlins Herz als Dauerbaustelle

52 Tim Raue im Interview Geschmack­sfeuer­ werker in Bewegung

gründerszene

kultour

36 Spieltrieb bringt Umsatz Porträt des IngenieurStart-ups FDX

58 Museum Barberini Konzept des erfolg­ reichen Potsdamer Kunsthauses portrÄit

erzähl mahl

46 Textexpertin Petra van Laak Wie Unternehmen zur eigenen Sprache finden

48 Brandenburg rocks Sauerländer Unter­ nehmerin Andrea Widmann lässt in Luckenwalde fertigen

ausblick

38 eRecruiting Super-Match: Wie Jobsuche online funktioniert

kolumne

Aha-Erlebnis

57 Stefan Bielmeier … über das Handwerk als solide Stütze der Wirtschaft

63 Cybersicherheit Wie Unternehmen Daten vor Cyberkriminellen schützen

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kolumne

64 Peter-Pan-Syndrom Holm Friebe über die »Generation Schneeflocke« 65 impressum

66 1 Sekunde …

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Frage eins

Wie geht Chef sein heute? »Culture eats strategy for breakfast.« Es gibt wahrscheinlich nur wenige Führungskräfte, denen dieser Satz des US-amerikanischen Ökonomen Peter Drucker noch nicht begegnet ist. Die beste Strategie trägt nichts zur Produktivität bei, wenn das Miteinander nicht stimmt. Und wer prägt Kultur zuallererst? Die Haltung und das Verhalten des Führungspersonals. text

Olivia Rost Illustration

Jan Siemen

Ein Etagenwechsel vollzieht sich gerade in den Unter­ nehmen: Der einsame Leitwolf verlässt sein Turmzimmer. Statt vertikal runterzuregieren, öffnet er nicht nur seine Bürotür, ­s ondern auch sich selbst in alle Richtungen. Sieht so aus, als passten hermetische Systeme nicht mehr in eine komplexe, global­isierte, d ­ igitalisierte Wirtschaft, in der vor allem Kreativität gefragt ist. Mit Mitarbeitern, die eigenverantwortlich auf Lösungs­ suche gehen. Und mit Teams, in denen in Zukunft auch Künstliche Intelligenzen Teil der Mannschaft sind. Es ist ganz offensichtlich: Im 21. Jahrhundert haben wir nicht mehr die Wahl zwischen alten oder neuen Strategien. Wir müssen ganz neu denken. Schlechte Führung ist Kündigungsgrund Nummer eins in Deutschland. Da drängen sich Unternehmern Fragen an den eigenen Anspruch auf: Fördern wir die Entwicklung von ­Führungskompetenz? Wie messen wir die Leistung von Führungs­ kräften? Sind unsere Werte definiert? Gibt es bei uns FeedbackKultur und Transparenz? Wenn nicht, folgt die Strafe auf dem

nach unten zeigenden Daumen. Der durchdigitalisierte Alltag zeigt alles und teilt alles. Eine gute Führungskultur ist der größte Hebel für S ­ teigerung der Produktivität. Um beim Frühstücksbild zu bleiben: Sie gibt dem Unternehmenskörper Substanz. Ihre Zutaten heißen bei­ spielsweise Offenheit, Wertschätzung, Fehlerkultur, Vermitt­ lung von Sinn, Integration, Reflexion – alles vollwertige Inhalte. Kickertisch und Playstation sind lustig, aber nicht mehr als die Prise Zucker obendrauf. Führung ist nicht mehr das, was sie einmal war. Sie wird es auch nie wieder sein. Wer sich intensiv mit der Zukunft be­schäftigen will, hinterfragt, was selbstverständlich erscheint. Chef sein heißt Vorbild sein, wohlwollender Coach für die Mit­ arbeiter – übrigens aller Generationen von A bis Z. Moderne Leader wollen nicht maßregeln, sondern ihre Leute voranbringen. Genau hier liegt der Unterschied zwischen Unternehmen, die das volle P ­ otenzial ihrer Mitarbeiter ausschöpfen, und Unternehmen, die dieses Potenzial einfach liegen lassen. ¶

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Millennials

Klare Werte mit Mehrwert – Bedürfnisse der Generation Z text

Petra Vollmann fotos

Privat

Digitalisierung, Globalisierung,

Alina Frädert, Jahrgang 1997, kommt gebürtig aus Mainz. Seit einigen Jahren lebt sie in Berlin und studiert dort Wirtschaftspsychologie im 5. Semester. »Die Vorstellung, mein ganzes Leben in einem einzigen Unternehmen zu ver­ bringen, finde ich ehrlich gesagt ziemlich erdrückend. Von Montag bis Freitag täg­ lich acht Stunden in einem Büro sitzen? Zumindest aus heutiger Sicht ist das für mich ebenso undenkbar. Flexible Arbeits­ zeiten sind daher ein Muss. Noch schöner wäre es, wenn ich nach meinem Studium in einem Unternehmen anfangen könnte, das Standorte im Ausland hat. Ich habe ein ganzes Jahr in den Staaten gelebt und gerade erst ein Auslandssemester in Aarhus gemacht. Beweglich zu bleiben ist daher mein oberstes Ziel – das betrifft Geist und Aufenthaltsort gleichermaßen.« ¶

Agilität – das sind die wichtigsten Themen der Arbeit 4.0. Ein Veränderungsprozess, den die Generation Z hautnah erleben und maßgeblich mitgestalten wird. Aber wie ticken die Millennials eigentlich? Was erwarten sie von einem Job? Wie stellen sie sich ihr zukünf­ tiges Berufsleben vor? Wir haben mit einigen von ihnen gesprochen und beruhigt festgestellt: Es gibt jede Menge Gründe, sich auf sie zu freuen!

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Annika Schorcht, Jahrgang 1998, kommt aus Berlin-Lichtenberg und studiert Public und NonprofitManagement in Berlin. »Bezogen auf den Verwaltungsbereich befasst sich mein Studiengang eigentlich exakt mit den Themen von Arbeit 4.0. Es

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geht beispielsweise um Digitalisierung, papierfreies Arbeiten und eine bessere Vernetzung der einzelnen Behörden. Das finde ich spannend, denn nahezu aus­ nahmslos alle Kollegen, die ich gerade bei meinem Praktikum im Amt für Weiterbil­ dung und Kultur kennenlerne, bestätigen: da ist noch viel Luft nach oben. Dabei ist die Verwaltung ein interessanter Arbeit­ geber, der seinem »verstaubten« Image partout nicht gerecht wird. Ich erlebe, dass man sich auf Augenhöhe begegnet und Hierarchien kaum eine Rolle spielen. Das fühlt sich gut für mich an.« ¶

Justus Schneider, Jahrgang 1998, kommt aus Königs Wusterhausen. Er studiert im 5. Semester Humanmedizin in Frankfurt am Main. »Für mich bedeutet Arbeit nicht zuerst Karriere. Viel wichtiger ist es, für sich und die Welt etwas zu erreichen. Mir war schon früh klar, dass ich Arzt werden will, um Menschen zu helfen. Wahrscheinlich, weil es bei uns in der Familie viele Medi­ ziner gibt und ich bereits als Kind Berüh­ rungspunkte mit dem Beruf hatte. Wo ich in zehn Jahren sein will? Da möchte ich mindestens als Oberarzt in einem Kran­ kenhaus arbeiten. Entscheidender als meine Stellung in der Ärzteriege ist aber, dass ich dann Frau und Kinder habe. Die möchte ich einfach gut versorgen können. Das haben meine Eltern schließlich auch getan und dafür bin ich dankbar.« ¶


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Millennials

Lucas Kergel, Jahrgang 1999, kommt aus Bernau bei Berlin. Er macht gerade im Rahmen e ­ ines dualen Studiums seinen Dipl.-Ing. im Bereich Versorgungs- und Umwelttechnik und besucht dazu die Berufsakademie in Glauchau.

Melanie Klingsporn, Jahrgang 1999, kommt aus Wandlitz und hat kürzlich ihre Ausbildung zur Bank­ kauffrau bei der Berliner Volksbank beendet. »Ich finde, man sollte alles daran­ setzen, beruflich wirklich zufrieden zu sein. Nach meiner Ausbildung hätte ich direkt in einer Filiale anfangen können. Allerdings ist mir während der Vertie­ fungsphase, die ich in unserem Bereich Marke und Kommunikation absolviert habe, klar geworden: das möchte ich viel lieber machen. Also habe ich mir ein Herz gefasst und unsere Bereichsleiterin darauf angesprochen. Sie hat mir eine Probewoche angeboten, und nun arbeite ich als ihre Assistentin. Das hört sich jetzt so leicht an, war es aber ganz und gar nicht! In jedem Fall blühe ich gerade richtig auf, und damit hat es sich für mich gelohnt.« ¶

»Ich gehöre zur Generation Z und finde es nur natürlich, dass ich Wert auf einen modern ausgestatteten Arbeitsplatz lege. In meinem Unternehmen habe ich es dies­ bezüglich super getroffen. Ich sitze an zwei Bildschirmen, und wir bekommen Laptops und Smartphones zur Verfügung gestellt. Toll sind auch die Firmen-Events, zu denen manchmal sogar die Familie eingeladen ist. Das schafft Identifikation mit dem Arbeit­ geber, bei dem ich übrigens auch bleiben will. Warum? Ich genieße Vertrauen, erfahre Wertschätzung und habe in vielen Belangen Mitspracherecht. Mein Chef ist jung, und seine Tür steht mir immer offen. Loyalität ist daher Ehrensache!« ¶

Lena Hertel, Jahrgang 1998, kommt aus Mittenwalde und studiert im 3. Semester BWL in Wildau.

wechseln, um karrieremäßig voranzu­ kommen. Ich kann mir aber auch gut vorstellen, in einem eher konservativen Unternehmen anzufangen und dort lange zu bleiben. Vorausgesetzt, der Job macht Spaß, lässt mir genug Freizeit und das Klima stimmt. Wenn ich die Möglichkeit habe, verschiedene Abteilungen zu durch­ laufen, komme ich doch auch weiter. DuzKultur und hippe Benefits tausche ich gern gegen ein bisschen mehr Beständigkeit. Klare Strukturen finde ich absolut nicht unzeitgemäß, im Gegenteil: mir geben sie Sicherheit.« ¶

Josephine Jatzlau, Jahrgang 1997, kommt aus Berlin. Sie hat bereits ihren Bachelor für Medienwissen­ schaften in der Tasche und studiert zur­ zeit Fotografie in Leipzig. »Für mich muss mein Job kreativ und das Betätigungsfeld breit gefächert sein. Schließlich weiß ich doch heute noch gar nicht, wo es morgen hingeht. Wenn ich mich neu erfinden will, möchte ich das jederzeit tun können. Eine Selbst­ ständigkeit passt da gut ins Konzept und erscheint mir sehr erstrebenswert. Zeit­ geist mitgestalten und persönliche Inter­ essen verwirklichen – dafür ist Fotografie ideal. Schön finde ich aber auch, dass ich in unserer schnelllebigen, digitalen Welt mit Spiegelreflex und Dunkelkammer noch handwerklich tätig bin. Das erhöht für mich den Wert meiner Arbeit.« ¶

»Klar ist es heute üblich, den Arbeit­ geber spätestens nach drei Jahren zu

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Experteninterview

»Mitarbeiter als interne Kunden führen« Wertschätzende Vorgesetzte, die gut gelaunt ihre Mitarbeiter zufriedenstellen: Für jüngere Generationen sei dies eine Selbstverständlichkeit, meint Professor Anja Lüthy, Professorin für Dienstleistungsmanagement und -marketing an der TH Brandenburg. Noch aber scheint bei der Bereitschaft, moderne Führungsmethoden

Prof. Dr. Anja Lüthy, Dipl.-Psychologin und Dipl.-Kauffrau (FH).

anzuwenden, ein Riss durch die Generationen zu gehen. text

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TH Brandenburg

Frau Professor Lüthy, wie ticken die Generationen Y und Z, wenn es um Berufswahl und Arbeitsbedingungen geht? Prof.  Dr.  Anja Lüthy Die Generationen Y und Z ticken digital. Das unterscheidet sie sehr von der Nachkriegsgeneration, also den etwa 60- bis 70-Jährigen, die heute noch in den Chefetagen sitzen. Sie unterscheiden sich aber auch von den etwa 55-jährigen Babyboomern, die ich als zumeist wenig einfühlsame digitale Skeptiker bezeichnen würde. Die Jungen freuen sich, wenn bald die Generation X an die Macht kommt, also die ungefähr 40- bis 45-jährigen freundlichen digitalen Experten.

einigen Jahren an oberster Stelle. Dann kommen immaterielle Dinge wie Sinnhaftigkeit der Arbeit, Res­ pekt, Empathie, Nachhaltigkeit und Achtsamkeit.

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Was wünschen sich junge Arbeitnehmer? Ein gutes Teamklima steht als Ergebnis bei empirischen Befragungen seit

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Es war ein schneller, radikaler Wechsel – von der Generation »Praktikum«, die über Jahre unterbezahlte Arbeit leistete, hin zu Berufsanfängern, die hohe Ansprüche an Arbeitgeber stellen. Woran liegt das? Vor ein paar Jahren haben sich Ex­­ perten darangemacht, auszurechnen, wie sich die Demografie entwickelt. Man hat festgestellt, dass spätes­ tens im Jahr 2030, wenn die Baby­ boomer in den Ruhestand gehen, bis zu sechs Millionen Menschen auf dem d ­ eutschen Arbeitsmarkt fehlen werden – weil sich die Deutschen nicht mehr so vermehren.

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Anja Lüthy ist Professorin für die Schwerpunkte Dienstleistungsmanagement und ­-marketing am Fachbereich ­Wirtschaft der Technischen Hochschule ­Brandenburg. Nebenberuflich ist sie als Speakerin, Trainerin und Coach in Gesundheits- und Sozialeinrichtungen bundesweit tätig. Themenfelder sind Unternehmenskultur, generations­ übergreifende Führung, Employer Branding, Personalmarketing, Online Recruiting via Smartphone, Social Media und Apps. Mehr Informationen unter www.luethy.de, Twitter @ ­ A­njaLuethy sowie im Podcast bei Spotify mit dem Titel: Podcast Recruiting Anja Lüthy.


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Experteninterview

Die Kultur muss stimmen, und das Team muss gut zusammenarbeiten. Ein modern gestalteter Arbeitsplatz und reibungslose Kommunikation sind weitere Aspekte. Früher saßen Vorge­ setzte abgeschottet in ihren Büros, heute ist »management by ­walking around« eine gängige Führungs­ technik. Also Vorgesetzte, die gut gelaunt rumlaufen und eben ihre Mit­ arbeiter als interne Kunden kontinu­ ierlich befragen, ihre Ideen aufgreifen und für deren Umsetzung sorgen. B*

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Was zeichnet moderne Führung aus? Welche Eigenschaften sollte man als Führungskraft mitbringen? Da hat sich ein absoluter Wandel voll­ zogen. Bereits 2016 hat eine Studie des Marktforschungsinstituts Gallup belegt, dass mehr als 70 Prozent der Mitarbeiter wegen ihres unmittelbaren Vorgesetzten kündigen. Er kontrolliere sie zu stark, rede nicht mit ihnen auf Augenhöhe und behandle sie nicht so respektvoll, wie man behandelt werden möchte. Kultureller Wandel zeigt sich darin, dass man heute die Mitarbeiter als sogenannte »interne Kunden« des Vorgesetzten betrachtet, der fragt: Was kann ich für dich tun, lieber Mitarbeiter? Welche Rahmen­ bedingungen und personelle Ausstat­ tung brauchst du, damit du zufrieden mit mir, mit deinem Team und mit deinem Arbeitsplatz bist – und zur Höchstform aufläufst? Agile Führung, Führung 4.0 oder New Work sind Schlagworte, unter denen gerade Neues ausprobiert wird. Wie sieht die Praxis aus? New Work heißt unter anderem, Arbeitsplätze aus der Distanz mit den Augen jüngerer Leute zu betrachten.

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Teamkultur und »jeden Tag ein Meeting« – beobachten Sie auch Skepsis seitens der Arbeitnehmer? Sicherlich gibt es Menschen, die sagen, ich arbeite lieber autistisch für mich in meinem Raum und mich geht New Work nichts an. In Gesund­ heitseinrichtungen und bei meinen ­S tudenten an der TH Brandenburg beo­bachte ich jedoch, dass die meisten jungen Menschen heute sehr gerne in Teams zusammenarbeiten. Und Teamarbeit bedeutet, gemeinsam ent­ wickeln, gemeinsam Fehler suchen und gemeinsam diskutieren, wie man die Zukunft bewältigt. Likes müssen sein – auch im Job. Feedback ist wichtiger denn je. Woran liegt das? Ich denke, dass die Eltern der Baby­ boomer ihre Kinder eher nach dem Motto »Nicht getadelt ist genug gelobt« erzogen haben. Daraufhin haben die Babyboomer ihre eigenen Kinder viel­ leicht ein wenig viel, also quasi schon fürs Atmen, gelobt. Sie haben ent­ sprechend selbstbewusste Genera­ tionen Y und Z herangezogen, die in Sachen Anerkennung sehr verwöhnt sind. Ist Kritik noch erlaubt? Ich denke, dass wir heute eher positiv formulieren und nicht viel kritisieren.

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Man sagt vielmehr: »Ich sehe hier noch Potenzial bei Dir« oder »Wie kannst du dir vorstellen, deine Arbeit zu überdenken, damit dieser Fehler nur einmal passiert?« Im Gegensatz zu früher ist lautes Schimpfen von Chefs ein absolutes No-Go. B*

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Klingt so, als würde ein Riss durch die Generationen gehen. Da kann ich nur die Redensart zitieren: »Die Jungen sind schneller, aber die Alten kennen die Abkürzung.« Nach dem Motto »Lang jährige Erfahrung ist durch nichts zu ersetzen« sollten Unternehmen Tandems aus jüngeren und älteren Arbeitnehmern bilden, damit dieser Riss nicht zur Kluft wird. Die Jungen können den Älteren digi­ tales Wissen vermitteln. Die Älteren wiederum können ihr jahrzehntelang erworbenes Fachwissen aus der ana­ logen Welt weitergeben. Bitte ein Ausblick: Wie wird Arbeit in zehn Jahren aussehen? In zehn Jahren wird ganz viel roboter­ unterstützt laufen. Wenn 2030 sechs Millionen Menschen auf dem Arbeits­ markt fehlen, müssen die wenigen, die es noch gibt, unterstützt werden. Das ist keine Bedrohung, sondern eine wirkliche Assistenz. Junge Leute haben auch keine Angst vor Künst­ licher Intelligenz und Robotern, im Gegenteil. Wenn sie im P ­ flegeheim bei­ spielsweise einen 150 Kilo schweren Patienten heben müssen, sind sie froh, wenn das ein Roboter für sie tut. Wenn sie Handtücher in einen Schrank ein­ sortieren müssen, kann das genauso gut ein Roboter mit Greifarm über­ nehmen. Ebenso hilfreich ist die Sprachsteuerung, mit der sich die Pati­ entendaten direkt während der Visite in die Patientenakte eintragen lassen. Da wird sich sicherlich einiges tun in den nächsten zehn Jahren. Und ich freue mich darauf, dies zu erleben. ¶

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Brandenburger Unternehmen

Alte Werte gehen neue Wege Führungskultur ist kein Zustand, sondern ein Prozess – das zeigt der Besuch bei zwei brandenburgischen Unternehmen: Die Traditionsbäckerei Plentz steckt mitten im Generations­wechsel und der Obstsalatproduzent 1

mirontell öffnet sich für neue Organisations- und Arbeitsmethoden. Wie gehen die Unternehmenslenker das an? Was soll bleiben, was darf

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anders werden? Zwei Porträts für Maximilian Schöppner – Bäckermeister und Juniorchef der Bäckerei Plentz. Vielfach für sein Engagement ausgezeichnet: Karl-Dietmar Plentz führt die Bäckerei in Schwante seit 1989. Belinda Scott, Vorstandsvorsitzende der mirontell AG in Großbeeren.

Frühaufsteher.

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Marcel Schwickerath

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Brandenburger Unternehmen

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Um drei Uhr früh weht durch die dunklen Straßen von Schwante der Duft von frisch gebackenem Brot. Während das Dorf schläft, laufen in der Bäckerei Plentz schon seit Stunden die Öfen heiß. Bäcker rollen Teige aus, formen Brote und Bröt­ chen, schieben Bleche mit Kuchen in die Hitze. Sechs Nächte in der Woche die glei­ chen Handgriffe für ein Lebensmittel, das uralt und doch Tag für Tag einzigartig ist. Auch Chef Karl-Dietmar Plentz, sonst eher im Büro zu finden, packt heute mit an: »Die Arbeitszeiten sind herausfordernd«, sagt er, »aber wenn aus Teig ein Brot wird, ist es noch immer ein Glücksmoment.« Karl-Dietmar Plentz führt den 1877 gegründeten Betrieb in vierter Familien­ generation. Als er die Dorfbäckerei kurz vor der Wende 1989 im brandenburgischen Schwante übernahm, arbeitete er mit acht Mitarbeitern. Heute sind es mehr als 160, verteilt auf acht Filialen im Landkreis

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Oberhavel. Vielen Bäckereien geht das Per­ sonal aus – Plentz nicht. Das Unternehmen präsentiert sich auf Facebook, geht in Schulen und verfolgt ein integratives Aus­ bildungskonzept: »Wenn ein Schüler eine Lese- und Rechtschreibschwäche hat, kann er trotzdem ein guter Bäcker sein«, ist KarlDietmar Plentz überzeugt. Führungskultur ist für ihn die Kunst, die Stärken eines Menschen zu fördern und ihm dabei zu helfen, seinen Platz im Leben zu finden. »Wenn es mir gelungen ist, einem Mitar­ beiter in einer schwierigen Lebenssitua­ tion zur Seite zu stehen, zahlt sich das mit einer hohen Loyalität zum Unternehmen aus. Später ist er wieder stark.« mirontell – vom Obst zum Salat Auch auf der südlichen Seite des Berliner Speckgürtels, in Großbeeren, brummt das Geschäft mit Lebensmitteln: Bei der mirontell AG dreht sich alles um

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Früchte, die das Unternehmen zu Obst­ salat verarbeitet. Man findet ihn am Früh­ stücksbuffet in Hotels, beim Mittagessen in Kitas und Seniorenheimen oder im Supermarktregal. Ein Produkt, das eigent­ lich simpel ist, aber gerade daraus seine Qualität zieht. Denn bei Obst ist weniger mehr. Weniger Verarbeitung, weniger Zusätze, das mögen Grossisten und for­ dern Endkunden. »Unsere drei Geheim­ nisse heißen: Hygiene, Hy­gi­ene, Hy­gi­ene«, verrät Produktionslei­ter Robert Leuendorf und vermummt uns mit Kittel, Kopf- und Mundschutz, bevor wir in die Produktion schauen dürfen. In der Verarbeitungshalle ist es fünf Grad kühl. Es riecht frisch und lecker nach Ananas, Melonen, Äpfeln, Trauben. Maschinen schneiden und schälen die Früchte. Streng voneinander getrennt werden sie vorbereitet und zu­letzt in einem Fond aus natürlichen Zu­taten gemischt. →

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Scott. Anders als auf Augenhöhe mit den Mitarbeitern funktioniere Kommunika­ tion für sie nicht. Sie ist davon überzeugt, dass Firmen ohne offenen Führungsstil ­scheitern werden.

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Etwa 20 Mitarbeiter begleiten den Prozess. Alle 30 Minuten wechseln sie ihre Hand­ schuhe, säubern Behälter, Arbeitsflächen und Böden. »Weil wir auf jede Kleinigkeit achten, können wir die Mindesthaltbarkeit des Obstsalates verlängern«, sagt Robert Leuendorf.

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Effiziente Produktion ist sein Ziel: Robert Leuendorf ist Lean-ProductionManager bei mirontell. Sortenrein, handgemischt oder auf eigenen Anlagen zusammengeführt: mirontell verarbeitet unterschiedliche Früchte zu Obstsalaten. Jedes Brot ein Unikat – laut Max Schöppner brauchen Bäcker »Kreativität und zugleich Disziplin, das Produkt immer wieder mit der gleichen Exzellenz herzustellen«.

Diese Produktionssorgfalt ist einer der Gründe, warum das 16 Jahre junge Unternehmen mirontell rasant wächst. Chefin Belinda Scott nutzt den Schwung, um Leitungsstrukturen umzubauen und die interne Kultur zu verändern. Seit zwei Jahren implementiert sie einen ChangeManagement-Prozess in der kleinen AG, deren Vorstandsvorsitzende sie ist. Nach innen aber sieht sie sich eher als Coach. »Wir bauen Hierarchien ab, fördern Team­ arbeit und öffnen Räume«, sagt Belinda

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Bäckermeister mit Auszeichnung Zurück im Dorf Schwante haben die Männer in der Backstube den Kampf gegen die Uhr einmal wieder gewonnen. Brote und Brötchen sind pünktlich in den PlentzFilialen angekommen. Es ist sechs Uhr, und nebenan im Laden verlangen die ersten Frühaufsteher handgedrückte Schrippen – »nah dran an den Ost-Brötchen mit ihrem vollen Geschmack«, sagt Karl-Dietmar Plentz. Einige nehmen ihren Morgenkaffee gleich hier, andere kaufen Kartoffelbrot, Mispelkrapfen oder das 1877er-Sauerteig­ brot, benannt nach dem Gründungsjahr. Für die Backwaren von Plentz reisen M ­ enschen von weither an, etwa im Winter für den Brandenburger Weihnachtsstollen und im Sommer für das Holzofenbrot. Immer frei­ tags und samstags heizt der Bäckermeister dann auf dem Dorfanger den Holzbackofen an und zieht seine historische Bäckerkluft über. »Mein Schwiegervater ist ein Marke­ tinggenie und begnadeter Netzwerker«, sagt Max Schöppner, der als einer von drei Nachfolgern in die Bäckerei einge­ treten ist. Der Seniorchef initiiert Koope­ rationen und soziale Projekte. 2019 ist er mit seinem Buch »Der Brotmacher« auch unter die Autoren gegangen. Er ist unter­ wegs mit einer »Leidenschaft, die andere mitreißt und inspiriert«, so formulierte es Ministerpräsident Dietmar Woidke 2019 in seiner Laudatio zur Vergabe des Verdienst­ ordens des Landes Brandenburg an KarlDietmar Plentz. Ein Jahr zuvor hatte das Unternehmen von Bundespräsident Stein­ meier einen Ausbilderpreis erhalten. Un te r s c h i e d l i c h e Un te r n e h m e n – ­ähnliche Werte Der vielleicht stärkste Antrieb für Karl-Dietmar Plentz sind die Werte, die sein christlicher Glaube ihm vorgeben. Was traditionell klingt, deckt sich mit →


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Ein Familien­ netzwerk pflegt sich nicht von alleine – es bedeutet viel Arbeit und Kompromisse. Max Schöppner

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Die mirontell AG verarbeitet täglich etwa 30 Tonnen Obst. Bestellt der Kunde bis 10 Uhr, verlässt die Ware den Betrieb am selben Tag. Holger Schulze, Generalbevoll­ mächtigter und Vertriebsleiter, arbeitet seit 30 Jahren mit Belinda Scott zusammen. Bäcker sind nachtaktive Geschöpfe: Plentz startet um 22.30 Uhr den Backbetrieb, um 3 Uhr früh kommt die »Spätschicht«.

Erkenntnissen moderner Unternehmens­ psychologie: Wertschätzung, Unter­s tüt­ zung, Sinnfindung – alles Wünsche der »Generation Z«. Unter anderen Vorzeichen liegt die Bäckerei damit gar nicht weit vom Produktionsunternehmen mirontell ent­ fernt. Denn wie für Karl-Dietmar Plentz bedeutet Erfolg auch für Belinda Scott, ihre Mitarbeiter erfolgreich und zufrieden zu machen. Sie ist überzeugt, dass die jungen Generationen hierarchische Regeln nicht mehr befolgen wollen, und setzt statt­ dessen auf Vertrauen, Transparenz und Freiheit. Sind damit alle herkömmlichen Managementmethoden von gestern? Dazu gibt es lebhafte Diskussionen im mirontellLeitungsteam. »Man sollte Teamspieler sein, doch gewisse Hierarchien muss es geben«, klinkt sich Holger Schulze in das Gespräch ein. Er ist Generalbevollmäch­ tigter und Vertriebsleiter und widerspricht in Sachen innovative Führungsmethoden gerne seiner »Firmen-Ehefrau«, wie er Belinda Scott nach 30 Jahren nennt. Für ihn ist es wichtig, Ziele und Geschwin­ digkeit vorzugeben, damit die Leute moti­ viert bleiben, während Belinda Scott aus

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demselben Grund Verantwortung dele­ gieren möchte. »Hierarchien flach zu halten, finde ich klasse, aber mit Freiheit muss man umgehen können«, sagt Holger Schulze, dem dieses Thema in die Biografie eingeschrieben ist: »Der Mauerfall war das größte Geschenk meines Lebens. Das weiß ich unheimlich zu schätzen!« Sein Arbeits­ ethos heißt seitdem: Loslegen und sich richtig reinhängen. Plentz: Verantwortung auf mehreren Schultern In beiden Unternehmen ist zu erken­ ­n en, dass persönliche Er­fahr­u ngen in Führ­u ngs­k ultur hineinspielen – und sie ­m it­u nter auch radikal verändern. »Die Bäckerei Plentz war 140 Jahre lang ein hierarchisch geprägtes Unternehmen. Doch 2015 gab es ein Ereignis, durch das wir umdenken mussten«, erinnert sich Max Schöppner. Damals stieß KarlDietmar Plentz, der Fels, an den sich viele anlehnten, an seine Kraftgrenzen. Stetige Expansion, dauernde Erreichbarkeit und eine Kultur der immer offenen Türen ließen ihn sich fühlen »wie ein Fahrradreifen mit Loch, der aufgepumpt nur für ein kurzes →

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Wegstück reichte«. Nach dem Burnout stellte sich die Familie die Frage: Wie bewahren wir die Essenz unserer Unter­ nehmenskultur – aber nicht mehr nur über einen Menschen? Eine der Maßnahmen war das Einziehen einer Zwischene­ bene mit Team- und Bereichsleitern. Eine andere der Generationswechsel. »Es hat sich ausgezahlt, dass meine Frau und ich uns früher viel Zeit für unsere Kinder genommen und ihnen vorgelebt haben, dass Familie und Betrieb zusammen funk­ tionieren«, sagt der fünffache Familien­ vater. Zwei Schwiegersöhne und die zweitjüngste Tochter ­ü bernehmen jetzt Verantwortung. So bleibt das Unternehmen in Familienhand. Und weil so ein starker Familienfokus mit einem objektiven Blick von außen gesünder ist, leistet sich Plentz sogar einen Coach und Personal­entwickler, der halbtags angestellt ist. Weltoffenheit im Berliner Umland? »Backen und Beten« nennt KarlDietmar Plentz als Leitworte, die seine Familie seit Generationen tragen. Zu seinem christlichen Glauben bekennt er

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sich seit jeher öffentlich und hat dafür schon viel Unverständnis geerntet. Beson­ ders in der DDR eckte er als Jugendlicher an, sodass er nicht studierte, sondern ins Handwerk ging. Im Betrieb jedoch ist Reli­ gionszugehörigkeit kein Einstellungskri­ terium. »Wir haben die Charta der Vielfalt unterschrieben, also dass wir Menschen jeder Rasse, Hautfarbe, Religion, sexueller ­Orientierung beschäftigen und jedem die gleiche Wertschätzung entgegenbringen«, sagt Karl-Dietmar Plentz. Als eine junge Frau aus Kamerun jüngst kündigte, weil sie im Verkaufsraum von Kunden rassistische Anfeindungen erleben musste, bezog das Plentz-Team Position: »Das ist ein Armuts­ zeugnis für unsere Region. Wir werden Hausverbote aussprechen und unser Ver­ kaufspersonal schulen, wie man sich zur Kollegin stellen kann«, erklärt Schöppner und betont, dass die Plentz-Belegschaft Schwerbehinderte, Autisten, Menschen mit Lernbehinderung und M ­ enschen mit Migrationshintergrund umfasst. Diver­ sität ist für das Leitungsteam schüt­ zenswürdig und gehört ausdrücklich zur Unternehmenskultur.

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Diversität in Großbeeren Vielsprachig und bunt ist auch das mehr als 60 Menschen umfassende Team bei mirontell. Weil Kommunikation für Belinda Scott das wichtigste Instrument moderner Führungskultur ist, hat sie ­Tablets mit Sprachprogrammen an ihre Mitarbeiter verteilt. Zur fachlichen Weiter­ entwicklung bietet sie Fortbildungen an und organisiert Lerngemeinschaften. Zudem unterstützt sie alle Projekte, die den Ruf des Unternehmens als Innovati­ onsschmiede weiter stärken. So arbeitet mirontell gemeinsam mit Partnern und Universitäten etwa daran, Obstschalen durch Insekten verwerten zu lassen, um den Bioabfall zu verringern. Ein weiteres Projekt ist die Entwicklung von Mate­ rialalternativen für Kunststoffschalen. Und gerade spitzt die ganze Branche die Ohren in Erwartung eines Verfahrens, das die Haltbarkeit von Erdbeeren verlängert. Schon ein drei Tage längeres Mindest­ haltbarkeitsdatum löst einen Hype aus, erfahren wir. Seitdem interessieren sich bedeutende Grossisten für den kleinen beweglichen Mittelständler aus Groß­ beeren. Jüngster Coup ist die Listung bei Amazon Fresh. Künstliche Intelligenz in der Backstube Mit kurzen, schnellen Entscheidungs­ wegen ist mirontell beweglich genug, den etablierten Obstsalatmarkt aufzumischen. Aber auch, nach innen eine Revolution mit modernen Führungsmethoden zu starten. Einer der stärksten Eindrücke des Unter­ nehmens ist die Ehrlichkeit, mit der die Führungskräfte sich selbst und auch den Veränderungsprozess hinterfragen – und damit nahbar bleiben. Belinda Scott, die häufig zurückhaltend wirkt, wird sehr bestimmt, wenn sie von der Notwendig­ keit einer Unternehmenskultur spricht, die auf Respekt und Fairness basiert. Einige Wochen nach unserem Besuch waren sie und ihr Team nach einem Workshop schon wieder einen Schritt weiter: alle sind per Du, befolgen neue Diskussionsregeln und sind als Mannschaft neu eingeschworen.


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Brandenburger Unternehmen

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Seit 2018 im Change-Prozess: mirontell setzt auf Arbeit in Teams, kontinuier­liche Verbesserungs­ prozesse und eigene Maschinenentwicklung. Handwerk, Technik, Unternehmenskultur: Mitarbeiter auf Augenhöhe und über Be­ziehungen zu führen ist ­Anspruch der Plentz-Familie. Auch Pfann- und Blech­kuchen stellt Plentz in der eigenen Backstube her. Großbäckerei in Familienhand, von links: die Juniorchefs Emelie Albe, Ralph ­Keidel und Max Schöppner. An der rechten Seite: Agnes und ­Karl-Dietmar Plentz.

mirontell ist auf einem Weg, der nicht enden wird – nicht enden darf in einer Wirtschaftswelt, die sich immer schneller verändert. Auch Plentz ist in einem Öffnungs­ prozess, der von Innovationen angetrieben wird. Die neue Generation will das Unter­ nehmen zu einer grünen »Handwerks­ bäckerei 4.0« führen, die transparent, nachhaltig und regional wirtschaftet. »Wir möchten außerdem die Bäckerei digitali­ sieren und Produktionsprozesse mithilfe von Künstlicher Intelligenz erleichtern und optimieren«, sagt Max Schöppner. Auch Karl-Dietmar Plentz sieht die Auf­ gabe von Bäckern nicht mehr darin, die

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Leute satt zu machen. »Wir werden zuneh­ mend zu Orten, an denen Offline-Kommu­ nikation stattfindet. In den märkischen Kleinstädten können wir in der digitali­ sierten Zeit einen Gegenpol bilden.« Ein solcher Ort ist das 2015 im alten Bahnhof Velten eröffnete »Haus des Brotes«. Die Veltener sehen es nicht als irgendeine Bäckerei mit Café – für sie ist es ein Juwel für die Stadt. Karl-Dietmar Plentz fühlte sich geehrt, als ein Kunde nach der Eröffnung sagte: »Hier macht nicht ein weiterer Bäcker auf, sondern es kommt Hoffnung in die Stadt. Wenn man mit jemandem Kaffee trinken geht, wird man nicht streiten.« ¶

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Patricia Schlesinger

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Patricia Schlesinger

»Die Lernkurve war vertikal« Ohne Verpflichtung zum Profit, viele Kreative unter den Mitarbeitern – und zwei

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Bundesländer schauen und hören bei der Arbeit zu: Ein Rundfunksender ist kein Unternehmen wie jedes andere. In der Region weiß das niemand besser als Patricia Schlesinger. Die Journalistin und Moderatorin leitet seit 2016 den Rundfunk Berlin-Brandenburg. Frau Schlesinger, wie führt man eigentlich so einen Sender?

interview

Tim Müßle foto

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rbb/Thorsten Klapsch

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Was können oder sollten Unternehmer von Ihnen lernen, wenn es darum geht, eine große Organisation mit vielen Aufgaben und Mitarbeitern zu leiten? Partricia Schlesinger Ich sehe meine Haupt­ aufgabe darin, klare Ziele zu for­ mulieren und für die notwendige ­Kommunikation nach innen und außen zu sorgen. Dabei gilt immer: Der rbb ist keine One-Woman-Show. B*

Setzt auf Kommunikation und Vertrauen: Die Journalistin Patricia Schlesinger leitet seit 2016 den rbb.

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Was ist für Sie das Wichtigste beim Führen des Senders? Wir geben an der Unternehmensspitze möglichst klare Vorgaben und einen Rahmen vor, den die zuständigen Bereiche füllen sollen und können. Für mich ist dabei die vertrauens­ volle Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen und Kollegen in der Geschäftsleitung des rbb entschei­ dend. Allein kommt niemand von uns weiter, wir brauchen den Austausch mit den nächsten Führungsebenen und natürlich direkt mit den Mitar­ beiterinnen und Mitarbeitern. Durch eine kommunikative Einbahnstraße ist noch kein Projekt erfolgreich ans Ziel gekommen. Das Gleiche gilt auch für den Kontakt nach außen, zu den gesellschaftlichen Institutionen, zur Politik, zu unseren Zuschauerinnen, Hörern, Nutzern. Auf welches Handwerkszeug für Führungskräfte vertrauen Sie, wenn es um Organisation geht? Ich vertraue dem Prinzip der Dele­ gation: In einem so großen Unter­ nehmen mit so vielfältigen Programm­ angeboten und administrativen Auf­g aben ist es unmöglich, jedes Thema persönlich zu verfolgen. Ich weiß, dass meine Kolleginnen und Kollegen »ihre« Themen mit großer Ver­a ntwortung und Sachkenntnis vorantreiben. In diesem Zusammen­ hang: Mut ist für mich eine unver­ zichtbare Eigenschaft für Führungs­ kräfte. Wer nicht mutig entscheiden will, verwaltet nur, aber führt nicht. →

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Patricia Schlesinger

1

Ich will zugleich den direkten Aus­ tausch mit Mitarbeiterinnen und Mit­ arbeitern an der »Basis« nicht missen, deshalb lade ich regelmäßig zu einem Frühstück bei mir ein – dafür können sich alle im Haus bewerben, wir losen dann aus. Gleichzeitig treffen wir Vorkehrungen, dass gute Ideen rund ums Programm oder unsere Abläufe nicht im Gestrüpp der Zuständigkeiten hängen bleiben, sondern ihren Weg zu mir finden. B* S

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verschiebt sich von der linearen Welt in die zeitsouveräne, nicht lineare. Hinzu kommen neue Formen, die den Plattformen des digitalen Zeitalters angemessen sind. Diese Transforma­ tion verlangt von uns zweierlei: Wir müssen erstens die redaktionelle Arbeit und die Produktion stärker ver­ schränken; teilweise gibt es gar keine klaren Trennlinien mehr. Zum andern müssen wir das Neue tun, ohne das Alte zu lassen – und ohne zusätzliche finanzielle Mittel dafür zur Verfügung zu haben. Die jetzt angedachte Erhö­ hung des Rundfunkbeitrags gleicht die Preissteigerungen der vergangenen Jahre knapp aus, aber sie verschafft uns keinerlei Puffer für die Zukunft. Mehr machen mit weniger Geld – das ist eine echte Herausforderung.

Was raten Sie Frauen, die eine Führungsposition anstreben? Seien Sie verwegen und mutig, machen Sie auf sich aufmerksam und suchen Sie sich Verbündete. Sie sind seit Juli 2016 Intendantin des rbb – inwiefern konnten Sie die Struktur des Senders bereits nach Ihren Vorstellungen umbauen bzw. modernisieren? Wir haben den Umbau, der uns in der digitalen Zukunft handlungsfähig und erfolgreich machen soll, gerade erst eingeleitet. Sie erleben das in Ihrem Alltag: Die Mediennutzung

ausgabe 02

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Welche Umstrukturierungen haben Sie noch geplant? Der digitale Umbau wird das gesamte Haus berühren. Konkret beginnen wir in diesen Wochen, auf zwei Stock­ werken in unserem Hochhaus an der Masurenallee ein neues, crossmediales


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Patricia Schlesinger 1

Der rbb entstand 2003 durch die Fusion des Senders Freies Berlin und des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg. Sitz ist in Berlin und Potsdam.

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Der rbb Verwaltungsrat, Intendantin, Rundfunkrat – dazu Programm­direktion, Verwaltungsredaktion, ­angestellte und freie Mitarbeiter, kooperierende Unternehmen: Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) ist eine große ­Organisation mit rund 2.000 ­Mitarbeitern und vielen Hierarchie­ ebenen. Die Führungspositionen sind laut ­Sender zu je 50 Prozent mit ­Frauen und Männern besetzt. In den um­liegenden Unternehmen ist das anders: Laut der Bundesagentur für Arbeit ­waren nur rund 35 Prozent der Führungs­kräfte in B ­ erlin und Brandenburg Frauen. Für die Zukunft stehen dem rbb ­Umwälzungen ins Haus: Der Sender erwartet im Jahr 2020 Erträge von 478,1 Millionen Euro und Auf­ wendungen von 564,8 Millionen Euro. Das ergibt einen Fehlbetrag von 86,7 Millionen Euro. Noch stellen Rück­lagen die Liquidi­tät sicher, diese werden aber laut rbb-Wirtschaftsplan Ende des Jahres verbraucht sein. »Künftig will der Sender 20 Millionen Euro jährlich sparen und den digitalen Umbau bewältigen«, sagte Intendantin P ­ atricia Schlesinger im Januar in Berlin.

Newscenter einzurichten. Das wird das Herz unserer aktuellen, regionalen Berichterstattung, in der Redaktion, Produktion, Plattformsachverständige und Distributionsfachleute gemein­ same Produkte erstellen. Im nächsten Schritt soll am Standort Berlin ein digitales Medienhaus entstehen, in dem wir die Arbeitsweisen, die wir im Newscenter erproben und erlernen, auf weitere Bereiche des Hauses übertragen. B*

S

Sie waren Leiterin des Programmbereiches Kultur und Dokumentation des NDR-Fernsehen. Was mussten Sie als Führungskraft selbst dazulernen, als Sie Intendantin geworden sind? Die Belange der ARD sind stärker in den Fokus gerückt. Zugleich sind die Themenfelder rund um die administ­ rative Führung eines Senders ­natürlich vielfältiger als in einem Programm­ bereich. Ich habe nach meinem ersten Jahr gesagt: Die Lernkurve war nicht exponentiell, sie war vertikal. Ich hatte sehr gute Unterstützung im Haus und im Senderverbund.

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Führungskräfte haben oft eine Vertrauensarbeitszeit im Arbeitsvertrag stehen. Wie viele Stunden arbeiten Sie pro Woche? Ich finde es kokett, wenn Führungs­ kräfte über ihre Arbeitszeit sprechen. Mein Vertrag enthält keine Arbeits­ zeitklauseln; ich fände sie auch unan­ gemessen. Wer viel Verantwortung haben will, sollte bereit sein, sie wahr­zunehmen. Wie gelingt Ihnen eine Work-­ L ifeInte­gra­tion? Wenn ich die Aufgabe als Intendantin nicht auch als »Life« wahrnehmen würde, sondern nur als »Work«, könnte ich sie schwerlich bewältigen. Meine Position ermöglicht mir, außerordent­ liche Menschen näher kennenzulernen und an besonderen Ereignissen teilzu­ haben – das fließt in meine Gesamt­ bilanz ein. Gleichzeitig achte ich darauf, meiner Familie Raum zu geben, das gelingt – aber nur, wenn Sie eine sehr verständnisvolle Familie haben. Sie haben viele Jahre Erfahrung als Führungs­kraft. Aktuell gibt es viele Startups und Gründer in der Region. Welche Tipps oder Erkenntnisse würden Sie diesen gerne mitgeben? Um es mit Udo Lindenberg zu sagen, dessen Werdegang wir gerade im Kino verfolgen konnten: »Mach Dein Ding!« Meiner Erfahrung nach sind Men­ schen am erfolgreichsten und besten, wenn sie im Zentrum ihrer Leiden­ schaften arbeiten. Manchmal bedarf es dabei harter Schnitte und unange­ nehmer Entscheidungen. Sie aufzu­ schieben, macht selten etwas besser. Last but not least: Den eigenen Kom­ pass nicht verlieren, möglichst mit Feedback von Dritten. Wer einen fal­ schen Weg eingeschlagen hat, sollte umkehren können. ¶

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Arbeit in zahlen

Arbeiten in Berlin und Brandenburg — innovativ und weiblich

3.589.000 Einwohner

54,7 %

891 km² Fläche

18,9 % 1,0 % 38.649 1.963.000 Auszubildene Erwerbstätige

13,8 %

Pendler per ÖPNV

67,7 %

Pendler per PKW

680.700 65+

Das Auto ist des Deutschen liebstes Verkehrsmittel zur Arbeit. Selbst der Weg zu Fuß oder mit dem Fahrrad ist beliebter als öffentliche Verkehrsmittel.

17,2 % Pendler per

Fahrrad/Fuß

52,6 % 23,3 % 1,0 % 26.159 Auszubildene

1.299.000 Erwerbstätige

2.468.000 Einwohner

575.900 65+

44,8 Jahre: So ist das Durchschnittsalter in der Metropolregion Berlin-Brandenburg. In Berlin sind die Menschen durchschnittlich 42,6 Jahre alt, in Brandenburg 47 Jahre.

222.766 Brandenburger pendeln zu ihrem Arbeitsplatz in Berlin.

14,6 %

29.654 km² Fläche

10,3 %

Quellen: Bundesamt für Statistik / statista.com / Bundesagentur für Arbeit / Bundesinstitut für Berufsbildung / startupdetector.de. Abweichungen der Daten von 2018 bis 2019 aufgrund von Rundungen.

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88.274 Berliner pendeln zu ihrem Arbeitsplatz in Brandenburg.

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Arbeit in zahlen

192.416

Bei den 2,9 Millionen Führungskräften bundesweit sind Frauen in Führungspositionen mit 22,6 % unterrepräsentiert. Dagegen sind in Brandenburg 28,3 % der leitenden Stellen weiblich besetzt. In Berlin sind es, ebenfalls über dem bundesweiten Durchschnitt von 2018, 25,7 %.

Arbeitsstätten in Berlin

108.707 Arbeitsstätten in Brandenburg

1.821

1.488

Berufe im Verkauf

22,6 %

25,7 %

28,3 %

Bundesweit

Berlin

Brandenburg

Medizinische Fachangestellte

1.266 Berufe in Unternehmensführung

1,6 % aller Unternehmensgründungen in Deutschland sind Start-ups:

und -organisation

Top 3 der beliebtesten Ausbildungsberufe 2019 in Berlin und Brandenburg.

Berlin

1.033 von 64.500 Handelsregistereintragungen in 2019.

Brandenb urg

271 Start-up-Gründungen in Berlin. 179 Start-up-Gründungen in Bayern.

1.248 Maschinen- und Fahrzeugtechnikberufe

31 Start-up-Gründungen in Brandenburg 2019. Hinter Nordrhein-Westfalen, BadenWürttemberg, Hessen, Hamburg und Niedersachsen.

1.212 Berufe im Verkauf

804

Mechatronik-, Energie- und Elektroberufe

Von zehn investierten Euros in Start-ups gehen sechs nach Berlin. Bayern steht mit 2,5 Euros weit dahinter auf Platz 2.

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auf ein glas

mit Carola Zarth

Wie golden ist das Handwerk, Frau Zarth? Die Pan Am Suite im Dachgeschoss des Eden Hauses wurde vor Jahren zusammen

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mit der Pan Am Lounge liebevoll zu neuem Leben erweckt. Originalgetreu ausgestattet mit Möbeln aus den 1960er- und 1970erJahren, bietet sie eine inspirierende Kulisse. Hier, über den Dächern der City West, treffen sich Carola Zarth, Präsidentin der Berliner Handwerkskammer, und Frauke van Bevern, Marketingchefin der Berliner Volksbank, auf ein Glas Wein.

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Till Brauckmann fotos

Marcel Schwickerath 1

Frauke van Bevern

1 Frauke van Bevern (l.) trifft Carola Zarth auf ein Glas Wein in der Pan Am Suite am Breitscheidplatz in Charlottenburg.

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Die Präsidentin der Handwerks­ kammer sieht bedenkliche Tendenzen und großen Handlungsbedarf in Politik und Gesellschaft. Das Handwerk müsse wieder attraktiver gemacht werden, um dem »Fachkräftebedarf«, wie sie es nennt, entgegenzukommen. Ein Gespräch über die Zukunft des Handwerks in der Haupt­ stadt und die Frage, wieso es immer noch so wenige Frauen im Handwerk gibt.

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Frau Zarth, wo stehen wir im Hinblick auf handwerkliche Fachkräfte in Berlin und Brandenburg aus Ihrer Sicht als Präsidentin der Handwerkskammer? Carola Zarth Wie im übrigen Bundes­gebiet haben wir im Handwerk enormen Fachkräftebedarf. vB

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Gibt es Ideen, auf diesen Bedarf zu reagieren? Wir als Bank wären auch dankbar für solche Konzepte. Ich glaube, es sind mehrere Faktoren. Wir müssen das Handwerk für junge Leute wieder interessant machen


auf ein glas

mit Carola Zarth

und darstellen, dass es innovativ und modern ist. In vielen Köpfen herrscht noch immer ein überkommenes Bild vom Handwerksberuf vor. vB

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Dieser Fachkräftebedarf wirkt sich ja zweischneidig aus. Einerseits Vollbeschäftigung in der Branche und prall gefüllte Auftragsbücher, andererseits stagnierendes Wachstum durch den fehlen­d en Nachwuchs. Sieht das Handwerk diese Situation mit einem lachenden und einem weinenden Auge? Wir müssen in der Gesellschaft zu einem Umdenken kommen, das Wachstum wieder ermöglicht. Es ist wichtig, dass die duale Aus­b ildung gegenüber dem Studium als gleich­ wertig anerkannt wird. Es gibt ganz tolle Karrierechancen im Handwerk. Innerhalb relativ kurzer Zeit kann man vom Auszubildenden über den Gesellen zum Meister kommen und sich dann sogar selbstständig machen. Z

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Stichwort »Meister«. Der Meister wird ja einerseits kritisch diskutiert. Und anderer­ seits ist der Begriff wertig besetzt. Ist das ein Thema, an dem man arbeiten muss? Gott sei Dank wurde von der Politik gerade die Rückführung von zwölf Gewerken in die Meister­p flicht be­­ schlossen. Es war ein langes, zähes Verhandeln. Für uns ist klar, dass die Qualität in den Gewerken, die damals aus der Meisterpflicht raus­ gefallen sind, deutlich gelitten hat. Der »Meister« hat mit Ausbildung zu tun, und die ist ein Qualitätskriterium. Frauen in Handwerksberufen ist ein spannendes Thema. Das Handwerk ist noch immer eher männerlastig, oder?

Letztendlich schon. In meiner Branche war für mich Heidi Hetzer immer ein Vorbild. Als ich Anfang der 1980erJahre bei uns im Betrieb anfing, fanden Frauen im Kfz-Bereich gar nicht statt. Das hat sich schon deutlich verändert. Trotzdem haben wir nur 30 ­Prozent Frauenanteil bei den Unternehmer­ innen. Bei den Gesellinnen sind es 25 Prozent, bei den Meisterinnen sind es ungefähr 20 Prozent. Das ist ­definitiv zu wenig.

Außenhandelskauffrau und Kraftfahrzeug­ betriebswirtin unter anderem ­Station bei der Robert Bosch GmbH. Seit 1991 leitet sie selbstständig das elterliche Unternehmen Auto-Elektrik Holtz GmbH & Co. KG. Im von ihr zur gleichen Zeit gegründeten Landesverband der Unternehmer­frauen im Handwerk ist sie heute Ehrenvorsitzende. vB

Z

Carola Zarth leitete schon lange selbstständig den elterlichen Kfz-Betrieb, bevor sie im Sommer 2019 auch Präsi­ dentin der Handwerkskammer wurde. Die gebürtige Berlinerin machte wäh­ rend ihrer Ausbildung zur Groß- und

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Was müsste man aus Ihrer Sicht tun, um mehr Frauen in Handwerksberufe zu bringen? Trauen die sich nicht? Viele verlassen leider das Hand­ werk wieder. Aber es gibt auch einen gegen­läufigen Trend: Frauen, die stu­ diert haben, kommen danach wieder zurück. Es könnte daran liegen, dass sie vorher noch einmal etwas anderes kennenlernen möchten oder dass →

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auf ein glas

mit Carola Zarth

ist. Leider ist insgesamt die Wert­ schätzung des Handwerks gegenüber dem Studium noch immer nicht ange­ messen. Frank-Walter Steinmeier hat es schön formuliert: »Eine Bildungs­ gerechtigkeit wird es in Deutschland nicht erst geben, wenn ein Kind aus einer Arbeiterfamilie ein Studium beginnen kann, sondern wenn ein Kind aus einer Aka­d emiker­familie auch eine Ausbildung beginnen kann.« vB

sie nach der Erfahrung des Studiums doch lieber mit den Händen arbeiten wollen. Tischlerin oder Konditorin sind so typische Berufe. Die Einstel­ lung, dass viele Berufe nichts für Frauen sind, ist insgesamt glücklicher­ weise deutlich rückläufig. vB

Z

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Wurde das Zustandekommen dieses extremen Fachkräftebedarfs aus Ihrer Sicht politisch und gesellschaftlich mit verursacht? Leider ja. Über Jahrzehnte wurde den Kindern eingebläut, es gebe nichts Besseres, als zu studieren. Es amüsiert mich, zu beobachten, wie viele Akade­ miker in den Baumarkt rennen, um am Wochenende mit den Händen arbeiten zu können – weil das so befriedigend

Z

Das kann ich nachvollziehen. Als ich mich nach dem Abitur für eine Ausbildung entschied, wurde ich von meinen Lehrern komisch angesehen: »Du schaffst doch nicht das Abitur, um eine Ausbildung zu beginnen« – »Doch«, habe ich gesagt und dann anschließend noch studiert. Aber zunächst herrschte Befremden über meine Entscheidung.

— Frauke van Bevern studierte nach ihrer Ausbildung zur Werbekauffrau BWL mit Schwerpunkt Marketing und Finanzen in ihrem Geburtsort Münster. Nach ver­ schiedenen Stationen in Kommunikation und strategischer Unternehmens­­e nt­ wicklung begann sie 2005 ihre Karriere in der Genossenschaftlichen Finanz­ gruppe und verantwortet seit 2012 den Bereich Marke und Kommunikation bei der ­Berliner Volksbank. Z

vB

Im Osten Deutschlands war es völlig normal, dass man erst eine Ausbil­ dung macht und dann studiert. Stu­ dium und Ausbildung konkurrieren ja nicht, sie können sich wunderbar ergänzen. Meines Erachtens müssen wir auf diese Einstellung wieder hinarbeiten.

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Welche Auswirkungen haben sozial­ istische Positionen wie Mietendeckel und Enteignungen, mit denen insbesondere hier in Berlin seit einiger Zeit hantiert wird? Erste Immobilienunternehmen gehen auf Abstand zu neuen Investitionen. Merkt man das schon? Im Augenblick haben die Handwerks­ betriebe noch volle Auftragsbücher. Aber es gibt inzwischen zahlreiche Stornierungen von genossenschaft­ lichen Wohnungsbaugesellschaften oder von privaten Vermietern, die sagen, sie legten jetzt erst mal sämt­ liche Aufträge auf Eis – Aufträge, die für die Handwerksfirmen eigentlich schon sicher waren. Es sind alarmie­ rende Zahlen, die uns bereits seit Sommer 2019 erreichen. Das betrifft viele Gewerke aus dem Bau- und Aus­ baugewerbe. Deswegen sage ich seit Monaten: Dieser Stadt hilft nichts anderes als bauen, bauen, bauen. Der Bedarf aber ist doch da und Investitionsbereitschaft auch. Und all das wird gerade weniger? Ja natürlich. Dass der ein oder andere durch solche Ideen und Maß­ nahmen verschreckt wird, ist ja nachzuvollziehen. Es gibt auch viele internationale Investoren, die fragen: »Was ist da bei euch los?« Sie warten jetzt ab, ob sich das Blatt noch mal wendet. Thema der Stunde ist die überbor­ dende Bürokratie. Es ist so ­kompliziert geworden, dass man sich durch einen unglaublichen Wust an Vorschriften arbeiten muss. Das lähmt die Betriebe. Und es wird leider immer schlimmer statt besser.


auf ein glas

mit Carola Zarth

— Carola Zarth zeigt sich, was Signale oder Unterstützung aus der Politik angeht, weitestgehend desillusioniert. Sie sagt, dass sich beispielsweise der französische Präsident Macron über das duale Ausbil­ dungssystem in Deutschland informiert, weil es weltweit einzigartig und ange­ sehen ist. Hierzulande erfahre das Hand­ werk jedoch oftmals nicht die Wertschät­ zung, die ihm eigentlich zusteht.

Wie viele Stunden hat Ihr Arbeitstag eigentlich? Z Ich bin Unternehmerin und Präsi­ dentin der Handwerkskammer Berlin. Es bleibt deswegen leider kaum Zeit, mich anderweitig zu engagieren. Ich bewundere bürgerschaftliches Engagement in Form von Initiativen. vB

Deswegen unterstütze ich sie zumin­ dest durch Mitgliedsbeiträge. Meine beiden Jobs füllen den Tag schon ganz gut aus … und auch den Abend.

Welche Disruptionen oder Umbrüche erwarten Sie? Z Die Umbrüche sind schon da. Das Thema Digitalisierung gewinnt von Jahr zu Jahr an Bedeutung. Dach­ decker arbeiten mit Multicoptern, »Smart Home« ist aus der Sanitärund Klimabranche nicht mehr weg­ zudenken, und Orthopädietechniker nutzen neue digitale Möglichkeiten. Das sind nur wenige Beispiele. vB

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Dafür sind doch sicher hohe Investitionen notwendig, oder?

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Da sind wir dann bei den Banken (lacht).

Darauf wollte ich gar nicht hinaus (lacht). Wenn man sich konjunktur­h emmende Faktoren wie beispielsweise den Mieten­ deckel oder Bürokratie ansieht, dann ist absehbar, dass viele Handwerksunternehmen die notwendigen Investitionen nicht stemmen können, um zukunftsfähig zu bleiben. Welche Hausaufgaben würden Sie als Unternehmerin und als ­Präsidentin der Kammer der Politik gerne in Sachen Handwerk aufgeben? Z Ganz klar das Thema Bürokratieabbau. Der durchschnittliche Handwerks­ betrieb in Berlin hat zehn Mitarbeiter. Für diese Betriebe ist die Bürokratie besonders hinderlich. Das zweite → vB

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auf ein glas

mit Carola Zarth

10 Fragen an …

Carola Zarth im Speed-Small-Talk

Lieblingsgetränk? Das hängt ganz von den Umständen ab.

Welches Buch lesen Sie gerade? »Wiedersehen im Café am Rande der Welt«.

Was wollten Sie als Kind mal werden? Religionslehrerin!

Zeitreise – in welcher Epoche landen Sie? In den 1980er-Jahren, der Zeit der Babyboomer.

Welches ist Ihr nächstes Reiseziel? Vancouver in Kanada. Thema ist, schon Schülern die Fülle an Möglich­keiten in den Handwerks­ berufen nahezubringen. Es fehlen leider Fachlehrer und Materialien für einen regelmäßigen Werkunterricht. Deswegen haben wir bereits vor sechs Jahren den »Berliner Schulpaten« gegründet. Es ist Abend geworden. Die beiden Frauen lassen noch einmal fasziniert die Blicke durch die Pan Am Suite und über die Skyline von Berlin schweifen, bevor sie sich verabschieden. Auf der Budapester Straße trennen sich ihre Wege, und sie ent­ schwinden als schwarze Silhouetten in die funkelnden Lichter des pulsierenden Breit­ scheidplatzes. Aber das ist eine andere Geschichte. ¶ —

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Auf welche Erfindung könnten Sie verzichten? Mikrowelle – ich habe nicht mal eine.

Was beeindruckt Sie am meisten? Bei Menschen ist es Kontinuität.

Ihr Lieblingsort in Berlin? Der Lietzenseepark.

Was treibt Sie an? Ich arbeite gerne, ich bin noch nie ungern zur Arbeit ­gefahren, aus dem gleichen Grund habe ich mich ent­ schieden, Präsidentin der Handwerkskammer zu werden.

Ihre drei Wünsche für die Zukunft? Gesundheit, Gesundheit, Gesundheit.

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unternehmertum

Berliner Speckgürtel

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Wer wachsen will, zieht ins Umland

80 Jahre lang fühlte sich die » ­ Bindfadenhaus en gros Gustav Scharnau GmbH« in Kreuzberg pudel­wohl. Die Firma übersteht zwei Welt­kriege und 28 ­Jahre ­Mauer. Doch nach der W ­ ende wird es zu eng für Geschäfts­führer Matthias Schach: Zu klein sind die Räume, zu wenig ­Tragkraft ­haben die Böden. Schach zieht um. Ein g ­ roßer Teil des Bindfadenhauses geht nach Werneuchen, ins B ­ erliner Umland. Die Region kann P ­ roduktion, das merken immer mehr Firmen. Drei Unternehmer ­erzählen, warum sie im Speck­ gürtel der Hauptstadt neue Standorte eröffnen.

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Der Klassiker: Alleen sind ein unverwechselbares Markenzeichen für das Land Branden­burg. Etwa 8.000 Kilometer der »grünen Tunnel« kann man hier bestaunen.

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Marcel Schwickerath

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unternehmertum

Berliner Speckgürtel

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Wurstgarn, Draht, Bindfäden und Treibriemen: Von der Gründung im Jahr 1914 bis 1962 dreht sich beim Bindfaden­ haus Gustav Scharnau alles um Fäden. Doch die dritte Unternehmergeneration fühlt sich zu mehr berufen. Horst Schach erschließt 1962 ein neues Geschäftsfeld – mit Klebeband. Er macht sein Bindfaden­ haus mit individuell gefertigten Teilen aus selbstklebendem Material zu einem erfolg­ reichen Zulieferer der Industrie. 1989 übernimmt Matthias Schach die Geschäfte, noch ist der Westberliner Markt für Klebeband überschaubar. »Doch von heute auf morgen ist alles anders geworden«, sagt er. Die GmbH baut er von einem reinen Handelsunternehmen zu einem weiterverarbeitenden Betrieb um und bietet individuelle Klebelösungen und Zuliefererteile für die Industrie an.

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»In Brandenburg geht vieles schneller.« Das Problem für das Bindfadenhaus sind nicht die gut laufenden Geschäfte, sondern der Stammsitz in Kreuzberg. Die Räume sind zu klein, und die Böden können die neuen Maschinen nicht tragen, die Matthias Schach anschaffen will. »Die Berliner Mieten wurden immer teurer, und ich hatte das Gefühl, dass wir als Groß­ handel vielen ein Dorn im Auge waren«, erinnert er sich. Also packen Matthias Schach und seine Mitarbeiter ihre Siebensachen und ziehen im November 1994 mit einem Groß­ teil der Firma von Kreuzberg nach Wer­ neuchen, einer Kleinstadt im Landkreis Barnim nordöstlich von Marzahn. Dort kann der Unternehmer Gewerbeflächen kaufen, Gebäude errichten, und er kann endlich die Maschinen anschaffen, die er

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für die neuen Geschäftsfelder braucht. Die Rechnung geht auf. Schach: »Heute machen wir einen größeren Tagesumsatz, als die Firma zu meines Vaters Zeiten im ganzen Monat gemacht hat.« Inzwischen hat das Bindfadenhaus 130 Mitarbeiter und neben dem Standort in Werneuchen einen weiteren in Linden­berg. »In Brandenburg geht vieles schneller«, lobt Matthias Schach, »wir werden dort von der Politik wahr­genommen, man hört uns zu, es gibt viele konstruktive Gespräche.« Jahresentgelt wächst in Brandenburg von 28.000 auf 36.000 Euro Mit der Idee liegt Matthias Schach im Trend. In Brandenburg ist im Jahr 2018 die Zahl der Erwerbstätigen um 1,8 Prozent gestiegen, so stark wie in keinem anderen Bundesland. 2010 gab es 1,08 Millionen


unternehmertum

Berliner Speckgürtel 5

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Erwerbstätige in Brandenburg, 2018 waren es schon 1,2 Millionen. Auch die durch­ schnittliche Jahresbezahlung verbesserte sich im gleichen Zeitraum und wuchs von rund 28.000 auf knapp 36.000 Euro. Im Jahr 2008 gab es noch 1.063 produzie­ rende Unternehmen, 2018 waren es schon 1.266. Sogar der Tourismus legte zu, von 81.000 Betten (2010) auf 85.500 (2018). Selbst der Elektroautohersteller Tesla ist nicht alleine mit seinen Plänen, eine Fabrik im Berliner Umland zu bauen und so rund 8.000 Arbeitsplätze zu schaffen. Auch die BASF überlegt laut TagesspiegelInformationen, ihren Produktionsstandort Schwarzheide (Oberspreewald-Lausitz) für rund eine halbe Milliarde Euro auszubauen und eine Fabrik für Autobatterietechnik zu errichten. Und der US-amerika­n ische Batterie­s pezialist Microvast will eben­ falls ein Werk in Ludwigsfelde bei Berlin auf bauen, wie das Manager Magazin berichtete. Brandenburg kann Produktion. »Der Berliner Ring ist ein sehr dichtes wirt­ schaftliches Netz«, sagt der Unternehmer Jan Burschik, »alle Leistungen, die wir ein­ kaufen, können wir in unmittelbarer Nähe bekommen.« Jan Burschik ist im Vorstand der Gemtec AG, eines Spezialisten für Blechbearbeitung, Schaltschrankbau sowie für Sondermaschinen- und Anlagenbau. Das Unternehmen hat in Königs Wusterhausen im Landkreis Dahme-Spreewald, südöst­ lich von Schönefeld, seine Zentrale auf rund 4.000 Quadratmetern Fläche. Erst kürzlich hat Gemtec weitere 17.000 Quadratmeter erworben – und bleibt Königs Wusterhausen treu. Ende 2021 soll ein Neubau mit Büro- und Fer­ tigungsfläche fertig sein. »Nähe ist ein unschätzbarer Vorteil«, so Jan Burschik. Er beschreibt die Gründe für die Entschei­ dung, der Region treu zu bleiben: »Die Politik in Brandenburg war in den ver­ gangenen 20 Jahren sehr stabil, die mit­ telständischen Unternehmen der Gegend werden motiviert, sich zu entwickeln, →

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Matthias Schach ist seit 1989 Geschäftsführer der Bindfadenhaus Gustav Scharnau GmbH in ­Werneuchen. Individuelle Klebelösungen und Zuliefererteile für die Industrie: In Brandenburg findet das Unternehmen gute Voraussetzungen für seine Produktion. Jan Burschick ist Mitglied des Vorstands der Gemtec AG in Königs Wusterhausen. Gemtec bietet Komplettlösungen nach Kunden­ anforderung. Spezialitäten sind die Blechbearbeitung sowie der Sondermaschinen- und Anlagenbau.

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unternehmertum

Berliner Speckgürtel 1

oft mit Förderprogrammen.« Zugleich lobt der Unternehmer die Logistikanbindung der Region, die nahen Hochschulen, die Bodenpreise und die Bodenständigkeit der Menschen. »Geschichte steht aufseiten des Ostens« Mit der Haltung ist Burschik nicht alleine: »Ich glaube, dass die Geschichte heute aufseiten des Ostens steht«, sagte der damalige Ostbeauftragte der Bundes­ regierung, Christian Hirte (CDU), in einem Interview mit der »Welt«. Im Gegensatz zu vielen westdeutschen Zentren gebe es im Osten »bezahlbaren Wohnraum, ein großes Angebot an Kultur und fantastische Landschaften«. Das Berliner Umland kann des­ halb nicht nur bei Gewerbetreibenden punkten, sondern auch bei ihren Mitarbei­ tern. Gerade für Berliner ist das Umland attraktiv: Neun von zehn Menschen, die ins Umland ziehen, kommen aus der Hauptstadt, hat die Berliner Senatsverwal­ tung festgestellt. Vor allem Familien und ­Senioren zieht es in den Speckgürtel. Sie tauschen unter anderem Natur gegen Frei­ zeitmöglichkeiten ein und nehmen dafür längere Pendlerstrecken in Kauf. Mittler­ weile wird sogar der sogenannte »zweite Ring« mit Städten wie Jüterborg, Neu­ ruppin, Eberswalde oder Luckenwalde attraktiver. Das Umland bietet vielen Unter­ nehmen Luft zum freien Atmen. »In Berlin schießen die Mieten in den Himmel«, das weiß auch Nils Clausen, Geschäftsführer der Containermanufaktur, einer Gesell­ schaft für modulare Seecontainerbauten. Aktuell bereitet Clausen den Umzug seines Unternehmens vor. Von Köpenick

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Nils Clausen, Chef der Containermanu­faktur (Mitte), fertigt mit seinen Mitarbeitern modulare Seecontainerbauten.

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15.000 Quadratmeter Platz: Im branden­ burgischen Rüdersdorf entsteht zurzeit der neue Standort der Containermanufaktur. Der Umbau von Schiffscontainern zu ­Pausenoder Gastrocontainern erfolgt fast ausschließlich in Handarbeit.

geht es mit dem ganzen Betrieb, mit der Produktion, dem Büro und dem Lager, nach Rüdersdorf, östlich von Berlin. Der neue Standort ist mit 15.000 Quadrat­ metern fünfmal so groß wie der alte. Nils Clausen entschied sich für Bran­ denburg, weil er ein Gewerbegrundstück »zu einem vernünftigen Preis« kaufen wollte. Aber: »Das hat auch mit Arbeits­ kräften und Lieferanten zu tun.« Die Nähe zu Polen wirke sich günstig auf die Suche nach Fachkräften aus. Die Container­ manufaktur baut Schiffscontainer um – zu Pausen- oder Gastrocontainern, zu Blick­ fängen für Marketingaktionen, Messe­ ständen oder zu winzigen Häusern, soge­ nannten »Tiny Houses«. Erwünscht und willkommen Für Nils Clausen zählen nicht nur handfeste wirtschaftliche Vorteile, son­ dern auch das Gefühl, erwünscht und

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willkommen zu sein. »Die Region ist offen für Gewerbe, das habe ich ansonsten selten erlebt«, beschreibt der Unternehmer, »die Gemeinde kümmert sich um uns, auch der Landrat hat sich echt eingebracht.« Seine Mitarbeiter nimmt Nils Clausen mit ins Umland. Auf der Weihnachtsfeier 2018 habe er den Umzug angekündigt, und jeder freue sich nun auf den neuen Standort. Um von Köpenick nach Rüders­ dorf zu ziehen, packen Clausen und seine Leute alles in – natürlich: ­Container. Die ganze Firma passt in wenige der 20 × 40 Fuß (das sind 6,096 m ×  12,192 m) großen Con­ tainer, da die Manufaktur fast alles in Handarbeit macht und keine g ­ rößeren Maschinen braucht. Im Sommer 2020 soll der Umzug unter Dach und Fach sein. Nils Clausen: »Auch Dank der Gemeinde Rüdersdorf und der Berliner Volksbank. Wir gehen den Weg gemeinsam.« ¶


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Berliner SpeckgĂźrtel 3

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Gründerszene

FDX Fluid Dynamix GmbH

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New Leadership: Wenn der Spieltrieb Umsatz bringt

Bernhard Bobusch, Oliver Krüger und Jens Wintering haben vieles gemeinsam. Sie sind Ingenieure, im Besitz eines Doktortitels, und sie haben die FDX Fluid Dynamix GmbH in Berlin gegründet. Fragt man sie danach, was sie als junge Inge­ nieure über Mitarbeiterführung lernen mussten, brechen alle drei gleichzeitig in Gelächter aus. Sie lachen, weil die Antwort lautet: »Alles.« Und ihr Lernprozess fing früh an. »Bereits während der Promotion hatten wir studentische Hilfskräfte«, erinnert sich Bernhard Bobusch, »da gibt es unter­ schiedliche Charaktere, die man unter­ schiedlich anleiten muss.« Der eine brauche eine priorisierte To-do­-Liste, und ein Vorgesetzter müsse nur darauf achten, dass der Blick auch über den Tellerrand gehe. Der andere pro­ biere mit seinem Spieltrieb alles aus – und

Weniger Wasser verbrauchen und trotzdem gleich gut reinigen – das bietet das Berliner Ingenieur-Start-up FDX mit seiner patentierten Düse. Zugleich stellen die drei Gründer fest, dass das Prinzip »weniger bringt mehr« oft auch bei der modernen Führung von Mitarbeitern funktioniert. Weniger Befehlston bringt mehr Kreativität, mehr Sinn, mehr Zufriedenheit – und damit mehr Umsatz. text

Tim Müßle Fotos

Marcel Schwickerath

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Gründerszene

FDX Fluid Dynamix GmbH

die Führung bestehe vor allem darin, ihn zur Dokumentation anzuhalten, was über­ haupt ausprobiert wurde. Schwingender Strahl ohne bewegliche Teile Bernhard Bobusch und Oliver Krüger haben am Fachgebiet für Experimentelle Strömungsmechanik promoviert, Jens Wintering im Institut für Werkzeugma­ schinen und Fabrikbetrieb (alles an der TU Berlin). Dort lernten sie sich kennen und entwickelten eine gemeinsame Idee: eine Düse, die einen schwingenden Strahl erzeugt. Ganz ohne Strom oder bewegliche Teile. Bislang bekamen die drei Gründer drei Patente auf die Idee. Ihre Kunden kommen international aus vielen Branchen: Garten­ geräte, Landwirtschaft, Reinigung, Brand­ schutz, Energie, Automobilzulieferer. Die drei Ingenieure haben ihre GmbH im Mai 2015 gegründet, und schon seit den ersten Tagen verkaufen sie auch ihre Düsen. 2017 startete die Serienproduktion. Zehn feste Mitarbeiter hat die FDX GmbH, hinzu kommen sieben Studenten und Aushilfs­ kräfte. Die meisten sind Ingenieure. Sinn schlägt Geld Für den modernen Arbeitnehmer geht es nicht vordergründig um Geld, sondern darum, eine Arbeit zu verrichten, in der er Sinn erkennt. Arbeit soll eher Freude machen als besonders viel Geld ein­ bringen. Das sagt der Arbeitspsychologe Peter Fischer von der Uni Regensburg. Ge­rade Arbeitnehmer aus der »Generation Y« stellen demnach die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Vordergrund. Ein gutes, kollegiales Arbeitsklima, flache Hie­ rarchien und Führungskräfte als Mentoren werden laut Fischer zunehmend wichtig. Arbeitnehmer erheben mehr und mehr Ansprüche an Unternehmen in Bezug auf flexible Arbeitszeitmodelle, Autonomie und Selbstbestimmung. Bernhard Bobusch: »Wir suchen natür­ lich Mitarbeiter, die Interesse haben. Die neugierig sind, eigene Ideen mitbringen

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Spielen selber gerne: Die ­Gründer von FDX (von links): Oliver Krüger, Bernhard ­Bobusch und Jens Wintering. Düsen im Qualitätstest – FDX hat sich der Strömungsoptimierung verschrieben.

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und über den Tellerrand blicken. Wir haben in unserem Unternehmen unsere eigene Kultur etabliert, und Eigenverantwort­ lichkeit gehört hier zu den wichtigsten Aspekten.« Einen autoritären Führungs­stil lehnen sie ab, das ­funktioniere nur in der Küche oder auf dem Bau. »Es kommt auf die Art der Arbeit an«, ergänzt Jens Win­ tering, »bei uns geht es ja mehr um das ­K reative. Unsere Leute sind auch nicht austauschbar, wir haben einen Haufen von Generalisten, da ist es schwer, eiskalt Auf­ gaben zuzuweisen.« Keine Vorbilder: Google & Co. Dabei zählen Silicon-Valley-Unter­ nehmen wie Google oder Facebook gerade eben nicht zu den Vorbildern der drei Gründer. »Google ist kein Vorbild«, sagt Bernhard Bobusch, »Unternehmen dieser Art bieten ihren Mitarbeitern zwar alles,

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was diese zum Leben brauchen. Aber das machen die nur, damit die Beschäftigten möglichst lange arbeiten. Dieses Konzept klingt nicht so fair.« Bei FDX geben die Führungskräfte ein Thema vor, und wie ein Mitarbeiter dieses bearbeitet, bleibt ihm selbst überlassen. Den einen Ingenieur bringt der Spieltrieb zu Ergebnissen, den anderen die akribi­ sche Vorgehensweise. Eigenverantwor­ tung ist der Schlüssel. Trotz aller Freiräume kommt das Thema Kontrolle nicht zu kurz. »Wir wissen ja, wie lange welcher Arbeitsschritt dauert«, sagt Bernhard Bobusch, »wir drei Gründer machen die Arbeiten ja auch alle selbst.« Und so geht das Konzept betriebswirt­ schaftlich auf: 2018 machte die FDX GmbH rund eine Dreiviertelmillion Euro Umsatz, 2020 sind über eine Million Euro angepeilt – der Break Even Point. ¶

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Ausblick

Online Recruiting

Algorithmus statt Bauchgefühl? Dieses Internet mit seinen Algorithmen, es

Studienorientierung, also auch mit dem eRecruiting. Darüber hinaus entwickelt er mit seinem Unternehmen »Cyquest« soge­ nanntes »Recruitainment«. Die Wortkomposition aus »Entertain­ ment« und »Recruiting« erklärt sich beinahe von selbst: Dabei handelt es sich um spielerische Elemente, die neue Bewerber ansprechen sollen. Bei einem Einzelhandelsunternehmen können potenzielle Mitarbeiter zum Beispiel virtuell eine Kundin beim Kauf einer Hose beraten. Bei einer großen Airline, die einige Dut­ zend Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten anbietet, können Bewerber spielerisch herausfinden, welcher Beruf zu ihnen passt. »Matching« ist das Stichwort – die Jobsuche funktioniert online wie die Partnersuche: Neben der fachlichen Eignung können Bewerber und Unternehmen prüfen, ob sie auch gemeinsame Werte und Normen haben.

bestimmt unser Leben – wie wir einkaufen, wie wir Musik hören, wie wir lieben. Natürlich macht es auch vor unserer Arbeitswelt keinen Halt. Bewerber stehen vor einer Revolution. Unternehmen erst recht. Schon heute gilt: Die klassische Bewerbungsmappe gibt es noch, sie stirbt aber aus. Das hat gute Gründe. text

Julia Reichler Illustration

Dirk Uhlenbrock

Schon mit der Hilfe von Online-Formularen, die bereits seit einigen Jahren zum Einsatz kommen, können Unternehmen ein­ gegangene Bewerbungen unmittelbar nach vorab bestimmten Kriterien filtern und so eine erste Vorauswahl treffen. »Da gibt es allerdings sehr viel Schund und schlechte Systeme«, schränkt Joachim Diercks ein. Diercks beschäftigt sich in seinem Blog mit neuen Verfahren oder Plattformen zum Thema Berufs- und

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Recruiting Games Spielend in den neuen Job – das ist weniger trivial, als es sich im ersten Moment anhört. Hinter den Tools stecken wissen­ schaftlich fundierte Persönlichkeitstests. Wenn das amerikani­ sche Unternehmen »Pymetrics« in so einem Spiel Bewerber per Mausklick Luftballons aufblasen lässt, dann hat das einen guten Grund. Je größer der Ballon, desto mehr Geld. Platzt er, ist alles verloren. »Pymetrics« möchte damit die Risikobereitschaft ermit­ teln. In einem anderen Spiel sollen sie die Emotionen aus Foto­ grafien von Gesichtern ablesen. Was am Ende richtig oder falsch

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Ausblick

Online Recruiting

ist, entscheidet das Unternehmen, das den neuen Mitarbeiter sucht – je nach Einsatzgebiet und Art der vakanten Stelle. »Das Internet schneidet sich Scheibchen für Scheibchen vom Bewer­ bungsprozess ab«, sagt Joachim Diercks. Stimme verrät die Persönlichkeit Eine andere Idee verfolgen die Programmierer der Software »Precire«, eines deutschen Start-ups aus Aachen. Sie arbeiten mit Stimmanalyse. Bewerber geben ein rund fünfzehnminütiges Telefon­interview, in dem sie auf Fragen antworten wie: »Wie sieht für Sie ein perfekter Sonntag aus?« Aus Wortwahl, Stimmlage und Satzbau erstellt der Algorithmus ein Persönlichkeitsprofil. Aus Amerika, einem Land, in dem Anti-Diskriminierung über Daten­ schutz steht, kommt eine Software, die in Bewerbungsvideos nicht nur die Sprache, sondern gleich auch Gestik und Mimik der Bewerber mit der von erfolgreichen Mitarbeitern in ähnlicher Position im Unternehmen vergleicht. Allerdings: Mal abgesehen von der Frage, ob so eine Software ethisch tragbar ist, wirft sie in Deutschland vor allem rechtliche Fragen hinsichtlich des Daten­ schutzes auf. Auch die methodische Qualität wurde von verschie­ denen Wissenschaftlern infrage gestellt. Es ist also nicht alles Gold, was Künstliche Intelligenz ist, und dennoch gibt es Vorteile: Übernimmt sie das zeitintensive Aussieben der ungeeigneten Bewerber, spart das Unternehmen Geld. Außerdem gehen Algorithmen vorurteilsfrei an die Arbeit. Geschlecht, Alter, Nationalität – all das interessiert sie nicht, so ein beliebtes Argument. Wirklich? Einprogrammierte Diskriminierung Am Ende arbeitet der Algorithmus nur so gut, wie seine Datengrundlage ist. Woher soll er zum Beispiel wissen, dass

auch Frauen hervorragend Software entwickeln können, wenn in einem Unternehmen vergleichbare Stellen überwiegend von Männern besetzt sind? So geschehen beim Online-Versand­ handel Amazon. Bereits 2014 hatte das Unternehmen in den USA eine Software entwickelt, die mithilfe von Künstlicher Intelligenz eingegangene Bewerbungen sortieren sollte. »Wenn eine Software aufgrund der Datenlage davon ausgeht, dass zum Beispiel weiße Männer zwischen 30 und 40 mit IT-Hintergrund im Unternehmen am erfolgreichsten sind, dann siebt diese Software Frauen in der Regel aus«, sagt Joachim Diercks. Die ­A lgorithmen von Amazon hätten sich so schnell entwickelt, dass man diese Lernschritte nicht mehr rückgängig machen konnte. »Ein eindrucksvolles Beispiel, in welche Richtung es gehen kann«. 2018 musste Amazon die Software abschalten. »Man sollte sich die Freiräume nehmen, sich mit den Men­ schen zu befassen«, resümiert Diercks daher. Und: »Unter­ nehmen können sich einen Vorteil verschaffen, wenn sie auf ethische Prinzipien beim Einsatz von algorithmischen Ent­ scheidungssystemen besonderes Augenmerk legen.« Die große ­H erausforderung wird darin liegen, die Künstliche Intelligenz diskriminierungsfrei zu trainieren. Und dann? Stirbt der menschliche Kontakt im Bewer­ bungsverfahren nach und nach aus? Wahrscheinlich nicht. Denn neben all den technischen Möglichkeiten gibt es mit den Generationen Y und Z noch einen weiteren wichtigen Trend im Arbeitsleben: Sinnhaftigkeit. Die Menschen wollen nicht mehr nur ihr Geld verdienen, sondern einen Sinn in dem finden, womit sie dies tun, und die eigenen Werte im Unternehmen wiederfinden. Wer lässt sich da schon gern von einem Roboter einstellen? ¶

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Szenario

Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche

Architektur, Einkehr und Verirrung Mitten in der Herzkammer des alten West-Berlin, umgeben von Hotels, Shoppingmeilen, Märkten und Touristen steht eine der bedeutendsten Kirchen der Welt. Ihre Geschichte ist in jeder Hinsicht einzig­artig. Ihre Gegenwart auch: Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche ist eine Dauerbaustelle. Sie muss für mehrere Millionen Euro komplett saniert werden. Martin Germer kümmert sich darum – und um alles andere. Eigentlich ist er Pfarrer. text

Till Brauckmann Fotos

Marcel Schwickerath

Sie steht da als Symbol und Mahnmal zugleich für die traurige ältere, aber auch jüngere Vergangenheit – Ruine und architekto­ nische Inkunabel zugleich. Vor ihrer Neuerrichtung ab 1959 hoch umstritten, ist sie inzwischen eines der Berliner liebsten Kinder. Der »hohle Zahn« ist aus dem Stadtbild der Berliner City West nicht mehr wegzudenken. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche gehört zu den be­deu­ tendsten Sakralbauten auf dem Globus. Jährlich besuchen rund 1,3 Millionen Menschen aus aller Welt das Gebäudeensemble 1

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Szenario

Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche

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Pfarrer Martin Germer steht in der alten Trumruine vor dem sanierungs­bedürftigen, eingerüsteten Glockenturm des be­rühmten Architekten Prof. Egon Eiermann. Die Kaiser-Wilhelm-GedächtnisKirche liegt mitten im Zentrum der City West am geschichtsträchtigen Breitscheidplatz. Wie im U-Boot: Der Aufgang zum Inneren des Glockenturms liegt versteckt hinter einem Vorhang im Eine-Welt-Laden …

4 … und führt durch eine riesige Stahlröhre ins Innere.

auf dem Breitscheidplatz. Seit 2010 ist die Kirche eine Baustelle und der Glockenturm kurzzeitig eine mit zahlreichen Plakaten behängte, überdimensionierte Litfasssäule. Zugleich findet hier aktives evangelisches Gemeindeleben statt. Neben seiner Kollegin Kathrin Oxen ist Martin Germer der amtierende Pfarrer. Er hat mit der Verwaltung und den Be­mühungen um die Sanierung der Kirche alle Hände voll zu tun. Doch wenn es um die Kirche, ihre Architektur, ihre Geschichte und Bedeutung geht, leuchten seine Augen, und ein breites Lachen wandert über sein Gesicht. »Ich selbst genieße es sehr, mit Be­suchern hierherzu­ kommen. Glücklicherweise passiert das relativ häufig.« Ruhe inmitten des Zentrums Insgesamt handelt es sich bei der Kaiser-Wilhelm-GedächtnisKirche um einen Komplex aus fünf Gebäuden, wobei die alte Turm­ ruine zentrales Element geblieben ist. Ringsherum sind die neue Kirche mit angeschlossenem Foyerbau, der freistehende neue Glocken­t urm und die Gemeindekapelle angeordnet. Es ist eine Premiumlage, denn der Breitscheidplatz ist beliebtes Touristenziel. Hier zwischen Bikini Berlin und Hotels, dem Zoopalast mit seinen internationalen Premierenfeiern und der Shoppingmeile am Kur­ fürstendamm herrscht das ganze Jahr über Trubel. Und im Winter ist rings um die Kirche Weihnachtsmarkt. Inmitten dieses urbanen Zentrums ruht das Gebäude­ ensemble aus Turmruine und Neubau des Spitzenarchitekten Egon Eiermann. Seit Jahren versuchen Martin Germer und seine ehren­ amtlichen Mitstreiter, die Mittel für die notwendige Sanierung aufzutreiben. Dafür wurde sogar das Gerüst am Glockenturm ein

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halbes Jahr lang vollständig mit Werbung bespannt. Die Überle­ gungen für eine Sanierung und teilweise neue Konzepte liegen vor. So könnten Erweiterungen für Besucher und eine gastronomi­ sche Nutzung leer stehender Räumlichkeiten zukünftig die wie­ derkehrenden Sanierungsaufwände an der Fassade zumindest mitfinanzieren. Ein anderer Blick auf Berlin Die Sonne scheint und Pfarrer Martin Germer schließt eine kleine Seitentür an der alten Turmruine auf. Eine winzige stei­ nerne Wendeltreppe führt hinauf auf einen Umlauf ca. 15 Meter unterhalb des Glockenspiels. Hier, in 20 Metern Höhe, der »Ber­ liner Traufhöhe«, wie Germer kommentiert, bietet sich eine völlig andere Perspektive auf die Kirche, den Breitscheidplatz und die umliegende Stadtlandschaft. »Eine Erschließung dieser Ebene mit Fahrstuhl und Aussichtsplattform würde Einnahmen →

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Szenario

Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche

durch Touristen ermöglichen. Und eine Aufstockung des kleinen Museums lichtete die Enge im darunterliegenden Ausstellungs­ raum«, erklärt Martin Germer voller Enthusiasmus. Nirgends sonst ist man zudem der Außenfassade des neuen Glockenturmes so nah. Es wird deutlich, wie dringend die Sanierung des Neubaus ist. Das Gerüst verhindert, dass herunterfallende Abplatzungen der maroden Betonelemente Passanten verletzen. Armierungs­ eisen liegen offen, und allenthalben sind Risse im Beton sichtbar. Im Bauch des Glockenturms Der fast 54 Meter hohe Glockenturm ist das auffälligste Ele­ ment des Kirchenneubaus von Architekt Egon Eiermann. Er steht unmittelbar neben der Turmruine. Martin Germer betritt den EineWelt-Laden im Erdgeschoss. Es riecht nach Räucherstäbchen. Zwei freundliche Damen verkaufen hier Handgestricktes, Gebatiktes, Stoffe und Kleidung. Die Neonbeleuchtung kann die fehlenden Fenster nicht ersetzen. Vor einer Wand mitten im Raum zieht Pfarrer Germer einen Vorhang beiseite. Eine Öffnung kommt zum Vorschein, die in das Innere des Turms führt – ein dunkler, röh­ renförmiger Treppenkern aus Stahl. Hier erinnert es eher an einen Leuchtturm oder ein U-Boot als an einen Kirchenbau. Das befremd­ liche Licht, das von oben durch ein Loch in dieser Röhre schim­ mert, lässt erahnen, was kommt. Über eine kleine Leiter gelangt man von oben auf die Betondecke des kleinen Lädchens und steht plötzlich vor einer einmaligen Kulisse. Die bunten Dickglas­ scherben des Glaskünstlers Gabriel Loire aus Chartres leuchten und funkeln intensiv in allen Farben und tauchen den hohen Raum in ein unwirkliches, fast magisches Blau-Violett. Das Tageslicht fällt von außen durch die bunten Glaselemente. Das überwiegende Ultramarinblau wechselt sich ab mit roten und gelben Farbtupfern. »La paix et la joie« zitiert der Pfarrer das Farbkonzept des fran­ zösischen Glaskünstlers, »Der Friede und die Freude … der nahe­ liegende deutsche ›Eierkuchen‹ wird der Sache wohl nicht ganz gerecht«, fügt Pfarrer Germer lächelnd hinzu. Paradoxien des Denkmalschutzes »In der Glockenstube über uns befindet sich das größte und schönste Geläut Berlins«, erläutert Martin Germer. Den Stolz darauf sieht man ihm an. Ein Speisfass auf dem Boden ist angefüllt mit Schutt. »Das sind alles abgeplatzte oder abgeschlagene Beton­ teile der Fassade«, erklärt er. »Das hier ist nur eines von mehreren solcher Fässer. Es mahnt die dringend erforderlichen Sanierungs­ maßnahmen an.« Verschiedene Faktoren verzögern die seit 2014 geplanten Sanierungsbemühungen. Nicht nur unzureichende finanzielle Mittel machen dem sympathischen Geistlichen zu schaffen. Auch der Denkmalschutz erschwert die Reparaturen. »Wenn wir jetzt alle Betonfertigteile komplett mit Edelstahlarmierung erneuern könnten, dann würde es das Problem des abplatzenden Betons → Der Innenraum des Glockenturms wird durch durch das Farbenspiel in ein Licht von atemberaubender Schönheit getaucht.

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Szenario

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nicht mehr geben. Aber der Denkmalschutz legt natürlich großen Wert auf die Erhaltung der Originalsubstanz. Hier sind wir in guten Gesprächen, um einen sinnvollen Kompromiss zu finden.« Daneben erhöhe sich der Investitionsbedarf durch den fortschrei­ tenden Verfall von Jahr zu Jahr. Aber Martin Germer ist dennoch zuversichtlich: »Auch da, wo wir zur Erweiterung unserer Gedenk­ ausstellung und zur Ermöglichung auf Touristen ausgerichteter Citykirchenarbeit gewisse bauliche Veränderungen brauchen, sind wir mit den Behörden in gutem Gespräch.« Dieses Mal wird nicht nur die Fassade aller Gebäude gerei­ nigt und der Beton repariert. Die von außen mittlerweile grau ver­ krusteten Glaselemente – über 5.000 allein beim Glockenturm – sollen ausgebaut und alle einzeln sorgfältig gereinigt und repariert werden und der Beton seine Rostschutzwirkung zurückerhalten. Die Stahlskelettkonstruktion, an der die filigranen Betonwaben­ elemente aufgehängt sind, trägt auch die innen liegende Fassa­ denbeleuchtung. »Da haben wir Pech gehabt. Fast ein Drittel der LED-Strahler ist schon defekt. Das sanieren wir dann gleich mit«, sagt Martin Germer. Zusätzlich wird der Bodenbelag des gesamten Podestes, auf dem die Sakralbauten am Breitscheidplatz stehen, im ursprüng­ lichen Erscheinungsbild wiederhergestellt. Zigtausende eigens gebrannter Tonscheiben kommen hierfür zum Einsatz. Germer gibt zu bedenken: »Alles Sonderanfertigungen, und es gibt nur wenige, die das überhaupt anbieten.« Wunden des Anschlags heilen Der Breitscheidplatz hat durch den Terroranschlag im Dezember 2016 leider auch traurige Berühmtheit erlangt. Auf das Besucherverhalten hat sich dieses Ereignis indes nicht ausge­ wirkt. Jedoch, fügt Martin Germer hinzu, begleite dieses Thema ihn und seine Kollegen seitdem ständig. In regelmäßigen Ver­ anstaltungen wird der Opfer des Anschlags gedacht. »In einem kleinen Nebenamt bin ich noch Seelsorger für die Schausteller des alljährlichen Weihnachtsmarktes. Auch bei den Angehörigen der Todesopfer und den vielen Verletzten, Zeugen und Helfern ist dieser Ort noch sehr präsent«, sagt der gebürtige Würzburger. »Die alte Turmruine und der goldene Riss (Mahnmal für Terroropfer vom Breitscheidplatz, Anm. d. Red.) sind Zeugnisse von Gewalt und schrecklicher menschlicher Verirrung.« Dennoch ist Germer der Überzeugung, dass die Symbolik der Kirche als Friedens­ mahnmal stärker ist als die des Anschlags. Und so könnte die Sanierung auch für eine »Reparatur« dessen stehen, was im Dezember 2016 an Zerstörung angerichtet wurde. Wenn die Kirche in neuem Glanz erstrahlt, gelingt es vielleicht, auch ein neues Licht in die dunklen Kapitel der Vergangenheit zu bringen, die immer im Gedächtnis behalten werden. ¶

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Obwohl am trubeligen Breitscheidplatz gelegen, herrscht durch die Doppelglasfassade im Kirchenraum kontemplative Stille. Martin Germer liebt seine Arbeit leidenschaftlich, auch wenn es eigentlich mehrere Jobs gleichzeitig sind.


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die Gemeinde im Blick. Gleichzeitig kann ich auf eine Wandfläche schauen, die in der Vormittagssonne besonders schön ist. Auch der Innenraum des Glockenturms fasziniert mich immer wieder. Und ich bin gerne oben auf dem alten Turm.

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»Stille – und eine besondere Aura« interview

Olivia Rost Fotos

Marcel Schwickerath

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Herr Germer, 1,3 Millionen Menschen besuchen die Gedächtniskirche pro Jahr. Was finden sie hier? Pfarrer Germer Die Stille und die beson­ dere Aura dieses Raumes mit seinen leuchtenden Wänden spricht viele Menschen an. Manche erleben das religiös oder spirituell. Andere würden diese Begriffe nicht verwenden und tauchen einfach gerne in diese Atmo­ sphäre ein. Wieder andere beschäftigt die Beziehung der neoromanischen zur modernen Architektur. Und allen Besuchern, denen Frieden und Gerech­ tigkeit wichtig sind, kann dieser Ort viel erzählen. B*

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Abtauchen ins Blau – ein Gespräch mit Martin

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Germer, Pfarrer der Gedächtniskirche, über einen Ort, der Besuchern viel erzählen kann.

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Ist es eine Kirche für die Berlinerinnen und Berliner geblieben – trotz der vielen Touristen? Auf jeden Fall. Wir haben insbeson­ dere die Aufgabe, diese Kirche mit ihrer zentralen Bedeutung mit Leben zu füllen. An den Wochentagen gibt es mittags und abends Kurzgottesdienste und am Sonntag morgens und abends große Gottesdienste. Sehr gut besucht sind unsere Bach-Kantate-Gottes­ dienste am Sonnabend, da sind dann 450 bis 600 Leute aus ganz Berlin und natürlich auch Touristen in der Kirche. Das gibt es in dieser Regelmäßigkeit vielleicht nur noch in Leipzig in der Thomaskirche. Welche sind denn Ihre Lieblingsorte hier in der Kirche? Es gibt tatsächlich einen Ort, der auch ein bisschen exklusiv ist, das ist der Stuhl neben der Kanzel. Da sitze ich während des Gottesdienstes und habe

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Viele Menschen kommen, um Ruhe zu finden und weniger wegen religiöser Inhalte. Was denken Sie darüber? Aus einer Untersuchung geht hervor, dass die religiöse Aktivität vieler Men­ schen darin besteht, während des Urlaubs Kirchen zu besuchen. In der Freiheit der Ferien können sie Räume wie diesen auf sich wirken lassen. Insofern können wir Menschen etwas bieten, was sie suchen. Ob der Ein­ zelne das für sich selber als religiös bezeichnet oder als kulturelles Inter­ esse, ist manchmal ja nur eine Frage, welchen Namen ich der Sache gebe. Was sind Ihre persönlichen Glücksmomente als Pfarrer dieser Gemeinde? Ich bin sehr glücklich, wenn ich hier einen schönen Gottesdienst erlebe und spüre, ich habe den richtigen Ton getroffen. Auch bei einer Predigt meiner Kollegin kann dieses Glück entstehen. Es kann Musik sein, bei­ spielsweise haben wir die Jazz-Reihe »In Spirit«. Das klingt hier wunderbar. Glück ist auch, wenn ich im Gespräch mit einem Menschen merke, dass für ihn diese Kirche ein wichtiger und schöner Ort ist. Was kann eine Kirche, was andere Räume nicht können? Die Christusfigur über dem Altar mit ihren segnenden ausgebreiteten Armen und Händen spricht viele Men­ schen an, jenseits ihres Glaubens. Das findet man eben nur in einem Gottes­ haus. Solch einen Raum baut man als nichts anderes – so baut man nur eine Kirche. Jedenfalls wenn man so genial ist wie Egon Eiermann. ¶

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p o r t r ät

Petra van Laak

Warum gute Kommunikation kein Zufall ist Wer zu Petra van Laak kommt, weiß bereits, dass eventuell etwas anbrennt. Glücklicherweise nur in Sachen Kommunikation. Meist ist die Unternehmenssprache veraltet, zu kompliziert oder erfüllt aus anderen Gründen nicht ihren Zweck. Aber wo liegt der eigentlich? Und ist das wirklich so wichtig? Fragt man die Berliner Unternehmerin, wird sie wahrscheinlich antworten, dass es spätestens bei Formulierungen wie »Wir challengen Nachhaltigkeitsratings kontinuierlich« dringenden Handlungsbedarf gibt. Schließlich muss jede Form der Kundenansprache in erster Linie eins können: verständlich sein! text

Petra Vollmann Foto

Karoline Wolf

»Solche komplizierten Wortkonstruk­ tionen kursieren nicht selten in Unter­ nehmen«, erzählt Petra van Laak. »Zu­dem ist das, was sich Unternehmenskommuni­ kation nennt, oft ein bunter Mix aus ver­ schiedenen Stilen, der sich über die Jahre angesammelt hat. In unserer Agentur merken wir allerdings, dass immer mehr Entscheiderinnen und Entscheider der­­-

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P o r t r ät

Petra van Laak

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Was macht eigentlich ­einen guten Text aus? Verständlichkeit Ein Hauptsatz reicht ­meistens. Na gut, noch ein Nebensatz dazu geht auch. Benutzen Sie F ­ remdwörter nur, wenn es ­wirklich sein muss. Klarer Aufbau Achten Sie auf eine sinn­volle, nachvollziehbare Struktur. Unterteilen Sie Ihren Text durch Absätze und e ­ ventuell Zwischenüberschriften. Natürlichkeit Schreiben Sie so, wie Sie bei einem Plausch mit dem Nachbarn sprechen würden. Die gesprochene Sprache ist ein gutes Vorbild für lebendiges Formulieren. Empathie Versetzen Sie sich in den Kopf oder die Gedankenwelt der Leserinnen und Leser. Auch hochtechnische oder juristische Texte werden von Menschen gelesen.

artige Zu­stände erkennen und nachhaltig verändern wollen. Ein guter Trend, denn ­Produkte und Dienstleistungen sind immer vergleichbarer geworden. Alleinstellungs­ merkmale sind gefragt, und die entstehen nicht mehr nur über Logo und Design, son­ dern auch über die Sprache.« Wer seine Kommunikation vor diesem Hintergrund rundum erneuern will, ist bei der Agentur Text: van Laak an der rich­ tigen Adresse. Petra van Laak gründete ihr Unternehmen 2008. Heute gibt es fünf Festangestellte und ein eingeschworenes zehnköpfiges Freelancerteam, das sich aus

weiteren Storytelling-Spezialisten, Wort­ akrobaten und Ziel­g ruppenverstehern zu­s ammensetzt. Während des Auf baus der Agentur hat die Chefin kurzerhand noch ein berufsbegleitendes Studium absolviert, wurde als Vorbildunterneh­ merin ausgezeichnet und räumte einige der begehrtesten Text-Awards ab. Mitt­ lerweile ist ihr Know-how auch als Ref­ er­e ntin und Autorin schwer gefragt. »Clever texten fürs Web«, im Dudenverlag erschienen, ist eines ihrer erfolgreichen Fachbücher. Sie tüftelt gerade an dem Konzept für eine KI-gestützte CorporateLanguage-Software – und dann sind da noch ihre vier erwachsenen Kinder. Ganzheitlich kommunizieren »Hätte ich damals bei der Gründung nicht das Okay meiner Kinder gehabt, wäre ich den Weg nie gegangen«, betont sie. »Natürlich waren sie manchmal nicht be­g eistert, aber sie haben mich immer unter­s tützt. Dafür bin ich unglaublich dank­bar. Alle vier haben sich zu wunder­ baren Erwachsenen entwickelt, auf die ich enorm stolz bin. Manchmal erzähle ich so viel über meine Kinder, dass ich Freunde damit ganz schön nerve. Mutterliebe eben – da müssen sie durch«, lacht die sym­ pathische Berlinerin. Woher sie die Kraft für ihre ganzen Aktivitäten nimmt? »Es ist doch herrlich, dazu beizutragen, dass sich empathische Kommunikation verbreitet«, antwortet sie, ohne nachzudenken. »Für mich war es daher auch nur logisch, diesen Ansatz Schritt für Schritt strategisch weiterzuent­ wickeln.« In ihrem Fall hieß das: weg vom reinen Text, hin zu ganzheitlichen Kom­ munikationskonzepten für Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen. Wie wollen wir klingen? »Auftraggeberinnen und Auftrag­ geber, die diesen Weg mit uns beschreiten, sind veränderungsfreudig und wissen, dass man eine neue Sprache fürs Unter­ nehmen nicht mal eben aus dem Hut

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zaubert. Wo hapert es mit der derzeitigen Kommunikation? Wie wollen wir klingen? Was passt zu uns? Das sind wichtige Fragen, die wir am Anfang klären, damit wir griffige Empfehlungen zur neuen Aus­ richtung machen können. Anschließend gibt es eine gründliche Textinventur. Wir schauen uns alles an, was bis dato kommu­ niziert wurde. E-Mails, Newsletter, Presse­ mitteilungen, Anzeigentexte, Fachbeiträge, sogar Abwesenheitsnotizen – wir nehmen alles unter die Lupe, was Buchstaben hat. Zusätzlich übrigens auch das, was tele­ fonisch oder direkt im Kunden- oder Mit­ arbeiterkontakt gesprochen wird. Nach dem Sammeln geht’s ans Priorisieren, das heißt, wir legen fest, was am dringendsten auf die neue Kommunikationsschiene gebracht werden muss und was eine eher untergeordnete Rolle spielt. Erst dann beginnt der eigentliche Texterjob für uns«, erklärt Petra van Laak. Dass diese Arbeit Spaß macht, kann man sich vorstellen. »Das Schönste ist, wenn eine neue Sprache im Unternehmen durchsickert und sich Erleichterung breit­ macht«, freut sich die Unternehmerin. Damit meint sie zum Beispiel den beherzten Entschluss der Berliner Volksbank, ein stark regulatorisches Thema für Kunden text­ lich völlig anders anzugehen. Der Leser bekommt nun vorneweg die Info: »Liebe Kundin, lieber Kunde, eigentlich würden wir gerne schreiben ›Wir räumen Ihnen einen Dispo ein‹. Das dürfen wir aber so nicht formulieren. Also kommt jetzt der Text, den das XY-Gesetz leider vor­ schreibt.« Und dann folgt der Gesetzes­ text hintendran oder auf der Rückseite des Briefes. Die Kern-Info ist aber sofort verständlich, und das ganze Zeug, was sowieso keiner liest, ist – rechtlich sicher – auch dabei. »Das ist kundenfreundlich, pragmatisch und entlastet beide Seiten«, konstatiert Petra van Laak. »Aus ­solchen Lösungen ziehe ich zwei Schlüsse: Sprache kann eine fantastische, empathische Wir­ kung entfalten, und ich darf dem tollsten Beruf der Welt nachgehen!« ¶

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erzähl mahl

Caroline Toffel trifft Andrea Widmann

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Von West nach Ost – was führt Sie nach Brandenburg, Frau Widmann? Brandenburg zieht an – auch Unternehmen vom anderen Ende der Republik. Seit 1991 produziert in Luckenwalde ein Tochter­unter­ nehmen von ECO Schulte aus Menden im Sauerland. Was macht Brandenburg und Berlin für Unternehmer attraktiv? Und warum ist der Mittelstand eine so wichtige Säule unserer Gesellschaft? Das fragt Dr. Caroline Toffel, Vorstandsmitglied der Berliner Volksbank, die E ­ COGeschäfts­führerin Andrea Widmann – bei aus­gezeich­net­em Essen: Unsere Reihe »Erzähl Mahl« startet in der Brasserie Colette Tim Raue. text

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Dr. Caroline Toffel (l.) im ­Gespräch mit Andrea Widmann in der Brasserie Colette Tim Raue in Berlin.

Bänder und Schlösser. Dazu Panikund Verriegelungstechnik, ebenso wie Automatikantriebe samt der alles vernetzenden Elektronik. Was tun diese Produkte? – Im Brandfall öffnen unsere Systeme die Tür selbsttätig, beispielsweise im Kino. In Paniksi­ tuationen reicht es, wenn ein Kind vor der Tür liegt, und sie öffnet sich automatisch. Ein Schlüsselerlebnis für meinen Vater war ein Bombenan­ schlag 1980 im Bahnhof Bologna, bei dem viele Menschen sterben mussten, weil sie nicht aus dem Gebäude her­ auskamen. So entstanden bei uns Sys­ teme rund um die Tür für Privathäuser und Objekte, die wir gemeinsam mit den Türherstellern anbieten. Unser Motto: Kontrolliert rein – immer sicher raus.

Geschmackvolle Küche und stil­volles Interieur: Tim Raue ist Namens- und Konzeptgeber der Brasserie Colette in der Passauer Straße, vis-à-vis des KaDeWe. Französische Brasserieküche im neuen Gewand: Die Gerichte überraschen mit dem Raue-typischen Zusammenspiel aus Süße, Säure und Schärfe.

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Frau Widmann, Sie führen ein Unternehmen für Türfunktionssysteme mit Hauptsitz im Sauerland. Mancher wird sich fragen: Was hat das mit Berlin und Brandenburg zu tun? Erzählen Sie mal … Andrea Widmann Wir sind seit mehr als zwei Jahrzehnten eng mit Berlin und Branden­b urg verbunden. Noch vor der Wende war mein Vater durch einen IHK-Vortrag auf Berlin als Produktions­s tandort aufmerksam geworden. Damals wurden Unter­ nehmer dazu aufgerufen, die Stadt in ihrer speziellen Nachkriegssitua­ tion als Gewerbe­zentrum zu stärken. Mein Vater nahm dann Kontakt zum damaligen Bürgermeister auf, und 1988 gründeten wir unseren ersten Pro­ duktionsstandort in Wedding an der Bernauer Straße.

Gewerbegebiete zur Eigennutzung und empfahl, die neuen Bundesländer zu stärken. Auch dieser Verantwor­ tung haben wir uns gestellt – zuerst in Elsterwerder und dann ab 1991 in Luckenwalde wohin wir den Produk­ tionsbereich Türschließsysteme ver­ lagert haben.

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Kurz darauf kam der Mauerfall – und stellte Sie vor eine neue Situation? Ja, danach beanspruchte Berlin immer stärker die vorhandenen

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Warum fiel die Wahl auf Luckenwalde? Luckenwalde war immer schon ein Zentrum der Beschlagindustrie. Der Standort ist optimal, denn wir sind sowohl nah an Berlin, dem politi­ schen Herz Europas, als auch an den umliegenden Regionen, die von hoher Investitionsbereitschaft des Gewerbes geprägt sind. Türschließsysteme – was kann ich mir als Laie darunter vorstellen? Vorweg: wir produzieren keine Türen, sondern wir machen die Tür funkti­ onsfähig und sicher. Unser Sortiment umfasst Türschließer, Beschläge,

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Mit Ihrer Ausbildung hätten Sie Karriere in München oder New York machen können. Stand es für Sie immer fest, ins elterliche Unternehmen im Sauerland einzusteigen? Wir sind seit den 1920er-Jahren ein Familienunternehmen – in bester Konsequenz. Die Firma war immer Bestandteil des Familienlebens, schon als Jugendliche haben wir entweder am Fließband oder in der Logistik und später dann in der Verwaltung mitgearbeitet. Nach dem BWL-Stu­ dium habe ich zweieinhalb Jahre als Wirtschaftsprüfungsassistentin bei PricewaterhouseCoopers gearbeitet und im Anschluss Erfahrungen im Controlling bei einem großen Produk­ tionsunternehmen gesammelt. Für mich stand immer fest, zuerst andere Unternehmen kennenzulernen, aber irgendwann zurückzugehen. Das Ganze funktionierte allerdings nur, weil ich einen Mann kennenlernte, der als Urbayer bereit war, mitzu­ kommen. Der Vorteil war, dass er sich als Rechtsanwalt im Sauerland selbst­ ständig machen konnte. Und auch für mich ließen sich Familie und Arbeit →

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in der Selbstständigkeit als Unterneh­ merin gut vereinbaren. T

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Erst mal raus in die Welt gehen – haben das Ihre Eltern unterstützt? Welche Werte haben sie Ihnen vermittelt? Unsere Eltern vermittelten uns vor allem Sicherheit und Vertrauen. Wir lebten ein sehr intensives Familienleben, aber irgendwann kam der Moment, raus zu gehen und internationale Erfahrungen zu sammeln. Während meines BWLStudiums in Köln habe ich diverse Aus­ landspraktika gemacht, unter anderem ein halbes Jahr bei JPMorgan in New York. Dort bin ich richtig erwachsen geworden. Ich lernte, mich in einer fremden Kultur durchzusetzen und kos­ mopolitisch zu denken. Wie würden Sie Ihren Führungsstil be­schreiben? Haben Sie eine Leitlinie? Die Werte unserer Eltern, also Sicher­ heit und Vertrauen, leiten auch meine Brüder und mich. Ich lege viel Wert auf Präsenz und auf eine gute Kom­ munikation – eine Kommunikation der »offenen Tür«. Ich möchte das Verständnis der Mitarbeiter für die strategische Ausrichtung des Unter­ nehmens fördern und ihnen V ­ ertrauen in die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze geben. Durch Transparenz in den Strukturen, in der Organisation und bei den Prozessen setze ich dies um. Am wichtigsten ist mir, dass alle gemeinsam brennen für das, was wir tun! Nicht umsonst handeln wir nach dem Aristoteles-Satz »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«. Durch das Zusammenspiel von Men­ schen, Bereichen und Produkten kommen wir zu einem guten Ergebnis, das definitiv mehr darstellt als die Summe seiner Teile. Ihre Familie hat seit bald 100 Jahren das Unternehmen aufgestellt, bewahrt und entwickelt. Warum nützen Familienunternehmen der Gesellschaft?

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Vor Kurzem war Alt-Bundespräsident Gauck bei uns im Unternehmen im Sauerland. Er betonte die zentrale Bedeutung von Familienunternehmen in Deutschland. Die Inhaber über­ nehmen Verantwortung in der Gesell­ schaft, sie stellen Arbeitsplätze zur Verfügung, und sie engagieren sich bei vielen regionalen Themen, die von der Verwaltung und Politik allein nicht gesteuert werden können, etwa die Unterstützung von gemeinnützigen Organisationen von Vereinen und Ver­ anstaltungen. Herr Gauck sagte, dass er Vergleichbares in der DDR sehr vermisst hätte.

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Fühlen Sie sich, ähnlich wie Ihr Vater, auch stark verbunden mit Berlin? Was macht die Beziehung zu »uns« in Berlin und Brandenburg heute aus? Für mich ist Berlin wunderbar dyna­ misch, multikulturell und international. In diesem Sinne unterstützt unsere Familie das Europäische Jugendparla­ ment, das jungen Menschen eine inter­ nationale Plattform bietet, um europa­ politische Themen zu diskutieren und Kontakte mit Europäern zu knüpfen. Mit Berlin verbindet mich natürlich auch die Berliner Volksbank, wo ich mir als Mitglied der Vertreterversamm­ lung und des Industrieausschusses ein Netzwerk schaffen konnte, das geschäftlich für uns interessante Kon­ takte bietet.

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Eine Skulptur vor Ihrem Standort Menden symbolisiert den Fall der Mauer. 2020 feiern wir 30 Jahre Wiedervereinigung. Was bedeutet Ihnen dieses Jubiläum mit Blick auf die Entwicklungen in Europa? Die vom polnischen Künstler Darius Kowalski aufgestellte Skulptur mit dem Titel »Ein Zeichen des Friedens und der Freiheit (und der Demo­ kratie)« enthält ein Stück der Berliner Mauer. Sie symbolisiert den Mauerfall und die anschließende europäische

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Entwicklung. Der Fall der Mauer trennte eine Vergangenheit der Unter­ drückung von einer Zukunft in Frei­ heit und Demokratie. Ein weltoffenes und kompromissbereites Europa, ver­ bunden mit Freiheit und Demokratie, ist aus meiner Sicht der wichtigste Grundpfeiler für Frieden, Sicherheit und Vertrauen in unserem Land. ¶

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Das 1926 gegründete Unternehmen ECO Schulte ist einer der führenden Anbieter in den Bereichen Sicherheit, Brandschutz und Fluchtwegsicherung mit weltweit 600 Mitarbeitern und Tochterfirmen in Österreich, Polen, Frankreich, Dänemark und China. Zum Produktportfolio gehören Standardschlösser genauso wie komplexe Panikverriegelungssysteme für Flughäfen, Großprojekte oder Hotels. Die Produkte haben Designpreise wie den iF Award, Red Dot Design Award und German Design Award erhalten. Andrea Widmann leitet gemeinsam mit ihren Brüdern Heinz Schulte und Tobias Schulte das Unternehmen. Sie ist als geschäftsführende Gesellschafterin verantwortlich für den kaufmännischen Bereich der ECO Unternehmensgruppe.

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Restaurant Tim Raue

Vocal House in der Sterneküche 16. Januar 2020. Tim Raue signiert in seinem Büro ein Exemplar seines Buches »My Way«. Heute um die Mittagszeit ist eine der raren Gelegenheiten, ihn zu sprechen. Sein Arbeitstag hat 16 Stunden, mit Small Talk mag er sich nicht aufhalten. Eine Stunde später wird er wieder in der Küche seines »Restaurants Tim Raue« stehen, für den Abend kochen und das Team vorbereiten. Zwischen Büro und Küche ein Gespräch über Geschmack, Genuss und Großmutters Rezepturen. interview

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Herr Raue, Sie haben mal gesagt: Ich koche, wie ich bin. Was heißt das? Tim Raue Ich bin laut. Ich bin facetten­ reich, mit Ecken und Kanten. Für mich bedeutet Essen Spaß. Wenn ich es mit Musik vergleiche: Wir zelebrieren hier keine klassische, feingeistige Musik, wir sind eher Vocal House mit Disco Speed, mit Freude und Bewegung. Das leben wir durch das ganze Restaurant.

isst du immer noch Königsberger Klopse. Gerade arbeiten wir an einer Schweinskopfsülze und an Forelle Mül­ lerin. Es sind Gerichte, mit denen wir groß geworden sind. In Berlin können Sie alles essen, aber gucken Sie mal nach einer ordentlichen Schweins­ haxe, nach Buletten, nach einem Fal­ schen Hasen. Das fehlt mir. Ich hatte Glück, dass Günther Jauch mit der Villa Kellermann ähnliche Ideen hatte. Er möchte ein Restaurant haben, das für nahezu alle Menschen da ist. Es ist schön, solche Konzepte realisieren und in die Nischen grätschen zu können, die ich besetzen möchte.

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Was reizt Sie an der asiatisch inspirierten Küche? Ich habe Anfang der 2000er-Jahre Asien für mich entdeckt. Hauptsäch­ lich in Singapur, einem Meltingpot mit vietnamesischer, thailändischer, tai­ wanesischer Küche und allen chine­ sischen Regionalküchen. Wir kennen ja hier nur Schwein süßsauer in der räudigen Variante. Dort lernte ich die puristische kantonesische Hochküche und die sehr scharfen Sichuan- und Hunan-Küchen kennen. Ich erlebte den japanischen Produktperfektionismus und das Süßsauerscharfe der thailän­ dischen Küche. Ein Geschmacksfeu­ erwerk, das knallt und ballert. Das alles hat mich beeinflusst. 2007 habe ich dann nach ersten großen Erfolgen diese sehr eigenständige Küche ent­ wickelt, die Sie hier im Restaurant Tim Raue erleben können. Ganz andere Geschmackserlebnisse erleben Besucher in Potsdam in der 2019 neu eröffneten Villa Kellermann mit Berliner und Brandenburger Küche. Einige Gerichte sind von Ihrer Großmutter geprägt. Was haben Sie von ihr gelernt? In der Villa Kellermann serviere ich Köngisberger Klopse wieder so auf dem Teller, dass es aussieht, als wäre es von Oma gekocht – allerdings geschmacklich und technisch der heutigen Zeit angepasst. Das Ganze etwas entschlackt und eleganter, die Saucen eher auf meiner Idee der asi­ atischen Saucen basierend. Und doch

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Ihre Großmutter war auch in anderer Hinsicht in einer nicht ganz einfachen Kindheit für Sie prägend. Hat Sie Ihnen die Kräfte verliehen, mit denen Sie so weit gekommen sind? Der Schlüssel liegt bei meinen Groß­ eltern. Meine Großmutter hat gekocht, mein Großvater hat mir die preußi­ schen Tugenden weitergegeben: Dis­ ziplin, Ordnung, Sauberkeit. Er ist heute 97 Jahre alt, und es ist schön mit ihm darüber zu sprechen, was er und meine Großmutter bewirkt haben. Am Anfang meiner Teenagerzeit wusste ich nicht, wo ich hingehöre, und musste für mich rausfinden, wer bin ich, wo komme ich her. Und was ist Ihre Antwort auf die Frage an sich selbst, wo Sie herkommen? Zuallererst bin ich Kreuzberger, dann Berliner und Preuße. Ich kann nicht unbedingt sagen, dass ich mich als Deutscher fühle. Ich bin sehr regional verortet. Irgendwann müssen Sie dann Ihre Leidenschaft fürs Kochen entdeckt haben … Spät, so mit Mitte 20. Vorher war es ein Job. Meine Ausbildung zum Koch machte ich in einer Ausflugsbutze. Nach zwei Jahren habe ich gewechselt und wusste, dass ich immer weitermöchte.

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Zur Person Tim Raue wurde 1974 in Berlin geboren. Nach seiner Ausbildung arbeitete er in verschiedenen Spitzenrestaurants und erhielt 2002 seinen ersten MichelinStern im Restaurant 44 im Swissôtel. 2010 eröffnete Tim Raue in Berlin an der Rudi-Dutschke-Straße das Restaurant TIM RAUE, das heute mit 2 Sternen und 19,5 von 20 möglichen Gault & Millau-Punkten sowie mit dem Titel »Restaurant des Jahres 2019« vom »Feinschmecker« ausgezeichnet ist. Seit 2016 belegt es einen Platz auf der Liste der World’s 50 Best Restaurants. Tim Raue ist der bislang einzige deutsche Koch, dem die Kochdokuserie Chef’s Table auf Netflix eine eigene Folge gewidmet hat. Als kulinarischer Berater betreut er außerdem die Brasserie Colette Tim Raue in München, Konstanz und Berlin und die Villa Kellermann in Potsdam. 2016 entstand das asiatische Restaurantkonzept HANAMI by Tim Raue auf der TUI Mein Schiff 5, das inzwischen auf drei weiteren Schiffen der Flotte eröffnete. Im Kulm Hotel St. Moritz ist er verantwortlich für das Restaurant The K – by Tim Raue, das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde.


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Zu dieser Zeit hatte ich eher die Gabe, zu führen, zu strukturieren, zu ­organisieren. Ich fand nicht, dass ich besonders talentiert für Geschmacks­ verbindungen war. Das kam erst, als ich so viel Geld verdient hatte, um häufig Essen gehen zu können. In Sternerestaurants habe ich erfahren, wie großartig man mit Lebensmitteln umgehen kann. Daraus entstand ein Ehrgeiz. Der hat gebrannt.

Exklusiv für B*: Tim Raue richtet in der Küche seines Restaurants »Lachs, Süßkartoffel & Ingwer« an.

3 Hochwertige und schlichte Möbel aus amerikanischem Nussbaum, moderne Designklassiker und edles Porzellan stehen bei Tim Raue für gehobene Gastronomie. 4 Private-Dininig-Bereich im ­Unter­geschoss mit Bar und großer ­Weinsammlung.

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Zehn Restaurants, zwei Michelin-Sterne, 2018 und 2019 unter den 50 besten Köchen der Welt gelistet. Und schließlich von Ihren Kollegen zum besten Koch Deutschlands gekürt . Was bedeuten Ihnen diese vielen Auszeichnungen? Ich war noch nie der Beste, da bin ich sehr realistisch und reflektierend. Wir machen vieles anders, vielleicht finden meine Kollegen gerade das großartig. Auf Platz 2 oder 3 hab ich mich gut gefühlt. Ganz oben zu stehen, finde ich etwas unwirklich. Meine Res­ taurantpartnerin Marie Anne, mein Küchendirektor, mein Restaurantma­ nager und ich haben uns unsere Sterne selber erarbeitet. Wir sind ein bisschen wie Autodidakten rangegangen, haben alle Fehler gemacht, die man nicht machen sollte, daraus gelernt und unseren eigenen Weg definiert. Ich mag es nicht jedem empfehlen, es ist ein extrem harter, steiniger, anstren­ gender Weg. Daraus gezogen habe ich, dass das höchste Gut unsere Einzig­ artigkeit ist. Sie zu leben und nicht zu versuchen, jedem in den Hintern zu kriechen. Wo verorten Sie sich gerade? An einem Punkt des Aufstiegs? Auf dem Gipfel? Ich bin 45 und damit mindestens auf dem Zenit oder schon auf dem abstei­ genden Ast. Die jüngeren Genera­ tionen kommen nach, machen teils großartige Sachen. Ich habe alles gesehen, alles gegessen, alles gekocht. Jetzt geht es darum, die individuelle

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Linie beizubehalten. Wie immer bei Menschen, die etwas kreieren, wird mit der Zeit das Weglassen wesent­ lich. Je älter du bist, umso redu­ zierter wirst du. Ich habe nahezu jede Auszeichnung kassiert, die man in Deutschland bekommen kann. Und auch international. Das Höchste ist natürlich die Listung unter den welt­ weit 50 besten Restaurants und die Netflix-Episode bei Chef’s Table. Doch natürlich gibt es Auszeichnungen, die ich noch haben will, denn ich bin sehr ehrgeizig. Das Allerwichtigste ist, dass die Mitarbeiter happy sind, dann sind es auch die Gäste. B*

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Höflichkeit lässt man in Küchen als Zutat häufig weg. Wie läuft es bei Ihnen im Team ab? Ich war am Anfang sicherlich einer der Allerschlimmsten in der Küche. Hab aber auch immer offen darüber gesprochen, dass ein existenzieller Druck auf mir lastet. Jeder Teller eröffnet die Möglichkeit, in die Sterne zu schweifen oder wieder in der Gosse zu landen. Ich habe nicht verstanden, diesen Druck abzupuffern und bei mir zu behalten. Ich brauchte die Souve­ ränität der eigenen Entwicklung und die der Menschen um mich herum. Heute wird nicht rumgeschrien, und es fliegen keine Pfannen. Welchen Chef-Stil pf legen Sie also heute? Ich glaube, ich bin sehr effizient und präzise. Es ist mit Sicherheit so, dass mir manchmal das Taktgefühl fehlt und ich einfach Dinge erledigt haben will. Ich halte mich nicht mit drei Minuten Small Talk auf. Ich versuche diejenigen zu bedienen, die etwas von mir möchten und bei denen ich es zugelassen habe, dass sie einen Teil meiner Zeit bekommen. Vermutlich haben Sie keine Schwierigkeiten, neue Mitarbeiter zu finden? →

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Selbstverständlich haben wir das. Wir haben einen brutalen Fachkräf­ temangel. Es ist nicht zu vergleichen mit der Zeit vor fünf oder zehn Jahren, wo man sich das aussuchen konnte. In Berlin fehlen 2.500 Köche und Kellner. Der Markt ist leer. Wir brauchen Mig­ ration, Menschen von außerhalb, die Lust auf einen handwerklichen Beruf haben. Der Trend der letzten 20 Jahre, dass man Abitur macht und studiert, ist nicht für alle zielführend.

Koch, Kellner oder Restaurant­kreateur sind für Tim Raue soziale Berufe, »bei denen man etwas schafft, um andere glücklich zu machen«.

Was kochen Sie privat für Ihre Familie und Freunde? Gar nichts. Kochen ist mein Beruf. Aber privat ist meine größte Leidenschaft, Essen zu gehen. Ich bin extrem gerne Gast und auch ganz unkompliziert. Haben Sie ein Lieblingsessen? Sie können mir immer eine Freude mit kantonesischem Barbecue machen. Mein Lieblingsrestaurant dafür ist das Lung King Heen in Hongkong. Ich habe extrem viel Spaß an thailändi­ scher Küche, und Königsberger Klopse kann ich 24 Stunden am Tag essen. Ich ernähre mich zwei bis drei Tage in der Woche vegan, hab eine Begeisterung für Salat und Gemüse entwickelt, denn es gibt mir sofort Leichtigkeit, Kraft und Energie.

Baum und seine Borken gesehen und dabei sofort an die Topinamburwurzel gedacht. Ich habe mich mit dieser Pflanze auseinandergesetzt, unsere Historie dazu nachgeschlagen, meine Gedanken und Gefühle beobachtet. Nach einer Nacht Drüberschlafen schaue ich es mir dann immer noch mal von einer anderen Seite an. Also was würde ich als japanischer Koch, als nordischer oder mediterraner Koch damit machen? B* R

Wie viele Gerichte kreieren Sie im Jahr? Entwickeln Sie alle selbst? Im Jahr sind es etwa 40 bis 50 Gerichte. Und überall wo der Name draufsteht, ist auch Tim Raue drin. Da bin ich sehr autoritär. Ich lasse meine Mitarbeiter Vorschläge machen, aber letztendlich bin ich derjenige, der sagt, was auf die Karte kommt. Weil ich eine genaue Vorstellung habe, was zu dem jeweiligen Restaurant passt. Wie locken Sie Ihre Kreativität für ein neues Gericht hervor? Vorgestern bin ich in Stockholm durch die Straßen gelaufen und habe einen

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Das klingt geradezu wissenschaftlich. Dann fängt das Hirn an zu arbeiten und zeigt mir Möglichkeiten auf: Machen wir Topinambur mit Butter und schwarzem Trüffel und Trauben. Die Butter können wir als Nussbutter­ schaum oder als Buttercreme machen, wir können sie auch kalt rühren wie eine Mayonnaise. Und dann nehmen wir ein Stück Topinambur und ­p robieren es mit fünf, sechs Butter­ zubereitungen. Dazu Trauben als Rosinen, rot, hell, kernlos, einge­ kocht mit Portwein, mit Sherry. Eine Haselnuss dazu – in Scheiben, als Öl, geröstet oder ungeröstet? So kommt ein Gericht Stück für Stück über meh­ rere Wochen zustande. Auch winzig kleine Elemente formen den Geschmack. Und den erlebt der Gast eher

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wie den Ablauf eines Musik­stückes, könnte man das so sagen? Im Endeffekt versuchen wir die Emoti­ onen und dieses subjektive Erlebnis des Schmeckens und Zusammenfügens zu perfektionieren. Wenn Sie diesen Topi­ nambur essen, haben Sie das Gefühl, dass der Butterschaum ihn wie eine Wolke trägt. Der Trüffel dazu inten­ siviert wiederum die erdigen Aromen, er geht von der Topinamburwurzel noch mal 20 Zentimeter tiefer in die Erde. Und dann brauchen Sie etwas Leichtes und Frisches mit den Traubenscheiben, auf denen in sehr hellem, trockenem Sherry eingelegte Rosinen liegen. Dazu nehmen wir Feldsalat mit einer ­Vinaigrette, die das Überirdische zeigt und Leichtigkeit erzeugt. Ansonsten wäre das ein sehr oxidativer, tiefer, zu sehr nach unten ziehender Gang. Ist das Talent, oder ist das Erfahrung? Das … habe ich, das ist eine Gabe, dafür kann ich dankbar sein. Wen muss ich bestechen, um kurzfristig bei Ihnen einen Tisch zu bekommen? Niemanden. Sie können online nach­ schauen und sich auf die Warteliste setzen lassen. Jeder Gast ist gleich. Das hat uns auch die Gelassenheit gegeben, die wichtig ist, um höhere Auszeichnungen zu bekommen. ¶


Kolumne

von Stefan Bielmeier

Das Handwerk bleibt vorerst die Wirtschaftsmacht von nebenan Große Herausforderungen Auf das Handwerk kommen aber große Herausforderungen zu. Vielen Unter­ nehmen fehlt trotz voller Auftragsbücher und guter Geschäftsaussichten der Nach­ wuchs. Während der Anteil der Abituri­ enten und Studenten seit vielen Jahren steigt, wird es für die Ausbildungsbetriebe immer schwerer, alle Ausbildungsstellen zu besetzen. Die Ausbildung muss an Attraktivität gewinnen. Hier sind Unter­ nehmen und Staat gefragt. Die Novelle des Berufsbildungsgesetzes kann nur ein erster Schritt gewesen sein. DZ-Bank-Chefvolkswirt Stefan Bielmeier.

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Nach Abschluss seines Studiums der Volks­wirtschafts­lehre begann Stefan Bielmeier im Jahr 1996 seine Karriere bei der Deutschen Bank AG. Im Juni 2010 trat er in die DZ BANK ein. Er leitet dort den Bereich Research und Volkswirt­schaft und ist Chef­volkswirt der DZ BANK. Daneben wirkt Stefan Bielmeier in ver­schied­enen Gremien mit. Neben den Funktionen in der DZ BANK ist Stefan Bielmeier auch Vorsitzender des Vor­standes der DVFA – Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management e. V., des Berufsverbands der Investment Professionals in Deutschland. Auf www.bielmeiersblog.dzbank. de selektiert, analysiert und kom­mentiert Bielmeier wirtschafts­ relevante und politische Themen.

Die deutsche Wirtschaft leidet unter der globalen Konjunkturabkühlung und kommt nicht richtig in Gang. Die Nach­ frage im Handwerk sieht da anders aus. Die Betriebe profitierten von einer soliden und nachhaltigen Binnennachfrage. Verantwortlich dafür sind nicht nur Bauhaupt- und Ausbaugewerbe, deren Umsätze angesichts anhaltend niedriger Zinsen stark zulegen konnten. Diese beiden größten Handwerkssegmente, die fast die Hälfte des Gesamtumsatzes im Hand­ werk erwirtschaften, geben zusammen mit dem Gesundheitsgewerbe das Wachs­ tumstempo vor. Angesichts der guten Nachfrage bleibt die Beschäftigtenzahl stabil. Trotz Fachkräf­ temangels stellen vor allem Gesundheitsund Ausbaugewerbe weiter ein. ­Insgesamt sind bei den Handwerks­betrieben fast ein Achtel aller Beschäftigten und mehr als ein Fünftel aller Auszubildenden in Deutsch­ land angestellt.

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Mietendeckel wiegt schwer In Ballungsräumen erschweren stei­ gende Mieten die Anwerbung dringend benötigter Fachkräfte. Immer häufiger können sich selbst „Normalverdiener“ eine Wohnung in der Stadt nicht mehr leisten. Der beste Weg, Nachfrage und Angebot am Wohnungsmarkt besser auszubalan­ cieren, ist eine Ausweitung des Neubaus, wovon auch das Baugewerbe profitieren würde. Dieses Ziel wird durch den Mieten­ deckel sowie andere regulierende Markt­ eingriffe aber gerade nicht erreicht – eher im Gegenteil. Der Fachkräftemangel trifft längst nicht mehr nur das Bau- und Ausbau­ gewerbe. Ebenso wie die Nachfolge­ problematik wird er zudem durch den Alters­s trukturwandel verschärft. Au­ß er­ d em stehen die Handwerksbetriebe ­ vor hohen Investitionen angesichts der Digi­tal­isierung. Dennoch wird das Handwerk eine solide Stütze der deutschen Wirtschaft bleiben, und die meisten Handwerksun­ ternehmen können weiterhin optimistisch in die Zukunft blicken. ¶

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»Das Original zeigen, die Leidenschaft teilen« vielen anderen amerikanischen Museen in Verbindung gebracht. Wir zeigen viele Werke, die noch nie in Europa zu sehen waren.

Große Namen mit einem Twist inszeniert: Drei Jahre nach der Gründung gilt das Museum Barberini in Potsdam als eines der erfolgreichsten Kunsthäuser in Deutschland. Mit vielen Angeboten öffnet es seine Arme für ein diverses Publikum – und Menschen aus

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aller Welt kommen. Über das integrative Konzept, Teamarbeit und den Wert von Kommunikation spricht die Direktorin Dr. Ortrud Westheider mit B*.

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Marcel Schwickerath, Museum Barberini

Frau Dr. Westheider, mehr als 1,2 Millionen Besucher seit Eröffnung des Museums 2017. Was machen Sie richtig? Dr. Ortrud Westheider So etwas gelingt nur mit einem engagierten, agilen Team. Zu unserem Erfolg gehört die Geschichte des rekonstruierten Palais Barberini aus dem 18. Jahrhundert. Hasso Plattner hatte sich entschieden, seine Sammlung impressionistischer Werke in Potsdam zu zeigen und dafür dieses im Zweiten Weltkrieg zerstörte Palais als modernes Museum wie­ deraufzubauen. Dies strahlt in die Potsdamer Region, nach Europa und weiter bis in die USA aus. Wir sind

glücklich, dass große internationale Häuser nicht zuletzt auch aufgrund der guten konservatorischen Bedin­ gungen unser Ausstellungsprogramm mit Leihgaben unterstützen.

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Bei der aktuellen Monet-Ausstellung ist das Denver Art Museum Ihr Partner, warum kein französisches Haus? Das würde man bei einem französi­ schen Maler tatsächlich erwarten. Monet selbst hat interessanterweise die meisten Bilder nicht in Frankreich, sondern nach Amerika verkauft. Des­ halb ist das DAM der perfekte Partner für die Ausstellung. Es hat uns mit

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Sie schaffen selbst bei Künstlern wie Picasso, van Gogh und Rembrandt einen neuen Blick auf das Werk, selbst für Kenner. Wie entwickeln Sie diesen Dreh, diesen Twist? Bei jeder Ausstellungsidee fragen wir uns: Was genau ist das Neue an dem Thema? Warum wollen wir es erforschen und der Öffentlichkeit zeigen? Unser Anspruch ist es, jedem Ausstellungsthema eine neue Seite abzugewinnen und ein Programm zu ­entwickeln, das dem Laien, aber auch dem Fachbesucher etwas Überra­ schendes bietet. Das ist wichtig, denn wenn wir Leihgaben erbitten, muss ein neuer Aspekt für die Forschung dabei sein. Am Anfang veranstalten wir stets eine Tagung, bei der interna­ tionale Fachautorinnen und -autoren ihre neuen Forschungsergebnisse vor­ stellen. Ihre Erkenntnisse formulieren wir für die Katalog- und Wandtexte, Audio-Guides oder Social-MediaPosts so um, dass es für jeden inter­ essant ist. Darüber hinaus verbinden wir Frage­stellungen der Künstlerinnen und Künstler mit Themen unserer Zeit. Was verbindet uns denn mit Monet heute? Ein zentrales Thema, gestern wie heute, ist das Klima. Monet hat sich obsessiv auf die Natur eingelassen. Er hat bei jedem Wetter unter freiem Himmel gemalt, egal ob bei Hitze →

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oder Schnee. Die Frage unserer Aus­ stellung ist: Welche Orte suchte sich Monet an bestimmten Etappen seiner Karriere aus? Warum kehrte er dorthin zurück? Diese Ortsspezifik führte ihn zum Arbeiten in Serien, und damit ist er ein Vordenker für vieles, was im 20. und 21. Jahrhundert die Kunst bewegt. Zugleich geht es heute in Zeiten des Klimawandels um die Sensibilisierung für Naturprozesse. Monet ging eins zu eins in die Aus­einandersetzung – er vor der Natur.

Atmosphäre fielen ihm sofort auf. Er ist jemand, der das Große denken kann. Seine Bilder vom Meer, von den Küsten­linien zeigen ein Interesse für den großen Zusammenhang. Wie er die Landschaft wie ein Wissenschaftler beobachtet und diese Beobachtung in seiner Malerei präzisiert – das kann für uns heute inspirierend sein. B*

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Glauben Sie, Monet wäre heute ein Klimaschützer? Schwer zu sagen. Monet war faszi­ niert von den Entwicklungen, die die Moderne mit der Industrialisierung mit sich brachte. Veränderungen in der Stadt, auf dem Land oder in der

Sie bespielen digitale und soziale Medien innovativ. Die Barberini-App, die Microsite zur Ausstellung, Twitter, Instagram … Es gibt immer viele Geschichten zu erzählen. Ausgehend vom wissen­ schaftlichen Ausstellungskonzept, der Tagung und dem Katalog kommen stets interessante historische und biografische Hintergründe dazu. Es ist wichtig, sie analog und digital zu teilen. Das kann ein Expertenvideo

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Ortrud Westheider ist Direktorin des Museums ­Barberini in Potsdam. Die promovierte Kunsthistorikerin leitete von 2006 bis 2016 das Bucerius Kunst Forum in Hamburg. Hier verantwortete sie Ausstellungen zum Werk von Marc Chagall, Frida Kahlo, Henri Matisse, Joan Miró, und Pablo Picasso. Am Museum Barberini kuratierte sie Ausstellungen zum Impressionismus, zu Max Beckmann, Gerhard R ­ ichter und zum römischen Barock.

sein oder ein Post auf Instagram oder Twitter. Oder auch eine Veranstaltung mit dem Filmmuseum nebenan. B* W

Sie sind von Hamburg nach Potsdam gezogen. Wie fühlen Sie sich hier? Ich fühle mich sehr unterstützt, denn die Aufmerksamkeit, ja Begeisterung, die die Potsdamer dem Museum Bar­ berini entgegenbringen, ist schon sehr besonders. Wir erleben eine hohe Resonanz der Kooperationspartner. Bei unserer Barockausstellung im vergangenen Sommer haben wir


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1771/72 ließ Friedrich der Große das Palais Barberini nach dem Vorbild des barocken Palazzo Barberini in Rom bauen. Das 1945 stark beschädigte Ge­ bäude wurde 2013 bis 2016 wiederaufgebaut. Der Innenhof mit Zugang zu den Havelterrassen ist vor allem im Sommer eine Attraktion. Die bislang größte Monet-Ausstellung Deutschlands: auf drei Etagen eine Reise zu den Stationen, an denen der Maler lebte und arbeitete.

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Modern, offen, kommunikativ »Wir sind offen für neue Ideen und sind ein neugieriges, kommunikatives Haus«, sagt Achim Klapp, Pressesprecher des Museum Barberini, über die Öffentlich­ keits­arbeit des Museum Barberini. Das Team schöpft dafür mit Ideen aus dem Vollen. Ob eine Potsdam-App, be­ sprochen von Günther Jauch, Lesungen mit Schauspielern, Gesprächskonzerte mit der Kammerakademie Potsdam, Expertenpodcasts oder Talks mit namhaften Medienpartnern – es scheint, als kämen die Gäste von allein. Doch ist es das Ergebnis eines integrativen und inhaltlich anspruchsvollen Konzeptes, das jeden Interessierten einschließt. Angebote für Kinder, Menschen mit Demenz oder Yogafans – das Museum praktiziert Besuchernähe. Unschlagbar: die Barberini-Friends-Karte, mit der Fans für 30 Euro im Jahr ins Museum kommen können.

gemeinsam mit vielen Institutionen der Stadt innerhalb kürzester Zeit ein stadtweites Kulturfestival »Italien in Potsdam« auf die Beine gestellt. B*

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Das Museum ist umrahmt von Wasser, Schlössern und Parks. Dazu die Anbindung an eine Metropole. Wie sehr sehen Sie sich als Teil des Ganzen? Das Museum Barberini ist zwar noch relativ neu, aber ich hoffe, die Men­ schen sehen es bereits jetzt als Teil des Ganzen. Mit dem Schwerpunkt auf der französischen Landschaftsma­ lerei sind wir in Potsdam besonders gut aufgehoben. Besucher können die in das UNESCO-Welterbe aufgenom­ menen Schlösser und Parks besu­ chen. Aber auch die Havellandschaft genießen, die schon die preußischen Könige für sich als ein Arkadien des

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Nordens entdeckt haben. Der Park Glienicke, der Neue Garten oder der Sanssouci-Park – all das ist wie ein Spaziergang in einem 3D-Landschafts­ gemälde. Eine ästhetische Freude. B* W

Sind Sie ein Teamplayer? Ein Museum lässt sich doch nicht alleine führen. Wir treffen uns einmal die Woche mit allen Teammitgliedern und informieren uns untereinander. Die kuratorischen Inhalte hängen eng mit den kommunikativen Inhalten zusammen, und diese sind wieder ganz wichtig für unsere Bildung und Vermittlung sowie für die Eventabtei­ lung. Bei dem Wochengespräch sind außerdem die Haustechnik, das Gäs­ temanagement, das Kassenteam und Vertreter aus dem Shop und dem Res­ taurant dabei. Auch unsere Aufsichten →

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erhalten morgendliche Briefings. Jeder von ihnen soll Besuchern gut Auskunft geben können. Information und Kom­ munikation führen zu Identifikation. Es ist ein Gemeinschaftserlebnis und ein Gemeinschaftsergebnis.

Wie würdigen Ihre Besucher Ihre Angebote? Unsere Besucher genießen es, hier zu sein. Die Architektur, die Aus­ stellungen – es ist kein alltäglicher Ort. Sie kommen in einer gehobenen Stimmung raus, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Viele nutzen die ­B arberini-Jahreskarte, um jederzeit ins Museum kommen zu können, dar­ unter Besucher, die sich schnell mal in

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1 Zu sehen im Barberini: Monets Bild »Meules« (deutsch: »Getreideschober«) von 1890 hat die Hasso Plattner Stiftung 2019 für 111 Millionen Dollar ersteigert. 2

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Auf dem Hof des Barberini wurde als ­Hommage an Monets Bild »Getreideschober« ein großer ­Heu­haufen aufgeschüttet.

der Mittagspause vor einem Ge­mälde ­entspannen. Dass der Museums­besuch nicht nur dem Sonntagnach­m ittag vorbehalten ist, sondern zum Alltag gehört, ist natürlich das Schönste für uns. B*

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Geben Sie innerhalb des Teams viele Freiheiten? Ich sehe meine Hauptaufgabe darin, Kommunikation so zu gestalten, dass jedes Teammitglied an seiner Stelle kreativ mit den Inhalten umgehen und Neues hinzufügen kann. Dabei kommen wir auf die tollsten Ideen, und es macht großen Spaß. Ich denke, die Freiheit besteht wirklich in dem inhalt­ lichen Entwickeln eines Themas. Es kann überraschend sein. Aber es muss immer zur Marke Barberini passen. Da gibt es hier ein großes Gespür. Wir wollen Qualität abliefern, keine Zufälligkeit. Was ist für Sie das Schönste an Ihrer Arbeit? Einer der schönsten Momente ist natürlich der Ausstellungsauf bau. Wenn das, was man sich überlegt hat, Form annimmt. ¶

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Geöffnet: montags und ­mittwochs bis sonntags 10:00 – 19:00 Uhr, Dienstag geschlossen


aha-erlebnis

Cybersicherheit

505 Packages can be updated. 0 updates are security updates. root@login: ~$: Die Schwachstelle sitzt vor der Tastatur Früher reichte eine Antiviren-

Den Tätern gelingt der Einstieg in die fremden Computersys­ teme oft über maßgeschneiderte E-Mails. »Es gibt da einen regel­ rechten Boom bei den Verschlüsselungstrojanern, das hat im Jahr 2017 angefangen«, so Christoph Ritter. »Die Vielzahl der SocialEngineering-Angriffe hat stark zugenommen.«

Software oft aus. Doch inzwischen formieren sich Cyber-Kriminelle zu organisiertem Verbrechen und nehmen zunehmend den Menschen

Backup ist wichtige Schutzmaßnahme Christoph Ritter rät Nutzern, ein Backup ihrer Systeme anzu­ legen. Und zwar ein Backup, das vom eigentlichen System getrennt ist. Zudem sollten Nutzer ihre Software aktuell halten – und bei E-Mails nicht sofort Anhänge anklicken, egal, wie dringlich der Tonfall ist.

ins Visier – die eigentliche Schwachstelle von Computersystemen.

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Tim Müßle

»Wir machen im Auftrag von Unternehmen Tests und senden E-Mails an die Beschäftigten, in denen wir nach Passwörtern fragen. Und die Zahlen sind erschütternd: 40 bis 50 Prozent klicken auf die Einladung, 15 bis 20 Prozent geben ihre Login-Daten wirk­ lich ein.«

Das Internet wird 50, und die Bedrohungslage ändert sich. Cyberkriminalität ist zunehmend Sache des organisierten Verbre­ chens. Mit einem einzigen Angriff können Täter über eine Million Euro erpressen – so geschehen bei dem südkoreanischen Unter­ nehmen Nayana. Dabei stehen Mitarbeiter und Führungskräfte, aber auch Privatpersonen zunehmend im Fadenkreuz.

Das ist nur die Spitze des Eisberges. Kriminelle denken sich immer neue Tricks aus, um den Menschen ins Visier zu nehmen. Wie die Masche mit der Bewerbung. Erst Ende November 2019 warnte die Polizei vor E-Mails, in denen sich ein Anschreiben sogar mit Foto befand – doch wer auf die angeblichen Bewerbungsunterlagen klickte, startete einen Verschlüsselungstrojaner. ¶

Über 87.000 Fälle von Cyberkriminalität stellte das Bundeskrimi­ nalamt im Jahr 2018 fest. Zusammengerechnet entstand so ein Schaden von 60,7 Millionen Euro im Bereich Computerbetrug. »Das ist schon organisiertes Verbrechen, das merkt man, wenn man sich den Schad-Code genauer ansieht«, sagt Christoph Ritter, IT-Sicher­ heitsberater bei der Syss GmbH. Täter bieten Service-Hotlines an Christoph Ritters Unternehmen testet die Sicherheitssysteme von Firmen auf Herz und Nieren. »Ganz häufig verschlüsseln die Täter Daten und wollen dann, dass man in einer Kryptowährung wie Bitcoin bezahlt. Da bieten die Täter inzwischen sogar ServiceHotlines an, die die Betroffenen Schritt für Schritt beraten.«

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Zur Person Christoph Ritter, Head of Red Teaming Christoph Ritter ist Senior IT-Security Consultant und Penetration Tester bei der SySS GmbH. An der Hochschule Aalen ist er Referent für Computerforensik und Penetrationstests (Sicherheitstest für Rechner oder Netzwerke). Seine Ausbildung zum Fachinformatiker für Systemintegration hat er Mitte der 2000er-Jahre in Heilbronn gemacht. Nach einigen Jahren Berufspraxis als Informatiker im Außendienst hat Ritter ein Studium zum Bachelor in Angewandter Informatik an der Dualen Hochschule BadenWürttemberg nachgeschoben.

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Kolumne

Holm Friebe

So wurden die »68er« zur Blaupause für die Zeitgeistgeneration schlechthin – allerdings erst mit einigem historischem Abstand, denn aktiv beteiligt an den politi­ schen Protesten war seinerzeit nur ein ver­ schwindender Bruchteil. Niemand fühlte sich 1968 als »68er«.

Generation Schneeflocke?

Bei der Folgegeneration der »Baby­ boomer« – der geburtenstarken Jahr­ gänge vor dem Pillenknick – bestand die identitätsstiftende Gemeinsamkeit dann lediglich noch darin, dass sie zahlen­ mäßig immer und überall die am stärksten repräsentierte Altersgruppe stellte. Auf dem Arbeitsmarkt war dieser demografi­ sche Bauch spürbar, bis heute ist er es bei Wahlen und wird zum Problem für Rentenund Pflegekassen. Aber wächst daraus eine Generationengestalt, oder bleibt es nicht eher eine amorphe Masse?

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Holm Friebe illustration

Dirk Uhlenbrock

Sie sind mitten unter uns, die »Millen­ nials«. Äußerlich zumeist unauffällig bilden sie doch scheinbar eine eigene Spezies, die sich wie Aliens vom Rest der Normal­bevölkerung unterscheidet. Zumin­ dest wollen uns das Medien und Experten glauben machen. Jugendforscher, Marke­ tingleute und Personalberater schlüsseln uns das komplexe Mindset der heute 18bis 30-Jährigen auf. Die Generation sei egoistisch und weltfremd, leide am »PeterPan-Syndrom«, heißt es. Sie wolle nicht erwachsen werden, sei hypersensibel und dürfe nur mit Samthandschuhen ange­ fasst werden. Daher auch das Synonym »Generation Schneeflocke«. Wer das oft genug gehört hat, sieht überall Schnee­ flocken. Wer einen Hammer hat, sieht überall Nägel. Aber was muss passieren, damit die, die gleich alt sind, auch wirklich gleich ticken? Der Soziologe Karl Mannheim war

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der Erste, der sich diesem Problem syste­ matisch gewidmet hat. In seinem Aufsatz »Das Problem der Generationen« von 1928 beschreibt er, wie aus bloßen Jahrgangs­ kohorten eine erkennbare und unterscheid­ bare »Generationengestalt« entstehen kann: Notwendig sei die ­»Partizipation an gemeinsamen Schicksalen«. Das hebt die Hürde, denn solche drastisch einschnei­ denden Ereignisse, die alle Gleichaltrigen im gleichen Lebensabschnitt nachhaltig prägen, sind rar. Ein Krieg leistet das allemal. Aus dem Zweiten Weltkrieg ging in Deutschland die »Skeptische Genera­ tion« hervor. Deren jüngere Geschwister wurden als »Flakhelfer« noch von der ­kollektiven Kriegserfahrung gestreift. Die Schützengräben der »68er« da­­ gegen waren Happenings, Sit-ins und Straßen­d emos, also nicht weltgeschicht­ liche Epochenbrüche, sondern geteilte sozio- und popkulturelle Erfahrungen.

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Für die nachfolgende »Generation X« die der Schriftsteller Douglas Coupland 1991 ausfindig machte, sollte genau das zum verbindenden Merkmal werden. Das X steht wie in der Mathematik für eine leere Chiffre: eine Generation, die verbindet, dass sie keinen inneren Zusammenhalt mehr hat. Trotz oder wegen dieser offen­ sichtlichen Paradoxie wurde das Konzept dankbar aufgegriffen und weiter durch­ buchstabiert über die »Generation Y« bis zur »Generation Z«, sprich: den heutigen »Millennials«. Jeder konnte sein Süppchen daraus kochen. Was uns zur Frage zurückbringt, ob es eine Generationengestalt der »Millen­ nials« gibt. Vielfach wurde das Internet als Wasserscheide ins Spiel gebracht: Musste man sich erst mühsam zurechtfinden oder wächst man als »Digital Native« bereits darin auf? Heute, da alle Welt bis zu den letzten »Flakhelfern« permanent online ist, verwischen sich die Unterschiede. Instagram, Snapchat und TikTok, die sozi­ alen Medien der »Millennials«, sind nette Spielzeuge, aber machen noch keinen


impressum

B* — das Businessmagazin der Berliner Volksbank berliner-volksbank.de/business-spot Herausgeber Berliner Volksbank eG, Postanschrift: 10892 Berlin Telefon: 030 3063-3300, Internet: berliner-volksbank.de

Weltkrieg. Dann schon eher die Klima­ katastrophe. Das kollektive Erleben, die erste Generation zu sein, die den men­ schengemachten Klimawandel mit voller Wucht abbekommt – und die letzte, die daran substanziell etwas ändern kann –, könnte tatsächlich zum Gestaltmerkmal werden. Die »Fridays for Future«-Proteste werden ihr kollektives Gedächtnis prägen, auch wenn es – wie bei den »68ern« – eher die Bildungsbürgerkinder sind, die da auf die Straße gehen.

Verantwortlich im Sinne des Presserechts Frauke van Bevern, Bereichsleiterin Marke und Kommunikation E-Mail: frauke.vanbevern@berliner-volksbank.de Projektleitung Frauke van Bevern, Gudela Noack redaktion, Text, Projektmanagement Till Brauckmann, Olivia Rost E-Mail: mail@siegerbrauckmann.de Autoren Till Brauckmann, Tim Müßle, Julia Reichler, Olivia Rost, Petra Vollmann GastAutoren Stefan Bielmeier, Holm Friebe

Charakteristisch für die »Millennials« auf dem Arbeitsmarkt ist, dass es wenige sind, gerade im Vergleich zu den geburten­ starken »Babyboomern«, die jetzt in Rente gehen. In Deutschland herrscht Vollbe­ schäftigung und Fachkräftemangel. Daher der Eindruck, die Nachrücker seien arro­ gant und anspruchsvoll: sie können es sich schlicht leisten, Ansprüche zu stellen. Um die Talente anzulocken, müssen sich Arbeitgeber nach der Decke strecken und tun das auch. Der ökologische Fuß­ abdruck ist dabei nur einer von vielen Hygienefaktoren. Jenseits davon lässt sich der Hype darüber, was »Millennials« wollen, leicht entkräften. Das tiefenpsychologische Beratungsunternehmen Nextexpertizer hat 2015 für das Weißbuch der Bundes­ regierung zur zukünftigen Arbeitswelt die Wertemuster der Deutschen in Bezug auf ihre Arbeit untersucht. Heraus kam: Wie in allen Altersgruppen, so finden sich auch bei den »Millennials« Selbstverwirk­ licher und Sinnsucher, denen Geld nicht so wichtig ist, und statusorientierte Tra­ ditionalisten, die für die Karriere alles andere unterordnen. Fazit der Studie: »Die Vorstellungen der jungen Generation unterscheiden sich nicht von denen der Älteren.« Wir können also Entwarnung geben: »Millennials« sind keine Aliens. Sie genießen die Privilegien der Jugend, aber letztlich sind sie Menschen wie wir. Nur eben jünger. ¶

Editorial Carsten Jung, Vorstandsvorsitzender titelbild Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche Fotografie Marc Eckhardt, Thorsten Klapsch, Marcel Schwickerath, René Spalek, Holger Talinski, ThomBal (stock.adobe.com), Karoline Wolf, Frauke van Bevern, Till Brauckmann, privat Illustration Jan Siemen, Dirk Uhlenbrock Art Direction Till Brauckmann Gestaltung, Layout, Satz Simon Hafenbradl, Sven Lubenau Lektorat Thorsten Tynior, paratexte.de Druck Mit Liebe produziert bei Eversfrank Berlin GmbH, Internet: eversfrank.com Klimaneutraler Druck mit 100% Ökostrom Content support Consultum Communications GmbH Hans-Erich Bilges, Matthias Ginsberg

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Holm Friebe, geboren 1972, ist Gründer des Grimme-Preisprämierten Blogs Riesenmaschine und Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz Agentur in Berlin. Er arbeitet als Marken- und Strategieberater sowie Autor und Kolumnist, unter anderem jahrelang für die Berliner Zeitung. Seit 2006 veröffentlicht er populäre Wirtschafts- und Wissenschaftsbücher mit wechselnden Co-Autoren. Der Dozent für Designtheorie lehrt an Kunsthochschulen, spricht auf Kongressen und Konferenzen zu den Themen seiner Bücher und moderiert Workshops, Panels und Podiumsdiskussionen.

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Realisation siegerbrauckmann* Büro für Wirtschaftskommunikation Bergmannstraße 102, 10961 Berlin E-Mail: mail@siegerbrauckmann.de Internet: siegerbrauckmann.de Erscheinungsweise Halbjährlich Alle Beiträge und Abbildungen sind urheber­ rechtlich geschützt. Nachdruck, Übernahme in digitale Medien sowie Vervielfältigung auf Datenträger nur nach vorheriger Zustimmung durch die Berliner Volksbank eG. B* 03 erscheint im Herbst 2020. Kontakt Wenn Sie Fragen zum Inhalt des Magzins haben, ­Anregungen äußern oder zusätzliche ­Exemplare ­anfordern möchten, wenden Sie sich bitte an: business@berliner-volksbank.de

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08:02 : 47 Uhr am 15.01.2020, HalenseestraĂ&#x;e, Berlin — Foto: Till Brauckmann.



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