Coast-Guard-Rettungsschwimmer müssen hundert Kilo schwere Fischer, die in glitschigen Trockenanzügen stecken, in Rettungskörbe zerren und in arktischen Stürmen gegen haushohe Wellen ankraulen. Die Ausbildung ist eine der härtesten beim US-Militär: achtzehn Wochen Wasser-Drills an der Schwimmerschule in North Carolina. Gefolgt von siebenwöchigen Schulungen in Notfallmedizin. Die Drop-out-Quote an der Schwimmerschule liegt bei über fünfzig Prozent. Ausdauerschwimmen unter Schlafmangel, psychischer Stress: In manchen Klassen fallen alle Rekruten durch. Auf dem Hügel über Kodiak schleppt Starr-Hollow seine Muringleine zum zweiten Mal hinauf zum Fliegerdenkmal. Er umklammert das Ende jetzt mit beiden Händen, den Blick starr Richtung Stahlstern gerichtet. Hinter ihm quälen sich fünf Rettungsschwimmer-Kollegen auf den Berg. Die meisten von ihnen sind drahtig und zäh. Einige haben die Statur von Ringern. Vom Hügel hat man die beste Aussicht auf die Küstenwachenbasis. Weiße Hangardächer reflektieren die Strahlen der Morgensonne. Hinter dem Rollfeld beginnt der dunkelgraue Ozean. Sein Wasser bedeckt den gesamten Horizont. odiak Island liegt eine Flugstunde südlich von Alaskas größter Stadt Anchorage im nördlichen Pazifik. Eine bergige Insel mit dichten Nadelwäldern. Über die wenigen Straßen rollen dicke Pick-ups mit Rammbügeln. Das Sportgeschäft in der Hauptstadt Kodiak verkauft Pfefferspray zur Abwehr von Braunbär-Attacken. Die Coast Guard Air Station nimmt eine ganze Bucht im Osten der Insel ein. Drei Hangars für Helikopter und Transportflugzeuge, ein mächtiges, mit Holz verkleidetes Kommandogebäude. Das Rollfeld führt direkt am Ozean entlang. Es ist die Startrampe in die gefährlichsten Gewässer der USA. Von Kodiak aus fliegen Rettungshubschrauber ins nördliche Polarmeer, wo Eisschollen groß wie Fußballfelder im Wasser treiben. Im Westen wacht die Coast Guard über die Beringsee, in der arktische Stürme die Wellen zu dunkelblauen Wänden auf auftürmen. Das Einsatzgebiet der Air Station Kodiak er erstreckt sich über zehn Millionen Quadratkilometer. An manchen Tagen bilden sich zwei verschiedene Wettersysteme innerhalb seiner Grenzen. Elf Uhr Vormittag: Starr-Hollow führt durch den Helikopter-Hangar. Er ist frisch geduscht. Sein Training hat er vor dreißig Minuten mit Klimmzügen beendet. Die Muringleine hing dabei um seinen Hals. Starr-Hollow ist der Sohn eines Navy-SEAL. Er wuchs in Montana auf, studierte Forstwirtschaft. Während seiner Zeit im Bootcamp spielte er Saxophon in der Musikkapelle der Küstenwache. Seit acht Jahren fliegt er in die Beringsee, länger als jeder andere Rettungsschwimmer der Basis. Die Coast-Guard-Crews rücken bei Tag und Nacht aus. Wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen, auch bei schlimmstem Wetter. Piloten berichten von 34
CHEF AN BORD: HELI-PILOT JOHN D. HESS ÜBER FLÜGE IN DIE BERINGSEE UND REZEPTE GEGEN PANIK. the red bulletin: Herr Hess, wie bleiben Sie cool, wenn Sie mit Ihrem Helikopter über der Beringsee in einen Sturm geraten? john d. hess: Um für die Air Station Kodiak zu fliegen, braucht man mindestens vier Jahre Praxis als Rettungs pilot. Erfahrung hilft.
Und wenn nicht? Drück deine innere Stoppuhr und zähle fünf Sekunden ab, falls du die Zeit dazu hast. Das beruhigt.
Wie bereitet sich Ihre Crew auf heikle Einsätze vor? Wir kritisieren uns gegenseitig. Auch nach ein fachen Manövern wie dem Bergen leerer Lastkörbe. Wer Kritik nicht annimmt, ge fährdet andere. Kann man die Gefahr in Ihrem Beruf überhaupt abschätzen? Teilweise. Wir nutzen das Prinzip „Risiko vs. Gewinn“: Sind Leben in Gefahr, darfst du mehr riskieren. Was bedeutet „mehr riskieren“? Mehr Leute einladen, zum Beispiel. Der Re kord für CoastGuard Helikopter liegt bei 26.
sogenannten Whiteout-Zuständen, bei denen es so stark schneit, dass die Scheinwerfer nur noch Schneeflocken reflek reflektieren. Durch die Cockpitscheibe sieht es dann so aus, als würde man durch eine Schneekugel fliegen. Die Standard-Besatzung eines Sikorsky MH-60 „Jayhawk“ der Küstenwache bilden Pilot, Co-Pilot, Flugmechaniker und Schwimmer. Der Pilot steuert, der Co-Pilot berechnet den Treibstoffverbrauch, der Flugmechaniker bedient die Seilwinde an der rechten Seitentür. Am Ende des finger fingerdicken Stahlkabels hängt der Rettungsschwimmer. „Gute Kommunikation im Team ist überlebenswichtig“, sagt Starr-Hollow. Wie gute Kommunikation geht? „Behandle jeden mit Respekt. Schau Kollegen in die Augen. Gib ehrliches Feedback.“ Die Rettungsteams handeln nach dem Prinzip der „Just Culture“. Ein System, das auch in der Medizin angewandt wird. Ziel ist es, ein Umfeld zu schaffen, in dem man Fehler ohne Angst vor Bestrafung ansprechen kann, um so die Leistung des gesamten Teams zu steigern. „Neulich merkte ich nach einem Einsatz, dass meine Taschenlampe kaputt war“, sagt Starr-Hollow. „Ich hatte sie vor dem Abflug nicht kontrolliert. Niemand wusste von dem Fehler. Trotzdem sprach ich im Debriefing darüber. Das Zugeben eines Fehlers erleichtert dein Gewissen. Und die Kollegen werden daran erinnert, ihre eigenen Taschenlampen zu prüfen.“ Just Culture sei ein phänomenales System, um in jedem Job besser zu wer werden, sagt Starr-Hollow: „Stell dir vor, du verärgerst einen Kunden, weil du in einer E-Mail die falsche Anrede verwendest. Verschweigst du den Fehler, passiert er vielleicht auch deinen Kollegen. Teilst du ihn, profitiert das ganze Team von deinem Erkenntnisgewinn.“ Es sind die Grundprinzipien der Coast Guard, die Starr-Hollow aufzählt: immer bereit sein, sich jeden Tag gegenseitig fordern. Jede noch so kleine Aufgabe mit Sorgfalt erledigen. Einen Gurt nähen, zum Beispiel. „Jeder Rettungsschwimmer ist an der Nähmaschine ausgebildet“, sagt StarrHollow. „Weil wir die Last-Fallschirme für die Coast Guard warten.“ Tatsächlich stehen in der Werkstatt der Rettungsschwimmer im ersten Stock des Hangars vier Nähmaschinen auf Arbeitstischen. Über die Nähmaschinen sind karminrote Stoffhüllen gestülpt. Die mutigsten Männer der Beringsee haben die Stoffhüllen maßgeschneidert. Und Rettungsschwimmer-Logos an die Seitenteile genäht. THE RED BULLETIN