PASTA! September - Kommt die Bahn?

Page 29

INTERVIEW

pasta! Der Athanor ist ein Ofen, den Alchimisten bei Brennprozessen nutzten. Soll demnach in Ihrer Akademie gezündelt werden? ESRIG Das Zündeln wird bei uns an der Akademie gern gesehen. Denn wenn es auf der Bühne nicht brennt, weiß ich nicht, wofür wir überhaupt Theater machen. Was sich auf der Bühne oder vor der Kamera abspielt, ist nicht nur ein rationaler Prozess, sondern auch ein emotionaler. Im Idealfall stellt sich die dramatische Kunst so reich und mysteriös dar wie das Leben selbst. Deshalb wollen wir an unserer Akademie Rebellen haben – und keine Sklaven. pasta! Ist die Theater- und Filmbranche nicht viel zu stark kommerzialisiert, als dass von ihr eine Rebellion ausgehen könnte? esrig Die Kommerzialisierung der Theater- und Filmbranche lässt sich nicht leugnen. Kommerz und Profit dürfen natürlich nicht der einzige und eigentliche Zweck der dramatischen Kunst sein. Neben der reinen Unterhaltung besteht unsere Aufgabe darin, unangenehme Fragen zu stellen und die Zuschauer wachzurütteln. Gelingt das, kann das Theater eine große Kraft entfalten. Während meiner Tätigkeit als Regisseur durfte ich mit sehr guten Schauspielern zusammenarbeiten, unter anderem mit Max Eckard, Starschauspieler unter Gustaf Gründgens. Max Eckard erzählte mir, welch heftige Reaktionen manche Theateraufführungen im Dritten Reich hervorriefen. Wenn es bei Schiller hieß „Geben Sie Gedankenfreiheit!“, habe sich das Publikum erhoben – ohne Angst vor den Spitzeln, die unter den Zuschauern waren. Dass meine Inszenierungen in Rumänien während der Diktatur Ceaușescus verboten wurden, unterstreicht ebenfalls die potenzielle Wirksamkeit der dramatischen Kunst. pasta! Während Ihrer Tätigkeit als Schauspieldirektor am Stadttheater Essen haben Sie mit Adele Neuhauser zusammengearbeitet. Vielen ist sie bekannt durch ihre Rolle im Wiener Tatort, in dem sie die Ermittlerin Bibi Fellner spielt. Adele Neuhauser äußert sich sehr lobend über ihre Zeit am Stadttheater Essen. Erst durch die Zusammenarbeit mit Ihnen habe sie das Handwerk richtig gelernt. esrig Adele Neuhauser ist eine wunderbare Schauspielerin. Sie verfügt über eine große Sensibilität. Am Stadttheater Essen waren Anfang der 80er Jahre viele gute Schauspieler, aber mit Adele habe ich wahrscheinlich am intensivsten zusammengearbeitet. Sie verstand sofort, worum es geht. Wir stehen noch immer in Kontakt. Es gibt ein Stück von August Strindberg, Die Stärkere, in dem es um zwei rivalisierende Frauen geht. Mein Wunsch wäre es, dass Adele in einer multimedialen Aufführung beide Rollen spielt – nachdem ich das Stück zunächst mit einer unserer Studentinnen eingeübt habe. Adele habe ich schon von der Idee erzählt. Sie ist interessiert. SEPTEMBER 2016

pasta! In der Athanor Akademie bereiten Sie die Studierenden sowohl auf eine Tätigkeit am Theater als auch beim Film vor. Inwiefern ähneln sich die Anforderungen an Theater- und Filmschauspieler? esrig Theater- und Filmschauspieler stehen vor der Herausforderung, das fiktive Geschehen so zu erleben, als ob es real wäre. Darin besteht der Kern der Schauspielkunst, egal ob auf der Bühne oder vor der Kamera. Gelingt das, gewinnen die Zuschauer den Eindruck, inmitten eines echten Geschehens zu sein. Dieser Ansatz des als ob geht auf den russischen Schauspieler und Regisseur Konstantin Sergejewitsch Stanislawski zurück – seine

„Das fiktive Geschehen so zu erleben, als ob es real wäre – darin besteht der Kern der Schauspielkunst.“ — DAVID ESRIG

Methode ist übrigens das einzig Interessante, das während der Diktatur in Rumänien aus der Sowjetunion importiert wurde. Als Schauspieler muss man also sowohl im Theater als auch beim Film die Kraft aufbringen, das Drumherum zu ignorieren; zugleich sollte man sich möglichst genau vorstellen können, wie es wäre, die zu spielende Figur in der jeweiligen Situation zu sein. Man braucht als Schauspieler also eine große Vorstellungskraft und Sensibilität, um sich mit einer Figur oder einer Sache zu identifizieren, ohne sich selbst dabei zu verlieren. pasta! Wie können Sie bei den Aufnahmeprüfungen Ihrer Akademie herausfinden, ob jemand diese Fähigkeiten hat? esrig In erster Linie, indem wir uns relativ viel Zeit nehmen. Unsere Aufnahmeprüfung dauert zwei Tage. In einem ersten Schritt müssen die Bewerber das präsentieren, was sie vorbereitet haben, meistens Monologe. Daraufhin geben wir ihnen die Möglichkeit, mit uns zu proben und an diesen Monologen zu arbeiten. Durch diese relativ aufwendige Aufnahmeprüfung wird einerseits deutlich, ob ein Schauspieler genügend Vorstellungskraft hat, andererseits, ob er die Fähigkeit besitzt, sich zu entwickeln. Genauso läuft es bei den Regisseuren: Auch sie präsentieren zunächst ihre Regiekonzepte. Danach machen wir unsere Vorschläge und diskutieren darüber. Wir suchen Leute, die in der Lage sind, etwas zu entwickeln. Nur etwas nachzuplappern und zu imitieren reicht nicht. Sensibilität, Offenheit und die Bereitschaft, sich selbst einzubringen, sind uns sehr wichtig. 29

k


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.