oora 47 • Freiheit

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14. Jahrgang • 1/2013 • Nr. 47 (März) 5,50 EUR/7,50 SFr (Einzelpreis)

www.oora.de

Die christliche Zeitschrift zum Weiterdenken

Freiheit  Die nehm ich mir

Denkverbot Fehlende Redefreiheit unter Evangelikalen  Seite 25

Meer mit Himmel Leben in Freundschaft mit Gott  Seite 32

Cora Gehörlos Hip Hop tanzen  Seite 36


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31. MAI – 2. JUNI 2013 RITTAL ARENA WETZLAR


Aus dem oora versum

Editorial Das Team von links nach rechts: Anne, Matthias, Johanna, Daniel, Jörg, Kathinka, Michael

Freiheit ist ein Gut, das durch Gebrauch wächst, durch Nichtgebrauch dahinschwindet. — Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) — Mickeys Wissenschaft Als Jörg in der wissenschaftlichen Bibliothek Ansbach nach einem theologischen Buch suchte, entdeckte er die gesammelten »Mein Freund Gott und ich«-Kolumnen in der Nähe von Martin Luther und Karl Barth. Schön, dass die Kolumnen, die Mickey seit zehn Jahren mit uns teilt, offenbar auch auf wissenschaftliches Interesse stoßen.

Johanna unterwegs Alle drei Monate macht sich Johanna für oora auf den Weg zu interessanten Persönlichkeiten und kreativen Köpfen. Diesmal traf sie sich in München mit einer gehörlosen ­Hip-Hop-Tänzerin und bekam Einblicke in eine ihr bis dahin unbekannte Welt (Seite 36).

Abschied und Ausblick Michael Zimmermann wird aus privaten Gründen im Juni als Redaktions­leiter und Herausgeber zurücktreten. Diese Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Wir als ooraTeam bedauern Michaels Rücktritt sehr. Welche Auswirkungen dies auf die Zukunft von oora hat, werdet ihr in Kürze erfahren. Freiheit

deutscher Physiker, Wissenschafts-Philosoph und Friedensforscher

// Mit Freiheit muss man leben können – und nicht jeder kann es. Tragisch deutlich macht das eine Szene in dem hervorragenden Film »Die Verurteilten«, in der sich drei Gefangene über ihren Mithäftling Brooks unterhalten, dem nach über fünfzig Jahren das Ende seiner Haft bevorsteht: Red: »Brooks ist kein Spinner. Es ist nur so, dass er ohne den Laden hier nicht zurechtkommt.« Heywood: »Den Laden hier, ich glaub’ ich tick nicht richtig.« Floyd: »Ich glaube, Red, du quatschst ’ne ziemliche Scheiße.« Red: »Glaub’ von mir aus, was du willst, Floyd. Die Mauern hier sind schon komisch. Anfangs hasst du sie, nach ’ner gewissen Zeit gewöhnst du dich dran, und wenn noch mehr Zeit vergangen ist, kannst du ohne sie nicht mehr leben. Das nenne ich dann Abhängigkeit.« Nicht für jeden bedeutet Freiheit dasselbe. Was für den einen freiheitliche Errungenschaft ist, ist für den anderen selbstverständlich. Der Nächste will es womöglich gar nicht. Wir geben trotz aller Relativität und Subjektivität auf Seite 9 eine Anleitung zur Freiheit. Auf Seite 16 zeigen Fotografen ihre ganz persönlichen Freiheitsbilder und kommen dabei ganz ohne Sonnenuntergänge und karibische Kitschstrände aus. Dass freiwillige Bindung wunderbar freisetzend sein kann, stellt unser frisch verheirateter Autor auf Seite 18 fest. So unterschiedlich die subjektive Auffassung von Freiheit sein mag, ein gemeinschaftlicher Ruf nach ihr kann Gesellschaften umwälzen. So wie in den 60er Jahren in Nicaragua (Seite 12). »Zur Freiheit hat Christus uns befreit! Bleibt daher standhaft und lasst euch nicht wieder unter das Joch der Sklaverei zwingen!«, ­erinnert Paulus in Galater 5,1. Wir wünschen uns und euch, dass auch wir uns immer wieder an den Ruf zur Freiheit erinnern und ihren Weg gehen – auch wenn es unbequem wird.

In Freundschaft, dein oora-Redaktionsteam

oora.de

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Inhalt

oora

Artikel, die mit dem Lautsprecher gekennzeichnet sind, gibt es als Audioversion in iTunes und auf www.oora.de/audio.

Schwerpunkt: Freiheit 6 Visionen der friedlichen Revolution Resümee nach 20 Jahren Deutscher Einheit

Dr. Albrecht Schröter

9 Anleitungen zur Freiheit

Johanna WeiSS

10 Die Gottes-Formel Bedeutung der Freiheit aus biblischer Sicht

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Mickey Wiese

Gott befreit Die Befreiungstheologie von Solentiname

Bernhard Offenberger

16 Meine Sicht Was ist Freiheit?

Redaktion: Johanna WeiSS

18 Game over Freiheit verlieren, um sie zu gewinnen

Veit Lange

20 Freies Land Zwei Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland

Anne Coronel-Lange

22 Marionette oder Regisseur Die Geschichte des freien Willens Christian BeSS

25 Denkverbot Fehlende Redefreiheit unter Evangelikalen Interview: Daniel Hufeisen

Quergedacht 26 Neues aus dem Hinterhof der Geistlichkeit Burak Kolumne: Axel Brandhorst

29 Die Ethikfrage 30 oora-Herzschlag: Kopf-Herz-Ding Ganzheitlich Jesus nachfolgen Kathinka Hertlein

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Meer mit Himmel Leben in Freundschaft mit Gott Judith Schellenberger

35 Die Macht der Ohnmächtigen Erkenntnisse vom Emergent Forum 2012

Dominik Sikinger

36 Cora Gehörlos Hip Hop tanzen

Johanna WeiSS

41 Heute im Gespräch Xanthippe, die Frau des Sokrates

Fred Ritzhaupt

42 Unter der Oberfläche Das Diktat der Entspannung Kolumne: Linda Zimmermann

44 Lied: I still believe - Jeremy Camp

Erklärung: Michael Zimmermann

45 Buchrezensionen 46 Unter Freunden Über den wachsenden Wert von Freundschaft Günter J. Matthia

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Mein Freund Gott und ich Wie Gott mich zu einem guten Nachrichter machte

Kolumne: Mickey Wiese

50 Dein Projekt: Serve the City Bremen

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Andreas Petry


oora

fragt:

Wie würdest du eine Zeit im Gefängnis sinnvoll nutzen?

Holger (31) aus Lyss

Annette (33) aus Ansbach

Werner (63) aus Würzburg

Rebekka (27) aus Hof

Frei nach meiner GefängnisPhantasie-Vorstellung würde ich wie Nelson Mandela um 5 Uhr aufstehen, um meinen Morgensport zu machen, ab 6 Uhr würde ich wie Tim Robins in »Die Verurteilten« an meinem Fluchttunnel graben und ab 7 Uhr würde ich wie Paulus an meinen Briefen schreiben und versuchen, den Gefängnisalltag zu überleben.

Wenn mein Leben viel zu bunt ist und mir all die Möglichkeiten über den Kopf wachsen, stell ich mir das Leben im Gefängnis wirklich angenehm vor: geordneter, unveränderbarer Alltag, wenig Entscheidungen und begrenzte soziale Kontakte. Dass dies genau die Strafe ist, weiß ich in klaren Momenten auch.

Ich würde Kalligraphie erlernen und die Bibel mit Federhalter abschreiben, Wort für Wort, Satz für Satz, Abschnitt für Abschnitt, alle Bücher.

Ich würde viel in der Bibel ­lesen und mit Gott reden. Und ich hoffe, dass ich inspiriert genug wäre, jede Menge gute Texte und Songs – mit welchen Mitteln auch immer – zu schreiben.

Impressum Nummer 47 • 1/2013 ISSN 2191-7892 Herausgeber: oora verlag GbR, Jörg Schellenberger und ­Michael Zimmermann, Dollmannstraße 104, 91522 Ansbach Redaktionsleitung: Jörg Schellenberger, Michael Zimmermann (info@oora.de) Redaktionsteam: Anne Coronel-Lange, Kathinka Hertlein, Daniel Hufeisen, Matthias Lehmann, Jörg Schellenberger, Johanna Weifl, Michael Zimmermann Lektorat: Ina Taggeselle Anzeigen: Jörg Schellenberger (joerg@oora.de) Gestaltung: Johannes Schermuly, www.ideenundmedien.de Druck: Onlineprinters GmbH, Neustadt a. d. Aisch

Abonnement: oora erscheint viermal im Jahr (März, Juni, ­September, Dezember) und kostet 18,50 EUR in Deutschland bzw. 24,50 EUR in anderen europäischen Ländern. Darin sind Mehrwertsteuer und Versandkosten bereits enthalten! Das Abo kann immer bis sechs Wochen vor Bezugsjahres­ende ­gekündigt werden. Eine E-Mail an service@oora.de genügt. Das gilt nicht für Geschenk-Abos, die automatisch nach einem Bezugsjahr enden. Einzelpreis: 5,50 EUR/7,50 SFr. Bei allen Preisangaben innerhalb dieser Ausgabe von oora gilt: Änderung und Irrtum vorbehalten. Mengenrabatt: Ab 10 Hefte: 5,00 EUR pro Heft, ab 20 Hefte: 4,50 EUR pro Heft (inkl. Versand) Bankverbindung: oora verlag GbR, Konto-Nr. 836 89 38, BLZ 765 500 00, Sparkasse Ansbach IBAN: DE18 76550000 0008 3689 38, BIC: BYL ADEM1ANS

Leserservice: oora Leserservice, Postfach 1363, 82034 Deisenhofen, Telefon: 089/858 53 - 552, Fax: 089/858 53 - 62 552, service@oora.de © 2013 oora verlag GbR • www.oora.de Bilder: Titelbild: LisaP. - photocase.com S.2 Mickey Wiese: www.wellenwerk.de; S.6: chrisbulle - Flickr; S.8: Barbara Glasser; S.12: Stoschmidt (CC BY 3.0); S.14: Alexrk2 (CC BY-SA 3.0); S.26: la imagination-Photocase; S.30: m.edi - Photocase; S.32: behrchen - Photocase; S.42: FemmeCurieuse - Photocase; S.44: Ray Majoran - Wikipedia (CC BY 2.0); S.46: Fotoline - Photocase Alle weiteren von oora oder von privat.

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Gott befreit Die Befreiungstheologie von Solentiname Text: Bernhard Offenberger

Audioversion unter www.oora.de/audio

Blick auf den Nicaraguasee bei Mancarr贸n, einer Insel des Archipel Solentiname.

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Das Thema Freiheit bewegt Christen zu allen Zeiten. Für eine seit Ende der 1960er-Jahre bei einfachen Leuten entstandene Bewegung ist Freiheit sogar ein Teil des Namens: die Befreiungstheologie. Unser Autor nimmt uns mit nach Lateinamerika zu den Anfängen dieser Bewegung. // Ich möchte hier einige Menschen vorstellen: Olivia, Laureano, Tomás und Rebeca. Sie leben weit weg und sind uns trotzdem mit ihren Erfahrungen und den Fragen, die sie an ihren Glauben stellen, nahe. Sie wohnen auf Solentiname, einer kleinen Inselgruppe im großen See von Nicaragua. Es ist um das Jahr 1973. Solentiname liegt weit abseits von den Zentren politischer Entscheidungen, von Handelsrouten und Touristenströmen, abseits der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit – und doch liegt es mitten drin in der befreiungstheologischen Bewegung.

Eine Grundüberzeugung ist, dass Gott sich auf die Seite der Armen und Ausgebeuteten stellt. Olivia, Laureano, Tomás und Rebeca arbeiten als Bäuerinnen und Fischer, sie bewegen sich mit kleinen Booten zwischen den Inseln, auf denen ungefähr 1000 Menschen leben. Viel haben sie nicht, aber sie feiern gerne oder diskutieren, manche von ihnen sind Künstlerinnen und Künstler und malen die Alltagsszenen der tropischen Inseln mit kräftigen Farben, die der üppigen Natur entsprechen. Auf einer der Inseln befindet sich eine kleine Kirche, an der der Priester Ernesto Cardenal mit einer Laiengemeinschaft lebt. In dieser Kirche kommen die Menschen der verschiedenen Inseln zusammen, um Gottesdienste auf ihre Art zu feiern. So abgeschieden sie sind, so intensiv setzen sie sich auch mit den Entwicklungen in Nicaragua und weltweit auseinander. Nicaragua ist in dieser Zeit von der Diktatur der Familie Somoza geprägt, die bis 1979 die politische Macht sowie die Kontrolle über das Militär und wichtige Wirtschaftszweige innehat. Passend zum Schwarz-Weiß-Denken des Kalten Krieges wurden auch in Solentiname wie im Rest des Landes alle Kritikerinnen und Kritiker des Regimes als »Kommunisten« gebrandmarkt, während die Diktatoren ihr eigenes System mit massiver Propaganda schützten. In dieser Situation nehmen die Frauen und Männer von Solentiname die Entwicklungen im restlichen Lateinamerika sehr aufmerksam wahr – etwa die Revolution auf Kuba oder die Bürgerkriege in den Nachbarländern. Warum stelle ich diese einfachen Menschen vor und nicht die »Köpfe« der Bewegung? Es gibt durchaus einige Theologinnen und Theologen, Priester oder Bischöfe, die durch ihre Bücher und in ihren Leitungsfunktionen dazu beigetragen haben, dass Befreiungstheologie weltweit hörbar wurde. Sie fassten die Erkenntnisse und Denkwege der befreiungstheologischen Bewegung zusammen und halfen dadurch, dass auch Menschen im »Westen« verstehen und ernst nehmen konnten, was in dieser Bewegung passiert. Doch erscheint es mir wichtig, die BefreiFreiheit

ungstheologie nicht als Produkt oder Verdienst einzelner großer Theologen darzustellen, sondern als gemeinsamer Weg vieler Menschen, die sich auf die Spuren Jesu gemacht haben und dabei die Botschaft vom Reich Gottes neu entdeckt haben – so wie Olivia, Tomás und die anderen in Solentiname. Gottesdienste einmal anders In Solentiname laufen die Gottesdienste anders ab als andere katholische Messen. Oft sind sie eingebettet in kleine Feiern und gemeinsames Essen. Die Begegnungen untereinander sind genauso wichtig wie die Feier des Abendmahls. Im Zentrum der Gottesdienste steht eine Predigt, die keine normale Predigt ist: Statt einer 20-minütigen Rede wird gemeinsam in der Bibel gelesen und über den jeweiligen Abschnitt gesprochen. Dabei lesen oft die Jüngeren aus der Bibel vor, weil viele Ältere selbst nicht lesen können. Und im Gespräch können alle ihre Fragen und Gedanken einbringen. Es geht um Fragen des Alltags, um die Gründe für die letzte Schlägerei auf dem Dorffest oder um die Erziehung der Kinder, aber auch um Politik, die Somoza-Diktatur, um Sehnsüchte nach einer Revolution, um gerechtere Wirtschaftsverhältnisse in Nicaragua und ganz Lateinamerika. Ein kleiner Abschnitt aus einem Gespräch über die Versuchung Jesu bringt das zum Ausdruck. Im Gottesdienst lesen die Versammelten den Bibeltext Lukas 4,6-7 und kommen danach ins Gespräch: »Und der Teufel sprach zu Jesus: Alle diese Macht und ihre Herrlichkeit will ich dir geben. Denn sie ist mir übergeben, und ich gebe sie welchem ich will. Wenn du niederkniest und mich anbetest, so wird alles dein sein.« Laureano: Der versteht es, Propaganda zu machen, dieser Teufel. Genau wie unsere politische Propaganda. Da kommt irgendein Mann in ein Dorf und verspricht das Blaue vom Himmel, damit die Leute ihn wählen. Wenn sie ihn dann gewählt haben, lösen sich alle Versprechungen in Luft auf. Olivia: Der Teufel wollte von Jesus angebetet werden, weil er selbst Gott sein wollte. Ein anderer: Er bot ihm ein imperialistisches Messiastum an. Julio fragt: Wäre das denn ein guter Imperialismus geworden, wenn er von Jesus gekommen wäre? Felipe: Nein, wenn Jesus dieser Versuchung nachgegeben hätte, dann wäre sein Imperialismus genauso schlecht wie der aller anderen gewesen. Ernesto Cardenal: Warum sagt der Teufel wohl, dies alles sei ihm gegeben worden? William: Er hat es an sich gerissen. Das ist die Diktatur. Er hat die Macht, aber keine legitime Macht, sondern eine gestohlene. Der Imperialismus und der Kapitalismus, das ist alles er. Wir haben die Aufgabe, dem Teufel all das wegzunehmen, was er sich angeeignet hat, allen Reichtum der Welt. Diese Versuchung Jesu ist auch ein Gleichnis für das, was heute geschieht: Die, die Macht haben, machen dem Volk Versprechungen, damit das Volk sie anbetet ... (aus »Das Evangelium der Bauern von Solentiname« von Ernesto Cardenal)

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Honduras

Nicaragua

Inselgruppe Solentiname

Costa Rica

Info: Solentiname Solentiname ist eine Inselgruppe im Nicaraguasee, der im Süden Nicaraguas an der Grenze zu Costa Rica liegt. Auf den 36 Inseln können – dem mittelamerikanischen tropischen Klima entsprechend – viele exotische Vögel, Fische und Landtiere beobachtet werden. Unter den etwa 1000 Inselbewohnern sind neben Fischern und Bauern auch viele Poeten, Maler und Kunsthandwerker. Die Künstler von Solentiname sind berühmt für ihre farbenprächtigen Gemälde und kunstvoll geschnitzten Tierfiguren, die in alle Welt verkauft werden. In den 1960er-Jahren erkannte der Priester Ernesto Cardenal das künstlerische Potenzial der Menschen und Natur auf Solentiname. So wurde das Kunsthandwerk für die Inselbewohner in dieser vergessen Ecke des zweitärmsten Landes des amerikanischen Kontinents eine Möglichkeit, Geld zu verdienen und ihrer Freude an der paradiesischen Natur Ausdruck zu verleihen. Die Kunst und die im Artikel beschriebene Befreiungstheologie prägen die Inseln seit gut 50 Jahren. Durch das Veröffentlichen des Buches »Das Evangelium der Bauern von Solentiname« wurde Solentiname auch in Europa bekannt. Der Name der abgelegenen Inseln steht bis heute weltweit für Solidarität mit den Armen.

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Gott auf der Seite der Armen Die Gemeinschaft von Solentiname ist eine typische Basisgemeinde, wie sie zu dieser Zeit an vielen Orten – insbesondere in Lateinamerika – entstanden sind, also eine Gemeinde, die sich von unten, von den Mitgliedern her, organisiert und sich nicht von der kirchlichen Hierarchie bestimmen lässt. Viele dieser Gemeinden kamen ohne Priester aus, da sie sich die biblische Botschaft selbstständig erschlossen. Eine Grundüberzeugung, die sich in diesen Gemeinschaften herausgebildet hat, ist, dass Gott sich auf die Seite der Armen und Ausgebeuteten stellt. Diese sogenannte »Option für die Armen« fordert auch die Kirchen und die Theologie heraus, klar Stellung zu beziehen für die Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Die »Option für die Armen« ist also für Christinnen und Christen nicht »optional«, weil Gott diese Entscheidung für sie bereits getroffen hat. Sie beinhaltet allerdings nicht nur eine helfende Zuwendung zu den Armen, sondern verlangt, auch die Perspektive der Armen einzunehmen, die die Probleme der Gesellschaft am klarsten erkennen können, weil sie sie am eigenen Leib erfahren. Aus dieser Perspektive wird beispielsweise erkannt, dass ­Sünde nicht nur ein individuelles Phänomen ist, sondern dass es auch Strukturen der Sünde gibt, die Tod und Gewalt schaffen. So wird die systematische Ausbeutung im Kapitalismus als strukturelle Sünde angeprangert, aber auch die Gewalt, die sich meistens besonders bei den Schwächsten der Gesellschaft entlädt. Die Überzeugung, dass das Evangelium eine Befreiung von der Sünde – auch von den Strukturen der Sünde – schafft, ist die große Hoffnungsbotschaft, die die Befreiungstheologie antreibt. Wenn also der Glaube an diese Befreiung da ist, dann sind die Gemeinden aufgefordert, nach Auswegen aus diesen sündhaften Strukturen zu suchen – sei es nach gewaltfreien Umgangsformen, nach gerechten Wirtschaftsstrukturen oder nach weniger ungleichen Geschlechterverhältnissen.


Befreiungstheologie ist nicht etwas, was aus der Ferne betrachtet werden will, sondern sie will uns herausfordern, dass auch wir die Bedeutung des Evangeliums in unserer Welt neu erkennen.

Theologie entsteht beim Gehen Aus dieser Überzeugung heraus ist es in den befreiungstheologischen Gemeinden wichtig geworden, dass Theorie und Praxis, Glaube und Nachfolge eng zusammengehören. Das Handeln beeinflusst daher auch den Blick auf die biblischen Überlieferungen, und die theologische Reflexion hat Folgen für die Aktionen von Einzelnen und der Gemeinschaft. In der Konsequenz wird auch die politische und soziale Dimension des Glaubens betont. Das heißt, dass die Nachfolge Jesu sich auch im gesellschaftlichen Engagement, im Protest gegen Ungerechtigkeit oder in der Beteiligung an sozialen Bewegungen niederschlägt. Die Suche nach den Orten, an denen Widerstand gegen Ungerechtigkeit geleistet wird – egal welcher Religion die Protagonisten angehören – wird zur Aufgabe einer Nachfolge, die Grenzen überschreitet. Und die Erfahrungen aus alledem prägen wiederum das Verständnis von Evangelium und Befreiung. Eine solche Theologie entsteht dann »beim Gehen«, im Dialog – wobei Solentiname dafür ein besonders schönes Beispiel ist, da hier besonders viele Stimmen zu Wort kommen. Die Entwicklung in Solentiname Für die Menschen aus Solentiname hatte dies in den folgenden Jahren verschiedene Konsequenzen. Als sich die Konfrontation zwischen dem diktatorischen Regime und der Befreiungsbewegung FSLN zwischen 1977 und 1979 zuspitzte, entschieden manche der Jüngeren, sich dem bewaffneten Widerstand anzuschließen. Diese Entscheidung blieb auch innerhalb der befreiungstheologischen Bewegung umstritten und ist wohl nur angesichts der enormen Gewaltsituation im Lande zu rechtfertigen. Andere, wie auch Ernesto Cardenal, gingen ins Exil oder unterstützten gewaltfreie Formen des Widerstands. Für alle blieb zentral, dass ihr Glaube sie zu einer Positionierung angesichts des ungerechten Systems herausforderte. Dies blieb auch nach 1979 so, als die FSLN siegte und die Somoza-Diktatur beendete. Die befreiungstheologischen Basisgemeinschaften unterstützten den Freiheit

»revolutionären Prozess«, der durch Land-Umverteilungen und Alphabetisierungsprogramme zu mehr Gleichheit und Gerechtigkeit führte, verloren dabei aber nicht ihre kritische Stimme angesichts problematischer Tendenzen in der neuen Regierung. Befreiungstheologie bei uns Solentiname ist fern – und trotzdem ganz nah. Denn Befreiungstheologie ist nicht etwas, was aus der Ferne betrachtet werden will, sondern sie will uns herausfordern, dass auch wir die Bedeutung des Evangeliums in unserer Welt neu erkennen. Dass uns durch die Vision vom Reich Gottes die Augen geöffnet werden, um die Strukturen der Sünde zu verstehen, die unsere Gesellschaft, unsere Welt von dem entfremden, was Gott mit dieser Welt vorhat. Und sie will uns ermutigen, indem sie uns die Botschaft der Befreiung neu erzählt und uns in den Dienst des Gottes ruft, der sich auf die Seite der Armen, Verfolgten und Ausgebeuteten gestellt hat, so wie es uns dieses beliebte lateinamerikanische Lied sagt: Wenn die Armen, was sie haben, noch verteilen, wenn der Durstige Wasser schöpft und andern gibt, wenn wir schwach sind und doch andre mutig stärken, wissen wir: Gott ist bei uns auf diesem Weg, wissen wir: Gott ist bei uns auf unserm Weg. ///

Bernhard Offenberger (27) ist Vikar in der evangelisch-lutherischen Kirche in Bamberg. Auf Solentiname war er zwar noch nie, hat aber viel von Christinnen und Christen aus Lateinamerika und Asien gelernt. Bernhard ist aktiv im Befreiungs­ theologischen Netzwerk: www.befreiungstheologisches-netzwerk.de

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Freiheit ist, sich bewegen zu können wo und wann man will. Fotograf: Matthew Horner (30) aus Erlangen ist tagsüber technischer Redakteur, ansonsten Grafik-, Webdesigner und Fotograf bei www.fairlangen.org

Meine Sicht Was ist Freiheit? Redaktion: Johanna Weiß

Freiheit ist, hineinwachsen zu dürfen. Fotografin: Sophie Kröher (22) aus Tübingen ist Studentin kurz vor dem Examen und freie Fotografin. www.sophie-photographie.de


Freiheit bedeutet für mich, ganz bei mir selbst zu sein und das tun zu können, was ich liebe. Fotografin: Judith Ziegenthaler (33) aus Dresden ist Teilzeit-Pastorin im Kraftwerk Dresden und Fotografin für Hochzeiten, ­Portraits und Kinder. www.timjudi.de

Freiheit entfesselt. Fotograf: Andreas Fischer (31) aus Ansbach ist Projektleiter, ­Filmemacher und Fotograf bei www.mediamachinery.de (Studio und Webseite im Aufbau)


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: Neues aus dem Hinterhof der Geistlichkeit

Burak von Axel Brandhorst

Quergedacht

nem das »nicht gut genug« wie Senf aufs Marmeladenbrötchen streicht. Burak ist ein Arschloch, da waren sich die Jungs schnell einig. Und sofort gingen sie in Gefechtsstellung: Jetzt wurde auf Burak geschossen. Ein weniger guter Wurf wurde mit »Halt’s Maul, Burak!« quittiert, der Toilettengang hieß »Ich muss mal Burak.« und zuletzt war ein Wurf, der ganz danebenging, ein Burak. Burak wurde abgewertet, Burak wurde erniedrigt, Burak wurde zum Inbegriff der Nichtigkeit – Burak bekam zurück, was er den Jungs angetan hatte. Burakburakburak. Burakstinktburakistdoofburakverpissdich. Die Jungs erniedrigten Burak, um das, was sie als Erniedrigung durch Burak verspürten, nicht mehr so schmerzhaft spüren zu müssen.

Scheiße, wenn man gleich wieder verglichen wird, wenn einem sofort der Burak in die Suppe spuckt. Die Stimmung war am Kippen. Und als Burak schließlich zum gegeneinander gerichteten Schimpfwort wurde, fühlte ich mich zur professionellen Intervention genötigt. »Stop!« rief ich. »Gibt’s keine andere Möglichkeit, sich den Nachmittag nicht versauen zu lassen?« Und einer hatte die Lösung: Er zog Burak den Stecker raus. ///

Axel Brandhorst (39), ist verheiratet und Vater einer bezaubernden Tochter. Er wohnt im lebendigen Basel und im schnuckligen Waltertal und ist im wilden und im braven Süden in Seelsorge und psychologischer Beratung unterwegs. Außerdem ist er therapeutischer Mitarbeiter in einer stationären Drogentherapieeinrichtung. Ihm geht es darum, Menschen zu befähigen, gute Beziehungen zu sich, ihren Mitmenschen und ihrem Schöpfer zu gestalten. www.axelbrandhorst.org

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© Axel Brandhorst

// Neulich war ich bowlen. Während der Arbeitszeit. Bezahlt von Steuergeldern. Das darf ich, weil ich Sozialpädagoge bin. Einer von den Guten, die mit dem großen Herz und dem Helferkomplex, die ihr Geld damit verdienen, gut zu sein und dabei vor allem viel reden und mit Kindern spielen. Ihr wisst schon, I can’t sing, I can’t dance ... Burak ist nicht so einer. Burak ist cool. Nicht dass ich ihn kenne ... Burak ist ein Super-Bowler. Burak flimmert über den Bildschirm oberhalb der Bowlingbahn. Er hat ein weißes Hemd an, eine glänzende schwarze Hose und einen optisch extrem aufdringlichen Hintern. Burak ist der Bowling-King dieses Etablissements. Immer wieder zeigt uns die Mattscheibe Aufnahmen von ihm, wie er abräumt. Dabei ist seine unerreichbare Technik aus x Kameraeinstellungen in Zeitlupe zu bewundern. Und das Tollste: Nach bald jedem zweiten Wurf (Stoss? Schmiss? Keine Ahnung, wie das beim Bowlen heißt, ich bowle ja nur etwa einmal in 40 Jahren) zeigt uns das Gerät, wie viele Punkte Burak jetzt schon hätte. Meine Gruppe besteht aus chronisch schwerstabhängigen polytoxikomanen Jungs zwischen 20 und 40. Wir haben diese Lokalität aufgesucht, um nach mehreren Wochen harter Arbeit in der Gruppe mal zu feiern. Das ist etwas, das diesen Jungs eher schwer fällt. Sie haben sich zwischen 3 und 20 Jahren damit beschäftigt, sich möglichst effektiv zugrunde zu richten und gleichzeitig alles daran gesetzt, diese Versuche zu überleben. Das könnte man Erfolg nennen, es wird aber meist nicht so erlebt. Wenn ich sie nach den Erfolgserlebnissen in ihrem Leben frage, kommt oft nicht viel Brauchbares auf den Tisch. Und manchmal muss man lange suchen und abenteuerlich umdeuten, um überhaupt was zu finden. Typen also, denen es gut tut, wenn sie mit einer Hauruck-Aktion sofort erlebbaren Erfolg abräumen können. Einmal die Kugel nach vorne dreschen, und von zehn Männlein kippen sechs aus den Latschen – das macht Spaß! Und es ist eine Art von Erfolgserlebnis, das eher rar ist in ihrem Leben. Schön, wenn man das, und sei es in der synthetischen Welt des Bowlingcenters, mal so frei Haus geliefert kriegt. Und Scheiße, wenn man gleich wieder verglichen wird, wenn einem sofort der Burak in die Suppe spuckt, wenn man zu jeder Spaßaktion den erhobenen Zeigefinger mitbekommt, der ei-

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#44 Gemeinschaft

#43 Fantasie

#42 Anfang/Ende (Wendeheft)

#47 Freiheit

#46 Erwachsen

#45 Außenseiter

#41 Macht

#40 Mission

#39 Grün

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die ethik frage

Hier kannst du unsere Ethikexperten befragen, wie man in bestimmten Situationen richtig handelt.

Ich arbeite als Sekretärin. Mein Arbeitgeber lässt sich am Telefon häufig durch mich verleugnen, oder ich soll Ausreden erfinden, warum Dinge nicht geklappt haben. Abgesehen davon ist der ­Arbeitsplatz auf Grund des Verdienstes und der Wohnortnähe super für mich. Wie weit ist das aus Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber ver­ tretbar? Ab wann muss ich als Jesus-Nachfolger Grenzen setzen?

Dr. Andreas Franz

Dr. Thomas Weißenborn

D

arf man beispielsweise lügen, um das Leben eines andern zu retten? Wenn man sich schlussendlich nur für einen der beiden Werte entscheiden kann, nennt man dies in der Ethik »Pflichtenkollision«. Kollidieren zum Beispiel die Werte »Wahrheit« und »Leben«, muss die Ethik abwägen, welcher Wert wichtiger ist. Bei unserer Frage kollidieren die Werte »Wahrhaftig­ keit« und »Wohlstand«. Aus Jesu Sicht ist das allerdings ein ungleiches Paar: »Wohnortnähe und Verdienst« waren für Jesus keine hohen Werte, hatte er doch nicht einmal einen Ort, wo er sich hinlegen konnte. Klassisch ist seine Aussage zum Wohlstand mit den vielen Konjunktiven: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele«. (Matthäus 16,26) Als ersten Schritt zur Lösung der Frage erscheint es mir angemessen, ein persönliches Gespräch mit dem Arbeitgeber zu suchen und ihn auf die eigenen Gewissensprobleme hinzuweisen. Ich würde diese Begegnung betend vorbereiten. Wenn sich der Chef einsichtig zeigt, ist ein wichtiges Problem nachhaltig gelöst. Parallel würde ich mich schon nach einer anderen Stelle umschauen. Denn sollte der Arbeitgeber kein Verständnis zeigen, müssten persönliche Konsequenzen gezogen werden – auch um den Preis eigener Nachteile. Wir wissen aus der Bibel, dass Jesus-Nachfolge ihren Preis haben kann. Der »reiche Jüngling« wollte ihn nicht bezahlen und konnte daher Jesus nicht nachfolgen. Andererseits gibt es auch Beispiele, dass Gott solche Treue belohnt und einen besseren Weg bereithält. ///

Dr. Andreas Franz (55) ist Studienleiter der Theologisch-Missionswissenschaftlichen Akademie »TheMA« (www.hww-ev.de/thema) und Vorsitzender der ­Arbeitsgemeinschaft Pfingstlich-Charismatischer Missionen (www.apcm.de) Quergedacht

E

ntscheidend ist die Frage, ob sich der Vorgesetzte selbst in einer Zwangslage befindet oder schlichtweg seinen Job nicht richtig machen möchte. Wenn er einfach zu bestimmten Zeiten nicht gestört werden möchte, um ein größeres Projekt anzugehen, oder von ihm Ergebnisse erwartet werden, die kurzfristig nicht »geliefert« werden können, sind »Ausreden« verständlich. Dann geht es aber eigentlich nicht darum, dass er seinen Job nicht machen möchte, sondern dass er sich Freiräume schaffen will, um ihn tatsächlich tun zu können. Man sollte also zuerst herausfinden, warum der Vorgesetzte überhaupt wünscht, dass ich mich so verhalte. Die wenigsten Menschen lügen gern, denn das ist viel anstrengender als die Wahrheit zu sagen – schließlich muss man eine plausible alternative Wirklichkeit erfinden und dabei bleiben. Deshalb steckt in der Regel eine Notlage dahinter, aus der sie keinen anderen Ausweg wissen. Vielleicht könnte man also dem Vorgesetzten schon helfen, wenn man einmal mit ihm die Situation durchgeht und sich andere Lösungsstrategien überlegt (und dabei sollte man die Handlungsmöglichkeiten einer guten Sekretärin nicht unterschätzen!). Wenn sich allerdings herausstellen sollte, dass der Vorgesetzte ein ethisch fragwürdiges Verhalten verschleiern will, dann würde ich es nicht dabei bewenden lassen. Denn wer so etwas deckt, macht sich mitschuldig. Insofern sollte man dann höhere Instanzen einschalten und gegebenenfalls den Arbeitsplatz wechseln. ///

Dr. Thomas Weißenborn (45) ist stellvertretender Direktor am Marburger ­Bildungs- und Studienzentrum (www.m-b-s.org), an dem er u.a. Dogmatik ­unterrichtet. Er ist Autor mehrerer Bücher.

Du hast eine ethische Frage? Dann schicke sie an info@oora.de.

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Meer mit Himmel Leben in Freundschaft mit Gott Text: Judith Schellenberger

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Wie kann man in enger Vertrautheit mit Gott leben? Und wieso lohnt es sich, diese Beziehung zu pflegen? ­Unsere Autorin erzählt, wie sich ihre Freundschaft zu Gott ­entwickelt hat. // »Was ist das Evangelium für euch?« Ich war irritiert von der Frage. Was bedeutet das? Es gibt doch nur ein Evangelium! Doch dann erklärte unser Dozent die Frage näher: »Was ist deine persönliche Geschichte? Woraus hat Gott dich errettet? Aus Schuld, aus Angst, aus Ablehnung? Was ist deine Erfahrung mit Gott, die du anderen weitererzählen kannst?« Ich wusste sofort, was meine Geschichte war. Gott hatte mich befreit aus Einsamkeit. Seitdem ich ihn kenne, bin ich nicht mehr allein. Ich habe in ihm einen Freund und Vater gefunden, der immer bei mir ist.

In dem Moment, in dem mein Fuß den Sand berührte, war ich alleine mit Jesus. Der Beginn einer Freundschaft Sommer 1998. Ich lag auf einer Wiese. Es war Freakstock, das Festival der »Jesus Freaks«, zu dem sämtliche Alternative aus dem ganzen Land kamen. Ich war definitiv nicht alternativ und passte eigentlich nicht dazu, aber ich war angezogen von der Nähe Gottes, die ich an diesem Ort spürte, wie ich sie noch nie zuvor in meinem Leben gespürt hatte. Ich fühlte mich einsam, denn ich gehörte einfach nicht dazu. Und die Musik, die von der Bühne zu mir herüber drang, war auch nicht wirklich mein Geschmack. Also legte ich mich auf die Wiese und schloss die Augen, um mich auszuruhen. Da begann ich, Jesus mein Leid zu klagen. Ich fing an, mit ihm zu reden, als ob er neben mir sitzen würde. Ich erzählte ihm, wie ich mich fühlte und sagte ihm, was ich mir wünschte. Als ich wieder auf die Uhr sah, war auf einmal eine halbe Stunde vorbei. Ich hatte noch nie zuvor so lange gebetet. Fünf Minuten waren schon anstrengend für mich gewesen. Aber hier hatte ich einfach ganz normal mit Jesus geredet. Das war der Anfang unserer Beziehung. Als ich wieder nach Hause kam, war ich ein anderer Mensch, es war mir das wichtigste Bedürfnis, mein ganzes Leben mit Gott zu besprechen und viel für meine Familie und Freunde zu beten. Seitdem habe ich nicht aufgehört, mit ihm zu reden. Quergedacht

Mit Gott im Gespräch Basis für jede Beziehung ist die gemeinsame Begegnung. Dazu muss man Zeit aufwenden. Für die Menschen, die uns wichtig sind, machen wir das auch. Wenn man jedoch nicht mehr miteinander redet, ist das der Tod einer jeden Beziehung. Das ist nicht anders in unserer Beziehung zu Gott. Die Kunst ist es, dies in unserem beschäftigten Alltag umzusetzen. Mir hilft dabei, Rituale zu entwickeln und Orte zu suchen, an denen ich Jesus begegnen kann. Letztes Jahr war dieser Ort für mich das Mittelmeer. Ich ging dort gern spazieren und redete dabei laut mit Jesus. In dem Moment, in dem mein Fuß den Sand berührte, war ich alleine mit Jesus, ich konnte ihm danken für die wunderschöne Schöpfung oder einfach dafür, dass er da war. Und dann erzählte ich ihm von den Dingen, die mir auf dem Herzen lagen. Ich hatte auch meine trockenen Zeiten mit Jesus, in denen es mir nicht leicht fiel zu beten. Aber weil es für mich Routine war, »mit Jesus laufen zu gehen«, kamen nach den trockenen Tagen auch immer wieder Tage, an denen ich mich auf die Spaziergänge mit Jesus freute. Manchmal saß ich auch auf den Felsen und beobachtete das Meer und es war, wie wenn wir da gemeinsam saßen und schwiegen. Diese Zeiten mit Jesus haben mich durch mein erstes Jahr in Israel getragen. Heute lebe ich nicht mehr am Meer, sondern in Jerusalem. Da gilt es wieder neue Wege zu finden, wie ich Jesus begegnen kann.

Ich fing an, mit ihm zu reden, als ob er neben mir sitzen würde. Es begeistert mich, dass Gebet keine »one-way«-Kommunikation ist, sondern dass Gott mit uns reden und mit uns im Alltag verbunden sein will. Das Reden Gottes erlebe ich meistens wie Impulse, die mir als Gedanken in den Sinn kommen. Ich versuche bei meinen Alltagsentscheidungen immer kurz in mich hinein zu hören, ob ich Frieden über eine Entscheidung habe oder etwas anderes empfinde. Und dann gehe ich drauf los. Nicht selten erlebe ich dann, dass Gott meine Entscheidungen geleitet hat und ich genau zur richtigen Zeit ankomme und dadurch zufällig noch Leuten begegne, die sich darüber wundern, wie ich das mal wieder geschafft habe. oora.de

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Das Reden Gottes erlebe ich meistens wie Impulse, die mir als Gedanken in den Sinn kommen.

Gott sucht Freunde In der Bibel gibt es zwei Menschen, die als »Freunde Gottes« bezeichnet werden: Mose und Abraham1. Es ist meine Sehnsucht, dass Gott auch mit mir wie mit einem Freund redet. Aber was bedeutet es, ein Freund Gottes zu sein? Einem Freund erzählt man vertraute Dinge. Und das ist es, was Gott mit Mose und Abraham tat. Ein Beispiel: Nachdem Gott Abraham und Sara besucht und ihnen ein Kind angekündigt hatte, ging er mit Abraham weiter nach Sodom. »Da sprach der HERR: Wie könnte ich Abraham verbergen, was ich tun will?« (1. Mose 18,17). Dann weihte Gott Abraham in seine Pläne ein, Sodom und Gomorra zu vernichten. Abraham reagierte darauf, indem er anfing, für die Bewohner dieser Städte einzutreten. Er begann, mit Gott zu verhandeln und überredete ihn schließlich dazu, die Stadt am Leben zu lassen, wenn es dort nur zehn Gerechte geben würde. Es berührt mich, dass Gott sich auf die Diskussion mit Abraham einließ. Und es berührt mich, dass Abraham die Bewohner in Sodom und Gomorra nicht egal waren, obwohl er da nicht einmal wohnte. Ich glaube, Gott sucht Freunde, die er in seine Pläne einweihen kann, und die dann bereit sind, für andere einzustehen und für sie zu beten.

Wolken über Tel Aviv Ich lebe seit zwei Jahren in Israel. Ich liebe besonders Tel Aviv und habe die Sehnsucht, dass die Bewohner dort wieder zu ihrem Gott zurück finden. Im Sommer war ich öfters in einem Gebetsraum, von wo aus man die ganze Stadt überblicken kann. Einmal sah ich eine dunkle Wolke über Tel Aviv kommen. Da empfand ich den starken Drang, für den Schutz der Stadt zu beten. Ich musste dabei an Terrorattentate und Krieg denken, obwohl zu dieser Zeit weder das eine noch das andere absehbar war. Tel Aviv ist eine sehr stolze Stadt, nach dem Motto »uns passiert doch nichts«. Doch im November darauf startete Israel in Gaza die Militäroperation »Wolkensäule«. Und auf einmal gab es Raketen in Tel Aviv – sie landeten mitten in dieser pulsierenden Stadt. Das Ungewöhnliche dabei war, dass keiner ums Leben kam. Nicht einmal, als es zum Schluss des Krieges noch ein Terrorattentat mitten im Zentrum Tel Avivs gab. Meine Freunde nannten es ein Wunder, dass gar kein Schaden entstand oder nur Sachschaden angerichtet wurde.2 Ich musste dabei an meine Gebete im Sommer denken. Ich bin mir sicher, dass ich nicht die einzige war, die für Tel Aviv gebetet hatte, aber es berührte mich, dass Gott mich hineinnahm in seine Pläne und mir dadurch seine Liebe für die Stadt Tel Aviv zeigte, die hier als »gottlose Stadt« gilt. Manchmal empfinde ich, dass Jesus zu mir sagt: »Ihr habt nichts, weil ihr nicht bittet.« (Jakobus 4,2). Gott ist ein Gott, der gerne gibt. Und ich glaube, er sehnt sich danach, dass wir als seine Kinder mit ihm in Kontakt bleiben und unser Leben mit ihm leben und nicht getrennt von ihm. Er sehnt sich nach Gemeinschaft mit uns. Gebet ist eine Form, durch die wir mit dem lebendigen Gott Gemeinschaft haben können. ///

Fußnoten: 1 2. Mose 33,11; Jakobus 2,23; Jesaja 41,8 2 Der sogenannte »Iron Dome«, eine Raketenabfanganlage, konnte viele Raketen abfangen und in der Luft zerstören.

Judith Schellenberger (32) lebt seit zwei Jahren in Israel und liebt es, neue Leute und Kulturen kennen zu lernen.

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Die Macht der Ohnmächtigen Erkenntnisse vom Emergent Forum 2012 Text: Dominik Sikinger

Ende letzten Jahres fand in Erlangen das Emergent Forum statt, bei dem auch oora mit einem Stand vertreten war. Unser Autor fasst die wichtigsten Erkenntnisse zum Thema des Forums »Die Macht der Ohnmächtigen« zusammen. // Im Neuen Testament stoßen wir immer wieder – zum Beispiel in Epheser 6 – auf die Begrifflichkeit der »Mächte und Gewalten«. Was ist damit gemeint? Die mythologische Redeweise der Bibel lässt sich nicht einfach so nach einer Seite auflösen und zum Beispiel allein durch personale Dämonenwesen oder nur anhand der Systemtheorie erklären – diese Mächte sind immer beides: himmlisch und irdisch, göttlich und menschlich, geistlich und strukturell zugleich. Einstmals gehörten sie zu Gottes guter Schöpfung, doch nun sind auch sie Teil der gefallenen Welt. Auf der Innenseite der Strukturen von Wirtschaftssystemen, Staaten, Kirchen, Gruppen etc. am Wirken, vernebeln sie unser Denken und schaffen eine Opfer- und Sklavenmentalität, die uns entpersonalisiert und Lebensenergie raubt. Das Resultat des Wirkens dieser Mächte bezeichnete der im letzten Jahr verstorbene amerikanische Theologe Walter Wink als »Domination System«, was sich mit »Herrschaftssystem« nur unzureichend ins Deutsche übersetzen lässt. Es ist überall dort spürbar, wo Quergedacht

Menschen sich ohnmächtig fühlen. Wer das Evangelium verkünden und leben will, muss also immer auch das Domination System im Blick haben und ihm Widerstand leisten. Gott selbst sieht uns ins Angesicht und erkennt uns als Subjekt. Wo wir das erfahren, beginnt der Einfluß der Mächte auf uns zu schwinden. Damit wir uns diesem weiter entziehen können, sind geistliche Übungen von großer Bedeutung. Wer sich dem Lesen und Meditieren der Bibel widmet, fragt nach der Wahrheit Gottes und schaut nicht nach Gewehren oder Konjunktur. Er wird von den Hoffnungsbildern der Heiligen Schrift inspiriert, die ihrerseits die falschen Ideologien der Mächte in Frage stellen. Die Begegnung mit Gott führt uns zur Buße und deckt die Dunkelheit in unserem Herzen auf. Wenn die Auseinandersetzung mit den Mächten Zeit, Kraft und Nerven kostet, so stellt die Begegnung mit Gott ein Gegenmittel für Frustration, Resignation, Bitterkeit, Zynismus und Herzensverhärtung dar. Als christliche Gemeinden können wir miteinander ein heilsames Gegenklima leben, in dem Menschen entgiftet werden und zu sich selbst und zu Gott finden können. Als Zeichen für die Welt sollte hier das Reich Gottes als unterdrückungsfreier Lebensmodus erfahrbar sein und vorgelebt werden. Im Abendmahl hat uns Jesus ein Kleine-

Leute-Ritual hinterlassen, dass von allen Menschen jederzeit an allen Orten gefeiert werden kann und das keinen Priester oder Tempel braucht. Es richtet eine Hoffnungswelt auf, die der Befreiungsgeschichte Gottes mit seinem Volk entstammt. Es spannt den Bogen vom Passamahl der Israeliten in Ägypten bis zum Hochzeitsmahl des Lammes, von dem das Buch der Offenbarung in der Bibel berichtet. Dann, wenn Gott alles neu machen und alle Tränen abwischen wird, werden auch die Mächte erlöst werden. Auf dem Weg zu dieser »zukünftigen Stadt« sind wir aufgerufen, in immer größerem Umfang die Alternative Gottes durch unser persönliches und gemeinschaftliches Leben aufleuchten zu lassen, damit »den Mächten und Gewalten die mannigfaltige Weisheit Gottes ­kund­werde« (Epheser 3,10). /// › Auf  www.emergent-deutschland.de finden sich ­Mitschnitte der Vorträge des Emergent Forums und weitere Informationen.

Dominik Sikinger (33) ist mit Rebekka verheiratet und lebt im schwäbischen Heimerdingen. Er ist Studienleiter bei der »Werkstatt für Gemeindeaufbau« in Ditzingen und Mitglied des Koordinationskreises von »Emergent Deutschland«.

oora.de

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Diesmal:

Serve the City Bremen Text: Andreas Petry

Wer seid ihr? Unter dem Motto »Bremen aufhimmeln« möchte das Projekt »Serve the City Bremen« (STC) Menschen für ihre Stadt in Bewegung setzen. STC, das sind soziale Initiativen, Vereine, Gemeinden und viele einzelne engagierte Bremerinnen und Bremer, deren Anliegen es ist, ihre Stadt aktiv mitzugestalten. Was macht ihr? STC bietet eine Rahmenstruktur für soziales Kurzzeit-Engagement. Jeder kann sich einbringen und einen Teil des gemeinsamen Stadtlebens mitgestalten. Projektteams formieren sich auf Initiative eines Projektleiters selbstständig und setzen eigene Ideen um. Wie ist die Idee entstanden? Ausgehend von einer Initiative in Brüssel, hat sich die Projektidee in den letzten Jahren weltweit ausgedehnt. Einige

Gemeinden in Bremen sind darauf aufmerksam geworden und sahen sowohl den Bedarf als auch das Potential STC in Deutschland zu starten. Seit 2010 und den ersten Planungen hat sich das Projekt fortwährend weiterentwickelt. Was bewirkt ihr? Das Projekt gibt jedem die Möglichkeit, sich für seine Stadt zu engagieren. Gerade unerfahrene Leute oder solche mit eingeschränkten Kapazitäten bekommen die Möglichkeit, einen Beitrag zu leisten. Menschen beginnen ihr Umfeld bewusster wahrzunehmen und die anonymisierten urbanen Räume werden gestaltet. Es entstehen neue soziale Beziehungen zwischen Menschen über kulturelle und soziale Grenzen hinweg. Neben praktischen Resultaten, wie neu aufgeschütteten Sandkisten, Fußballturnieren oder Stadtteilfesten, entstehen in den Projektteams sowie zu den

Kooperationseinrichtungen und zu den Menschen vor Ort Kontakte, deren Wirkung nachhaltiger ist als die punktuelle Aktion an sich. Was empfehlt ihr weiter? STC Bremen versucht flexibel und anpassungsfähig zu bleiben. Wir möchten auf neue Möglichkeiten und Entwicklungen reagieren ohne uns einem Erfolgsdruck zu unterwerfen. In der Stadt gibt es bereits viele Einrichtungen und Initiativen, die es wahrzunehmen gilt. Für die Entwicklung von STC ist es grundlegend, Kooperationen einzugehen, die auf einer tatsächlichen Gegenseitigkeit beruhen. Oft werden neue Projekte zunächst kritisch begutachtet und hinterfragt. Einerseits ist es hilfreich sich mit diesen Stimmen zu beschäftigen, andererseits gilt es über solche Stimmen hinweg einen langen Atem zu haben.

Kontakt: www.servethecity-bremen.de oder andreas.petry@servethecity-bremen.de

Das T hema der nächsten Ausgabe, die im Juni 2013 erscheint:

Heimat

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I LOVE MY SHIRT.

www.christkindclothing.de


Mit Jesus handeln, in einer Welt voll Armut, Not und Ungerechtigkeit. PartnerAid sorgt zum Beispiel in Somalia für sauberes Trinkwasser. Weitere Informationen unter

www.partneraid.org

Entwicklungszusammenarbeit und Humanitäre Hilfe Partner Aid International e. V. Bahnhofstraße 71 61267 Neu-Anspach


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