The Red Bulletin_0110_GER

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Ganz wie von selbst

Die Bescheidenheit unseres Gehirns ist kurioserweise einer seiner größten Nachteile. um sich auf unser heutiges thema ein­ zustimmen, setzen sie sich bitte hin und schließen die augen. Versuchen sie nun, mit dem Zeigefinger der linken Hand an ihre nasespitze zu tippen. und? geschafft? „Was soll das denn?“, höre ich sie freund­ lich brummen, „Kinderkram! nichts ein­ facher als das!“ Womit wir auch schon beim thema wären. Denn zu einem der größten nachteile unseres gehirns gehört seine bescheidenheit. Da bewegt es, ohne hinzusehen, den Zeigefinger zielsicher an jeden ort unseres Körpers; da lässt es uns die ergebnisse unzähliger Fußballspiele aufsagen, und da steuert es uns wohl­ behalten durch den Feierabendverkehr. ohne auf sich aufmerksam zu machen. Kein Wunder, dass wir all das für selbst­ verständlich halten. nun, das ist es auch – gleichzeitig auch nicht. aber alles der reihe nach. Denken ist anstrengend und verbraucht eine Men­ ge energie; so wenden wir 20 Prozent un­ serer Kräfte für unser gehirn auf, obwohl es nur rund zwei Prozent unseres Körpers ausmacht. Würden alle Körperteile so wirtschaften, wir wären mit dem eigenen leben – energetisch gesehen – schlicht überfordert (na gut, manchmal sind wir das auch so, aber das ist eine andere ge­ schichte). Daher besteht intelligenz auch nicht darin, möglichst viel zu denken (wäre ja blöd, weil ressourcenfressend), sondern in der Fähigkeit, unser gehirn möglichst wenig zu beanspruchen. Das erreichen wir, indem wir etwa Fähigkeiten wie das Mit­dem­linken­Zeigefinger­an­

Intelligenz besteht keineswegs darin, möglichst viel zu denken, sondern unser Gehirn möglichst wenig zu beanspruchen. die­nase­Fassen dem bewussten Denken entziehen und automatisch ablaufen las­ sen. Das ist gut, hat aber den erwähnten nachteil: Von vielen unserer Fähigkeiten ahnen wir nichts, obwohl wir ihretwegen ständig begeistert herumhüpfen müssten, so bemerkenswert sind sie. Macht nichts, dafür ist ja diese Kolumne da. Weil das gehirn also bescheiden ist und einfach so vor sich hinwerkelt, müs­ sen sich die Wissenschafter immer wieder tricks einfallen lassen, um ihm bei seiner arbeit zusehen zu können. so hat etwa Dr. alessandro Farné vom französischen institut für gesundheitswesen und medi­ zinische Forschung mit ein paar Kollegen untersucht, was sich in unserem gehirn verändert, wenn wir mit einem Werkzeug hantieren. genauer, mit einem mechani­

schen greifer, wie ihn Müllmänner ver­ wenden, um Zeug aufzuheben, ohne sich bücken zu müssen. Das ergebnis der vor einem halben Jahr publizierten studie: schon nach ein paar Minuten stellt sich unser gehirn auf den greifer ein und ver­ mittelt uns das gefühl, einen längeren arm bekommen zu haben. „sobald wir das Werkzeug unserem ‚body schema‘ einverleiben“, sagt Dr. Farné, „können wir es bewegen und kontrollieren, als wäre es ein teil unseres Körpers geworden.“ Wer das nicht glaubt, der sollte ins bad gehen: nehmen sie ihre Zahnbürste, quet­ schen sie Pasta drauf, schließen sie die augen und tun sie, was sie mit der bürste immer tun. und? sehen sie! Der gebrauch dieses Werkzeugs ist uns mittlerweile so in Fleisch und blut übergegangen, dass wir blind Zähne putzen können. genauso ver­ hält es sich mit all den anderen Dingen, mit denen wir häufig hantieren: mit ten­ nisschlägern, skiern, gabeln und golf­ schlägern. nach kurzer Zeit werden sie zu teilen unseres Körpers. und es ist uns, als würden wir mit großen, tellerförmigen Händen nach Filzbällen schlagen oder als hätten wir einen Meter siebzig lange Füße, die ziemlich rutschig sind. nachdem wir das nun wissen und aus­ giebig gewürdigt haben, können wir frei­ lich getrost wieder damit aufhören. Denn am schönsten ist skifahren bekanntlich, wenn wir nicht nur vergessen, dass wir skier an den Füßen haben, sondern ganz in unserem tun aufgehen. Das nennt sich übrigens Flow – und ist ebenfalls eine andere geschichte. Christian Ankowitsch, 50, ist ein öster­ reichischer Journalist, Schriftsteller und Lebenshelfer. Sein neuestes Buch „Dr. Anko­ witschs Kleiner Seelenklempner: Wie Sie sich glücklich durchs Leben improvisieren …“ erschien vor kurzem im Rowohlt Verlag.

Herausgeber und Verleger Red Bulletin GmbH Chefredaktion Robert Sperl, Stefan Wagner (Stv.) Creative Director Erik Turek Art Director Markus Kietreiber Fotodirektion Susie Forman, Fritz Schuster (Stv.) Chefin vom Dienst Marion Wildmann Leitende Redakteure Werner Jessner, Uschi Korda, Nadja Žele Redaktion Ulrich Corazza, Florian Obkircher, Christoph Rietner Grafik Claudia Drechsler, Dominik Uhl Fotoredaktion Markus Kucˇera, Valerie Rosenburg Senior Illustrator Dietmar Kainrath Autor Christian Ankowitsch Mitarbeiter Tom Hall, Alexander Lisetz, Ruth Morgan, Gerhard Stochl Illustratoren Mandy Fischer, Heri Irawan, Lie-Ins and Tigers Augmented Reality Martin Herz, www.imagination.at Lektorat Hans Fleißner Lithografie Clemens Ragotzky (Ltg.), Christian Graf-Simpson, Nenad Isailovic Herstellung Michael Bergmeister Produktion Wolfgang Stecher Druck Prinovis Ltd. & Co. KG, D-90471 Nürnberg Geschäftsführung Karl Abentheuer, Rudolf Theierl Projektleitung Bernd Fisa Sonderprojekte Boro Petric Finanzen Siegmar Hofstetter Verlagsleitung Joachim Zieger Marketing Barbara Kaiser (Ltg.), Regina Köstler Projektmanagement Jan Cremer, Dagmar Kiefer, Sandra Sieder, Sara Varming Anzeigenverkauf Bull Verlags GmbH, Heinrich-Collin-Straße 1, A-1140 Wien; anzeigen@at.redbulletin.com Office Management Martina Bozecsky, Claudia Felicetti Firmensitz Red Bulletin GmbH, Am Brunnen 1, A-5330 Fuschl am See, FN 287869 m, ATU 63087028 Sitz der Redaktion Heinrich-Collin-Straße 1, A-1140 Wien Telefon +43 1 90221-28800 Fax +43 1 90221-28809 Kontakt redaktion@at.redbulletin.com Redaktionsbüro London 14 Soho Square, W1D 3QG, UK Telefon +44 20 7434-8600 Fax +44 20 7434-8650 Web www.redbulletin.com Leserbriefe bitte an leserbriefe@at.redbulletin.com

Das ReD Bulletin eRscheint jeDen eRsten Dienstag im monat. Die nächste ausgaBe giBt es am 2. FeBRuaR 2010.

illustration: albert exergian

Ankowitschs Kolumne belebt Körper und Geist


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