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Mikropolis

Inhalt

Schön haben es die Spinne Natalie, die Ameise Annabelle, die Stubenfliege Kostas, die Bremse Erdal, der Marienkäfer Kurt und der Tausendfüßler Olli – sie leben auf einem Grünstreifen in der aufregenden Großstadt, das Futter liegt auf der Straße und das Leben ist voller Abenteuer. Dann aber wird die Grille Gesine durch einen Wirbelwind auf die kleine grüne Oase mitten in der Stadt geweht und verdirbt mit ihren deprimierenden Erinnerungen an die heimatliche Wiese Natalie und Annabelle gründlich die Laune. Also ab mit ihr in den Laubsauger, denken die Jungs. Das aber finden Annabelle und Natalie gar nicht fair – und so helfen alle zusammen, Gesine zu retten. Im riesigen Laubsauger kann ihnen zum Glück das Glühwürmchen den Weg zeigen, denn man sollte nicht im Häckselausgang der Maschine landen. Weit weg gepustet landen die Freunde in einem Laubhaufen. Eine Gottesanbeterin nimmt Gesine in die Fänge und es braucht Marienkäfersekret, Tausendfüßlertritte und Spinnwebfesseln bis das gierige Tier besiegt ist. Endlich können die Freunde Gesine zurück auf ihre Wiese bringen.

Synopsis

The spider Natalie, the ant Annabelle, the house fly Kostas, the horse fly Erdal, the ladybird Kurt and the millipede Olli all have a great life – they live on a green strip in the exciting big city, their food is plentiful on the road and life is full of adventures. That is until the grasshopper Gesine is whirled through the air by the wind, landing on the small green oasis in the middle of the city, and spoils the fun completely for Natalie and Annabelle with her gloomy reminiscences of her home meadow. The boys decide she belongs in the leaf blower, but Annabelle and Natalie consider this to be unfair – ultimately, they all join forces to save Gesine. Luckily for them, the firefly is able to light their way in the gigantic leaf blower so that they avoid landing in the shredder. The friends are then blown far away, landing in a heap of leaves. A praying mantis grasps Gesine in her jaws and is only overpowered by ladybird secretion, millipede kicks and the sticky fibres of a spider’s web. In the end the friends are able to accompany Gesine back home to her meadow.

Kommentar

Die Großstadtinsekten sind eine sympathische Clique. Erdal quatscht mit türkischem Akzent. Kostas leidet unter der Vorstellung, er sei eine Eintagsfliege und glaubt, jeden Tag zu sterben. Kurt wird von allen Kung gerufen, weil seine Ahnen aus China stammen. (Er kann nicht oft genug wiederholen, dass er ein deutscher Marienkäfer mit chinesischem Migrationshintergrund ist.) Alle nehmen sich gegenseitig hoch und bestätigen zugleich das Glück, verschieden zu sein. Dem Librettisten Michael Frohwin gelingt es, eine Gruppe von Kindern zu zeichnen, die man aus Berlin zu kennen meint, und die es in jeder europäischen Großstadt gibt. Ihren Egoismus überwinden die Gefährten, indem sie eine gemeinsame Aufgabe meistern. Die Oper handelt nicht nur von Diversität, Solidarität und Mut, sondern auch von einer bedrohten Umwelt. „Die Menschen fressen nicht mehr, um zu leben. Sie leben, um zu fressen.“

Christian Josts Musik ist erzählerisch und voller Witz. Er spielt mit den Gegensätzen der groovigen Stadt und dem elegischen Landleben. Einzelne Stücke wie zum Beispiel der Eintagsfliegenblues sind applausverdächtige Solonummern. Nach den formalen Experimenten vorheriger Stücke erlaubt sich Jost die klassischen Formen der Oper – Arie, Duett, Ensemble – zu bedienen. Der Komponist erweist sich nach den düsteren Stücken wie Vipern und Hamlet als ein Meister des Leichten. Eine Nähe zum Jazz, ja auch zum Musical, gibt dem Stück eine eigene, unterhaltsame Note. Die Autoren haben die Bezeichnung Kinderoper vermieden, denn das Stück funktioniert auch für Erwachsene. „Die staunende, offenen Mundes begeisternde Faszination, die ich als kleiner Junge beim ersten Besuch einer Oper erfahren hatte, wollte ich selbst als Komponist auf das Publikum übertragen wissen. Die Verantwortung war daher eine große, sind doch die ersten Erfahrungen gleichermaßen fragil und prägend. Wenn ich heute von damaligen Besucherinnen und Besuchern freudigst auf Mikropolis angesprochen werde und dass dies ihre erste Berührung mit Oper markierte, bin ich sehr glücklich über eines der schönsten Komplimente für mein künstlerisches Schaffen.“ (Christian Jost)

Commentary

The insects of the big city are a likeable clique. Erdal chats with a Turkish accent and Kostas suffers from the delusion that he is a mayfly and believes he is going to die every day. Kurt is known by everyone as Kung as his ancestors originated in China. (He cannot reiterate enough that he is a German ladybird with a Chinese migrational background.) They are constantly making fun of each other while simultaneously being glad that they are all different. The librettist Michael Frohwin suceeds in sketching out a group of children whom you could have encountered on the streets of Berlin, but could equally be at home in any big city in Europe. The friends overcome their egoism by mastering a common task. The opera not only focuses on diversity, solidarity and courage, but also on the threatened environment. ‘Nowadays, humans don’t eat just to live: they live to eat.’

Christian Jost’s music is narrative and full of wit. He plays with the opposites of a groovy city and an elegiac life in the country. Individual sections such as the mayfly blues are applause-worthy solo numbers. Following the experimentation in form in earlier works, Jost allows himself to employ classical operatic forms such as arias, duets and ensembles in this composition. After bleak works such as Vipern und Hamlet, the composer reveals his skills as a master of light entertainment. The proximity of jazz and even musicals colours the work with its own entertaining sense of fun. The authors avoided the term children’s opera as it is equally enthralling for adults. ‘My intention was to transfer the open-mouthed fascination I experienced on my first visit to the opera to the audience in my capacity as a composer. For this reason, the responsibility was immense, particularly as first experiences can be both fragile and formative at the same time. When I talk to members of audiences today who happily recall Mikropolis as their first contact with opera, I am very happy to accept one of the greatest compliments for my artistic creativity.’ (Christian Jost)

WERKINFORMATIONEN / FACTS

Mikropolis

Die abenteuerliche Insektenoper (2010)

Libretto von Michael Frowin (dt.)

Personen / Cast: Grille Gesine · Sopran - Ameise Annabelle · Sopran - Glühwürmchen Finn · SopranKreuzspinne Natalie · Mezzosopran - Gottesanbeterin · Alt - Marienkäfer Kung (Kurt) · Tenor - Stubenfliege Kostas · Tenor - Bremse Erdal · Bass - Tausendfüßler Olli · Bass orchester / orchestra: 1 (auch Picc.) · 1 · 1 · Bassklar. · 1 - 2 · 1 · 1 · Kb.-Pos. · 0 - Vibr. · Marimba · Hfe. · Cel. · Klav. · E-Bass (fünfsaitig) - Str. 80’

AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung / World premiere: 30. Oktober 2011 Berlin, Komische Oper (D) · Dirigent / Conductor: Christian Jost · Inszenierung / Staging: Nadja Loschky · Bühnenbild und Kostüme / Stage and Costume

Design: Esther Bialas · Choreographie / Choreography: Zenta Haerter

Inhalt

Ramón hält die Leiche von Adela im Arm – die Frau, die er von Ferne begehrte, ist tot. Schnell ist das gesamte Dorf davon überzeugt, dass die beiden ein Paar waren, obwohl sie nie ein Wort miteinander gesprochen hatten. Die Eltern Adelas geben Ramón die Tagebücher ihrer Tochter und darin meint er zu erkennen, dass auch Adela in ihn verliebt war. Nach und nach lässt er sich davon überzeugen, Rache zu nehmen. Der Verdacht fällt auf den Fremden, der ein geheimes Verhältnis mit einer Frau – der Geliebten – unterhält. Die Geliebte ahnt die Bedrohung, fürchtet aber zugleich, als Ehebrecherin entdeckt zu werden und bereitet durch ihr Schweigen die nächste Katastrophe vor. Auch der mit der Lösung des Falls betraute Alte scheint kein Interesse daran zu haben, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Erst von der verstorbenen Adela erfährt das Publikum, dass Ramón doppelt getäuscht ist: Ermordet wurde Adela nicht vom Fremden und geliebt wurde sie von einem viel älteren Mann als Ramón, der sie täglich besuchte. Ohne dass am Ende klar wird, wer Adela umgebracht hat – der Schlachter des Ortes, Adelas geheimer Liebhaber selbst, der wissende Alte, das Dorf gemeinsam? – zieht der erste Mord einen zweiten nach sich: Aufgestachelt von den Dorfbewohnern und getrieben von Liebe und Rachegefühlen tötet Ramón den Fremden.

Synopsis

Ramón holds Adela’s body in his arms – the woman he longed for is dead. The entire village is quickly convinced that the two were a couple, even though they never exchanged a single word with one another. Adela’s parents give Ramón the diaries of their daughter and he believes from reading them that she was also in love with him. He gradually allows himself to be persuaded to avenge her death. Suspicion falls on the Stranger who has a secret relationship with a woman – the Beloved. The Beloved recognises the danger, but simultaneously fears that she will be revealed as an adultress and in her silence, builds the foundations for the next catastrophe. The Old Man entrusted with solving the case also seems to have no interest in actually bringing the truth to light. The audience only hears from the deceased Adela that Ramón has been doubly deceived: Adela was not murdered by the Stranger and she was loved by a far older man than Ramón who visited her every day. Without the truth ultimately being revealed as to who really killed Adela – the Butcher, Adela’s secret lover, the knowledgeable Old Man or the whole village together? – the first murder leads to a second: egged on by the inhabitants of the village and driven by love and feelings of revenge, Ramón murders the Stranger.

Kommentar

Beim Libretto ging Christian Jost von dem Roman Der süße Duft des Todes des mexikanischen Schriftstellers Guillermo Arriaga aus, der die Drehbücher zu den großen Filmen des Regisseurs Alejandro González Iñárritu Amores Perros, 21 Gramm und Babel schrieb. Rumor beginnt wie ein klassischer Krimi mit dem Auffinden der Leiche. Das Publikum rechnet damit, dass der Mörder ermittelt und der Fall aufgeklärt wird, aber das Gegenteil passiert: Gerüchten (engl. rumors), ungesicherten Beobachtungen und Verdächtigungen folgend wird immer unklarer, wer Adela umgebracht haben könnte. Fake News ersetzen Tatsachen. Alle Figuren verstecken etwas, sitzen falschen Fährten auf und betrügen sich. Außerdem springt die Handlung vor und zurück, an drei Stellen laufen Szenen sogar parallel. Das Genre des Krimis wird sozusagen nur benutzt, um die Zuschauer:innen in die Geschichte hineinzuziehen, dann werden die Regeln des Krimis über den Haufen geworfen. Es gibt keine zentral ermittelnde Person, je näher man der Wahrheit kommt, desto weiter rückt sie weg. Alles mexikanische Lokalkolorit ist zurückgenommen, so kann das Stück auch in anderen Ländern und in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus spielen. Lediglich die Hitze, die wie ein Menetekel über dem Schauplatz schwebt, und das vergebliche Warten auf erlösenden Regen, hat Jost in der Fassung gelassen. Auch die Musik nimmt das Flirrende des Spielorts auf. Der Orchesterpart ist ansonsten äußerst effektiv und prägnant. Es gibt kaum Zwischenspiele und die Szenen gehen attacca ineinander über, manche sind nur wenige Takte lang und wirken wie Schuss und Gegenschuss im Film. Dass die ermordete Adela als eine Art Todesengel in Erscheinung tritt, ist eine Erfindung des Librettisten. Dadurch entsteht eine Nähe zwischen Erde und Totenreich und ein Liebesband zwischen Ramón und Adela, das es in der Wirklichkeit nicht gegeben hat. „Imagine never fails“ hat Jost als Motto an den Anfang des Stücks gesetzt.

Commentary

Christian Jost’s libretto was based on the novel A Sweet Sense of Death by the Mexican author Guillermo Arriaga who also wrote the screenplay for major films directed by Alejandro González Iñárritu: Amores Perros, 21 Grams and Babel Rumor begins like a classical crime thriller with the discovery of a body. The audience goes on the assumption that the murderer will be identified and the case cleared up, but here the opposite is the case. On the strength of rumours, unsubstantiated observations and suspicions, it becomes progressively unclear who could have murdered Adela: fake news replaces facts. All the figures have something to hide, provide red herrings and deceive themselves. What is more, the plot jumps back and forwards and scenes even run in parallel on three occasions. The crime thriller genre is actually only used to pull the audience into the story, after which the rules of a thriller are swiftly thrown overboard. There is no central investigator and the closer one comes to the truth, the further away it moves.

All Mexican local colour has been erased, meaning that the work can be set in other countries and in a variety of different social milieus. Jost did however retain the immense which hovers over the scene like a warning sign, and the futile wait for the rain to relieve it. The music also picks up on the shimmering heat of the location. The orchestral score is otherwise highly effective and concise. There are few interludes between the scenes which mostly run into each other, some only lasting a few bars, almost like the shots and reverse shots of a film. The murdered Adele appearing as a kind of angel of death is an invention of the librettist, thereby bringing the earth and the realm of the dead into proximity and creating a romantic connection between Ramón and Adela which never actually existed. Jost placed the motto ‘Imagine never fails’ at the beginning of his work.

WERKINFORMATIONEN / FACTS

Rumor

Oper in 15 Szenen (2011) nach dem Roman „Un dulce olor a muerte“ von Guillermo Arriaga in der deutschen Übersetzung von Susanna Mende Libretto vom Komponisten (dt.)

Personen / Cast: Ramón · Tenor - Adela · Sopran - Die Geliebte · Mezzosopran - Der Fremde · BaritonDer Alte · Bass - Der Jäger · Tenor - Der Schlachter · Bariton - Die Gefährtin · Mezzosopran - Der Vater / Der Richter · Bariton - Die Mutter / Wirtin / Witwe C · Alt - 6 Frauen / 6 Männer · kleiner gemischter Chor orchester / orchestra: 2 · 2 · 2 · 2 - 4 · 1 · 3 · 1 - Glsp. (auch Vibr.) · Marimba - E-Bass · Hfe. · Cel. · Klav. - Str. 100’

AUFFÜHRUNGEN / PERFORMANCES

Uraufführung / World premiere: 23. März 2012 Antwerpen, Vlaamse Opera (B) · Dirigent / Conductor: Martyn Brabbins · Choreinstudierung / Chorus Master: Franz Klee · Inszenierung / Staging: Guy Joosten · Kostüme / Costume Design: Eva Krämer · Bühnenbild / Stage Design: Bettina Meyer

Weitere Produktionen / Further productions: 12. April 2012 Gent, Vlaamse Opera (B) · Dirigent / Conductor: Martyn Brabbins · Choreinstudierung / Chorus Master: Franz Klee · Inszenierung / Staging: Guy Joosten · Kostüme / Costume Design: Eva Krämer · Bühnenbild / Stage Design: Bettina Meyer

Deutsche Erstaufführung / German premiere: 21. März 2014 Heidelberg, Theater (D) · Dirigent / Conductor: Yordan Kamdzhalov · Inszenierung / Staging: Lorenzo Fioroni · Kostüme / Costume Design: Sabine Blickenstorfer · Bühnenbild / Stage Design: Ralf Käselau