Programmheft Schauburg Cinerama Karlsruhe März 2019

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DIE KUNST DER KINOKULTUR FASZINATION AUTHENTISCHEN KINOS Friedrich Schumacher

1971 war Georg Fricker bei seiner Schauburg-Übernahme in Karlsruhe klar, dass künstlerisch interessante Kinoprogramme nicht ausschließlich aus Filmverleihlagern gestaltet werden können. Aber abgesehen vom damals praktizierten Blockieren wichtiger Filmtitel seitens großer Kinos, berechtigt der Besitz einer Filmkopie grundsätzlich keineswegs zu deren Filmtheatereinsatz! Kino ist für Filmbegeisterte mehr als nur ein Abspielort zeitgeistiger Blockbuster. Große Kinosäle sind heutzutage sogar bei StummfilmWiederaufführungen mit Live-Orchester (z. B. ‚Metropolis‘) voll, weil diese stilechte Vermittlung authentischer Kinokultur begeistert. Zu solchen Vorstellungen benötigte Filme und „Datenträger“ basieren häufig auf privaten Sammlerfilmkopien - oft mühselig zusammengesucht in aller Welt. Hätten Sammler nicht über Jahrzehnte unwiederbringliche Kulturgüter gerettet, gäbe es sie heute gar nicht mehr. Georg Fricker hatte erkannt, dass ein von Kinokultur begeistertes Publikum langfristig zu treuer Stammkundschaft wird. Die beiden damals noch ganz jungen Wolfgang Rihm (ja, DER!) und Thomas Rübenacker durften bei ihm auf dem Kinoklavier Laurel & HardyStummfilme untermalen, als kein Filmverleih diese anbot, noch Jahre vor ‚Väter der Klamotte‘ u. ä. im TV-Programm. Ohne Frickers gesammelte Kopien wäre das nicht möglich gewesen. Er prognostizierte treffend das langfristige Potenzial des Sammelns. Besonders ging es ihm zudem um authentisch angemessene Filmpräsentationen: Hatte ein Verleih einen älteren Film noch im Angebot, konnte man ihn zwar buchen, bekam dann aber oft nur abgenutzte 35 mm Lichttonkopien. Bei ursprünglich als 70 mm Todd AO Film konzipierten Werken ist eine solche Präsentation ein technischer Rückschritt, die künstlerische Einbuße des film- und kinotechnisch Erreichten. Dann konnte man aber in der Schauburg die ursprüngliche 70 mm Version mit 6 Kanal Magnetton aus der eigenen Sammlung oder von Sammlerfreunden heranziehen. Das Bildfeld auf dem Film ist dreimal so groß wie bei herkömmlichen 35 mm Film, die Tonqualität genügte höchsten Profiansprüchen. Zu solchen Vorstellungen „pilgerten“ Besucher von weither nach Karlsruhe.

Georg Fricker hat unermüdlich Zeit und Geld darauf verwendet, bedeutende Meisterwerke der Kinokultur in ihren originalen kinotechnischen Formaten zu bewahren, manchmal gar im allerletzten Moment vor der Vernichtung zu retten. All zu oft stand bei kaufmännischen Überlegungen den Filmverleihern das Problem hoher Lagerkosten bis zum Hals. Wenige von ihnen hatten den langen Atem und das Unternehmensziel, wenigstens einen Teil ihrer Filmbestände angemessen zu archivieren. Viel öfter ist leider kurzer Prozess gemacht worden und Raritäten der Filmkultur wurden rückstandslos vernichtet. Filme, deren Bedeutung und deren Macher zuweilen erst Jahrzehnte später „entdeckt“ wurden und werden und sich gegen solche Zerstörungen nicht (mehr) wehren konnten. Was weg ist, ist für immer verschwunden. Es gab nie einen offiziellen Markt für alte Filmkopien, die schwer, sperrig und unberechenbar in ihrer chemischen Haltbarkeit sind. Und wer hatte schon die Technik zur Verfügung, sie abzuspielen? Kinopublikum, Filmkritiker und Museumsprofis haben die Gefahr des Kulturverlustes viel zu spät mitbekommen oder nicht ernst genommen. Und wenn man erst nach Jahren erkennt, was alles unwiederbringlich verschwunden ist, existiert der Film nirgends mehr… Fricker begann früh, Filmkopien zu sammeln, für die sich keiner mehr interessierte oder damit abgeben wollte. Er hat nicht etwa nur Meisterwerke vor dem Vergessen gerettet, sondern auch Nischenprodukte, Eintagsfliegen, Regionales. 50er Jahre Sexspielfilme des Karlsruher Rotlicht-Originals Margarethe Reinhardt zum Beispiel. Wochenschauen, Werbefilme für kommende Kinofilme, Kurzfilme, Fotos, Plakate - das alles besitzt historisch-zeitgeistiges Potenzial. Darauf ist Fricker schon gekommen, als Historiker noch beim Thema Kino und Film verächtlich die Nase rümpften. „Wenn wir [Kinomacher] das nicht retten, schmeißt Ihr ja alles weg!“ argumentierte er bei seinen Fischzügen in Filmlagern, um zig Kilo schwere Filmkisten zu retten für sein un-subventioniertes Archiv. Immerhin wiegt eine einzige 70 mm Filmkopie von ‚Ben Hur’ in ihren 16


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