RETROWELT #23

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COLUMNE

WAS NEHMEN WIR IN DIE ZUKUNFT MIT? Text & Foto: Dr. Thomas Giesefeld

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iebe Leserinnen und Leser, vielleicht haben Sie sich gefragt, wie meine in der letzten Columne angekündigte Suche nach einem historischen Gasthaus verlaufen würde. Schon Anfang Januar fand ich in Konstanz am Bodensee eine überraschende Antwort. Etwas ausserhalb, bei einem Verkehrsknotenpunkt am Seerhein, umschliesst ein neues, funktionales Bürogebäude direkt auf zwei Seiten ein uraltes Häuschen. Gemäss Berichten des „Südkurier“ wurde es wahrscheinlich 1606 erbaut und ist damit ein seltenes Überbleibsel vorindustrieller Bebauung am rechten Seerheinufer. Familiendokumente der Nachfahren ehemaliger Betreiber weisen für das 19. Jahrhundert auf einen als „Rheingarten“ geführten Gasthausbetrieb hin. Ganz in der Nähe, etwas flussabwärts, hat 2018 übrigens ein Stand-Up Paddler im untiefen Wasser das bisher älteste bekannte Wasserfahrzeug des Bodensees entdeckt. Der 4500 Jahre alte Linden-Einbaum diente frühen Seebewohnern als Verkehrs- und Transportmittel. Ein historisch durchaus bemerkenswertes Terrain also. Und nun ein zunächst beiläufig erscheinender Zusammenprall architektonischer und handwerklich-technischer Gegensätze aus weit voneinander entfernten Epochen. Weder konnte sich das vielen einen komfortablen Büroplatz mit Blick auf's Wasser bietende, Wohlstand schaffende Geschäftshaus vollständig durchsetzen noch das baufällige Relikt des Denkmalschutzes, niedrig, brüchig und morbide, nicht barock, aber aus der Barockzeit. Gehen sich beide gegenseitig auf die Nerven? David gegen Goliath? The winner takes it all? Im merkwürdigen Duell der Gebäude herrscht derzeit ein reizvolles Patt. Gerade jüngere Passanten schauen im Vorbeigehen oft interessiert auf das Unentschieden, das gar kein Ensemble sein wollte. Auf den ersten Blick ist zu sehen, dass der nicht beliebig vermehrbare (schon immer knappe) Grund und Boden für einen neuen Zweck eingesetzt wird. Auch der durchaus zeitgenössische französische Ökonom und Geschäftsmann Jean-Baptiste Say (1767-1832) hätte daran seine Freude gehabt. Um 1800 definiert er es als Aufgabe und Merkmal von Unternehmern, Ressourcen einer Verwendung mit höherer Produktivität und grösserem Ertrag zuzuführen. Gut und schön, werden Sie einwenden, aber wo bleibt die Würde des Historischen inmitten der schöpferischen Zerstörung? Sehen nicht alle neuen Gebäude gleich aus (wie dies bekanntlich fast immer auch von neuen Autos behauptet wird)? Geht nicht der Charakter einer Gegend, die noch in den 1970erJahren ein völlig anderes Erscheinungsbild hatte, unwiederbringlich verloren?

Manchmal gelingt ein Kompromiss, eine Synthese zwischen Alt und Neu. Ein inspirierendes Beispiel findet sich einige Kilometer westlich am Bahnhof von Singen am Hohent-wiel, wo ein traditionsreiches Café nun von einem neuen Einkaufszentrum umschlossen wird. Es wurde dadurch noch markanter, ergänzt wohltuend die neuen Angebote und erfreut sich der Gunst des Publikums. Und in Dallas/Texas besichtigten wir 1984 das erste, stolz erhaltene Holzhaus im Umfeld der jeden weiten Blick verstellenden Hochhäuser. Zugegeben, die Chance zu phantasievollen Kombinationen ist auf grosszügiger Fläche oder in hochfrequenter Citylage grösser als an der Bundesstrasse vor den Toren der Stadt. Aber gerade in Innenstädten wurde Historisches oft zunächst entschlossen plattgemacht und später krampfhaft rekonstruiert. Man kann nicht alles behalten, aber man sollte auch nicht alles fortschaffen. Im Grossen wie im Kleinen gibt es eine Konkurrenz um Konzepte und Konflikte um Räume. Eigentlich möchten wir in unseren Hobbies, der Oldtimerei, der Sammlerleidenschaft, der alten Dinge, keine Konflikte, sondern Harmonie. Aber: Haben wir nicht alle schon einmal etwas schnöde weggegeben? Da war doch dieses erste Auto, vielleicht ein silbergrauer Opel Rallye-Kadett im Endstadium, für ein paar hundert Mark, den man heute natürlich unbedingt restaurieren müsste. Vielleicht haben auch die Einbäumler in der späten Steinzeit ihr treues Fahrzeug eines Tages verächtlich am schilfigen Ufer verrotten lassen und sich ein schickes neues Modell mit Bronzezierleisten besorgt? Ein uraltes Dilemma. Aber: Hätte man alles ohne Schwund aufgehoben und gestapelt, wie wären diese Dinge dann jemals zu begehrten Raritäten geworden? Liebe Leserinnen und Leser, vielleicht haben Sie manchmal den Luxus, sich zwischen mehr Kontinuität oder mehr Innovation zu entscheiden. Vielfach erhalten Sie Automobile oder Gebäude, haben sie mit Herz bewahrt und unter trotziger Missachtung ökonomischer Vernunft einem langen Leben zugeführt. Oder hätte sich aus heutiger Sicht vieles einfach einlagern oder besser behandeln lassen, das partout nicht mehr wiederzubeschaffen ist? Sie sind nicht zu beneiden. Bereuen Sie! Und nein, bitte schreiben Sie gerade mir nicht, was Sie schon alles abgerissen, rausgeschmissen oder verschrottet haben ...

... es grüsst mit Nachsicht, Ihr Dr. Thomas Giesefeld giesefeld@web.de

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