Ausgabe 133 (Mai 2021)

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Ann Dargies Darmstädter Typ T E X T: M I R I A M GA RT LGRU BE R | FOTO: NOU K I E H L E RS, NOU K I.C O

„Wenn ich über mein Leben erzähle, muss ich mit einem Familiengeheimnis anfangen“, sagt Ann Dargies. „Seit 69 Jahren lebe ich mit einem geschenkten Nachnamen.“ Ihr Vater stamme aus Litauen und sei nach dem Versuch, sein Land zu verlassen, in ein Arbeitslager gekommen. „Von dort konnte er nur fliehen, weil ihm ein Mithäft­ ling seinen Namen überließ. Mit seinem rich­ti­gen Namen ,Kilkuz' wäre er zurück ins Lager nach Sibirien gekommen, er hätte nicht in Deutschland bleiben können.“ Ann ist dankbar, dass es so gekommen ist, denn: „Die Botschaft für mich ist, dass es nicht die Deutschen, Rus­sen oder Ame­ rikaner gibt, sondern dass der einzelne Mensch zählt. Bis heute ist das mein Antrieb im Leben und in der Kunst.“ Kunst ist laut Ann etwas, das sie seit ihrer Kindheit begleitet. Aufgewachsen ist sie mit vier Geschwistern im ehemaligen Kapuzinerkloster in Dieburg – früher litauische Mission. „Wir hatten nicht viel Geld und, wenn andere zum Reiten gingen, spielten wir Theater oder haben getanzt.“ Später war sie als Zahnarzthelferin, Sozialarbeiterin und Fachschullehrerin tätig, bis Ann klar wurde, dass sie das

Theaterspielen von Grund auf lernen möchte. „Ich habe mich an der Hochschule der Künste in Berlin beworben und 1989 mit Gisela Eitel ein eigenes Theater gegründet.“ Seit 35 Jahren ist Ann nun im Darmstädter Theater Transit als freiberufliche Theatermacherin tätig, sie leitet die Schule für Clown und Ensembletheater und arbeitet als Schauspielpädagogin. In Rente gehen will sie noch lange nicht – auch wenn die aktuelle Zeit hart ist. Seit der Pandemie seien über 60 Prozent der Ein­ nahmen weggefallen – doch irgendwie haben sie und ihr Team es geschafft, sich über Wasser zu halten: „Das Theater Transit lebt und wir wollen, dass es weitergeht.“ Über die Corona-Situation anderswo erfahre sie regelmäßig von Freunden. Diese hat Ann „an nicht wenigen Orten der Welt“, denn sie liebt „die Notwendigkeit der interkulturellen Reibung in ihrem Leben und Theater“, wie sie betont. Nach der Pandemie werde unsere Gesellschaft eine andere sein, schätzt die lebenserfahrene Frau, aus deren Augen oft kindliche Begeisterungsfähig­ keit strahlt: „Wir werden lernen müssen, mit weni­ ger auszukommen und in meiner Vorstellung wird dadurch alles besonderer werden.“ ❉ P | 65


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