VECTURA #24 Auszug

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SCHÖNER FAHREN

Unter den 15- bis 34-Jährigen – die Gruppe der Neuwagenkunden von morgen oder übermorgen – leben gar sechs Prozent vegan. Dabei haben sich 56 Prozent der Veganer erst in den letzten zwei Jahren dafür entschieden – Swissveg leitet davon einen Trend ab. Die Behauptung, Rinder würden ohnehin für die Fleischproduktion getötet und Leder sei somit nur ein Abfallprodukt, lassen Tierschützer nicht gelten. Damit, so ihr Argument, würde trotzdem die Massentierhaltung unterstützt. 10’000 Menschen haben bereits eine Petition an VW-Chef Matthias Müller unterzeichnet, nach welcher der Konzern auf Kunstleder umschwenken solle. Im Premium- und Luxusbereich ist die Position von Leder noch immer vergleichsweise stark. Der Sitzhersteller Johnson Controls hat beobachtet, dass bei hochpreisigen Fahrzeugen wieder häufiger nach einer Lederausstattung für die Sitze gefragt werde. «Leder ist wieder in und wird mit Premiumqualität assoziiert», so ein Sprecher. Eine Entwicklung sicher nicht zum Kummer von Boxmark, dem mit Abstand grössten Tierhaut-Vermarkter. Neben Bentley gehören auch Audi, VW, BMW, Opel, Mercedes und Bugatti zu den Kunden der Österreicher. Angesichts des vielbeachteten Buchs «Das Seelenleben der Tiere» von Peter Wohlleben klingt die Boxmark-Philosophie, bei Leder handele es sich um einen «nachwachsenden Rohstoff», jedoch regelrecht zynisch. Dass es auch im hochpreisigen Segment alternative Ansätze geben kann, zeigt das Beispiel Daimler: Modelle wie der neue Mercedes-AMG GT werden serienmässig mit der Ledernach­ bildung Artico, häufig in Verbindung mit der Mikrofaser Dinamica, ausgeliefert. Damit wird das Argument, Kunstleder sei spiessig, ad absurdum geführt: Mikrofaser kommt direkt aus dem Motorsport und garantiert Rutschfestigkeit auf Sitzen und am Lenkrad. Auf Bestellung kann jeder Mercedes-Kunde auch sein Lenkrad mit Kunstlederbezug bestellen.

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ie Flügeltür des Tesla Model X öffnet sich, der Blick fällt auf eine ganz in «Ultra-Weiss» daliegende Sitzlandschaft. Die unschuldig wirkende Optik passt zum Material, nehmen Kunden des Elektro-SUVs doch in einem veganen Innenraum Platz. Denn nicht nur die Sitze, auch das Lenkrad und die Türinnenseiten sind in der Basis-Ausstattung mit Synthetik-Leder bedeckt. Nach sanftem Druck der Tierschutzorganisation PETA und kritischen Nachfragen auf der letzten Aktionärsversammlung rang sich der Elektrowagen-Pionier zu einem Auto ohne Tierhäute durch. Dessen Oberfläche fühlt sich so geschmeidig an, dass das Argument, mit Kunstleder die vom Kunden gewünschte Kuschel-Haptik nicht erreichen zu können, hinfällig ist. Selbst Experten bekennen, mittlerweile Leder- und Kunstleder nur noch mühsam unterscheiden zu können. Zum Teil katastrophale Verhältnisse bei Leder-Fabrikanten in Brasilien und Bangladesch haben es gezeigt: Nach der Pelztierbranche könnten die Autobauer als Nächste in den Fokus von Tier- und Umweltschützern geraten. Laut einer Umfrage des Interessenverbandes Swissveg vom März dieses Jahres ernähren sich elf Prozent der Schweizerinnen und Schweizer vegetarisch; drei Prozent verzichten als Veganer völlig auf tierische Produkte.

Die 1970 von einem Japaner zum Patent angemeldete Microfaser Alcantara erfreut sich bei den Porsche-GTS-Modellen grosser Beliebtheit – aber nicht nur dort. Alcantara ist der Handelsname eines auf Polyester und Polyurethan basierenden Mikrofaservliesstoffs und wird fälschlich auch als «Wildleder» tituliert. In Lizenz stellt es seit 1974 exklusiv die Alcantara S. p. A. in Terni (Umbrien) her. Erstes Auto mit Alcantara-Interieur war 1978 der von Bertone gestylte Fiat-Mittelmotorwagen X 1/9. Die Produktion von Alcantara ist zwar ähnlich aufwändig wie die von Leder. Dafür ist die Qualität gleichbleibend, es gibt keinen Verschnitt. Das Material ist alterslos und kratzfest; dazu wasserabweisend, feuerfest, antistatisch, atmungsaktiv, allergieneutral und faltenfrei aufspannbar. Und 50 Prozent leichter als Leder tierischen Ursprungs. Ein ebenfalls sehr weiches, aber glatteres Kunstleder ist das unter anderem im Volvo XC60 verlegte Acella der Conti-Tochter Benecke-Kaliko. «Echtes Leder wird heute in der Automobil­ industrie fast nicht mehr eingesetzt, weil Kunstleder haltbarer ist», sagt Continental-Sprecher Mario Töpfer. Acella glänzt mit weicher Haptik, ist alterungs- und abriebbeständiger als Echtleder und speziell bei Taxis und Behördenfahrzeugen sehr beliebt. «Das vermeintliche Naturprodukt Leder ist nur schwierig in gleichbleibender Qualität zu bekommen», argumentiert Töpfer. Da Kuhhaut keine ideale geometrische Form besitzt und natürliche Fehler HERBST 2017 035


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