VINSCHGER THEMA
„Einfach nur da sein“ Betroffenes Elternpaar und Psychologe sprechen über den Umgang mit Trauer und Schuldgefühlen nach einem Suizid. SCHLANDERS - Einiges hat sich zwar verbessert, aber es ist zum Teil noch immer schwierig, frei und ohne Tabus über das Thema Suizid zu sprechen. Oft sind es Schuld- und Schamgefühle, die Verwandte und Freunde von Suizidopfern daran hindern, offen zu reden, Hilfe zu suchen oder sich mit anderen auszutauschen. Nicht so Christine und Walter Schullian aus Kaltern. Andreas, einer ihrer zwei Söhne, geboren 1982, war am 1. März 2011 durch Suizid gestorben. „Für uns war sofort klar, dass wir nichts verstecken möchten. Schon in der Kirche sollte darüber geredet werden“, sagte das Ehepaar kürzlich bei einem Gesprächsabend zum Thema „Suizid - Gehen ohne Abschied“ in der Aula Magna der Mittelschule Schlanders. Auch den Psychologen Anton Huber, der im Krankenhaus Bruneck den Bereich Krankenhauspsychologie koordiniert, hatte der Verein Lichtung in Zusammenarbeit mit der KVW-Ortsgruppe Schlanders und mit KVW Bildung zum Abend eingeladen. Moderiert hat Hans Schwingshackl.
„Mit sich selbst nie zufrieden“ Offen, ehrlich und mutig zeichneten Christine und Walter das Leben ihres Sohnes Andreas nach. Schon als Kind habe er unerklärliche Ängste gehabt und alles hinterfragt. Während des Maturajahrs habe ihn die Frage umgetrieben, was er nachher tun soll „und sagte zum ersten Mal: ich brauche Hilfe“, so Walter Schullian. Andreas begann, in Innsbruck zu studieren, fiel aber nach rund 9 Monaten in eine Depression. Er brach das Studium ab und absolvierte verschiedene Praktika, u.a. in einer Bücherei und Gärtnerei. Walter: „Alle waren mit seinen Arbeiten zufrieden, er aber war mit sich selbst nie zufrieden.“ 2004 unternahm er einen Suizidversuch, den er ohne schlimmere Folgen überlebte. Später nahm er mit Begeisterung ein zweites Studium in Angriff, steckte seine hohen Anforderungen an sich selbst aber nicht zurück. Christine: 4
DER VINSCHGER 07/22
„Ich habe ihm oft gesagt: Niemand zwingt unserer Gesellschaft überhaupt. Viele Mendich, so gut zu sein, nur du selbst.“ Andreas schen kommen mit dem allgegenwärtigen sei es nicht gelungen, die hohen Ansprüche Leistungs- und Erfolgsdruck nicht zurecht: an sich selbst herunterzufahren: „Er wollte „Alle wollen perfekt sein, schön, intelligent, immer in allem perfekt sein und hatte Angst, super und erfolgreich.“ Viele hätten Angst, nicht zu entsprechen.“ sich so zeigen, wie sie sind. Gefühle und Emotionen werden oft unterdrückt. Laut Huber dürfe nicht alles dem Erfolg unterge„Wir taten, was wir konnten“ ordnet werden. Suizide geschehen oft auch Der Suizid von Adreas am 1. März 2011 aus einem Impuls heraus: „Die Ursache ist stellte das Leben seiner Familie vollstän- oft nicht in irgendetwas Schlechtem aus der dig auf den Kopf. Auf die Frage von Hans Kinderzeit zu suchen.“ Das Aufgehobensein Schwingshackl, ob auch Schuldgefühle in der Familie und in der Gemeinschaft sei aufkamen, stimmten Christine und Walter enorm wichtig: „Jeder Suizid ist eine Watüberein: „Wir haben getan, was wir konnten sche für die Gesellschaft.“ und als Eltern alles versucht, um unserem Sohn zu helfen.“ Von insgesamt 12 verschie- „Trauer ist Schwerstarbeit“ denen Therapeuten war Andreas behandelt worden, unter anderem auch mit Medika„Trauer ist Schwerstarbeit. Die Vielfalt menten. „Der Schock nach dem Suizid war der Gefühle reicht von Ohnmacht, Wut gewaltig und unfassbar“, sagte Christine. und Leere bis zu Schuld und Scham“, so der Ohne die Nachbarn, das gute soziale Umfeld Psychologe. Die Frage nach dem Warum und die Freunde wäre es kaum möglich ge- könne den Trauerprozess für lange Zeit wesen, diese schwere Phase zu überbrücken. blockieren. Anton Huber dankte dem Ehepaar Schullian für den Mut, offen über ihre Kraftquellen suchen Erfahrungen zu reden und damit Menschen, die ähnliches Leid erfahren, zu helfen. Auch Das soziale Umfeld sei wie ein Sprungtuch das sei Präventionsarbeit. Die Prävention ist gewesen, „in das wir hineinfallen durften eines der wichtigsten Tätigkeitsfelder des und das uns auffing.“ Das Wichtigste sei Vereins Lichtung. Der Verein wurde 1997 als gewesen, „dass Menschen unsere Nähe eine landesweite Interessenvertretung für suchten und einfach da waren.“ Was es in Menschen mit psychischen Erkrankungen solchen Situationen hingegen nicht brauche, gegründet. Ziel ist es, sich für die Anliegen „sind Mutmaßungen und Ratschläge, denn dieser Menschen einzusetzen und ihnen ersie können wie wirkliche Schläge sein.“ gänzend zu den medizinischen und sozialen Noch mehr gelte das für Verurteilungen. Diensten konkrete Unterstützungsangebote „Niemand hat das Recht zu urteilen“, hat zur Verfügung zu stellen. Dazu gehören vor der damalige Dekan Erwin Raffl bei der allem: Selbsthilfe, Freizeitaktivitäten sowie Beerdigung von Andreas gesagt. Was die kunst-therapeutisch Angebote. Der Verein Trauer betrifft, so sei diese laut Christine hat seinen Sitz in Bruneck (Tel. 0474 53 02 und Walter ebenso zuzulassen wie die Art 66; E-Mail: info@lichtung-girasole.com). und Weise von Trauer: „Alle trauern auf ihr Art, Frauen oft anders als Männer.“ Auch Eine Frage des gesellschaftlichen Klimas Auszüge aus den zwei Abschiedsbriefen von Andreas lasen sie vor. Im zweiten Brief In einem Nachgespräch zitierten Chrisschriebt Andreas: „Ich bin unendlich ein- tine und Walter als weiteren Betroffenen sam“. In der Einsamkeit sieht der Psychologe Ernst Leo „Golli“ Marboe, Medienexperte Anton Huber eines der größten Probleme aus Wien. Er hat als Vater des 29-jährigen