oora 48 • Heimat

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14. Jahrgang • 2/2013 • Nr. 48 (Juni) 5,50 EUR/7,50 SFr (Einzelpreis)

www.oora.de

Die christliche Zeitschrift zum Weiterdenken

Heimat

Mehr als ein Fleckchen Erde

Stadt, Land, Fluss Wie sollen wir wohnen?   Seite 12

Zwischen-Welten Ein Missionarskind kommt nach Hause   Seite 18

Ende Die Kunst des Aufhörens   Seite 30


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R E G E I R WUTK

MACHT M UTATTACK E

Eine beeindruckende Lebensgeschichte: schonungslos, brutal, mitreißend.

„Wow. Ich hatte kaum die erste Seite gelesen, da kamen mir die Tränen. Ich konnte das Buch nicht weglegen. Ich hoffe, diese Geschichte wird das Leben von Tausenden verändern. Mein Leben hat sie verändert.“ Brian Littrell, Sänger der Backstreet Boys

R. B. Mitchell Alleine weinst du wütender Auf der Suche nach Hoffnung und Zuhause Paperback, 13,5 x 20,5 cm, 208 Seiten Nr. 395.489, ÐD 9,95/ÐA 10,30/sFr 14,90* *unverbindliche Preisempfehlung

SCMedien.de/Mitchell Bestellhotline: 07031 7414-177


Aus dem oora versum

Editorial Das Team von links nach rechts: Anne, Matthias, Johanna, Daniel, Jörg, Kathinka, Michael

Alle oora-Artikel online Wir planen, demnächst alle Artikel der letzten Jahre im Volltext auf www.oora.de zu stellen. Einmal, um die Artikel einem noch größeren Publikum zur Verfügung zu stellen, und auch, um das gemeinsam Erarbeitete zu wertschätzen.

Gutschrift-Verzicht Bei Redaktionsschluss hatten bereits sehr viele Leserinnen und Leser auf eine Gutschrift für ihnen noch zustehende oora-Ausgaben verzichtet. Das freut uns sehr. Wahrscheinlich können wir oora ohne großes Minus beenden. Danke.

Danke InTime Media Services Vor über drei Jahren trafen wir die gute Entscheidung, Aboverwaltung und Buchhaltung in die Hände eines erfahrenen Dienstleisters zu legen. Nur so konnten wir uns ganz auf die kreative Arbeit konzentrieren. Für oora waren im wesentlichen Frau Kittel (links), Frau Jessberger (mitte) und Herr Nadler (rechts) im Einsatz. Ihre Erfahrung hilft uns auch jetzt bei der Abwicklung enorm. Vielen Dank für die unkomplizierte Zusammenarbeit. Heimat

Alles hat seine Zeit, alles auf dieser Welt hat seine ihm gesetzte Frist: Geboren werden hat seine Zeit wie auch das Sterben. Pflanzen hat seine Zeit wie auch das Ausreißen des Gepflanzten. —  Die Bibel in Prediger 3,1+2; vermutlich von Salomo (965-926 v. Chr.)  —

// Die Entscheidung ist gefallen. Das Ende von oora ist besiegelt. oora hat es uns ermöglicht, zu untersuchen, wie wir Nachfolge in der Gesellschaft leben können. Wir haben viel gefragt, teilweise auch hinterfragt und sogar Antworten erhalten. An den Reaktionen auf einige Artikel haben wir gemerkt, dass viele Leser sich in den gestellten Fragen wiederfinden konnten. oora war ein Sprachrohr für diejenigen, die sich nicht mit dem klassischen Schwarz-Weiß-Denken zufriedengeben konnten oder wollten. Es war keine leichte Entscheidung oora zu beenden. oora, das bedeutet: etliche publizierte Ausgaben, viele Ideen und ein breitgefächertes kreatives Team dahinter. Wir möchten mit euch aber auch gerne teilen, was uns gerade jetzt, wo wir oora beenden, ermutigt: Seitdem wir die Entscheidung getroffen haben, spüren wir einen tiefen Frieden in unserem Herzen darüber. Dieser Frieden tut gut. Wir haben auch etliche Reaktionen von euch Lesern bekommen. Viele handeln davon, wie sehr oora euch inspiriert und herausgefordert hat. Das zu hören ist wirklich schön. Diese finale Ausgabe beschäftigt sich mit dem Thema »Heimat«. Wir steigen mit einem Berliner Heimatkrimi ein (Seite 6), erörtern die Frage danach, wie wir wohnen sollen (Seite 12) und zeigen, was ein Kilogramm Rindfleisch unserem Heimatplaneten antut (Seite 23). Außerdem schreibt Redakteur Daniel Hufeisen im Herzschlag aus aktuellem Anlass über das Aufhören (Seite 30). Das Ende von oora hinterlässt einen freien Platz. Es entsteht Raum für neue Projekte. Wir sind gespannt, welche das sein werden (Seite 51). Jetzt wünschen wir dir aber erstmal viel Inspiration beim Lesen.

In Freundschaft dein oora-Redaktionsteam PS: Wer die Einzelheiten zum Print-Aus von oora noch nicht gelesen hat, kann das auf unserer Webseite www.oora.de nachholen.

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Inhalt

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Artikel, die mit dem Lautsprecher gekennzeichnet sind, gibt es als Audioversion in iTunes und auf www.oora.de/audio.

Schwerpunkt: Heimat 6

Frau Schlonske und die ewige Heimat Eine Kurzgeschichte Günter J. Matthia

9 Fremd Wie unterschiedlich Menschen Glauben leben

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Kathinka Hertlein

Stadt, Land, Fluss Wie sollen wir wohnen? Dagmar Begemann

16 In sich Heimat finden Wie man in bewegten Zeiten seine Erdung behält

Evi Rodemann

18 Zwischen-Welten Ein Missionarskind kommt nach Hause

Damaris Schmidt

20 Heimat auf Zeit Chancen und Herausforderungen von Gastfreundschaft Tanja Manthey-Gutenberger

23 Heimatplanet Wie Fleischessen unsere Welt verändert

Daniel Hufeisen

Quergedacht 26 Neues aus dem Hinterhof der Geistlichkeit Krone der Schöpfung – undercover

29 Die Ethikfrage 30 oora-Herzschlag: Ende Die Kunst des Aufhörens

Daniel Hufeisen

32 Mutterliebe Ein Plädoyer Cosima Stawenow

34 Dann schreibe ich eben einen Roman Interview mit der Schriftstellerin Elke Naters

Johanna WeiSS

39 Heute im Gespräch Medicus Piscator, ein Vertrauter von Kopernikus

Fred Ritzhaupt

40 Unter der Oberfläche Pastell

Kolumne: Linda Zimmermann

42 Lied: Wir warten – Chris Lass

24 Deutsch Die Frage nach der nationalen Identität

Kolumne: Axel Brandhorst

Erklärung: Ina Taggeselle

43 Buchrezensionen

Hendrik Stoppel + Benjamin Finis

44 Hochbegabung Über den Umgang mit einem umstrittenen Phänomen

Dr. Karin Rasmussen

47 Beruf oder Berufung Ein Aufruf zur Schatzsuche im eigenen Leben

David Kadel

48 Mein Freund Gott und ich Barfuss auf dem Regenbogen

Kolumne: Mickey Wiese

50 Dein Projekt: Siebenstein Karlsruhe Veronika Zech

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fragt:

Was ist das Beste aus deiner Heimat?

Amelie (24) aus Kemnath

Rolf (49) aus Bayreuth

Esther (53) aus Lingen (Ems)

Tobias (28) aus Neuffen

Wald, Wiesen und nette Leute mit einem außergewöhnlichen Dialekt. Das findet man auch woanders? Kann sein, aber auf jeden Fall auch in der Oberpfalz! Und wem das als Grund nicht reicht, der sollte einfach mal kommen und ein Zoigl probieren.

Das Beste aus meiner neuen Heimat Bayreuth ist neben der wunderbaren Landschaft und der tollen Gastronomie, dass ich dort meine Frau finden durfte und durch sie zum Glauben gekommen bin.

Ich bin im Herzen Südamerikas aufgewachsen. Das Leben dort ist ursprünglicher, der Himmel weiter und die Sterne leuchten klarer. Immer wieder zieht es mich nach Hause, weil die meisten meiner Angehörigen da wohnen. Das Beste an der Heimat sind die Menschen, die mich kennen und trotzdem lieben.

Das Beste an meiner Heimat ist, dass ich mich dort daheim fühle. Es ist ein Ort, an dem ich so sein kann wie ich bin und mich nicht zu verstellen brauche. So daheim bin ich bei guten Freunden, meiner Familie und Gott.

Impressum Nummer 48 • 2/2013 ISSN 2191-7892 Herausgeber: oora verlag GbR, Jörg Schellenberger und ­Michael Zimmermann, Dollmannstraße 104, 91522 Ansbach Redaktionsleitung: Jörg Schellenberger, Michael Zimmermann (info@oora.de) Redaktionsteam: Anne Coronel-Lange, Kathinka Hertlein, Daniel Hufeisen, Matthias Lehmann, Jörg Schellenberger, Johanna Weifl, Michael Zimmermann Lektorat: Anne Coronel-Lange, Ina Taggeselle Anzeigen: Jörg Schellenberger (joerg@oora.de) Gestaltung: Johannes Schermuly, www.ideenundmedien.de Druck: Onlineprinters GmbH, Neustadt a. d. Aisch

Abonnement: Dies ist die letzte oora-Ausgabe. oora erschien viermal im Jahr (März, Juni, September, Dezember) und kostete 18,50 EUR in Deutschland bzw. 24,50 EUR in anderen europäischen Ländern. Darin waren Mehrwertsteuer und Versandkosten bereits enthalten! Das Abo konnte immer bis sechs ­Wochen vor Bezugsjahresende gekündigt werden. Eine E-Mail an service@oora.de genügte. Das galt nicht für GeschenkAbos, die automatisch nach einem Bezugsjahr endeten. Einzelpreis: 5,50 EUR/7,50 SFr. Bei allen Preisangaben ­innerhalb dieser Ausgabe von oora gilt: Änderung und Irrtum vorbehalten. Bankverbindung: oora verlag GbR, Konto-Nr. 836 89 38, BLZ 765 500 00, Sparkasse Ansbach IBAN: DE18 76550000 0008 3689 38, BIC: BYL ADEM1ANS

Leserservice: oora Leserservice, Postfach 1363, 82034 Deisenhofen, Telefon: 089/858 53 - 552, Fax: 089/858 53 - 62 552, service@oora.de © 2013 oora verlag GbR • www.oora.de Bilder: Titelbild: jba - photocase S.3: apdk - Flickr; S.6/8: dustpuppy - Flickr; S.12: eyelab photocase; 16: kallejipp - photocase; S.24: skaisbon -photocase, Foto Hendrik Stoppel: © Marina Schaubert; ; S.26: ­pfosti - photocase; S.30: Axel-D - Flickr; S.32: shnipestar photocase; S.40: Gortincoiel - ­photocase; S.42: SCM Hänssler; S.44-46: mathias the dread - photocase; Alle weiteren von oora oder von privat.

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Frau Schlonske und die ewige Heimat Eine Kurzgeschichte Text: Günter J. Matthia

Audioversion unter www.oora.de/audio

Gemütlichkeit auf dem Sofa zu Hause – dazu gehört eine gute Lektüre. Zum Beispiel diese Geschichte über den Himmel und die Hebriden. // Mein Gegenüber blickt mir in die Augen. Offen ist dieser Blick, womöglich freundlich. Ich bin noch zu verwirrt, um das analysieren zu wollen. Diesen Ort hier, den gibt es ja eigentlich nicht, zumindest dachte ich das immer. Aber nun stehe ich hier und soll sagen, was ich getan habe. Müsste mein Gegenüber das nicht wissen, falls ich bin, wo ich zu sein glaube? »Ich habe nur meine Pflicht getan, meinen Beruf ausgeübt«, sage ich und dann erzähle ich: »Ick lasse mir von niemand« – sie machte eine bedeutungsvolle Pause – »von niemand lass ick mir hier vertreiben. Dit is meen Zuhause, meene Heimat. Hier kricht mir keener wech!« Ich hätte das ernster nehmen sollen, sagte ich mir hinterher. Genau eine Woche später, als die Straße gesperrt wurde. Bei diesem Gespräch mit Antje Schlonske hielt ich das nur für Gerede, wie man es in meinem Beruf häufig zu hören bekommt. Die Leute geben Geld aus, das sie gar nicht haben, und wenn dann jemand kommt und an die Rückzahlung erinnert, werden sie laut und frech. »Frau – äh – Schlonske«, sagte ich, »wenn Sie in der Lage wären, wenigstens einen Teil der Summe zu überweisen, dann würde das aller Erfahrung nach von der Bank positiv bewertet werden. Möglich, dass der Räumungsbeschluss eingefroren wird. Andernfalls kann ich leider nichts für Sie tun. Sie schulden der Bank 350.000 Euro zuzüglich Verzugszinsen, Gebühren, Anwaltskosten.« »Dit is ja nich meene Schuld! Ick hab allet ins Jeschäft jeschteckt, zwee Verkäuferinnen einjeschtellt, dit Mobiljar jekooft, die Ware beschtellt und injeräumt. Und denn sacht dit Aas im Fernsehn: Tut ma leid, da ham wa uns jeirrt mit die Eröffnung vons Janze.« Mein Mitgefühl hatte Frau Schlonske zweifellos, sie war nicht die Einzige, deren Existenz am Flughafen Berlin-Brandenburg zugrunde gegangen war. Beziehungsweise am Nicht-Flughafen. »Sie haben wirklich nicht einmal einen kleinen Betrag verfügbar, den Sie der Bank anbieten können? Verwandte, Freunde, die Ihnen bei der Überbrückung helfen? Sobald der Flughafen eröffnet, verdienen Sie ja Geld mit ihrer Boutique dort und könHeimat

nen mit der Rückzahlung beginnen. Aber so lange will die Bank nun mal nicht mehr warten.« »Die stecken ja alle unter eener Decke! Banken, Politiker, dit janze Jeschmeiß. Hat der Wowereit, die olle Stinksocke, ooch nur eenen Pfennich einjebüßt? Oder der andere Kerl, dit Buttermilchjesicht aus Brandenburg, Patzich oder wie der heeßt? Nee, nee, nee! Ick hab nur noch dit kleene Häuschen hier, und ick lasse mir nich von die Dickscheißers die Heimat rauben! Von niemand! Is dit klar?« »Also können Sie nirgendwo eine Summe auftreiben, um der Bank Zahlungswilligkeit zu signalisieren?« »Soll ick mir n Tunnel zu die Schließfächer buddeln wie die Gaunerbagage neulich in Steglitz? Denkste Puppe! Ick weeß mir zu wehren!« Als wir – also die Polizei und ich – dann eine Woche später um 10 Uhr zum Räumungstermin anrückten, war dann nichts mehr zu ändern. Ich kam fünf Minuten vor der angekündigten Zeit, doch die Polizei war schon da. Die beiden jungen Beamten warteten im Streifenwagen vor der Einfahrt zum Grundstück Schlonske. Ich parkte dahinter und stieg aus. Einer der Polizisten öffnete sein Fenster und rief mir zu: »Bleiben se mal im Auto bis die Kollejen und die Feuerwehr da sind.« »Wie bitte?« Aus der Ferne hörte ich Sirenen. »Am Jartentor hing dit hier«, sagte der Polizist und reichte mir eine Klarsichthülle, in der ein etwa DIN A5 großes Kärtchen steckte. »Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir«, las ich. Dahinter stand etwas Unverständliches, vielleicht ein geheimer Code: »Hebr. 13,14«. Mir fielen die Hebriden ein, aber wer würde da schon hinziehen wollen. Die Kommazahl sagte mir nichts. »Dreh‘n se mal um dit Kärtchen!«, meinte der Polizist. Auf der Rückseite war handschriftlich notiert: »Wenn ihr mir meine Heimat nehmt, gehn wir gemeinsam in die zukünftige Stadt! Antje Schlonske. PS: Die Leiche in der Küche bin dann ich.« Die Sirenen kamen näher. Ich reichte das Kärtchen in der Hülle zurück und fragte: »Muss man das ernst nehmen? Was soll das heißen?« »Wenn se freiwillich rinjehn, denn wissen wa gleich, ob dit ernst jemeint is.« oora.de

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Der bisher stumm gebliebene zweite Polizist brummte: »Keiner geht da rein außer die Sprengstoffexperten.« Ich hatte um 11 Uhr den nächsten Termin. Ob ich den einhalten konnte, schien mir angesichts der Umstände zweifelhaft. Ein Gerätewagen der Feuerwehr bog in die Straße ein, gefolgt von zwei Notarztwagen. Aus der anderen Richtung kamen drei Mannschaftswagen der Polizei. Einer stellte sich etwa hundert Meter vor dem Grundstück Schlonske quer, einer hielt vor dem Haus und der dritte fuhr ein Stück weiter und sperrte dort die Straße.

Ick hab nur noch dit kleene Häuschen hier, und ick lasse mir nich von die Dickscheißers die Heimat rauben! Von niemand! Is dit klar? Ich war mein Leben lang ein pünktlicher Mensch und wollte es auch bleiben. Die Umstände waren ausgesprochen widrig. Mein Mobiltelefon hatte ich vergessen aufzuladen, also konnte ich den nächsten Termin nicht verschieben oder absagen. Als dann noch einer der neu angekommenen Polizisten im Kampfanzug mit Vollvisierhelm auf mich zu kam und anordnete, dass ich mich hinter die Polizeiabsperrung begeben sollte, beschloss ich, zuerst zum nächsten, völlig ungefährlichen Termin zu fahren und dann hierher zurück zu kommen. Wer weiß, ob ich dann nicht immer noch warten musste. Doch als ich meine Autotüre öffnete, rief der Polizist: »Nein, zu Fuß!« Ich blickte mich um. Die Nachbarn wurden, soweit sie zu Hause waren, aus ihren Wohnungen geführt. Noch nie war ich in einer solchen Lage wie hier vor dem Schlonske-Anwesen. Ich hatte die Besitzerin kennengelernt und traute ihr nicht zu, irgendwelche Todesfallen zu konstruieren. Angesichts der Straßensperren 8

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blieb mir nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Aber zu Fuß hätte ich es nie rechtzeitig geschafft, nach Steglitz zu kommen. Kurzentschlossen und bevor noch jemand mich hindern konnte, öffnete ich das Gartentor und ging auf das Haus zu. »Frau Schlonske«, rief ich, »Frau Schlonske! Machen Sie keinen Unsinn, wir können noch über alles reden!« »Und mehr weiß ich nicht«, erkläre ich meinem Gegenüber. »Es gab sieben Tote, einer davon bist du.« Sieben Tote? Und ich habe die Katastrophe ausgelöst? Es tut mir unendlich leid. Ich lasse den Kopf hängen und betrachte meinen ungewohnten Leib. Aber was wäre hier nicht ungewohnt? Schließlich frage ich: »Komme ich jetzt in die Hölle?« Mein Gegenüber lächelt. »Du bist doch kein Dämon. Du bist doch ein Menschenkind.« »Also in den Himmel? Obwohl ich gar nicht an Gott … also an all das hier … ich war ja nie besonders gläubig …« Ich höre keine Antwort, sondern ein unangenehmes Geräusch. Falls das hier der Himmel sein soll, dann passt das hässliche Klingeln überhaupt nicht in die Szenerie. Also doch die Hölle? Das nervende Klingeln hört nicht auf. Ich haue unsanft auf den Ausschaltknopf meines Weckers. Endlich wieder himmlische Ruhe. Aber jetzt muss ich flugs aufstehen, denn ich bin immer pünktlich. Immer. Also schnell zum Termin bei Frau Schlonske. ///

Günter J. Matthia (58) ist Autor mehrerer Bücher und zahlreicher Artikel in verschiedenen Publikationen. Er lebt mit seiner Ehefrau in Berlin, nimmt am emergenten Dialog teil und beschränkt sein Schreiben nicht auf fromme ­Bereiche oder Sachtexte. Seine beiden Blogs gewähren Einblick in sein weit gefächertes Spektrum: gjmatthia.blogspot.com: kunterbunt und fast täglich; gjmberlin.wordpress.com: für die längeren Artikel.


Fremd Wie unterschiedlich Menschen Glauben leben Text: Kathinka Hertlein

Gemeinde und Frömmigkeitsstil, die für die einen Heimat geworden sind, bleiben für die anderen total fremd. Was wohl dahinter steckt? Ein Erklärungsversuch. // Wenn ich heute in meiner Heimatgemeinde bin und meinem pensionierten Pfarrer bei der Gottesdienstmoderation lausche, verspüre ich auch Jahre nach meinem Wegzug ein großartiges Heimatgefühl. Das ist die Kirche, in und mit der ich groß geworden bin! Seit meinem 17. Lebensjahr bin ich dann immer wieder mit weiteren Christen, Gemeinden und Netzwerken aus den unterschiedlichsten Hintergründen in Kontakt gekommen. Total spannend! Inspirierend, aber auch herausfordernd. Da gab es natürlich einen gemeinsamen Kern – die Sache mit Jesus. Aber auch Unterschiede, die mir aufgefallen sind: in einigen Lehren und Glaubensaussagen, aber auch im Stil und Geschmack sowie im sozialen Hintergrund der Menschen, die ich bei einer Veranstaltung getroffen habe. Die Sonntagsgottesdienste in meiner Kirchengemeinde liefen nach einer klaren Liturgie ab. Alte Lieder, kernige Predigt und neben ein paar Jüngeren besuchte hauptsächlich die grauhaarige Generation den Gottesdienst. Ganz anders bei den Freaks, die ich über ein Netzwerk von Christen in meiner Heimatstadt kennengelernt habe. Da konnte man gut rumhängen und handgemachte Musik genießen. Die Leute waHeimat

ren stylisch. Alles in allem eine entspannte und coole Atmosphäre. Der alternative Stil der Freaks hat mich begeistert. Da gab es keine grauen Kirchenmäuse, sondern eine bunte, kreative Gruppe von Menschen, die noch jenseits der Dreißig waren. Mit einem Freund bin ich dann immer mal wieder zu charismatischen Events gegangen. Da ging man nicht in eine Kirche, sondern in ein ganz normales Haus inmitten eines Gewerbegebiets. Das war

Es gibt eine dominierende Kultur in den verschiedenen Gemeinden. mir neu. Auch die stehenden Menschen mit erhobenen Armen, die Flaggentänze und spontanen Heilungen. Dort haben junge Familien, Menschen mit Migrationshintergrund und Typen mit total unterschiedlichen sozialen Hintergründen – arm und reich – ihre Heimat gefunden. Dadurch habe ich gelernt, dass es nicht die eine Heimat-Gemeinde gibt, sondern dass unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Gemeinden Heimat finden. Heimat-Gemeinde kann sehr verschieden sein. Was für die einen normal ist, schreckt die anderen ab oder ist ihnen einfach fremd. oora.de

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Ich bin herausgefordert ein weites Herz für unterschiedliche Frömmigkeitsstile und Glaubensformen zu haben und nicht alle Christen in mein – zugegebenermaßen milieugeprägtes – Schema zu pressen.

Ein Erklärungsansatz Das Fremde lässt sich mit einem sozialwissenschaftlichen Ansatz erhellen. Dieser Ansatz setzt bei sozialen Milieus an. Ein soziales Milieu ist eine Gruppe gleichgesinnter Menschen1, die gemeinsame Werte, Einstellungen, Geschmäcker und Mentalitäten hat. Ein soziales Milieu bezieht sich auf eine Gruppe innerhalb der Bevölkerung, die ähnliche Lebenslagen und einen ähnlichen Lebensstil teilen. Darunter werden unter anderem Bildung, Beruf und Einkommen gezählt. Diese Faktoren hängen mit dem Lebensstil eines Milieus zusammen, der sich als relativ stabiles Muster der alltäglichen Lebensführung verstehen lässt. So stiftet der Lebensstil Identität, schafft Zugehörigkeit zu einer Gruppe und lässt Menschen sich voneinander abgrenzen. Da gibt es zum Beispiel die bürgerliche Mitte: typische Mittelschicht, der Familie und Leistung wichtig ist und die sich voll am Mainstream orientiert. Oder Postmaterielle: kosmopolitische Akademiker mit hohem sozialen und ökologischen Bewusstsein. Moderne Performer hingegen gehören zur hippen, jungen Leistungselite, die »irgendwas mit Medien« macht. Ganz unterschiedliche Menschentypen also, die sich aber theoretisch in Gruppen zusammenfassen lassen. Theoretisch, denn soziale Milieus gibt es in Wirklichkeit nicht. Sie sind nur als Modell zu verstehen, das die Wirklichkeit beschreibt. Die kirchensoziologische Forschung bedient sich des Milieu­ ansatzes, um Veränderungen bei ihren Mitgliedern differenziert zu untersuchen und vorherzusagen. Der Ansatz hilft uns wiederum, wahrzunehmen, was Gemeinde und Glauben zur Heimat oder zur Fremde macht. 10

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Fremde Glaubensausdrücke Soziales Milieu und Lebensstil prägen nicht nur das alltägliche Leben von Menschen, sondern auch ihr Christen-Dasein. Das beeinflusst ihre Erwartungen an einen Gottesdienst, an Musik, Kunst und Predigt. Sie sind milieuspezifisch verschieden. Nun könnte man sagen, diese Unterschiede sind gar nicht so wild, da sie sich auf Äußerlichkeiten beziehen und Streit übers Liedgut wird es immer geben. Nur – die milieuspezischen Unterschiede gehen tiefer und erstrecken sich über Dinge, die wir als zentral für unseren Glauben, für Kirche ansehen: Bibel, Glaube, Theologie oder ehrenamtliches Engagement. Für mich ist die typische »stille Zeit« sehr milieugeprägt, denn diese spirituelle Praxis hängt von einem bestimmten Lebensstil ab. Man liest routiniert einen Text in der Bibel und reflektiert innerlich, was dieser mit dem eigenen Leben zu tun hat. Doch wer außer Bildungsbürgern liest heute noch Bücher?! Wie stehen Menschen unterschiedlicher Milieus zu Routine, Innerlichkeit und Selbstreflektion?! Ja, Lebensstil und soziales Milieu prägen das Glaubensleben. Das fordert mich heraus, ein weites Herz für unterschiedliche Frömmigkeitsstile und Glaubensformen zu haben und nicht alle Christen in mein – zugegebenermaßen milieugeprägtes – Schema zu pressen. Glaubensformen, die für einige Christen Heimat sind, bleiben mir fremd, so wie ich das einmal während der Heiligenlitanei einer katholischen Messe erlebt habe. Ich möchte jedoch meinen Glauben auch so ausdrücken und leben können, dass Menschen jeden Lebensstils ihn mit mir teilen können. Was also tun?


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Gemeinde als Magnetfeld Die Forschung hat weiterhin herausgefunden, dass bestimmte Milieus in der Kirche überrepräsentiert sind und damit das Gemeindeleben dominieren. Sie gehen sonntags frohgemut in den Gottesdienst, der für andere Milieus total unattraktiv wirkt, weil er morgens um zehn Uhr beginnt und von einer Kultur durchdrungen ist, die nicht zu ihnen passt. Aha, es gibt also eine dominierende Kultur in den verschiedenen Gemeinden. Problematisch ist allerdings, dass diese dominierende Kultur ein Magnetfeld bildet. Sie ist eine Art Ekelschranke für andere Menschen, denn Lebensstile wirken abgrenzend. Die Mittelschicht möchte zum Beispiel weder bonzig noch asozial sein und grenzt sich von beiden Extremen ab. Nur bestimmte Menschen werden von einer bestimmten Kultur angezogen. Fatal: Je wohler sich die einen fühlen, desto mehr werden andere abgestoßen. Die traditionelle Liturgie zieht an und schreckt ab. Es gibt Milieus, die mit postmodernen Gemeindeformen nichts anfangen können und Milieus, denen charismatische Gottesdienste viel zu ungeordnet ablaufen. Wie Kräfte eines Magnetfelds eben. An einem Sonntag habe ich das ziemlich eindrücklich erlebt. Ich habe in einem Gottesdienst in einer kleinen landeskirchlichen Gemeinschaft gepredigt. Dort gibt es hauptsächlich Senioren. Gemeinsam mit den grauen Schöpfen habe ich den Schöpfer mit alten Glaubensliedern gepriesen. Der Saal ist grünlich-gelb gestrichen, Kanzel und Holzelemente zur Deko stammen aus alten Zeiten und die Blumendeko besteht aus Plastik. Eine Kultur, die eindeutig von einem Milieu geprägt und dominiert ist. Direkt nach dem Gottesdienst habe ich mit Freunden ein Akustikkonzert in einem Hipstercafé mit Retroflair besucht. Auch wenn die Einrichtung ähnlich war, wären die Leute aus dem Café nie in den zuvor besuchten Gottesdienst gekommen. Ich vermute, dass sie Kultur und Lebensstil dort eher abgestoßen hätten. Schade. Ich wünsche es mir nämlich sehnsüchtig, dass sie ihre Heimat in christlichen Gemeinden finden. Nun sind die einzelnen Gemeinden herausgefordert, das Fremde Anderen zugänglich zu machen. Ich meine: Es muss doch gelingen, unseren Glauben gegenüber Menschen anderer Milieus zu vermitteln. Dazu müssten wir uns in unserer Milieugebundenheit bewusst werden und sie reflektieren. Dann müssten wir noch gegenüber anderen Milieus sprachfähig werden und uns ganz auf sie, ihre Kultur und Logik einstellen – und so könnten wir an der Mission des heruntergekommenen Gottes teilhaben. ///

Fußnote: 1 Heinzpeter Hempelmann: Gott im Milieu. Wie Sinusstudien der Kirche helfen k­ önnen, Menschen zu erreichen, Brunnen-Verlag 2012, Seite 36

■ Basisjahr

Christliche Beratung (berufsbegleitend) ab Herbst in Kitzingen ■ Ausbildung zum

Christlichen Berater (berufsbegleitend, ACC-zertifiziert)

■ Ausbildung zum

Christlichen Kinderund Jugendberater

(berufsbegleitend, 2 Jahre) ■ IGNIS-Fernkurs Glaube und Psychologie Angebote regional in Gemeinden:

■ Eheberaterkurse z.B. in Winterthur (CH) ■ Seelsorgeschulungen z.B. in Puhlheim, Hildesheim, Bad Nauheim, Bad Kissingen ■ Kinder- und Jugend-

seelsorgeschulungen z.B. in Gifhorn

■ Live dabei! Vorträge via Livestream Alle aktuellen Termine unter:

www.ignis.de Kathinka Hertlein (30) wohnt in einer Lebensgemeinschaft in Nürnberg und reist als Kinder- und Jugendreferentin im EC Bayern durch die Gegend. Sie mag koffeinhaltige Heißgetränke, Bücher, ihre Freunde und Kochen. Heimat

IGNIS-Akademie Kanzler-Stürtzel-Str. 2 D-97318 Kitzingen Tel. 09321 13300 oder 133056 E-Mail: info@ignis.de


Ich wollte mein Leben teilen, aber auch die nÜtige Privatsphäre behalten.

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Stadt, Land, Fluss Wie sollen wir wohnen? Text: Dagmar Begemann

Audioversion unter www.oora.de/audio

Wie, wo – und vor allem – mit wem? Idealvorstellungen weichen jenseits der 30 oft den sich auftuenden Zwängen. Wer jedoch auf sein Herz hört, kann sich treu bleiben – auch, was die Wohnform angeht. // Meine Freunde und ich waren eine eingeschworene Clique aus sieben Personen. Im Laufe eines unserer Treffen, bei denen wir für gewöhnlich bis spät in die Nacht über Gott und die Welt debattierten, beteten und irgendwie versuchten, die Sache mit Jesus und unserem Leben in Einklang zu bringen, stolperten wir über eine Aussage aus der Bibel: »Alle, die an Jesus glaubten, hielten fest zusammen und teilten alles miteinander, was sie besaßen« (Apostelgeschichte 2,44). Da wir – damals alle so um die achtzehn Jahre alt – mehr als bereit waren, die Bibel wörtlich zu nehmen, war es für uns keine Frage, ob Jesus will, dass wir das praktizierten, sondern lediglich, wie wir das umsetzen sollten. So entschieden wir, KOMMUNisten zu werden: Wir wollten zusammenziehen und eine jesusmäßige Gemeinschaft sein. Diese Gemeinschaft nannten wir – ohne groß über politische Hintergründe nachzudenken – »Kommune«. Nur, wie sollte das gehen? Wir waren alle noch in der Schule, wohnten zu Hause und keiner verdiente eigenes Geld. Irgendwie ließen sich die Eltern von einer aus der Gruppe überzeugen, uns für unser Wohnexperiment ihr Wochenendhaus zur Verfügung zu stellen und so zogen wir kurzerhand in die SchrebergartenSiedlung. Zumindest erst mal für sechs Wochen. Am Gartenzaun prangte ein großes Schild »Hier wohnen ...« mit allen unseren Namen. Im Haus teilten wir Mädchen uns zu viert den Keller als Schlafraum. Die Jungs schliefen oben in zwei Minizimmern. Wir hatten nur eine Toilette und die war im Badezimmer. Jeden Morgen warfen alle ihre Schultaschen in meinen klapprigen Fiat Panda. Ich fuhr damit zum Schulhof, während die anderen mit den Fahrrädern nachkamen und ihre Taschen dann bei mir am Auto abholten. Da wir alle auf der gleichen Heimat

Schule waren, gab das einigen Gesprächsstoff unter Mitschülern und Lehrern. Ich kann mir heute gut vorstellen, wie skurril unser Experiment auf unser Umfeld gewirkt haben muss. Aber ich weiß auch, wie wichtig diese Zeit für mich war. Ich habe eine Erfahrung mitgenommen, die mich auch heute noch prägt: Leben in Gemeinschaft. Der Sehnsucht danach bin ich bis heute nachgegangen, auch wenn die Gemeinschaft sich im Laufe der Jahre immer wieder geändert und den Lebensumständen angepasst hat. Eine kleine Wohnbiografie Mein Studium brachte mich nach dem Abitur in die Großstadt. Dort war das Wohnen geprägt von Wohngemeinschaften. Alle in unserer Gemeinde lebten irgendwie zusammen und in einem Stadtteil. Der ehemalige Laden, den ich bewohnte, war allerdings eine »WG unter erschwerten Bedingungen«: Wir hatten nur Durchgangszimmer. Mehrere Jahre teilte ich mir mit verschiedenen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern und unendlich vielen Gästen 50 Quadratmeter. An Privatsphäre war in dieser Zeit nicht zu denken. Erst als ich heiratete, wurde es etwas ruhiger. Unsere ersten fünf Ehejahre bewohnten wir den Laden zu zweit. Unsere Freunde taten es uns gleich: Spätestens mit der Hochzeit verließen sie die WGs und suchten sich eine Wohnung im Stadtteil. Dann kamen rund um uns herum die Kinder und damit wurde vieles anders. Mit dem ersten Kind blieben die meisten noch in der Innenstadt. Aber spätestens beim zweiten kam die Frage auf, ob nicht ein eigenes Haus am Stadtrand jetzt die bessere Wahl sei. Damit begannen die etlichen Umzüge in Reihenhäuser und hier bin ich dann ausgestiegen. Für mich war das Leben in Gemeinschaft weiterhin ein Thema, dem ich nachgehen wollte. Da mein Mann und ich keine Kinder hatten und nicht beruflich gebunden waren, entschieden wir, die Stadt zu verlassen und aufs Land zu ziehen. Freunde von uns oora.de

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Essgemeinschaft – Personen von links nach rechts: Maren Niederstadt, Daggi Begemann, Helge Seekamp, Eva-Maria Wilhelm. Es fehlen: Henriette Seekamp (hat fotografiert), Rahel Theisen, Henrik Begemann (bei der Arbeit).

Der Esstisch ist zum wichtigsten Punkt unserer gelebten Gemeinschaft geworden.

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lebten auf einem abgelegenen Bauernhof und dort wurde eine Wohnung frei. Mit dem großen Traum vom kommunitären Leben, Büchern über Klöster und dem Wunsch nach verbindlicher Gemeinschaft im Gepäck, sind wir umgezogen. Am Anfang lief es sehr vielversprechend. Alle, die auf dem Hof wohnten, trafen sich jeden Tag zum gemeinsamen Gebet und abends aßen wir zusammen. Ich liebte den Hof und genoss es, in der Natur zu sein. Aber nach und nach wurde mir das Leben weitab vom Schuss zu eng. Dinge, die in der Stadt selbstverständlich waren, gab es auf einmal nicht mehr. Niemand kam spontan zu Besuch. Wegen jeder Kleinigkeit musste man ins Auto steigen. Und abends weg zu gehen wurde zur Seltenheit. Die Landidylle konnte das leider nicht wettmachen. Nach fünf Jahren verließen wir den Hof wieder. Allerdings wollte ich nicht alles über Bord werfen, was ich über die Jahre gelernt hatte. Deswegen suchte ich nach einer Lösung, die das Gute aus allen Stationen meiner Wohnbiografie vereinte. Ich wollte in der Stadt leben, aber nicht alleine. Ich wollte mit anderen Gemeinschaft haben, aber mich davon nicht einengen lassen. Ich wollte mein Leben teilen, aber auch die nötige Privatsphäre behalten. Die Lösung kam in Form eines kleinen Innenstadthäuschens, das genau neben dem Haus von Freunden lag. Das Haus war groß genug für uns beide und hatte sogar noch zwei Zimmer mehr als wir benötigten. Das eine Zimmer blieb nicht lange leer: Eine gute Freundin von uns zog kurz darauf bei uns ein. Das zweite ist ein gern genutztes Gästezimmer für Bekannte von nah und fern. Mit unseren Nachbarn haben wir eine Essgemeinschaft begonnen. Wir essen vier bis fünf mal pro Woche gemeinsam.


Ladenwohnung im schönen Nürnberger Stadtteil Gostenhof, 1997 bis 2004

Landidyll in Brüntorf bei Lemgo, 2005 bis 2009

Manchmal kommen auch noch andere Freunde und Bekannte dazu, sodass der Esstisch zum wichtigsten Punkt unserer gelebten Gemeinschaft geworden ist. Da wir mittlerweile auch altersmäßig sehr gemischt sind, hat das fast ein bisschen was von Großfamilie. Ich fühle mich mit unserem Modell sehr wohl und freue mich, einen Weg gefunden zu haben, meiner Sehnsucht nach gelebter Gemeinschaft treu geblieben zu sein, auch wenn das Leben sich verändert hat. Wohnlandschaft In meinem Umfeld sind die Wohnbiografien genauso unterschiedlich wie die Menschen, mit denen ich zu tun habe. Natürlich sind einige in Reihenhäuschen am Stadtrand gelandet und damit sehr glücklich. Andere leben mit ihren Kindern in funktionierenden kommunitären Gemeinschaften. Manche haben ihr Gespartes oder Ererbtes in Häuser in Großstädten gesteckt und sind jetzt Vermieter. Wieder andere sind nicht wirklich sesshaft geworden und wohnen mal hier, mal da. Viele sind – wie ich – sehr idealistisch aufgebrochen, haben im Bauwagen oder in Bussen gewohnt, Häuser besetzt oder ganz auf ein festes Dach verzichtet. Manche mussten ihre ehrgeizigen Projekte nach einiger Zeit einstellen, andere konnten sie den Umständen anpassen und sie so erhalten. Alle haben gemeinsam, dass ihr Lebensentwurf ihre Wohnform bestimmt. Ihre Identität und das, was ihnen wichtig ist, drückt sich in dem aus, wo und wie sie wohnen. Damit können sie sich treu bleiben, auch wenn die Lebensumstände sich über die Jahre verändert haben. Wahrscheinlich haben sie das deswegen geschafft, weil sie sich Gedanken darüber Heimat

gemacht haben, wie sie ihre Werte durch ihr Wohnen ausdrücken wollen. Sie sind nicht einfach nur dem ausgetretenen Pfad gefolgt, den die Gesellschaft ab einem gewissen Alter oder Familienstand vorzuschreiben scheint, sondern sie haben nach ihrem eigenen Weg gesucht. Damit konnten sie verhindern, dass das Wohnen ihr Leben bestimmte. Ich glaube nicht, dass es »die« Wohnform für Menschen über 30 gibt, genauso wenig wie es den 30-Jährigen oder die 30-Jährige gibt. Schwierig wird es nur, wenn du das Gefühl hast, dass du dir in deiner momentanen Wohnform nicht treu bleiben kannst. Dann ist es ganz sicher sinnvoll, dir deine Wohnbiografie einmal anzusehen und zu überlegen, was über die Jahre auf der Strecke geblieben ist und wie du das wiederbeleben kannst. Meistens finden sich Wege, alte Maschen wieder aufzunehmen und weiterzustricken. Wenn nicht, dann kannst du ja einfach mal wieder umziehen … Wir träumen übrigens gerade von einem eigenen Haus mit vielen Wohnungen. Gerne auch direkt am Fluss. ///

Dagmar Begemann (39) wohnt mit ihrem Mann Henrik und der Essgemeinschaft Heustraße im idyllischen Lemgo. Als Sozial­pädagogin koordiniert sie das Mehrgenerationenhaus der ev.-ref. Kirchengemeinde St. Pauli, das kein Wohnprojekt ist, sondern ein offenes Haus für Jung und Alt. Gewohnt hat sie schon im Dorf, in der Großstadt, in der Kleinstadt und im VW-Bus.

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In sich Heimat finden Wie man in bewegten Zeiten seine Erdung behält Text: Evi Rodemann

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Unsere Autorin lebt sehr mobil. Hier beschreibt sie, was ihr bei der Suche nach ihrer inneren Heimat hilft und wie es ihr gelingt, diese auszuleben. // Als Leiterin eines europäischen Jugendnetzwerkes bin ich als Frontfrau gefragt: Ich trete nicht nur mit unterschiedlichen Missionswerken, Jugendorganisationen und europäischen Netzwerken in Kontakt, sondern bin auch auf verschiedenen Veranstaltungen in ganz Europa präsent und treffe mich mit den Landeskoordinatoren und ihren Teams. Es ist ein Privileg, so viel reisen zu dürfen. Man weiß nur nie, wo genau man landet, ob einen jemand am Flughafen abholt, ob man ein ordentliches Bett und ein eigenes Zimmer hat. Wenn ich morgens in meinen rosa Pyjamas mit verstrubbeltem Haar durch die Gegend laufen muss, um eine Toilette zu suchen, dann wird mir innerlich manchmal anders. Das betrifft nicht nur meine Eitelkeit, sondern oft kämpfe ich dann mit dem Gefühl der Heimatlosigkeit. Meine äußere Heimat ist nicht da, wo sie sein soll und bringt schnell mein Inneres durcheinander. In all dieser inneren und äußeren Bewegtheit stelle ich mir die Frage, ob ich die Tendenz


Wie erhalte ich dieses innere Vertrauen zu mir selbst, trotz äußerer Heimatentziehung und mancher Entwurzelung durch einen neuen Job, neue Gemeinde oder neue Lebensphase? zu einem Touristen oder sogar Vagabunden habe – und das nicht nur äußerlich, und was ich dagegen tun kann. Ich überlege: Wenn die innere Heimat nun die Beziehung zwischen mir und einem Raum darstellt, auch einem inneren Raum, wie kann ich nun die Heimat bei mir selbst finden? Wie erhalte ich dieses innere Vertrauen zu mir selbst, trotz äußerer Heimatentziehung und mancher Entwurzelung durch einen neuen Job, eine neue Gemeinde oder neue Lebensphase? Unterwegs seine Heimat finden In solchen Momenten wird mir mal wieder Jeremia 29,4-11 lieb. Darin beschreibt Gott, was es heißt, eine Heimat zu finden und zu gründen – Frieden zu suchen. Der Text endet mit den Worten in Vers 11, die Gott seinem Volk und damit auch mir zuspricht: »Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe das Ende, auf das ihr wartet.« Was Gott über mich denkt, gestaltet meine innere Heimat, und nicht das, was Menschen über mich denken. Der Glaube daran, dass Gott einen Plan mit mir hat, Gedanken des Friedens über mich hegt, gibt mir erst die Möglichkeit, in mir zur Ruhe zu kommen, in mir selbst eine örtliche Heimat zu finden. Diese örtliche Heimat bietet die Chance auf Lebenslust, denn wenn ich in mir eine Heimat gefunden habe, fühle ich mich in meiner Haut wohl. Heimat kann man nur für sich gestalten Meine Reisen helfen mir, mich selbst zu hinterfragen: Wie gestalte ich Heimat, wenn ich so viel unterwegs bin und das Unterwegs-sein mit Gott und Menschen nicht als Flucht verstehe? Wenn ich also nicht nur Tourist sein möchte? Ich arbeite daran, dass sich meine Wurzeln immer tiefer verankern und mich somit äußere Heimatlosigkeit nicht umhauen kann. Dabei ist mir bewusst geworden, dass ich selbst meine innere Heimat gestalten muss. Manche Räume des Lebens teilt man, aber die innere Heimat ist nicht für Besucher da, sondern für mich, um vor Gott zur Ruhe zu kommen und seine Gedanken des Friedens aufzunehmen und zu verarbeiten. Aus dieser inneren Heimat kann ich mich Menschen öffnen, neue Freunde kennenlernen und das Gefühl des Nicht-Dazugehörens abschütteln. Ich suche oft während meiner Reisen den Dialog mit Gott und nehme ihn bewusst in meine Gedanken und Erlebnisse mit hinein. Ich wende mich ihm zu, der mir Heimat ist und gibt. Ihm, Heimat

dem ich mein Innerstes ausschütten kann, der meinen Schmerz, meine Trauer und meine Freude versteht. Bei ihm, wo ich positiv über mich denken darf, egal, was andere zu meiner inneren oder äußeren Haut oder Heimat sagen. Was mir außerdem hilft, den Frieden Gottes zu spüren, ist, Gott »Danke« zu sagen für all das, was ich habe. Und auch »Danke« zu sagen für das, was mir manchmal fehlt und ich nicht verstehe. Ich stelle mich damit in die Sonne und nicht in den Schatten und bin innerlich bereit, mich mit meiner Heimat auseinanderzusetzen. Dieses innere Heimatgefühl kann ich dann mit Dingen von außen gestalten und umsorgen. Als Single habe ich das Vorrecht, zehn Nichten und Neffen zu haben und mir bewusst für die Familie Zeit zu nehmen. Aber auch in Gemeinschaft mit anderen Christen Heimat zu leben und meiner Gemeinschaft zu erlauben, mir meine innere und äußere Heimat zu spiegeln, empfinde ich als Hilfe. Innere Heimat in Gott haben Eine innere Heimat zu haben, bedeutet für mich, meinen Wert in Gottes Augen für mich zu kennen. Gott ist bei mir und ich bei ihm zu Hause. Ich liebe und werde bedingungslos geliebt. Diese Erkenntnis lässt mich bei mir zu Hause sein und Heimat finden, denn ich muss mich wie in einer Familie nicht beweisen. Wenn Jesus in Johannes 10,10 sagt »Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben«, dann möchte ich diese Fülle als Erstes für mich ganz persönlich in Anspruch nehmen. So kann ich daheim sein, wo ich gerade bin, unabhängig vom äußeren Ort. Und dort investiere ich mich emotional, finanziell und geistlich. Schließlich freue ich mich irgendwann auf die Heimat weg von mir und hin nach oben. Bei dem, der Heimat ist und gibt. Schlussendlich bin ich doch nur Gast auf dieser Erde. ///

Evi Rodemann (42) aus Hamburg, ist ein großer Fan von jungen Menschen und fördert sie gerne in ihren Gaben – sei es in Hamburg, Deutschland oder Europa. Sie ist Direktorin von Mission-Net e. V. – www.mission-net.org – und als Assistentin in einem Aluminiumwerk tätig und wünscht sich in dem Ganzen missional zu leben und einen Unterschied in dieser Welt zu machen.

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Damaris (links) mit einem zugeflogenen Kakkadu, 1992

Zwischen-Welten Ein Missionarskind kommt nach Hause Text: Damaris Schmidt

Es geht »nach Hause«, sagen ihre Eltern. Und so zieht unsere Autorin in ihre Heimat, in der sie noch nie gelebt hat. Sie freut sich trotzdem, bis sie erkennt, dass ihr Zuhause ganz anders ist als sie dachte. Eine kleine Geschichte vom Ankommen und Anderssein. // Es ist ein schwül-heißer Freitagnachmittag. Mama hat das Haus mit Hilfe unseres Hausmädchens auf Hochglanz poliert, Kuchen gebacken (die heiß begehrten deutschen Kuchen) und alles für den Nachmittag vorbereitet. Selbst Papa hat sich extra den Nachmittag freigenommen. Nach und nach trudeln unsere Gäste ein. Mitmissionare, aber auch einheimische Freunde tummeln sich zwischen uns »Weißen«. Jeder der Gäste hat etwas zum Mosaikbuffet beigetragen. Der Anlass für dieses Aufgebot ist mein Geburtstag. Und so sitzen alle, von Palmen und Meeresrauschen umgeben, zusammen und genießen den Nachmittag ausgelassen mit Gesprächen, Essen, Trinken und Singen. Nachdem die ersten Bedürfnisse gestillt sind, hat Mama für uns 18

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Kinder Spiele vorbereitet. Mit Feuereifer sind alle dabei. Topfschlagen ist dabei der klare Favorit. Zum Schluss gibt es noch ein besonderes Highlight: Wir setzen uns alle im Schneidersitz auf die Wiese vor eine Flanelltafel. Meine Patentante Ruth holt ihre Flanellfiguren heraus und beginnt, uns eine Geschichten über den kleinen Bären und seine Abenteuer zu erzählen. Gebannt hören wir Kinder zu. Am Ende der Geschichte herrscht eine zufriedene Stimmung. Später wird noch gemeinsam aufgeräumt und dann geht jeder glücklich nach Hause. Mittlerweile liegt diese Szene schon sehr lange zurück. Geboren und aufgewachsen bin ich als fünftes von sechs Kindern eines Missionars-Ehepaars in Papua-Neuguinea. Meine Kindheit habe ich als glücklich in Erinnerung. Ich bin sehr behütet aufgewachsen. Die großen Geschwister hatten vormittags Schule mit der Mama als Lehrerin, wir Kleinen genossen das Toben und Herumtollen. Oft waren wir den ganzen Tag im Freien. Außer durch die Hautfarbe unterschieden wir uns nicht von den einheimischen Kindern. Wir waren voll akzeptiert.


Meine Heimat Als ich acht Jahre alt war, hieß es dann: Wir ziehen wieder »nach Hause«. Ich freute mich riesig. Meine Eltern haben immer nur Positives von Zuhause erzählt. Außerdem gab es dort leckere Süßigkeiten und die Verwandtschaft. Natürlich war ich auch etwas traurig, meine Freunde und Papua-Neuguinea zu verlassen, doch die Freude überwog die Trauer. Denn – um ehrlich zu sein – war mir nicht bis in die letzte Konsequenz bewusst, was dieser endgültige Umzug bedeutete. Zunächst war das nicht wirklich bekannte Deutschland einfach nur aufregend und spannend. Der Kulturschock kam jedoch nach den Sommerferien. Ich war gerade in die zweite Klasse gekommen. Plötzlich war ich zwar wie alle anderen Kinder weiß, aber ansonsten bestand keine Gemeinsamkeit. Ich war altmodisch gekleidet, verhielt mich anders und hatte keine Ahnung, was gerade »in« war. Gleich zu meiner ersten Schulstunde wurde ich ausgelacht, weil ich in den Augen meiner Klassenkameraden komisch aussah. Da es in Neuguinea immer tropisch warm war, war ich nur Röcke oder Kleider gewöhnt. Hosen oder Strumpfhosen konnte ich nur schwer ertragen. Sie gaben mir das Gefühl, eingesperrt zu sein. Und so fiel ich gleich auf wie ein bunter Hund, als ich mit meinem altmodischen Rock in die Schule kam. Anders sein Und so vermisste ich immer wieder Papua-Neuguinea – mein altes Zuhause. Ich hatte sogar richtig Heimweh nach den Freunden, nach dem Gefühl des Dazugehörens und dem scheinbar leichteren Leben dort. Oft weinte ich mich abends in den Schlaf. Aber ich wusste: Es gab kein Zurück mehr. Ich musste mich hier in Deutschland zurechtfinden. Oft stellte ich mir vor, wie es sein würde, wenn ich endlich erwachsen wäre und dann an den Ort meiner Kindheit zurückkehrte. Doch mit den Jahren verblasste das Heimweh. Ich arrangierte mich mit der Situation und machte alles mit mir selber aus. Und da ich mich für die anderen nicht verbiegen wollte, blieb ich ein Stück weit immer anders. Diese Andersartigkeit hat mich irgendwann zum Einzelgänger werden lassen. Das zog sich wie ein roter Faden durch meine Schulzeit bis hin zu meiner Berufsausbildung. Meist war ich Randfigur einer Gruppe und gehörte nirgendwo richtig dazu. Es fiel mir unheimlich schwer, meinen Platz in dieser Gesellschaft zu finden. Komischerweise redeten ich und meine Geschwister, denen es ja ähnlich ging wie mir, nicht miteinander über unser Ergehen. Jeder erfand seine eigene Strategie, damit fertig zu werden wie beispielsweise übermäßiges Essen, Verdrängung der Vergangenheit oder auch sich einfach zurückzuziehen. Erst jetzt beim Älterwerden, fangen wir untereinander an, offen darüber zu reden. Und trotzdem … Und trotz all dieser Schwierigkeiten bin ich dankbar für die Erfahrungen, die mich geprägt haben und mich zu der Persönlichkeit gemacht haben, die ich heute bin. Warum? Ich habe das Privileg, eine zweite Kultur als meine betrachten und mich mit ihr identifizieren zu können. Ich habe gelernt, dass Abschied nehmen und die Trauer darüber zum Leben dazugehören. Und ich habe die Fähigkeit erlernt, mich mit GegeHeimat

Damaris (links) mit ihrer Familie am Flughafen auf der Insel Manus in Papua Neuguinea, 1989

benheiten zurechtzufinden, mich durchzubeißen und zu wissen, dass es irgendwie weitergehen wird. In all den Prozessen des sich Zurechtfindens und Erwachsenwerdens, bin ich extrem dankbar, Gott zu kennen, der mir, egal wo ich bin, ein Stück Heimat gibt. Dankbar bin ich auch für all die Freunde aus den unterschiedlichen Kulturen und Kontinenten, die durch ihre Andersartigkeit und ihre Erfahrungen eine Weite in mein Leben gebracht haben. Heimat ist für mich nicht mehr ortsgebunden, sondern sie bedeutet für mich, dort zu sein, wo meine Familie und meine Freunde sind. Dort wo ich angenommen und akzeptiert bin, dort bin ich zu Hause. ///

Damaris Schmidt (28) arbeitet als Hebamme an einer Uniklinik. In Ihrer freien Zeit unternimmt sie gerne etwas mit Freunden und genießt die Vielfalt des ­Lebens. Ihre großen Hobbies sind Lesen und Singen.

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Heimat auf Zeit Chancen und Herausforderungen von Gastfreundschaft Text: Tanja Manthey-Gutenberger

Unsere Autorin hat schon viele gute Erfahrungen als Gast und mit eigenen Gästen gemacht. Sie kennt aber auch die schwierigen Seiten von Gastfreundschaft. // »You have to come over to our house sometime!« Diesen Satz hörten wir häufig, als wir noch in den USA lebten. Darauf folgte dann oft gar nichts. Es brauchte eine Weile, bis wir verstanden, dass solche Einladungen in den USA schnell mal ausgesprochen werden. Es handelt sich einfach um eine spontane Freude über ein gelungenes Treffen oder Gespräch. Wir haben trotzdem in sonst keinem anderen Land solch großzügige Gastfreundschaft erlebt wie in den von uns oft als oberflächlich bezeichneten USA. So auch in der Wüste in Arizona bei einem Umzug von Los Angeles nach Kansas City: Motorschaden mitten in der Wüste. Das war in der Nähe des Wüstendorfes Lake Havasu. Wir telefonierten mit dem Büro, von dem wir aufgebrochen waren. Da eine Bekannte jemanden in diesem Ort kannte, und diese Person 20

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wiederum mit einem Automechaniker in Kontakt war, konnten wir dort eine Woche umsonst wohnen. In diesen Tagen baute mein Mann unter der Anleitung des Automechanikers einen kompletten Zylinderkopf aus und wieder ein – ohne Bezahlung für die Benutzung des Werkzeugs oder für die Anleitung. Die Tochter der Familie, in deren Zimmer wir schlafen durften, meinte bei unserer Weiterreise nach einer Woche Aufenthalt, dass wir bestimmt Engel seien, da sie sich irgendwo mal diesen Vers aus dem Hebräerbrief eingeprägt hatte: »Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt« (Hebräer 13,2). Engel in einem blauen Hippie-Van – das waren wir für sie. Die Ursprünge Diese Woche in der Wüste, eine Woche der Hilfe und der Beziehung, werden wir nicht wieder vergessen. Aber ganz ehrlich, ich weiß nicht, ob ich zu solch einer Gastfreundschaft bereit gewe-


Gastfreundschaft bedeutet, sein Eigentum zu teilen, zu vertrauen, sich einzulassen, Zeit zu geben – eben ein Risiko einzugehen. sen wäre. Wahrscheinlich eher nicht. Gastfreundschaft hat oft mit dem Aufgeben eigener Grenzen zu tun, mit der Bereitschaft, fremde Menschen und die Begegnung mit ihnen wichtiger als persönliche Termine zu nehmen. Aber warum legen die Heiligen Schriften aller Religionen so einen großen Wert auf Gastfreundschaft? Man kann argumentieren, dass es früher überlebensnotwendig gewesen ist, fremden Wanderern Obhut zu bieten. Daraus würde folgen, dass das heute vernachlässigbar ist, da kaum ein fremder Wanderer heute noch an unsere Türe klopft. Im Talmud sind es nicht nur die Engel, es ist gleich Gott persönlich, den man beherbergt, wenn man seine Tür öffnet. Im interkulturellen Kontext betrachtet, denke ich auch schnell an die viel gepriesene Gastfreundschaft unserer arabischen Freunde. Selbst als Sozialpädagogin bei Hausbesuchen und somit oft als Überbringerin von weniger schönen Neuigkeiten, wurde ich immer herzlich empfangen und es gab mindestens ein Glas Tee. Überraschende Gäste Noch eine Geschichte: Das letzte Weihnachtsfest haben mein Mann Daniel und ich unserer Familie einen Streich gespielt. Wir sind spontan mit dem Auto von Berlin nach Süddeutschland gefahren, um mit unserer Familie Heiligabend zu verbringen. Unangemeldet standen wir um halb acht abends vor der Tür und klingelten. Daniel verstellte seine Stimme und sprach mit tiefem alemannischen Akzent in die Sprechanlage: »Jo guetsnobig, wir hän mol wölle froge, ob sie no ä Platz hän zum schlofe für mi un minni Frau«. Die Sprechanlage blieb stumm, bis schließlich ein verstörtes »Moment mal« zu hören war. Im Hintergrund waren Stimmen zu hören und schließlich sagte eine Person etwas lauter: »Schick sie in den Burghof« (die Heiligabend-Feier für Menschen in Obdachlosigkeit). Ein gut gemeinter Vorschlag, uns zumindest einen Ort zu vermitteln. Danach schickte die Mutter die »Männer der Familie« runter an die Eingangstüre, um uns dorthin zu weisen. Es gab natürlich zunächst ein großes Gelächter, doch im Anschluss auch eine Diskussion. Argumente wurden ausgetauscht über zivile Sicherheit, Abschiebung von Not an eine Hilfseinrichtung, persönliche Herausforderung und schlechtes Gewissen. Ganz ehrlich, Gastfreundschaft bedeutet eigentlich nicht, jemanden zu einer Feier für Obdachlose oder in eine entsprechenHeimat

de Unterkunft zu schicken. Gastfreundschaft bedeutet vielmehr, sein Eigentum zu teilen, zu vertrauen, sich einzulassen, Zeit zu geben – eben ein Risiko einzugehen. Nach drei Tagen stinkt der Fisch Ich denke, jeder hat schon einmal erlebt, welche Dynamiken Gäste mit sich bringen können. Schnell kommt man ins Aufrechnen und Überlegen, was noch angemessen ist und was nicht oder was man stattdessen tun könnte. Diese Dynamik entsteht vor allem, wenn der Besuch sich besonders wohl fühlt und nicht gehen will. Bei Gästen, die sich allzu lange wohl bei einem fühlen, sagt man auch: »Nach drei Tagen stinkt der Fisch.« In Berlin hat das alles nochmal eine besondere Dynamik. Wir hatten noch nie so viel Besuch, seit wir in dieser Stadt leben. Das ist meistens in Ordnung, hat manchmal aber einen fahlen Beigeschmack. Wenn der Besuch fünf Tage lang auf Sightseeing-Tour ist und man außer dem belegten Zimmer kaum etwas von den Menschen mitbekommt, fühlt sich das nicht mehr stimmig an. Gastfreundschaft beim Abendbrot Viele Erfahrungen mit Gastfreundschaft machen wir in dem gemeinnützigen Café, das wir betreiben: ein offenes Café – für die Nachbarschaft, für Freunde, für zufällig Vorbeikommende. Jeden Donnerstag essen wir zusammen Abendbrot. Das bedeutet, dass wir einen langen Tisch decken und das Brot und die Butter stellen und alle, die kommen, bringen den Belag mit. Als Einstieg ins Gespräch gibt es ein Zitat, über das man sprechen kann wenn man möchte, aber auch nicht muss. Dieses gemeinsame Abendessen veranstalten wir nun schon seit fünf Jahren – das erste Jahr privat in unseren Wohnungen und dann im hauseigenen Café. Die Geschichten und Begegnungen mit Menschen, die bereits an unserem Abendbrottisch saßen, sind zahlreich und ich kann nur zur Nachahmung dieser Idee ermutigen. Zugegeben, manchmal ist es anstrengend – man weiß nie, neben wem man sitzt und wer alles auftaucht. Doch meistens sind es bereichernde Begegnungen und es haben sich schon so manche Beziehungen daraus entwickelt. Aber: Ist das Gastfreundschaft? Nicht im üblichen Sinne vielleicht, denn wir teilen ja nicht unsere Wohnung. Es ist nicht spontan und flexibel, aber es ist unsere lebbare Art und Weise, den Geist von Gastfreundschaft als Teil oora.de

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Abendbrot-Gesellschaft im »Klaus Abendbrot«

Wenn der Besuch fünf Tage lang auf Sightseeing-Tour ist und man außer dem belegten Zimmer kaum etwas von den Menschen mitbekommt, fühlt sich das nicht mehr stimmig an. unseres Lebens aufrecht zu erhalten. Dabei entstehen immer wieder Situationen, in denen es nicht beim Abendbrot bleibt. Denn wo Menschen sind, gibt es Krisen und diesen Krisen zu begegnen, ist Teil von Beziehung. Da wird aus Gastfreundschaft dann Hilfeleistung und manchmal auch Freundschaft. Freundschaft Aber ist Gastfreundschaft schon Freundschaft? Sicher nicht. Wenn Gastfreundschaft den Anspruch auf Freundschaft hat, dann funktioniert sie nicht mehr. Denn Freundschaft kann nicht einseitig sein. Ist Gastfreundschaft einseitig? Das kommt darauf an. Ich würde aber behaupten: in den meisten Fällen zunächst ja. Freundschaft kann durch Gastfreundschaft entstehen, muss sie aber nicht. Und das ist auch okay. Den konservativen Wüstenstädtchen-Bewohnern in Lake Havasu werden wir ewig dankbar sein für ihre Gastfreundschaft und Hilfeleistung, obwohl wir keinen Kontakt mehr zu ihnen haben. So auch beim Café »Klaus Abendbrot«. Nicht alle unsere Gäste sind oder werden unsere Freunde. Aber Bedürfnisse werden gestillt. Manche vielleicht auch enttäuscht, weil manchmal mehr erwartet wird, als wir oder das Caféteam leisten können. Es ist 22

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schön, Menschen kennenzulernen, die sich über Beziehung und Gespräche freuen. Es ist nicht immer schön, von Menschen besucht zu werden, die eigentlich nur etwas mitnehmen oder loswerden wollen. Aber wenn viele Menschen sich dem Geist der Gastfreundschaft öffnen, kann aus dem Nehmen und Geben ein großartiges Miteinander werden. Unsere manchmal einsame Welt kann durch mehr Gastfreundschaft und dadurch mehr Vertrauen reicher und sicherer werden. ///

Tanja Manthey-Gutenberger (40), leidenschaftliche Berlin-Fahrradfahrerin, arbeitet als sozialpädagogische Geschäftsführung in der integrativen Kinderund Jugendeinrichtung »breakout« in Berlin-Kreuzberg und hat 2009 mit einem Team Ehrenamtlicher das gemeinnützige Nachbarschaftscafé »Klaus Abendbrot« gegründet.


Heimatplanet Wie Fleischessen unsere Welt verändert Text: Daniel Hufeisen

// Der Planet, auf dem wir leben, ist die Heimat für alle Menschen. Wie gehen wir mit unserer Heimat um, die Gott als »sehr gut« bezeichnet hat? Welche Auswirkungen hat unser alltägliches Handeln auf die restliche Schöpfung? Am Beispiel des Fleischkonsums kann man erkennen, welch weitreichende Folgen scheinbar kleine Dinge wie die Auswahl des Mittagessens haben können.

1 kg Rindfleisch bedeutet:

Ein Deutscher:

- 16 kg Getreide und Soja als Futter. - 50 m2 Regenwald werden abgeholzt. - 15.455 Liter Wasser werden verbraucht (für 1 kg Tomaten sind es nur 184 Liter). - das Klima wird ebenso stark belastet wie durch 250 km Autofahren (der Einfluss der Nutztiere auf die Klimaerwärmung ist höher als der des weltweiten Verkehrs). - 31 m2 Land werden benötigt.

- isst jährlich 61 kg Fleisch (weltweit liegt der Durchschnitt bei 42,5 kg – Tendenz stark steigend); in einer Woche sind das 1,2 kg – dagegen werden nur 440 g Gemüse gegessen. - verbraucht im Laufe seines Lebens 1.094 Tiere, darunter 4 ganze Rinder, 4 Schafe, 12 Gänse, 37 Enten, 46 Schweine, 46 Puten und 945 Hühner. - ist mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit übergewichtig.

In Südamerika:

Weltweit:

- sind 2/3 der Landfläche mit Regenwald bedeckt; 1/5 des Amazonas-Regenwaldes ist bereits zerstört. - werden jedes Jahr 35 Millionen Tonnen Soja angebaut, die in die EU als Tierfutter eingeführt werden (auch die Tiere in Deutschland fressen vor allem südamerikanisches Futter). - w ird alle 2 Minuten ein weiterer Hektar Wald vernichtet; die Ackerflächen bleiben nach 2 Jahren als vergiftetes Brachland zurück. - werden Kleinbauern für den Sojaanbau von ihrem Land vertrieben. - w urden seit 1970 über 20 Millionen Hektar der Tropenwälder in Rinderweiden umgewandelt.

- werden 33% des kultivierten Landes für Futtermittelanbau benutzt. - werden 26% der Oberfläche des Planeten (ohne Wasser- und Eisflächen) als Weideflächen für Nutztiere eingesetzt. - werden Grundnahrungsmittel teurer, auch weil immer mehr Soja und Mais als Tierfutter verwendet werden. - verbrauchen Nutztiere rund 8% des globalen Trinkwassers und gehören damit zu den größten Wasserverbrauchern; der direkte menschliche Verbrauch (Trinkwasser, Duschen, Industrie etc.) kommt auf rund 1%. - muss bis 2050 die Fleischproduktion verdoppelt werden, wenn sich am Konsumverhalten der Menschen nichts ändert.

Quellen: Fleischatlas 2013; Miseror Fastenkalender 2013

Heimat

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Deutsch Die Frage nach der nationalen Identität Diskutanten: Hendrik Stoppel + Benjamin Finis

Zwei Jesus-Nachfolger diskutieren über das Deutsch sein.

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schwenken entsteht, empfinde ich als sehr positiv, ganz sicher ungefährlich und Energie freisetzend.

Hendrik: Fahnen schwenken als gesundes Ausleben der nationalen Identität? Ich kann nichts Gesundes an einer Identität sehen, die lediglich als Konstrukt existiert und die meine Interessen identisch machen will mit den Interessen von Mächtigen, die bestimmt nicht meine sind. Was so friedlich rüberkommt – und von vielen sicher auch so gemeint ist – ist nichts als die Verfügbarmachung von Menschen als Reservearmee dieser Mächtigen. Vielleicht weniger als früher für wirklichen Krieg – aber für ökonomische Zwangsmaßnahmen allemal.

Nationalstolz gehört zu einer gesunden Identität! Jeder Mensch braucht Wurzeln, muss wissen, wo er herkommt und was ihn ausmacht. Teil meiner Identität ist daher nicht nur meine Familie, sondern auch die Zugehörigkeit zu dem Land, in dem ich aufwachse. Ein gesundes Selbstbewusstsein gehört für mich dazu, um anderen Menschen mit konträren Hintergründen auf Augenhöhe begegnen zu können. Nur wer seine Wurzeln kennt und mit ihnen im Frieden lebt, kann anderen mit Rückgrat gegenübertreten.

Benjamin: Fahnen schwenken ist Ausdruck eines nationalen Gefühls und der Verbundenheit zu dem Land, dem ich mich zugehörig fühle. Dabei steht für mich meine individuelle Beziehung zu dem Land im Vordergrund. Ich habe keinen Bedarf, die Fahnen für einen Führer oder die Mächtigen zu schwenken. Diese schlimme Phase der deutschen Geschichte haben wir glücklicherweise überwunden. Das Gemeinschaftsgefühl, das beim Fahnen

Hendrik: Ich denke, du verwechselst Kultur und Sprache mit Nation. Natürlich bin ich von bestimmten Kulturen geprägt und denke in einer bestimmten Sprache. Dazu muss ich mich auch bewusst verhalten. Aber Kultur und Sprache sind Kontinua ohne scharfe Trennlinien. Nationalismus beansprucht einen bestimmten Punkt in diesem Kontinuum und erklärt ihn für alle Mitglieder der Nation als verbindlich. Damit bin ich festgelegt auf etwas,

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Wikipedia: Diskussion Eine Diskussion ist ein Gespräch (auch Dialog) zwischen zwei oder mehreren Personen (Diskutanten), in dem ein bestimmtes Thema untersucht (diskutiert) wird, wobei jede ­Seite ihre Argumente vorträgt. Als solche ist sie Teil zwischenmenschlicher Kommuni­ kation. Das Wort Diskussion stammt vom lateinischen Substantiv discussio »Untersuchung, ­Prüfung« ab. Das Verb dazu heißt discutere und bedeutet »eine Sache diskutieren = unter­ suchen, erörtern, besprechend erwägen«.

das außerhalb meiner selbst liegt und dem ich mich gegenüber nicht frei verhalten kann. Nationalismus ist ein Ausschließungsmechanismus! Du sagst es ja selbst: Menschen anderer Nationalität haben für dich einen »konträren« Hintergrund und du stehst in Konkurrenz zu ihnen, für die du »Rückgrat« brauchst: »Wir« hier, die »anderen« dort. Und die sind so anders, dass wir ihnen nicht wie einem von uns begegnen können. Genau so funktioniert Nationalismus. Übrigens auch nach innen, wenn jemand sich nämlich nicht der verordneten Kultur unterwerfen will. Das ist nicht das Zusammenleben von Menschen als Menschen, das ich mir wünsche. Benjamin: Meine Nationalität ist tatsächlich ein Ausschlusskriterium, aber keine Konkurrenz! Ich bin deutsch und eben nicht portugiesisch, türkisch oder englisch. Ich wüsste nicht, was daran falsch oder schlecht ist und bin mir sicher, dass ein Begegnen von Menschen unterschiedlicher Kulturen eben besonders dann gelingen kann, wenn jeder mit seiner Nationalität im Reinen ist und ein gesundes Selbstbewusstsein entwickelt hat. In meinen Augen muss sich keiner irgendetwas unterwerfen – ich bin völlig frei darin, mein Nationalgefühl zu leben. Du kannst dir deine Nation genauso wenig aussuchen wie deine Familie. So, wie mancher vielleicht mit seinen Eltern hadert oder seine Geschwister nicht ausstehen kann, gibt es sicher manche, die auch mit ihrem Vaterland hadern. Und meistens geht es Menschen dann besser, wenn sie Frieden schließen mit den von Gott gesetzten Rahmenbedingungen in ihrem Leben. Meine Nationalität anzuerkennen und diese in Freiheit zu gestalten, nationale Symbole zu würdigen, einende Dinge zu feiern – ich denke, das ist nur natürlich.

Hendrik Stoppel (34) ist Theologe in Tübingen und bastelt an einer Doktorarbeit über das Alte Testament. Er wird sich niemals damit abfinden, dass die Welt so ist, wie sie ist und glaubt fest an eine bessere.

Heimat

Hendrik: Dass die Kontexte, in die man hineingeboren wird, nicht hintergehbar sind und man ihnen nur zustimmend begegnen kann, kann ich theologisch nicht so sehen. Die Bibel ist voll von Gestalten, die aus ihren Kontexten herausgerufen werden. Fremdheitserfahrungen im eigenen Land scheint Gott auch sehr zu schätzen. Jesus selbst relativiert familiäre Bindungen. Wenn das jeweilige Gesellschaftssystem einer Zeit immer das einzig gottgegebene, unveränderliche wäre, dann würden wir heute noch im Feudalismus leben, weil es ein Sakrileg wäre, das zu ändern. Die Einteilung der Menschen in Nationen ist weder natürlich noch göttlich! Wie jede gesellschaftliche Formation ist sie menschengemacht. Sie teilt Menschen nach den Interessen derer, die die Grenzen ziehen, ein. Der Platz des Einzelnen darin ist reiner Zufall. Dass wir auf einem privilegierten Platz gelandet sind, sollte uns nicht den Blick verstellen. Um Paulus weiterzuführen: Hier ist weder Deutscher noch Türke noch Bangladeshi. Nur Menschen. Ich will in einer Welt leben, in der Menschen sich ausschließlich als Menschen begegnen. Benjamin: Ich möchte nicht in einer Welt leben, auf der es nur noch den »Einheits-Erdenbürger« gibt. Die Grünen haben vor einigen Jahren einmal den Vorstoß gewagt, die deutsche Staatsbürgerschaft abzuschaffen und den europäischen Pass einzuführen. Hallo? Wenn sich Menschen ihrer nationalen Zugehörigkeit bewusst sind und sich in ihrer Individualität und Unterschiedlichkeit begegnen, dann sind das auch Begegnungen von Menschen. Für mich ist das wie ein buntes Bild – und wenn die Staatszugehörigkeit ausgeblendet werden soll, dann ist das ziemlich schwarz-weiß. Für mich würde einfach etwas fehlen. ///

Benjamin Finis (29) lebt in Egenhausen im Schwarzwald, ist tätig als Betriebswirt und in zahlreichen Ehrenämtern engagiert. Als passionierter Fußballer liebt er nicht nur die Spiele der deutschen Nationalmannschaft, sondern auch den mindestens genauso emotionalen Kick der Mannschaften des 1. FC Egenhausen in der Kreisliga B – auch wenn da vorher keine Hymne läuft.

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: Neues aus dem Hinterhof der Geistlichkeit

Krone der Schöpfung – undercover von Axel Brandhorst

Quergedacht

dem ersten in den Tod folgen (in dem Gedränge ihrer Wanderung fallen halt mal ein paar über die Klippe, das war’s schon mit den Lemmingen); während auch Schafe, denen man unterstellt, dass sie alle dem Leithammel folgen, ohne selbst nachzudenken, während alle anderen Tiere, die einem Leittier folgen das nur tun, wenn sich dieses Leittier als gewinnbringend fürs Kollektiv erwiesen hat, verzichten wir Menschen doch gar häufig darauf, den Nutzen derer zu überprüfen, denen wir folgen. Und wenn’s dann scheppert, erblicken wir verdutzt lauter Verdutzte um uns rum.

Wir sind wohl die Einzigen, die es fertigbringen, im Kollektiv blöder zu sein als die Individuen, die das Kollektiv bilden. Muss das so sein? Gibt’s dafür nicht eine bessere Lösung? Oder ist die Menschheit zur Doofness verdammt? Ich möchte diese Fragen gerne unbeantwortet lassen. Ich finde sie als Fragen nämlich zwar unheimlich naheliegend, aber wenn ich es mir recht überlege, verspreche ich mir von keiner möglichen Antwort einen wirklichen Nutzen. Denn auch wenn’s vielleicht keine globale Lösung für dieses Phänomen gibt, so hab ich mir doch vorgenommen, es unter anderen Vorannahmen zu betrachten. Wer sagt denn, dass man der Menschheit immer das Schlimmste unterstellen muss? Wo ist denn die gute Absicht darin? Vielleicht sind Menschen nicht primär doof, sondern an sich ganz nett und meist eher partiell begabt. Das genannte ­Video hab ich mir nochmal angesehen und festgestellt: Die wollen alle möglichst gute Leistung abliefern. Dabei ging was schief. Kann ja mal passieren, oder? ///

Axel Brandhorst (39), ist verheiratet und Vater einer bezaubernden Tochter. Er wohnt im lebendigen Basel und im schnuckligen Waltertal und ist im wilden und im braven Süden in Seelsorge und psychologischer Beratung unterwegs. ­Außerdem ist er therapeutischer Mitarbeiter in einer stationären Drogentherapieeinrichtung. Ihm geht es darum, Menschen zu befähigen, gute Beziehungen zu sich, ihren Mitmenschen und ihrem Schöpfer zu gestalten. www.axelbrandhorst.org

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© Axel Brandhorst

// Ich habe gerade auf YouTube ein Video von einem Skilanglaufrennen gesehen. Irgendwie haben da ziemliche Menschenmassen mitgemacht, und an einer Stelle sind sie alle hintereinander gestürzt. Ein lustiges Phänomen; aus irgendeinem Grund hat’s mich an die Lemminge erinnert. Einer voraus, alle hinterher. Wir verlassen uns gern darauf, dass der erste, der etwas tut, sich schon Gedanken dazu gemacht haben wird, und schließen daraus, dass wir dann unsererseits darauf verzichten können, aufs Gedankenmachen. Das ist zwar, wenn man von der Stirn bis zum Brett vorm Kopf vorausplant, eine durchaus ökonomische Sache – Denken verbraucht ja einen Haufen Kalorien – aber doch, ja, wenn wir’s uns so recht überlegen (was wir ja nicht tun, wenn wir das Gedankenmachen anderen überlassen), dann isses vielleicht doch nicht so schlau. Warum aber tun wir das, wenn es nicht so schlau ist? Denn, wie zu erkennen war, steht ja das ökonomische Argument nicht gerade für logische Brillanz. Und vor allem – was sagt das aus über uns Menschen? Normalerweise sind organische Lebensformen im Kollektiv intelligenter als die Individuen, aus denen sich das Kollektiv zusammensetzt. Nicht nur Mikrobenschwärme nutzen dieses Prinzip, sondern auch Fische, Säugetiere und – natürlich – auch wir Menschen. In halbwegs funktionierenden Kollektiven haben wir Aufgaben, und darunter auch Führungsaufgaben, nach Begabung verteilt, mit dem Ergebnis, dass nicht mehr jeder alles machen muss, sondern man sich darauf verlassen kann, dass das, was ein darin Begabter für alle tut, von allen außer diesem einen, nicht mehr getan werden muss. Man kann, die Menschheitsgeschichte betrachtend, sogar anerkennend feststellen, dass wir dieses Prinzip sehr weit ausgereizt haben. Ohne dieses weite Ausreizen wären wir nicht da, wo wir sind: in einer Form des Zusammenlebens, die so hochkomplex ist, dass sie schon lange nicht mehr im Gesamten beschrieben oder verstanden werden kann, sondern immer nur teil- und aspektweise. Und ja, wenn wir gewisse YouTube-Videos anschauen, drängt sich hier die Erkenntnis auf, dass wir die einzige organische Lebensform sind, die dieses Prinzip der delegierten Kompetenzen nicht nur ausge-, sondern gar überreizt hat. Wir sind wohl die Einzigen, die es fertigbringen, im Kollektiv blöder zu sein als die Individuen, die das Kollektiv bilden. Das unterscheidet uns (vielleicht unter anderem) vom Tier. Denn während die eingangs erwähnten Lemminge ihren Kollektiv­suizid-Ruf nur haben, weil Menschen ihnen menschliches Verhalten unterstellen, nicht aber, weil sie tatsächlich alle

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Unser Dank an euch!

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#44 Gemeinschaft

#43 Fantasie

#48 Heimat

#47 Freiheit

#46 Erwachsen

#45 Außenseiter

#42 Anfang/Ende (Wendeheft)

#41 Macht

#40 Mission

#39 Grün

le id e r v

e rg riff e

n!

#38 Krieg

#37 Kind

#36 Sünde

#35 Wandel

#34 Frau / Mann (Wendeheft)

#33 Hunger

#32 Tabubruch

#31 Erweckung

#30 Karriere

#29 Toleranz

#28 Emotionen

#27 Lebenskonzepte

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die ethik frage

Hier kannst du unsere Ethikexperten befragen, wie man in bestimmten Situationen richtig handelt.

Dieses Jahr bin ich befördert worden – mehr Arbeit, aber auch mehr Geld. Deshalb können wir als fünfköpfige Familie dieses Jahr 1.500 Euro in unseren Sommerurlaub investieren. In unserem Hauskreis geht es einer Familie finanziell nicht gut. Sie gehen verantwortungsvoll mit ihren Finanzen um, aber sie haben durch den Arbeitsplatzverlust des Mannes nicht genügend Geld, um ihr altes, kaputtes Auto zu ersetzen. Habe ich als Glaubensbruder die Verantwortung, der Familie finanziell beizustehen? Auch wenn das für unsere Familie heißen würde, auf den Sommerurlaub zu verzichten?

Dr. Andreas Franz

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ine vierköpfige Familie hatte jahrelang gespart, um sich endlich ihren Familientraum zu verwirklichen: wenigstens einmal im Leben die Olympischen Spiele zu besuchen. Kurz vor Beginn der Spiele hörten sie im Gebet, sie sollten dieses Geld in ein Missionsprojekt investieren. Auf diese Weise kamen sie mit zwei Teenagern während der Zeit der Olympischen Spiele aus den USA nach Deutschland, um bei Umbauarbeiten praktisch mitzuhelfen. Die Reise kostete sie ihre ganzen Ersparnisse, die Spiele waren vorbei und sie waren trotzdem glücklich. Ihr Verhalten hat mich tief beeindruckt. Wenn Gott so klar redet, sollte man es tun und wird es nicht bereuen. In unserem Beispiel besteht ein ähnliches Spannungsfeld, diesmal zwischen dem Wohlergehen der eigenen Familie (gemeinsame Erholung) und der Notlage einer befreundeten Familie (defektes Fahrzeug). Im Grunde stehen mit »Urlaub« und »Auto« aber zwei Luxusgüter auf dem Prüfstand, die in unserer Gesellschaft zugegebenermaßen einen sehr hohen Stellenwert haben. Eine Güterabwägung für diese spezielle Situation sollte berücksichtigen: Wie groß ist die Notlage der Freunde? Lassen sich alternative (Übergangs-)Lösungen finden? Wie groß ist der familiäre Schaden, wenn der Familienurlaub abgesagt wird? Für den Fall eines Urlaubsverzichts würde ich erwarten, dass die fünfköpfige Familie bei der Entscheidung einen Konsens erreicht. Eine geistliche Regel oder einen Automatismus zum Helfen halte ich in diesem Falle für unangebracht. Ich sehe hier einen typisch deutschen Wertekonflikt. ///

Dr. Andreas Franz (55) ist Studienleiter der Theologisch-Missionswissenschaftlichen Akademie »TheMA« (www.hww-ev.de/thema) und Vorsitzender der ­Arbeitsgemeinschaft Pfingstlich-Charismatischer Missionen (www.apcm.de) Quergedacht

Dr. Thomas Weißenborn

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in Auto gehört nicht zu den Grundbedürfnissen einer Familie, weshalb man hier nicht von einer Beistandsverpflichtung reden kann, auch wenn ein Auto vielleicht die Voraussetzung dafür ist, dass der Mann einfacher wieder einen Job bekommt. 300 Euro pro Person für einen Jahresurlaub auszugeben, ist zwar ein gewisser Luxus, aber sicher kein Exzess, der das Maß weit überschreitet. Insofern müsste die andere Familie auch kein schlechtes Gewissen haben, schließlich hat sie für die 1.500 Euro einige Nachteile in Kauf nehmen müssen (»mehr Arbeit«). Auch wenn damit aus ethischer Sicht eigentlich kein Problem besteht, kann man die ganze Geschichte jedoch als Chance begreifen, durch die der Hauskreis etwas mehr zu der christlichen Gemeinschaft wird, die er zu sein vorgibt. Dazu müssten sich beide Familien zusammensetzen und die Situation beraten. Wichtig wäre dabei, dass nicht nur alle dasselbe Stimmrecht haben (auch die Kinder, die den eventuellen Ausfall des Urlaubs ja mittragen und gutheißen müssen), sondern, dass es auch zu einem wirklichen Austausch im Sinne von 2. Korinther 8,13-15 kommt. Die »arme« Familie soll also nicht als Bittsteller auftreten und die »reiche« nicht als Gönner. Vielmehr sind beide »arm« und gleichzeitig »reich« – wenn man auf mehr schaut als nur die materiellen Dinge, also auch auf Fähigkeiten, geistliche Gaben, praktische Möglichkeiten und vieles mehr. Auf dieser Grundlage kann es daher zu einem echten Austausch (keinem Handel!) kommen, in dem jede Familie das empfängt, was sie nötig hat, und das gibt, was die andere braucht. ///

Dr. Thomas Weißenborn (45) ist stellvertretender Direktor am Marburger ­Bildungs- und Studienzentrum (www.m-b-s.org), an dem er u.a. Dogmatik ­unterrichtet. Er ist Autor mehrerer Bücher.

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oora Herzschlag:

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Die Kunst des Aufhörens Text: Daniel Hufeisen

Unser Autor denkt über eine Kultur des Beendens nach. Er erkennt, dass etwas zu beenden häufig schwierig, aber oft auch sehr gut ist. // Dies ist die letzte Ausgabe von oora. Unter der Rubrik »Herzschlag« haben wir Redakteure in den letzten Heften Themen behandelt, die uns persönlich beschäftigen. Es überrascht sicherlich nicht, dass »Aufhören« gerade ein Thema ist, das mich bewegt. oora zu beenden, war sicher keine einfache Entscheidung. Besonders für die beiden Herausgeber Jörg und Michael, für die oora mehr ist, als nur ein erfüllendes Ehrenamt. Ich habe sehr großen Respekt vor dieser mutigen Entscheidung. Denn etwas aufhören zu können, ist eine große Kunst. Immer wieder erlebe ich, dass es Menschen schwer fällt, etwas aufzuhören, besonders Christen. Ist nicht das, was ich tue, meine Berufung? Hat mich Gott nicht deutlich auf diesen Weg geführt? Wenn ich jetzt aufhöre, diese Gruppe zu leiten, dann »stirbt« sie wahrscheinlich. Wenn ich es nicht mache, dann gibt es keinen anderen Mitarbeiter, der das übernimmt und dieses wichtige Angebot der Gemeinde fällt weg. Außerdem haben die anderen da ganz klare Erwartungen an mich, da stehe ich schon unter Druck. Diese Gedanken sind mir nicht fremd: sowohl wenn es um Dinge geht die ich als einzelne Person mache, als auch wenn es um Gruppen in der Gemeinde geht. Dass ich hauptamtlicher Pastor bin, potenziert das Problem noch einmal: Es ist ja mein Auftrag und auch noch mein Job, dass alles in der Gemeinde gut läuft. Ich denke aber, dass es wichtig ist, immer wieder Gruppen, Projekte oder auch ganze Organisationen zu beenden. Wenn ich mich im christlichen Kontext umschaue, sehe ich viele »Werke«, die ihren Dienst getan haben. Häufig hatten sie einen speziellen Auftrag oder eine gewisse Zeit, in der sie relevant waren. Viele haben entweder diesen Auftrag erfüllt oder sind daran geschei-

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Wenn Dinge beendet werden, fehlt einerseits etwas – andererseits entsteht freier Raum, in dem Neues wachsen kann, für das vorher kein Platz war.

tert, aber die Organisationen gibt es trotzdem weiterhin. Und als solche verbrauchen sie viele Ressourcen. Wie viele Kräfte und auch Finanzen könnten freigesetzt werden, wenn die dort Verantwortlichen aufhören könnten? Bloß hängen oftmals auch ganze Existenzen daran. Aber was ist mit unserer Berufung, mit der Führung Gottes bei dieser Aufgabe, in dieser Organisation? Ich bin mir sicher, wir sind alle dazu berufen, Kinder Gottes zu sein und wir sind von Jesus in diese Welt gesandt, damit er durch uns leuchten kann. Aber nur die Wenigsten von uns sind dazu berufen, ein Leben lang ein und dieselbe Aufgabe zu erfüllen. Gott sendet uns immer wieder an neue Orte, zu neuen Aufgaben, zu anderen Menschen. Da muss man nur Paulus anschauen, er hatte eine ganz klare Berufung, aber welche Aufgaben er konkret wahrnahm, änderte sich immer wieder. Dafür musste er regelmäßig etwas aufhören und häufig auch Menschen hinter sich lassen.

Etwas aufhören zu können, ist eine große Kunst. Bei ELIA, der Gemeinde zu der ich noch gehöre, ist Aufhörenkönnen ein hoher Wert. Wer an einer Stelle nicht mehr mitarbeiten kann oder will, soll ohne Druck aufhören können. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, denn die Mitarbeiter engagieren sich ja ehrenamtlich, also freiwillig. Dieses Prinzip hat bei ELIA auch schon dazu geführt, dass scheinbar gut laufende Angebote beendet wurden. Das können wir machen, da uns bewusst ist, dass wir sowieso nicht alles tun können, was vielleicht gut wäre. Daher ist es manchmal besser, etwas bewusst zu beenden und damit eine Lücke zu hinterlassen, als krampf-

Quergedacht

haft weiterzumachen. Wenn Dinge beendet werden, fehlt einerseits etwas – andererseits entsteht freier Raum, in dem Neues wachsen kann, für das vorher kein Platz war. Mein Weg Diesen Sommer übe ich mich darin, aufzuhören. Nicht nur bei oora, sondern auch beruflich und privat: Nach fünf Jahren in Erlangen und dort bei ELIA und einigen anderen Projekten, werde ich zusammen mit meiner Frau im Herbst nach Berlin ziehen, um dort mit dem Projekt FreiRaum etwas Neues aufzubauen. Wir haben uns bewusst für ein Projekt entschieden, das ein Experiment ist. Bei dem es also gut sein kann, dass nach ein paar Jahren schon wieder die Zeit zum Aufhören gekommen ist – was wir natürlich nicht hoffen. Falls ich dann, wenn die Zeit zum Aufhören gekommen ist, mich an das Projekt klammere, zeigt mir hoffentlich jemand diesen Artikel … oora – wie wir es kennen und lieben – erscheint als Printmagazin hiermit das letzte Mal. Es ist einerseits schade um dieses tolle Projekt. Aber die Energie und die Kreativität, die Redakteure und Autoren, Mitarbeiter und Leser in oora investiert haben, geht nicht verloren. Wir räumen den Platz und hinterlassen freien Raum. Ich weiß nicht, was den Raum füllen wird. Aber ich bin gespannt auf das, was kommen wird. ///

Daniel Hufeisen (30) beendet in den nächsten Wochen einiges: Leben und ­Arbeiten in Erlangen, Mitarbeiten bei oora und hoffentlich auch seine Master­ arbeit. Ab Herbst fängt er dann in Berlin mit seiner Frau Conni ganz viel Neues an.

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Mutterliebe Ein Plädoyer Text: Cosima Stawenow

Einen Diskurs über Mutterschaft sucht unsere Autorin in ihrer Umgebung vergebens. Also legt sie selber ihr Scherflein in die Waagschale. // Seit ich Mutter bin, fühle ich mich schuldig. Ich fühle mich schuldig, wenn ich meine Tochter im Kindergarten abliefere (Da fühlt sie sich bestimmt ganz alleine ohne mich!). Ich fühle mich schuldig, wenn ich sie nachmittags eine halbe Stunde später als üblich wieder abhole (Bestimmt hat sie große Sehnsucht nach mir gehabt!). Ich fühle mich schuldig, wenn ich meine Arbeit an einem Artikel verschiebe, weil ich meine Zeit lieber mit meiner Tochter verbringen will (Ich hätte schon längst mit dem Schreiben anfangen müssen!). Ich fühle mich schuldig, wenn ich den Artikel schließlich doch noch auf einer Bank auf dem Spielplatz 32

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schreibe, anstatt mit meiner Tochter im Sand zu graben (Natürlich gelte ich jetzt als Rabenmutter!). Wie fühlt es sich an, Mutter zu sein? Mutter sein war und ist in Deutschland eine Zerreißprobe zwischen zwei Idealen, die da heißen »Karriere trotz Kind« und »Mama bleibt zu Hause«. Keiner der beiden Entwürfe machte für mich Sinn. Ich wollte und musste arbeiten. Aber ich wollte und musste auch viel Zeit mit meinem Kind verbringen. Meine in Russland aufgewachsenen Freundinnen kümmerten sich zum Glück nicht sonderlich um diese Schwarz-Weiß-Malerei. Sie fragten mich nicht, wie ich denn jetzt beruflich weiterkommen will mit Kind. Sie sagten auch nicht: »Die schönste Zeit im Leben ist die mit einem Baby. Genieß es und gib es bloß


Mutterliebe ist ein gänzlich unerklärliches Gefühl, das durch keine wissenschaftliche, kirchliche oder politische Agenda definiert oder instrumentalisiert werden darf. nicht in andere Hände. Dem Kind geht es nur bei der Mutter gut.« Kurz: Sie interessierten sich weder für das Lied von der »Vereinbarkeit« noch für den Mutter-Kind-Honeymoon. Als ich Mutter wurde, fragten sie mich als Erstes: »Wie fühlt es sich an, Mutter zu sein?« Doch auf genau diese Frage war ich nicht vorbereitet. Die Gesellschaft, in der ich aufgewachsen war, hatte mir gesagt: Dabei fühlt man nichts; Kinder zu zeugen, zu bekommen und zu erziehen ist physisch und nicht gefühlsduselig.

Muttersein als tägliches Experiment Als Anfängerin in Sachen Mutterliebe wusste ich nicht, ob ich meine Gefühle zeigen durfte. Die Gesellschaft – und damit meine ich gerade den arbeitgebenden Teil der Gesellschaft – ging auf einmal in die Defensive, aber auch meine Freunde und Verwandten. Alles schien abzuwarten. Alles wartete darauf, dass ich aus dem Muttersein meinen individuellen Lebensentwurf bastele, dass ich das Rad neu erfinde und dabei auf keinen Fall einen Fehler begehe. Ich entschied daher, Kinderkriegen und -haben als etwas zu handhaben, das man ohne viel Getue erledigt – möglichst schnell und ohne dass es einer merkt. Ich dachte dabei an Storys aus Lifestyle-Magazinen, die in etwa so klangen: Frau kriegt Kind, verheimlicht das aber vor ihrem Chef, ja, sie arbeitet sogar noch mehr, während die Großeltern das Kind aufziehen. Aber Pech: Der Chef kündigt trotzdem. Oder die hier: Ein Vater nimmt zwei Monate Elternzeit, kommt danach zurück zur Arbeit und wird gekündigt. Solche Geschichten produzierten in mir das vage Gefühl, dass man mit Kind von vornherein verloren hat – egal, wie man es anstellt. Ich geriet immer mehr in eine Zwickmühle. Ich sah das Muttersein immer öfter als eine Art tägliches Experiment an, in dem grenzenlos Liebe, Zeit und Fürsorge verschenkt werden sollen, während eine strenge Jury aus Arbeitgebern, Freunden, Verwandten und Spielplatzbekanntschaften sich akribisch Notizen macht. Das sind doch alles Hormone Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich meine Tochter liebe. Das war von der ersten Sekunde an klar. Aber ich habe die Liebe zu ihr als etwas Privates, Unaussprechliches und Unerklärliches, fast Peinliches empfunden. Die Frage, wie ich mich als Mutter fühle, hat genau diesen privaten Punkt getroffen. Jetzt weiß ich, meine Scham liegt darin begründet, dass unsere Gesellschaft die Mutterliebe zwar nicht verneint, aber eben auch kein zufriedenstellendes Erklärungsmodell für sie bietet. Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind – das liest man schon in den Schwangerschaftsratgebern – seien einfach Hormone, die beim Stillen ausgeschüttet werden. Sowieso »liebt« man Quergedacht

sein Kind ja nur deshalb, weil man aufs Kindchenschema reinfällt. Weil man seinen Nachwuchs schon aus biologischen und ökonomischen Gründen vor Bösem schützen muss. Und weil schließlich auch der Neandertaler und der Hund für ihre Kinder sorgen. All das mag sein, aber es erklärt einfach nichts. Sprechen über Liebe neu erfinden Die Mutterliebe wird durch diese Definitionsversuche nicht nur überhaupt nicht erklärt. Durch die billigen Verweise auf den Mikrokosmos oder die Frühgeschichte wird ihr ein Platz in der Mitte der Gesellschaft abgesprochen. Bleibt der private Bereich, in den hilfreiche Antworten und Vernetzungen selten vordringen und wo es für junge Mütter und Väter ganz schön einsam werden kann. Die Psychoanalytikerin Julia Kristeva bringt dieses Defizit auf den Punkt: »Die Säkularisierung ist die einzige Zivilisation, die keinen Diskurs über die Mutterschaft hat«, schreibt sie 2011 in der französischen Zeitung »Le Monde«. Kristeva hat selbst einen Sohn, der behindert ist, und sieht sich dadurch in einer zweifachen Erklärungsnot: Wie die Mutterliebe, wie die Liebe zu einem behinderten Menschen sinnvoll und sinnerhaltend erklären? Da unsere Gesellschaft so konstruiert ist, dass das Zusammenleben keine Erfahrungswerte abwirft, müsse das Sprechen über Liebe im Allgemeinen und Mutterliebe im Speziellen immer wieder neu erfunden werden, so Kristeva. Neu erfinden? Klar doch. Aber nur, wenn meine persönliche Neu-Definition auch ein Existenzrecht hat auf dem Markt der Möglichkeiten. Wenn ich den Diskurs über die Mutterliebe neu erfinden dürfte, dann würde ich sagen: Mutterliebe ist ein gänzlich unerklärliches Gefühl, das durch keine wissenschaftliche, kirchliche oder politische Agenda definiert oder instrumentalisiert werden darf. Ich würde sagen: Ich liebe mein Kind so sehr, dass mir das geldabhängige Arbeiten ab sofort sinnlos erscheint – auch wenn ich arbeiten darf, will und manchmal sogar muss. Und ich dürfte ab sofort auf dem Spielplatz meine Artikel schrei­ben, ohne gleich als Rabenmutter zu gelten. /// Ursprüngliche Fassung auf freeek.wordpress.com

Cosima Stawenow (31) hat eine Tochter, die mittlerweile drei Jahre alt ist. Ungefähr genauso lange gibt es auch das Redaktions- und Schreibunternehmen www.stawenow-textgrafik.de.

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Dann schreibe ich eben ­einen Roman Interview mit der Schriftstellerin Elke Naters Interview: Johanna Weiß

Familie Naters in Südafrika

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// Elke Naters ist Ehefrau, Mutter und Schriftstellerin. Mittlerweile lebt sie mit ihrer Familie in Südafrika. Ich wurde durch den viel diskutierten ZEIT-Artikel »Ihr glaubt echt an die Bibel?« auf sie aufmerksam. Sie und ihr Mann beschreiben darin ihre »moderne Erweckungsgeschichte«. Auf meine Interviewanfrage meinte sie »Klar, kein Problem«, und schon bald erfuhr ich über ihren beherzten Weg in die Schriftstellerei, was ihr kreatives Arbeiten bedeutet und warum sie nichts anderes tun könnte.

Kunst hat immer schon eine große Rolle in Ihrem Leben gespielt. Vor der Veröffentlichung Ihres ersten Buches waren Sie Fotografin. Wie kamen Sie von der Fotografie zur Schriftstellerei? Weil ich schwanger wurde, konnte ich nicht mehr in der Dunkelkammer arbeiten. Damals dachte ich, mein Leben sei vorbei. Weder künstlerisch noch sonst wie beruflich hatte ich etwas auf die Beine gestellt. Statt zu fotografieren habe ich dann begonnen, meine Bildideen aufzuschreiben, meine Beobachtungen in Worten statt in Bildern festzuhalten. Daraus habe ich kleine Heftchen gemacht. Bald habe ich gemerkt, dass mir das Medium Schrift viel mehr liegt. Und irgendwann haben die Heftchen nicht mehr gereicht und Sie haben begonnen, Romane zu schreiben? Na, es gab schon einen Auslöser. Ein Freund kommentierte meine Heftchen etwas abfällig. Er sagte, das sei ja alles gut und schön, aber man könne nicht viel mehr damit anfangen, als sie im Klo an die Wand zu hängen. Das hat mich fürchterlich aufgeregt, doch damit wurde mir auch klar, dass ich bis dahin wirklich nur für die Schublade produziert hatte. Wütend sagte ich damals zu meinem Mann: »Dann schreibe ich eben einen Roman«. Der hat gelacht und gesagt: »Genau, super Idee!«

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Waren Sie zu der Zeit schon Mutter? Als ich mit dem Schreiben von Romanen begonnen habe, hatten wir schon zwei Kinder. Ich hatte jeden Tag zwei Stunden ohne die Kinder und habe in diesen zwei Stunden geschrieben, jeden Morgen. Dass ich nur so eingeschränkt arbeiten konnte, war gut. Ich war sehr produktiv. Nach drei Monaten war der Roman »Königinnen« fertig. Ich habe ihn dann an eine Agentur geschickt – die waren begeistert und haben mir sofort einen Vertrag angeboten, mehrere Verlage hatten Interesse. Jedem, der schreiben will, kann ich nur empfehlen, sich zwei Stunden am Tag Zeit zu nehmen und in der Zeit wirklich nur zu schreiben. Das ist ja schon ziemlich glatt gelaufen bei Ihnen ... Sagen wir: Am Ende ist es gut gegangen. Es braucht viel Durchhaltevermögen und Hartnäckigkeit, denn dass es am Ende so ausgehen würde, weiß man am Anfang nie. Zwischendrin sieht es immer so aus, als würde es mit dem Buch, an dem man gerade arbeitet, nirgendwo hingehen. Man hat den Eindruck, alles sei totaler Mist. Dann muss man sich trotzdem jeden Tag dransetzen und weiterarbeiten, auch wenn es hoffnungslos aussieht. Irgendwann kommt man zum Ziel.

Die Leute sagen immer: »Ihr habt’s gut, ihr könnt schreiben«, so als wäre das etwas, das man in die Wiege gelegt bekommt. Dabei haben wir uns dafür entschieden, mit allem was dazu gehört.

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Wussten Sie vorher, wohin die Handlung gehen sollte, oder haben Sie einfach drauf los geschrieben? Ich hatte eine Form, in der ich schreiben wollte – ein abwechselnder Dialog aus der Perspektive zweier Frauen. Die Charaktere der Frauen standen fest und auch das Thema des Buches. Es geht um zwei Freundinnen, die das Leben der anderen beneiden. Die eine hat Mann und Kind und ist mit dem zweiten Kind schwanger, die andere ist alleinstehend. Die eine wird beneidet um ihre Unabhängigkeit, die andere um ihre Familie. Form, Charaktere und Themen standen also fest und dann habe ich die beiden losgeschickt. Ich wusste selbst nicht, wo es genau hin geht und habe mich dann überraschen lassen was passiert – jeden Tag aufs Neue. Was ist Ihnen wichtig, um kreativ arbeiten zu können? Hmmm … ich muss den Kopf frei haben. Wenn ich schreibe, kann ich nur ans Schreiben denken. Das heißt nicht, dass ich keine Familie haben kann. Aber ich könnte mich keinem anderen Projekt und keiner anderen Arbeit widmen. Dann muss ich in Schönheit leben – an einem Ort, an dem ich mich wohl fühle und an dem auch der Alltag erträglich ist. Außerdem brauche ich Zeit, die ich alleine verbringen kann; gleichzeitig natürlich auch Abwechslung und Anregungen durch Menschen, Bücher, Kultur, das Leben draußen. Es gibt immer eine Zeit des Outputs und eine des Inputs, des Aufnehmens und des Ausstoßens.

Ich schreibe nicht mehr allein aus eigener Kraft und muss deshalb nicht an meinem »Unvermögen« verzweifeln. Ist es ein Privileg, so arbeiten zu können? Die Leute sagen immer: »Ihr habt’s gut, ihr könnt schreiben«, so als wäre das etwas, das man in die Wiege gelegt bekommt. Dabei haben wir uns dafür entschieden, mit allem was dazu gehört. Ich denke, so erstrebenswert finden die meisten Menschen unser Leben gar nicht. Nachdem mein Buch veröffentlicht wurde, hat Sven, mein Mann, gesagt »Das kann ich auch«, und einen Roman geschrieben, der ebenfalls veröffentlicht wurde. Auch er hat seinen Job gekündigt und somit waren wir beide freiberufliche Schriftsteller. Und das geht gut? Das geht meist gut, aber nicht immer. Manchmal bleiben die Ideen aus, manchmal die Aufträge. Es gibt keine Sicherheit. In manchen Monaten wussten wir nicht, wie wir die Miete bezahlen werden.

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Zwischendrin sieht es immer so aus, als würde es mit dem Buch, an dem man gerade arbeitet, nirgendwo hingehen. Dann muss man sich trotzdem jeden Tag dransetzen und weiterarbeiten, auch wenn es hoffnungslos aussieht. Irgendwann kommt man zum Ziel. Haben Sie zwischendurch überlegt, etwas komplett anderes zu machen? Die Entscheidung zur kreativen Arbeit habe ich in dem Wissen getroffen, dass es keine Alternative für mich gibt. Während meiner Schneiderlehre habe ich gemerkt, dass ich nicht für den Rest meines Lebens in einer Festanstellung arbeiten kann. Dafür bin ich einfach nicht gemacht. Noch heute kann ich es nicht ertragen, Termine zu haben und zu einer bestimmten Zeit irgendwo sein zu müssen. Mir war klar: entweder das oder nichts. Diese Ausschließlichkeit braucht es wahrscheinlich auch. Wenn man immer nur wartet, bis etwas passiert, wird es nie funktionieren. Natürlich ist das ein Risiko. Aber wir sind der Meinung, dass man in seinem Leben das machen soll, was man leidenschaftlich gerne macht. Und das tun wir auch. Wie gehen Sie mit der Spannung um, eine Familie ernähren zu müssen und sich gleichzeitig die Freiheit erhalten zu können, die sie für die Kunst brauchen? Der Druck wird manchmal groß, das kann man nicht vermeiden. Aber man kann vermeiden, dass es einen zu sehr mitnimmt. Wir sorgen für das, was wir in der Hand haben und vertrauen für all den Rest, dass es irgendwie klappen wird. Und wir sind relativ erfahren im Umgang mit knappen Mitteln. Wir setzen klare Prioritäten. Reisen sind uns wichtig, Arbeitszeug wie Laptop, Bücher, Internet. Ein schönes Haus muss sein, weil wir dort leben und arbeiten. Alles andere kann warten und ist weniger wichtig. Die Erfahrung der Jahre zeigt, dass es immer irgendwie geht. Man braucht schon viel Gottvertrauen für einen solchen Lebensstil. Den hatten wir aber auch immer.


Der ZEIT-Artikel kel Am 2. Aug ust 2012 wurde der Arti der in l?« Bibe die an »Ihr glaubt echt Wochenzeitschrift DIE ZEIT veröffent ber Lage licht. Elke Naters und Sven in schreiben darin, warum sie von Berl wie nach Süd­afrika gezogen sind und der n, rnte enle sie dort einen Gott kenn den ebäu in Menschen statt in Kircheng lebt. Der Artikel berichtet von Verändegrungen in der eigenen Familie, Bege n, sche Men len nungen mit eindrucksvol gen hrun Heilungen, dramatischen Beke nund der Skepsis alter Freunde gege zu über dem neuen Glauben. Er ist hier beGlau /32/ 2012 finden: www.zeit.de/ Suedafrika-Religion – auch die Kom mentare sind eine Lektüre wert.

Die Autorin Elke Naters mit ihrem Mann Sven Lager

Während Ihrer Zeit in Südafrika kam zum generellen Gottvertrauen der Glaube an Jesus Christus. Inwiefern hat sich durch Ihre Beziehung zum Schöpfer Ihre schöpferische Arbeit als Schriftstellerin verändert? Erstmal wusste ich gar nicht, wie ich jetzt weiterschreiben sollte. Auf keinen Fall wollte ich »christliche« Bücher schreiben. Andererseits wollte ich aber auch der Welt meine Begeisterung mitteilen. Das hat mich lange gelähmt und als ich Gott fragte »Was soll ich schreiben?« bekam ich zur Antwort: »Ich bin nicht an deinem Schreiben interessiert, sondern an deinem Herzen.« Das war überraschend und unerwartet, es ging so gar nicht in die Richtung, die ich erwartet hatte. Daher nahm ich an, dass da wirklich Gott geantwortet hatte und nicht mein Wunschdenken. Jetzt nach einigen Jahren erlebe ich es als Befreiung, weil ich meine Identität nicht mehr in meinem Beruf sehe. Ich bin freier und weniger besorgt um mein Ansehen und meine »Karriere«. Ich weiß um meine Beschränktheit und gebe mich damit zufrieden. Ich schreibe nicht mehr allein aus eigener Kraft und muss deshalb nicht an meinem »Unvermögen« verzweifeln.

Quergedacht

Im letzten Jahr haben Sie die Erfahrung Ihrer »modernen Erweckungsgeschichte« in einem Artikel für DIE ZEIT beschrieben. Der Artikel wurde kontrovers diskutiert und hart kommentiert. Viele der über 750 Kommentare gingen wohl so unter die Gürtellinie, dass sie von der Redaktion entfernt wurden. Wie sind Sie mit solchen Kommentaren auf diesen sehr persönlichen Artikel umgegangen? Ich bin erstmal erschrocken, dann habe ich sofort aufgehört zu lesen. Schon vor langer Zeit habe ich mir abgewöhnt, jede Kritik zu lesen. Meist lese ich sie nur an und wenn ich merke, da hasst einer, lege ich sie weg. So etwas lese ich nicht und lasse es auch nicht an mich herankommen. ///

Johanna Weiß (27) schreibt, liest, fotografiert, geht gerne auf Reisen, mag Straßenmusik und hat viele Fragen über Gott und die Welt.

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Transformationsstudien Mit dem Studienprogramm bieten wir in Zusammenarbeit mit der University of South Africa (UNISA) zwei berufsbegleitende und praxisorientierte Studienund Weiterbildungsmöglichkeiten:

Gesellschaftstransformation (mth) Development stuDies & transformation (m.a.) Unsere Studienprogramme sind: berufsbegleitend: flexibel 3 bis 5 Jahre modular: 5 Module im Jahr plus Forschungstage interdisziplinär: Theologie, Kultur- und Sozialwissenschaften, Entwicklungszusammenarbeit und Diakoniewissenschaft projektorientiert: eigenes Praxisprojekt vor Ort international: internationales Dozententeam

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infos unter: www.mbs-studienprogramm.de


Vordenker unserer Zeit Heute im Gespräch:

Medicus Piscator,

ein Vertrauter von Kopernikus Text: Fred Ritzhaupt

// Mitschrift aus dem Gedächtnis vom 20. Mai 1543, Frauenburg in Ostpreußen: Noch war ich völlig unbeschwert als ich meinen alten Freund, den Medicus Piscator, zufällig traf, wie dieser aus dem Anwesen des hochverehrten Abgeordneten des preußischen Landtags, Herrn Niklas Kopernikus, trat.

punkt des Universums und alles dreht sich um sie und darum letztlich auch um uns. Das steht doch gar nicht zur Diskussion. Das sehe ich ja genauso. Aber wenn er Recht hat, ist das eine revolutionäre Wende in unser aller Denken. Wo wird das nur enden? Wir – nicht mehr als ein Stäubchen im riesigen Weltall?!

Guter Freund, Sie sehen bedrückt aus, steht es so schlecht um Herrn Kopernikus? Piscator: Gut, das ich jemanden treffe, dem ich vertrauen kann. Ja, es steht nicht gut um den Herrn Abgeordneten. Er wird es nicht mehr lange machen …

Das kann, das darf einfach nicht sein. Denn stellen Sie sich vor: Wenn wir uns in dieser so wichtigen Sache all die Jahrhunderte geirrt hätten, was wäre dann überhaupt noch sicher?! Zum Schluss stimmt die Sache mit dem HimUnd deswegen sind sie so mel dann auch nicht, denn wo niedergeschlagen? würde der Himmel sich dann Nein, dass Menschen sterben, befinden, wenn nicht unten damit muss ein Arzt leben. und rechts und links. Da haben Sie sehr Recht. Ich Aber, und das sage ich Ihnen im sehe schon, wie sich eine Wissenstrengsten Vertrauen: Er hat mir schaft entwickelt, die sich allein etwas anbefohlen. auf Vernunft und Erfahrung beNikolaus Kopernikus (1473-1543), eigentlich Niklas ruft und den Glauben völlig außen Machen Sie es nicht so spanKoppernigk, war ein Frauenburger Domherr, vor lässt. Aber es steht für alle Zeiten nend. Was kann ein so unbeJurist, Administrator und Arzt, der seine freie fest: Das Wort Gottes ist unfehlbar! scholtener Mann wie Kopernikus Zeit der Mathematik und Astronomie Wenn ein Wissenschaftler sich anmaßt, mit seinen siebzig Jahren schon groß widmete. dem Wort Gottes durch vermeintlich wissenverheimlicht haben?! schaftliche Ergebnisse zu widersprechen, macht er Er hat mir ein Buch anvertraut, das er schon 1507 sich der »absoluten Willensfreiheit« schuldig. Ein Verbregeschrieben hat. Doch er hat bis jetzt gezögert, es zu verchen, das Gott sei Dank geahndet wird wie Hexerei. Das ist nun öffentlichen und jetzt verstehe ich auch, warum. Er ahnte wohl, mal die uns gesetzte Grenze. Darum bin ich auch so zerrissen, wie es die Kirche erschüttern würde. Es könnte einen Glaubensdenn Herr Kopernikus hat diese Grenze mit seinem Buch einabfall ohne Gleichen bewirken. Und Verwirrung. Und Misstraudeutig überschritten. Jetzt kann man ihn zwar bald nicht mehr en. Nicht auszudenken … anklagen, ich aber habe ihm versprechen müssen, nach seinem Tod für die Veröffentlichung seines Buches zu sorgen. Nun sagen Sie schon: Hat er als Arzt oder gar als Mathematiker etwas Aufregendes entdeckt? Tun Sie das bloß nicht! Du weißt, was »absolute WilViel schlimmer: als Astronom. Und er hat es mir trotz Fieber so lensfreiheit« bedeutet: völlig von Gott losgelöst seinem erklärt, dass ich es verstanden habe und deswegen noch ganz eigenen Willen folgen. Lassen sie sich nicht in so eine lebenommen bin. Stellen Sie sich vor, in seinem Skriptum beweist bensbedrohliche Geschichte mit hineinziehen! Was alles er astronomisch und mathematisch, dass die Erde eine Kugel geschehen könnte, wenn andere Astronomen anfangen, sei, die sich dreht und wie viele andere solche Himmelskörper in selbiger Weise unser Weltbild zu erschüttern?! Gott selber um die Sonne kreist. stehe Ihnen bei und schenke Ihnen Weisheit, mein lieber Freund. Adieu. /// Wie kommt er denn auf sowas?! Die Erde ist der MittelQuergedacht

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:  Unter der Oberfläche

von Linda Zimmermann

Pastell

// Manchmal passt es eben. Mir gefällt, was ich sehe. Irgendwer hat irgendwo das »Zeitalter des Pastells« ausgerufen und seitdem werde ich von diesen weichen, flauschigen Farbtönen, die man wahrscheinlich korrekterweise gar nicht Farben nennen darf, umgeben. Mode, Accessoires und Wohnungseinrichtung – zu schön! Das ganze Programm von Cupcakes mit zartgelber Verzierung, aquablauen Handtaschen, mintgrünem Nagellack und Kleidern in altrosa bis zur beigen Vespa. Pastell kommt aber selten allein und so kriege ich regelmäßiges Freudenzappeln, wenn ich angepriesene Produkte in märchenhaft arrangierten Ensembles, in denen einfach alles miteinander harmoniert, präsentiert bekomme. Durch diese Bilder kann man mal für kurze Zeit in Tagträumen abdriften, in denen die Welt einfach nur stimmig ist. In der alles zueinander passt und in der nichts stört. Eingelullt von der wohlig warmen Fantasie der heilen Welt, in der Kinder lachend über Wiesen rennen, glückliche Paare in Sommerhäusern Gartenpartys schmeißen oder verliebte Grauhaarige genießerisch vorm heimischen Kamin sitzen. Die Welt kann so schön sein. Kann. Als wenn sie’s wüssten und mich davor bewahren wollen, mich gänzlich in meinen pastellenen Illusionen zu verlieren, knallen mir die Macher der Zeitschriften, Blogs und Co. neuerdings fiese Kontraste dazwischen. Als offenes Statement zur Imperfektion, zum Bejahen von Gegensätzen und zur Akzeptanz des Unerwarteten. Den Stilmix rufen sie aus. Das Quergedacht

Leben sei nicht geleckt und schon gar nicht immer harmonisch, so die Botschaft der kreativen Köpfe. Manchmal muss man die Dinge einfach laufen lassen, anstatt sie zwanghaft zu schönen. Auf die Kombination komme es an. Alt und neu, hart und weich, pastell und neon mutig kombiniert. Im übertragenen Sinne hieße das, Gegensätze auch mal auszuhalten. Eigentlich zufrieden im Leben, aber gerade ganz schön ge-

Kolumne

bunt – eben nicht immer in allem aufeinander abgestimmt – zu leben. Und das sogar noch zu zelebrieren. So nach dem Motto: Die Schönheit im Unvollkommenen suchen. Neben meinen Zeitschriften liegen jetzt ein paar abgeschriebene Psalmen. Einige, die meine Sehnsucht nach einer heilen Welt ganz in pastell in Worte fassen und andere, die Gottes Nähe im kontrastreichen Stilmix des Lebens bewundern. Ich brauche beides. ///

Was, wenn mein meist doch recht pastellenes Leben immer wieder ungebeten von harten Kontrasten durchkreuzt wird? stresst. Tendenziell zuversichtlich, aber neuerdings voller Zukunftsfragen. Oder vielleicht auch gewohnt, Gott tief zu vertrauen, aber zur Zeit verunsichert. Wie viele Gegensätze lasse ich zu? Wie viel Disharmonie kann ich ertragen? Was, wenn mein meist doch recht pastellenes Leben immer wieder ungebeten von harten Kontrasten durchkreuzt wird? Ich wusste schon immer, dass man von Wohnzeitschriften etwas lernen kann. Ich habe es zumindest immer gehofft. Und mir alle Mühe gegeben, zwischen den Zeilen und Farben zu lesen. Dann sollte ich wohl diese seltene Chance nicht verpassen und mich vom Spaß am Mixen und Kombinieren anstecken lassen, um mein Leben kontrastreich und

Linda Zimmermann (33) lebt mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Nordhausen am Harz. Sie ist in den letzten Zügen ihres Sozialmanagement-Studiums und näht nebenbei unter ihrem kleinen Label verspielte Gürtel für Frauen und Kinder: www.ewigundimmer.de. Nicht nur in ­Pastellfarben …

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Wir warten von Chris Lass (*1985) • Erschienen 2012 auf dem Album »Gospel Worship«

Wir warten und hören so oft nur auf Stille Sprich Du Herr ein Wort das bleibt Das Zweifel und Ängste entkräftet und selbst noch geflüstert Dein Wesen zeigt Was Dir ein Leichtes ist mir unmöglich mit Dir was hält mich auf Was Dir ein Leichtes ist mir unmöglich darum bist Du was ich brauch Befreit durch die Liebe gefangen in Gnade Gemeinschaft durch einen wir wollen Dich feiern

Wie das Lied entstand Eigentlich wollte er Leichtathlet werden, doch aufgrund einer Hüfterkrankung musste er den Leistungssport mit 14 Jahren aufgeben. Plötzlich hatte er jede Menge Zeit und spielte nun viel Klavier. Irgendwann wurde Chris Lass dann Pianist eines Gospelchors und schließlich begann er, eigene Musik zu schreiben. Zusammen mit dem Chor »Exited« fing er an, modernen Gospel zu machen. Der erste öffentliche Auftritt fand an einem für Gospel ungewöhnlichen Ort statt – in einer Disco. 42

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Das Ganze wurde ein voller Erfolg und nun ging alles Schlag auf Schlag: Ein Plattenvertrag folgte und eine Konzerttournee stand an. Der Song »Wir warten« entstand, als Chris im Tonstudio saß und sich einer seiner Kollegen verspätete. Da merkte er, wie oft er auch auf Gott wartet – manchmal, wenn er die Bibel liest und darauf wartet, dass Gott spricht oder er sich etwas Bestimmtes von Gott erhofft, aber nichts passiert. Chris wollte diese Erfahrung mit anderen teilen, denn – so sagt

er – eigentlich müssen wir nicht mehr warten, da schon alles getan ist: Wir sind befreit und gefangen in Gnade. Und manchmal geht es gar nicht darum, dass etwas passieren muss, dann dürfen wir einfach nur Gemeinschaft haben mit Gott. /// Ina Taggeselle

Die Story auf YouTube:

j.mp/oora-la ss


Bücher

Ian Morgan Cron

Frank-Eric Müller

Sylvia Löhken

Ich und Franziskus

Der kleine Kirchen-Check

Roman

153 Fragen, die Ihr kirchliches Leben verändern

Leise Menschen – starke Wirkung Wie Sie Präsenz zeigen und Gehör finden

»Wie verbringst du Zeit mit Gott?« Als Antwort auf diese Frage empfahl mir der langjährige Leiter von »Jugend mit einer Mission« Floyd McClung diesen wunderbaren Roman. Im Stil von »Die Hütte« oder »Der Schrei der Wildgänse« erzählt Ian Morgan Cron die Geschichte des Pastors einer amerikanischen Mega-Church, der gerade dabei ist, seinen Glauben zu verlieren. Er reist nach Italien, wo ihn sein Onkel, ein Franziskaner-Priester, mit den Lehren und dem Glauben des heiligen Franziskus von Assisi vertraut macht. Stück für Stück erlebt er, wie sein Glaube sich wandelt und neue Tiefe bekommt. Nicht nur die Namenswahl des aktuellen Papstes zeigt: Der vor mehr als 800 Jahren verstorbene Heilige ist aktueller denn je. »Ich und Franziskus« verbindet die spannend und facettenreich erzählte Lebensgeschichte eines konsequenten Jesus-Nachfolgers mit den Fragen, die uns heute beschäftigen und weist uns darin den Weg zu einem ganzheitlichen Christsein. /// Dominik Sikinger

Der Coach und Pastor Frank-Eric Müller hat einen Fragenkatalog in die Welt gepostet. »Der kleine Kirchen-Check« stellt dem Leser 153 Fragen über Gott und seine Welt. Die Zahl hängt mit einer Geschichte aus dem Evangelium zusammen, in der die Freunde Jesu letztlich auf eine Frage von ihm hin einen fetten Beutezug mit 153 Fischen machen, sodass fast die Netze reißen. Von den zwölf Fragekapiteln sind sieben an jedermann gerichtet und fünf speziell an Mitarbeiter und Angestellte in Gemeinden. Nach dem alten Motto »Gute Fragen kommen zuerst« entschleunigt Müller seine Leser mit seinen ganz unverblümt gestellten Fragen, die die inneren Kornkammern der Leser öffnen. Dazu gibt es noch zu jedem Kapitel eine kleine Einführung in das Themengebiet und allein schon für diese Einführungen würde es sich lohnen, das Buch zu kaufen. Ein Wermutstropfen bleibt: Der Verlag hat ein solch merkwürdiges Format gewählt, dass man es nicht in der Jacken- oder Hosentasche mitnehmen kann. /// Mickey Wiese

Was haben Barak Obama, Bob Dylan und Günther Jauch gemeinsam? Sie alle sind introvertiert und gehören damit laut Sylvia Löhken zur unterschätzten Spezies in unserer westlichen Gesellschaft. »Leise Menschen – starke Wirkung« ist den Introvertierten und ihren Stärken gewidmet. Es ist ein Plädoyer zur Anerkennung und Annahme von Introversion. »Find out who you are – and do it on purpose!«, zitiert Löhken die amerikanische Countrysängerin Dolly Parton und spricht das ihren Lesern zu. Sie gibt eine Übersicht über typische Eigenschaften sowie einen Test zur Selbsteinschätzung, geht aber auch auf die Abhängigkeit von Situationen und Lebensphasen ein. Nach der allgemeinen Einführung schildert sie Stärken und Hürden gesondert in Bezug auf einzelne Bereiche, wie Partnersuche, Familienleben und Mitarbeiterführung. Durch das Aufdröseln in verschiedene Lebensbereiche wird das Buch gen Ende etwas repetitiv und langatmig. Dafür können hier getrost nur die interessierenden Kapitel gelesen werden. /// Johanna Weiß

Taschenbuch, 240 Seiten, GrainPress Verlag 2011 ISBN 978-3940538093, 13,95 €

Taschenbuch, 96 Seiten, C & P Verlag 2012 ISBN 978-3867701150, 9,95 €

Gebunden, 285 Seiten, Gabal Verlag 2012 ISBN 978-3869363271, 24,90 €

Quergedacht

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Hochbegabung Ăœber den Umgang mit einem umstrittenen Phänomen Text: Dr. Karin Rasmussen

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Beim Stichwort »Hochbegabung« denken wir oft an Wunderkinder zwischen Genie und Wahnsinn. Unsere Autorin stellt klar: Hochbegabte sind nichts Besonderes, besonders ist nur ihre Art zu denken. // Vor einiger Zeit bekam ich eine Interview-Anfrage zum Thema Hochbegabung. Die Journalistin, die das Interview mit mir aufnehmen wollte, vertrat eine Fachzeitschrift für Personalmanager. Es ging also um Erwachsene und um die Frage, wie sich die Hochbegabung im Berufsleben auswirkt. Freundlicherweise wurden mir die Interviewfragen vorab zur Verfügung gestellt – gleich bei der ersten Frage stutzte ich. Da hieß es: Was unterscheidet Hochbegabte von gewöhnlichen Mitarbeitern? Wieso sind Hochbegabte keine »gewöhnlichen Mitarbeiter«? Verbirgt sich dahinter die Vorstellung von »nicht normal«? Oder ist gemeint, dass Hochbegabte einen Exoten-Bonus für sich beanspruchen? Die meisten Menschen scheinen bei dem Stichwort »Hochbegabung« entweder an Genies, Wunderkinder oder an Sonderlinge zu denken. Warum eigentlich? Da bis zum Interview noch etwas Zeit war, konnte ich mir meine Antwort überlegen. Und da es als Frage formuliert war, konnte ich ja auch meine eigene Interpretation abgeben: Sind Hochbegabte etwas Besonderes? Die Antwort wurde dann ganz einfach: Nein, das sind sie nicht – nur ihre Art zu denken ist besonders. Ein hoher IQ ist keine Qualifikation und keine Charaktereigenschaft. Hochbegabte sind genauso individuell wie alle anderen Menschen auch. Ihre gemeinsame Besonderheit, der überdurchschnittliche IQ, lässt keine weiterführenden Verallgemeinerungen darüber zu, »wie« Hochbegabte sind. Gemeinsam haben sie nur, dass sie gleichzeitig schneller, komplexer und detailgenauer denken als andere – denn das ist es, was mit dem IQ-Test gemessen werden kann. In der wissenschaftlich begründeten Begabungsdiagnostik herrscht trotz aller Diskussion eine gewisse Einigkeit darüber, dass Hochbegabung mittels IQ-Testverfahren messbar ist und dass als hochbegabt anzusehen ist, wer einen IQ von 130 und mehr aufweist. Der IQ-Test misst also, wie gedacht wird, nicht was. Und das bedeutet: Wer hochbegabt ist, ist nicht automatisch klug. Und ebenso wenig stimmt es, dass ein hoher IQ nur bei klugen Menschen anzutreffen ist. Klugheit ist eine Frage der Bildung und der Erfahrung. Bildung – nicht nur Schulbildung – und Erfahrung sind gewissermaßen die Nahrung für Intelligenz, nicht ihr Ergebnis. Also: Wer über einen hohen IQ verfügt, hat damit nur eine von vielen erforderlichen Voraussetzungen, um in kürzerer Zeit mehr Bildung erwerben zu können als andere Menschen. Nachdem ich zu dieser Antwort gekommen war, fühlte ich mich für das Interview gerüstet – bis zur nächsten Frage: »Brauchen Hochbegabte besonders viel Anerkennung für ihre Leistungen?« Auf meine Gegenfrage, wie viel Anerkennung Hochbegabte denn gewöhnlich bekommen und was unter »besonders viel« Quergedacht

zu verstehen sei, herrschte erst mal Schweigen. Dann kam ganz zögerlich: » ... na ja, sie müssen sich ja auch nicht sehr anstrengen«. Ich war wieder sprachlos – und wütend. Anerkennung bekommt man also nicht für eine gute Leistung, für ein Ergebnis, für Nutzen, sondern für die Mühe, die man hat? Klagen deshalb so viele Menschen über Burnout-Symptome, über die Lasten ihres Alltags und die Mühen ihres Berufes, um mehr Anerkennung zu bekommen? Liegt es an der mangelnden gegenseitigen Wertschätzung, dass uns die Gesellschaft immer kranker erscheint? Und werden Hochbegabte gerade deshalb so oft als »irgendwie doch nicht ganz normal« empfunden, weil sie schneller Probleme lösen können und es scheinbar leichter haben? Meine sehr freundliche Interviewpartnerin verstand auf Anhieb, dass es viel Mühe macht, mit der eigenen Arbeit nicht vorwärts zu kommen, weil andere mehr Zeit brauchen, um ihre Leistungen zu erbringen, dass Warten sehr anstrengend ist und dass es im Leben von Hochbegabten häufig genau diesen Bremsdruck gibt – denn auch Hochbegabte können gute Leistungen nicht allein, gewissermaßen in »genialer Einsamkeit«, erbringen. Wenn aber Hochbegabte – manchmal vorschnell – helfend einspringen, um einen schnelleren Erfolg für alle zu ermöglichen, folgt leider oft kein Dank. Sondern man erntet eher ein »Na ja, du musstest dich ja auch nicht sehr anstrengen«. Nun frage ich mich, warum Hochbegabte »von außen« so ganz anders aussehen, als sie sich selber fühlen. Sicherlich ist das ein

Nicht jeder Hochbegabte wird auch erkannt und weiß von seiner Hochbegabung. Die meisten fallen gar nicht auf. allgemeines Phänomen. Es geht wohl jedem so, dass Fremdbild und Selbstbild voneinander abweichen. Aber die vielen weit verbreiteten Klischees darüber, »wie Hochbegabte sind«, stören mich schon sehr. Zunächst: Nicht jeder Hochbegabte wird auch erkannt und weiß daher von seiner Hochbegabung. Die meisten von ihnen fallen gar nicht auf – nicht als Sonderlinge und auch nicht als besondere Überflieger. Ebensowenig sind alle Best-Schüler, Best-Studenten usw. gleich auch hochbeoora.de

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Sind Hochbegabte etwas Besonderes? Nein, das sind sie nicht – nur ihre Art zu denken ist besonders.

gabt. Hochbegabung ist ein Potenzial, das sich nicht selbstverständlich in Leistung ausdrückt. Hochbegabte fallen im Berufsleben vor allem auf, weil sie für Vieles geeignet und talentiert erscheinen und auch an Vielem interessiert sind.1 Sie sind meist schnell lernfähig und an Neuem sehr interessiert. Routinen und Gleichlauf hingegen mögen sie meist weniger. Es fällt ihnen häufig sehr schwer, sich in die relativ starren »geordneten« Vorgaben von Berufsbildern, Ausbildungsprofilen oder Studienabläufen einzuordnen.2 Ausnahmen sind hier natürlich diejenigen Hochbegabten, die schon frühzeitig Präferenzen für bestimmte Tätigkeitsfelder in sich entdeckt haben und deshalb klare Entwicklungsziele sehen. Aber: Auch Hochbegabte unterliegen Irrtümern und machen Fehler. Obwohl sie intelligenter sind, haben sie nicht immer Recht. Wer täglich von seiner Umwelt die Botschaft bekommt, nicht normal zu sein, hat im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Anpassen durch Verstellung, also Selbst-Beschränkung und somit das Verbergen des eigenen Potenzials, ist die eine Variante. Sie bedeutet auch, dass man ängstlich auf das Vermeiden aller Auffälligkeiten bedacht ist, auch auf das Vermeiden von Hoch- und Höchstleistungen – denn diese würden ja auffallen. Die andere Variante ist das trotzige Beharren auf der eigenen Natur und damit auch die Akzeptanz sich wiederholender Ausgrenzung. Denn selbst, wenn Hochbegabte zu ihrem »An46

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derssein« stehen, zum Beispiel zu einer mit der sozialen Umwelt nicht kompatiblen Geschwindigkeit und Komplexität im Wahrnehmen und Denken, wird es nicht automatisch einfacher. Allzu oft führen sie sich damit selbst in die Isolation: Sie passen sich zwar nicht an, unterdrücken sich also nicht selbst, aber sie werden eben auch nicht verstanden. Man kann ihnen nicht folgen, sie überfordern ihre Umwelt und werden dann einfach »in Ruhe gelassen«. Da man mit ihnen nichts anfangen kann, glaubt man auch, sie nicht zu brauchen. Folgerichtig behandelt man sie abwertend und geringschätzig. Das wird begründet mit der vermeintlichen »Arroganz« der Hochbegabten. Hochbegabte haben aber oftmals viel früher und in höherem Komplexitätsgrad als man es ihnen zutraut, bereits Wissen erworben, welches ihnen die Ansichten, die Leistungen und das Tempo der Mehrheit, auch der Chefs und Vorbilder, als »falsch« erscheinen lässt. Damit ist der Dauerkonflikt mit der Umwelt vorprogrammiert. Hochbegabung bringt also nicht nur höhere Leistungsfähigkeit, sondern oft auch höhere Belastungen mit sich. Wer es genauer wissen möchte, ob er/sie selbst zu den Betroffenen gehört, sollte die Gelegenheit nutzen, mehr darüber zu erfahren. Die Webseite des Hochbegabten-Vereins »Mensa in Deutschland e.V.« www.mensa.de bietet Antworten auf viele Fragen, beispielsweise woran man Hochbegabung erkennt, wie man sie misst, welche Probleme sich aus Hochbegabung ergeben können, wie man Gewissheit erlangen kann und vieles mehr. Und wer unter seinen Bekannten einen Hochbegabten vermutet, der sollte beim nächsten Missverständnis einfach einmal mehr nachfragen: Nur weil eine Idee nicht verstanden wurde, ist sie nicht unbedingt falsch oder überflüssig und der sie gedacht hat, ist nicht unbedingt ein »Spinner«.3 ///

Fußnoten: 1 Literaturhinweis: »Verborgene Schätze finden, heben, nutzen« in: Management & Führung 3, ISBN 978-3-7664-9578-5 2 FAZ-Artikel »Erwachsene Wunderkinder«: www.faz.net/-gym-77upe 3 www.prometheuslobby.blogspot.de

Dr. Karin Rasmussen (61) ist als freiberufliche Beraterin und Coach für Leistungsträger und Führungskräfte in Berlin tätig. Sie ist promovierte Philosophin, Soziologin, Erwachsenenpädagogin und Sozialpsychologin, hat Erfahrung als Führungskraft in der Industrie und als Hochschuldozentin in der Erwachsenenbildung. Karriereberatung für Hochbegabte ist ihr zweites Tätigkeitsfeld.


Beruf oder Berufung Ein Aufruf zur Schatzsuche im eigenen Leben Text: David Kadel

Was ist eigentlich aus der Frage nach der Berufung geworden, die uns in Teenietagen so umgetrieben hat? Belächeln wir sie als eine Frage, die irgendwann dem Ernst des Lebens weichen muss? Unser Autor ist überzeugt: Es lohnt sich, mit dem Ruf auf dem eigenen Leben zu rechnen. Immer. // Robbie Williams bezeichnen wir als den geborenen Entertainer. Barack Obama als geborenen Politiker, Meryl Streep als geborene Schauspielerin, Mutter Teresa als geborene Helferin. Bei den Berühmtheiten dieser Welt tun wir uns leicht von Berufung zu sprechen – aber wie denken wir von uns selbst in unserem kleinen, überschaubaren Leben? Ich bin überzeugt: Dass heute so viel von Burnout die Rede ist, hängt damit zusammen, dass die meisten Menschen den Unterschied zwischen Beruf und Berufung nicht kennen. Woher auch? Ich würde mir wünschen, dass die Kultusminister umdenken und endlich das Schulfach »Chemie« abschaffen und stattdessen das Fach »Leben« an den Schulen einführen. Dort würde man geschult werden, herauszufinden, wozu man eigentlich geschaffen ist. Man würde lernen, dass jeder Mensch ganz individuelle Gaben hat. Der Unterschied zwischen erfolgreichen und nicht erfolgreichen Menschen ist nicht, dass der eine begabt ist und der andere nicht, sondern dass der eine seine Gaben einsetzt und der andere nicht. Erfolgreich sein heißt, sich gefunden zu haben, »wach« zu sein für das Potential, das in einem schläft. Zu Beginn jeder Berufung steht das Bewusstsein, dass es eine Bestimmung für mich gibt. Wenn ich eine Sensibilität dafür entwickle, dass ich ein einzigartiges Potential in mir trage, das Gott entfalten will, dann werde ich diese Berufung finden. Berufung klingt für viele Menschen nach exklusiver Erwählung. Ich glaube nicht, dass Gott nur eine Elite im Auge hat. Ich bin viel mehr davon überzeugt, dass Gott jeden Menschen speziell berufen hat. Im Coaching sitzen mir oft »schlafende Riesen« gegenüber, denen nicht bewusst ist, dass etwas Einzigartiges in ihnen schlumQuergedacht

mert, das von Gott »wachgeküsst« werden will. Seine Berufung zu ergreifen, heißt, den »Weckruf« zu vernehmen – wo auch immer. Sobald sich ein Mensch ernsthaft auf die Suche nach seiner Berufung macht und Gott befragt, was er ihm in die Wiege gelegt hat, kann es überall passieren, dass man sich plötzlich selbst erkennt. Es gibt diejenigen, die aus dem Kino kommen und ihr Leben ändern. Andere lesen eine Biografie und finden dadurch zu ihrer Berufung. Eigentlich ist dieser Artikel recht gefährlich für Arbeitgeber, schließlich könnte der eine oder andere seinen Job kündigen, um seine Berufung zu leben. Einen Pfarrer, der Bundespräsident wurde, haben wir mit Joachim Gauck auch schon. Vielleicht wird ja mein Metzger um die Ecke der nächste Bundeskanzler … Aber keine Panik: Es ist wunderbar möglich, beides miteinander zu vereinen. Jesus war Zimmermann und lebte seine Berufung, die Menschen wieder mit Gott zu verbinden. David war Musiker und Schafhirte und lebte seine Berufung, als König das Volk Israel zu führen. Ein anderer König, nämlich Martin Luther König, soll das Schlusswort haben. Er sagte: »Nachdem ein Mensch erkannt hat, wofür er geschaffen ist, sollte er die ganze Macht seines Seins diesem Vorhaben widmen. Er sollte es so gut machen, dass niemand anderes es besser machen könnte.« ///

David Kadel (45) lebt seine Berufung als »Ermutiger«. Er arbeitet als Inspirations­ trainer mit Fußballprofis und hält Persönlichkeits-Seminare für Firmen. David singt für sein Leben gern, moderiert regelmäßig für seinen Lieblings-Club Mainz 05 und tourt 2013 mit seinem Vortrag »Burnout oder Burn-ON – wie wir mit Begeisterung leben können!?« Mehr zu Kadels Persönlichkeits-Coaching unter www.davidkadel.de.

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Barfuss auf dem Regenbogen von Mickey Wiese

// Als mein Freund Gott und ich einmal barfuss im Regen tanzten, hielten uns viele Leute für verrückt. Und das kam so … An einem verregneten Nachmittag saßen wir beide im Wohnzimmer auf der Couch und starrten in den ungemütlichen Nachmittag. Mein Freund Gott wünschte sich ein wenig Musik und so spielte ich ihm noch einmal ein altes Lied von mir vor.

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Jesus Christus trug meine Schmerzen. Den Wolkenvorhang hat er am Kreuz zerrissen. Er schickt Strahlen seiner Liebe hindurch – durch die Mauer der Trauer in unsere Seele. Darum will ich bei ihm bleiben, mein Leben lang seine Nähe suchen. Denn dort spür’ ich eine Gewissheit, die stärker ist als manche Traurigkeiten, die mich aufhebt, wenn ich mal falle, meine Wunden heilt und mich nach Hause begleitet.

Regentropfen klatschen an mein Fenster, wie im Theater – alles ausverkauft. Drinnen spielt man eine Tragödie deren Ausgang noch niemand weiß. Ich hab’ Angst vor der großen Stille nach dem letzten Akt. Lebenstheater schon seit vielen Jahren, um mein täglich Brot muss ich hier spielen. Innerlich bin ich längst ausgebrannt, den Applaus klatschen mir Tränen ins Gesicht.

Wenn der Himmel weint, denk’ ich an die Verheißung, dass die mit Tränen säen, mit Freuden ernten werden und ich will dir vertrauen, Herr, weil du treu bist.

Doch wenn der Himmel weint, denk’ ich an die Verheißung, dass die mit Tränen säen, mit Freuden ernten werden und ich will dir vertrauen, Herr, weil du treu bist.

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In uns wuchs eine unbändige Lust, uns dem Regen zu stellen und der Ernte entgegenzutanzen. Noch während ich den letzten Refrain sang, spürten wir beide, dass sich etwas verändert hatte. In uns wuchs eine unbändige Lust, uns dem Regen zu stellen und der Ernte entgegenzutanzen. Und hast du nicht gesehen, flogen schon unsere Schuhe in die Ecke und wir sprangen Hand in Hand auf dem Regenbogen herum.

Der Applaus ist schon fast verklungen, da öffnet sich noch einmal der Wolkenvorhang: In die Stille hinein kommt der Regenbogen, das Zeichen, dass Gott treu ist. Die Luft ist noch feucht vom Regen, die Trauer steht noch vor mir. Sonnenstrahlen ergreifen meine Tränen und lassen sie in hellen Farben leuchten. Nach einer kleinen Weile – hat die Sonne sie ganz getrocknet. Wenn der Himmel weint, denk’ ich an die Verheißung, dass die mit Tränen säen, mit Freuden ernten werden und ich will dir vertrauen, Herr, weil du treu bist.

Erlebnistipps: 1. Sing deinem Freund Gott ein Lied vor – dann, wenn ihr ganz alleine seid und wenn niemand zuschaut. 2. Wenn du Teil eines Lobpreisteams bist, macht dasselbe als ganzes Team. Veranstaltet ein ganzes Lobpreiskonzert nur für Gott und ladet dazu niemanden ein. Ihr müsst ja dazu nicht gleich wie Walter Heidenreich mit allen Instrumenten in die Wüste Gobi fahren. Aber eine himmlische Erfahrung wäre das schon. 3. Mach mit deinem Freund Gott mal was Verrücktes, wie barfuss im Regen herumzutanzen und betrachte das als ehrfürchtige Anbetung (1.  Korinther 4,7-10 und 1,26-31). ///

Mickey Wiese (53), länger als er lebt mit Jesus befreundet, ist als Event-Pastor, systemischer Berater für störende Schüler und in einigen anderen Rollen unterwegs. Er hat Sehnsüchte nach Glauben im Alltag, wird gerne gegooglet und ­findet Beerdigungen fast besser als Hochzeiten, feiert letztere aber ausgiebiger. Quergedacht

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Diesmal:

Siebenstein Karlsruhe Text: Veronika Zech

Wer seid ihr? Siebenstein ist ein beziehungsorientiertes Kinderprojekt für sozial benachteiligte Kinder im Karlsruher Brennpunktviertel Südstadt. Was macht ihr? Alle unsere Kinder haben einen Migra­ tionshintergrund und viele leben in schwierigen Verhältnissen. Sie tragen viel Verantwortung in ihren Familien. Die Schule kommt dabei meistens zu kurz und ihr Selbstbewusstsein ist am Boden. Siebenstein bietet diesen Kindern Nachhilfe nach dem 1:1 Prinzip durch verlässliche Bezugspersonen. Neben der Nachhilfe unterstützt Siebenstein die Eltern bei Ämtergängen, in Finanzfragen und den alltäglichen Sorgen. Im Kindercafé ist parallel Zeit und Raum für die Kinder, einfach Kind zu sein, zu spielen und in Ruhe zu essen. Wie ist die Idee entstanden? Mein Mann und ich haben nach unserer Hochzeit 2009 an der Hauptschule in unserem Viertel ein Praktikum gemacht. Dort lernten wir Jugendliche ei-

ner Abschlussklasse kennen, die ihren Abschluss nicht schaffen würden und vollkommen alleingelassen und perspektivlos waren. Der Schulsozialarbeiter vermittelte uns vier türkische Kinder aus niedrigeren Klassen als Nachhilfeschüler. Die Kinder kamen sehr gerne und oft mussten wir sie aus unserer Studentenbude »rausschmeißen«, da sie lieber noch länger bleiben wollten. Wir lernten am Küchentisch und hörten ihnen bei Tee und Keksen zu. Wir waren die einzigen, die wirklich Zeit für sie hatten. Der eigentliche Erfolg der Nachhilfe war die Beziehung. Das Verhalten und die Noten stabilisierten sich gleichermaßen. Und unsere Idee, diese beziehungsorientierte Nachhilfe noch mehr Kindern anzubieten, war geboren. Im Herbst 2010 gründeten wir Siebenstein und die Nachhilfe zog in ein Ladenlokal. Seitdem überschlugen sich die Ereignisse. Schon nach einem Schuljahr zogen wir auf Grund des Platzmangels in das Haus der Nehemia Initiative um. Jetzt haben wir 40 Kinder, die jede Woche kommen, lernen und mit ihren Lehrern den Schulstoff aufholen. Ein Kindercafé wird im

Mai noch mehr Raum geben, die Beziehungen zu vertiefen. Was bewirkt ihr? Wir erleben, dass sich durch die Nachhilfe die Kinder verändern. Sie fühlen sich wertgeschätzt und angenommen – auch mit ihren Schwächen. Die Kinder werden entspannter, ruhiger und konzentrierter. Einige Kinder gehen mittlerweile in die Jungschar unserer Gemeinde und erleben, dass sich auch die Familien verändern. Die Eltern bitten um Rat, kommen vorbei und schütten uns ihr Herz aus. Was empfehlt ihr weiter? Wir leben in dem Viertel, wo wir arbeiten, gehen zum Türken einkaufen und in den italienischen Kommunionsgottesdienst. Unser Motto ist es, da zu sein, wo die Menschen sind. Wir wollen erreichbar sein, auch wenn wir nur in Ruhe Brötchen kaufen möchten. Beziehung und Vertrauen braucht Zeit zum Wachsen. Wir können es nur weiterempfehlen sich ganz auf den Ort einzulassen, an dem man wohnt und praktisch anzupacken, wo Not sichtbar wird.

Kontakt: www.siebenstein-karlsruhe.de und www.nehemia-initiative.de

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