Ankowitschs Kolumne belebt Körper und Geist (16)
Vergiss es! Oder nicht? Wie man Rad fährt, sollte man sich etwa ganz genau merken. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber jedes Mal, wenn ich in den Semesterferien wieder auf den Skiern stehe und den ersten Schwung mache, muss ich denken: „Warum kannst du das noch? So selten, wie du fährst? Und auch noch so ausgezeichnet?“ Nun, das mit dem „ausgezeichnet“ werden nicht alle so sehen. Aber die Frage danach, warum wir Fertigkeiten wie Ski-, Rad- und Autofahren, aber auch Kopfrechnen und Papierfliegerfalten nie wirklich verlernen – die kann uns schon ins Grübeln bringen. So auch die Neurobiologen, die dem Schalten und Walten unseres Gehirns seit Jahren nachspüren. Sie haben herausgefunden, dass Lernen nicht bloß ein geistiger Vorgang ist, sondern auch unmittelbar physiologische Auswirkungen hat. Wenn wir uns also mit etwas Neuem beschäftigen, dann baut unser Gehirn an bereits bestehende Nervenzellen Fortsätze dran bzw. schafft Kontakte zwischen einzelnen Zellen. Wir können uns das (ganz unwissenschaftlich) wie den Ausbau eines Straßennetzes vorstellen: Sobald wir in bislang unbewohnte Landschaften fahren wollen, werden neue Wege und Verbindungen geschaffen, damit wir hin und wieder zurückkommen. Und genauso macht es unser Gehirn: Mit Hilfe neuer Wege und Verbindungen hält es fest, wie wir einen eleganten Skischwung machen, wie wir die Autokupplung betätigen und wie viel
Unser Gehirn behält außer den nützlichen Fähigkeiten leider auch jede Menge Kram, der uns belastet. 7 mal 3 plus 365 weniger 2 ergibt. Wir könnten also, ein geeignetes Instrument vorausgesetzt, dem Gehirn dabei zusehen, wie es während des Skifahrenlernens wächst und sich vernetzt. Ende vergangenen Jahres hat dabei einige Forscher des deutschen MaxPlanck-Instituts für Neurobiologie besonders überrascht, dass die gebildeten Nervenfortsätze und -verbindungen bestehen bleiben, auch wenn wir längere Zeit weder Ski fahren noch kopfrechnen. Alles, was wir tun müssten, sei, das Erworbene aufzufrischen, und schon seien
wir wieder in der Lage, an unsere frühere Brillanz anzuschließen. Unser Gehirn, so die tröstliche Erkenntnis, denkt also mit und sagt sich offensichtlich: „Wer weiß, wozu ich das noch mal gebrauchen kann? Besser, ich bewahre es auf!“ Leider hat diese Angewohnheit nicht nur Vorteile für uns. Unser Gehirn behält nämlich außer den nützlichen Fertigkeiten auch jede Menge anderen Kram, auch solchen, der uns belastet. Negative Erinnerungen an die eigene Kindheit zum Beispiel, an berufliche Misserfolge und zwischenmenschliche Enttäuschungen. Das hat zur Folge, dass wir oft – von diesen Erinnerungen belastet – durchs Leben stapfen und trauriger sind, als es sein müsste. So stellt sich die Frage, wie wir etwas Erlerntes möglichst wieder vergessen können, um wieder fröhlicher zu werden. Nun: Eine schnell anwendbare und sichere Lösung dafür ist noch nicht gefunden. Die neurobiologische Forschung macht aber Fortschritte bei der Suche nach dem (heilsamen) Vergessen. So hat sie beispielsweise gezeigt, dass unser Gehirn recht selektiv vorgeht und auf Effizienz bedacht ist: Es vergisst all jenes, was ihm beim Behalten neuer Inhalte im Wege steht. Neurowissenschaftler aus Magdeburg und Regensburg etwa haben vor kurzem nachgewiesen, dass wir unsere alte Telefonnummer zu vergessen beginnen, sobald wir uns die neue einzuprägen versuchen. Was das für uns bedeutet? Nun, auf Rezepte fürs Löschen belastender Erinnerungen werden wir noch warten müssen. Wer freilich genug hat vom alljährlichen Skifahren, der könnte versuchen, eine verwandte Sportart wie das Wellenreiten zu erlernen, und dann, kaum steht er in den nächsten Semesterferien wieder auf den Skiern, kundtun: „Also, keine Ahnung mehr, wie das geht! Und wie viel war noch mal 7 mal 3 plus 365 weniger 2?“ Christian Ankowitsch ist ein österreichischer Journalist und Schriftsteller. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
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