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Wenn die Seele wund wird - was Unternehmen tun können
Immer mehr Menschen werden psychisch krank. Dies hat auch dramatische Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Was Unternehmen jetzt tun können.
Dieser Sonntag im Sommer 2011 wird sein Leben für immer in ein Vorher und Nachher teilen. Frank Mercier kämpft mit Notärzten und der Ehefrau seines Nachbarn um dessen Leben – vergebens. Der 50-Jährige war Minuten zuvor nach dem Joggen vor dem gemeinsamen Doppelhaus mit einem Herzinfarkt zusammengebrochen. Bis zum Eintreffen der Bestatter wacht Mercier stundenlang bei der Leiche des Verstorbenen, drinnen kümmert sich seine Familie um die Witwe. Den Rat des Notfallseelsorgers, sich psychologische Hilfe zu holen, ignoriert der Managementberater und Geschäftsführer. Die Witwe und das Kind bräuchten doch jetzt Unterstützung, nicht er. Wie sehr ihn dieses Drama traumatisiert hat, erkennt er erst nach Monaten. Diagnose: Schwere Depression – ausgelöst durch ein Trauma-Flashback.
Unterschätzte Krankheit Depression
Zwölf Jahre nach der Tragödie begrüßt Mercier an einem Donnerstag im Mai die Teilnehmerinnen und Teilnehmer seines Online-Impulsvortrags „Depression und Arbeitswelt“. Zugeschaltet haben sich vor allem Personalverantwortliche aus Unternehmen. Mercier hat sich als ehrenamtlicher Vorstand der Deutschen Depressionsliga auf Seminare für Fach- und Führungskräfte spezialisiert. Die große Nachfrage erklären diese Zahlen: Im Laufe ihres Lebens sind 23 Prozent der Deutschen unmittelbar selbst von einer Depression betroffen, 37 Prozent sind mitbetroffen durch erkrankte Angehörige. „Depressive Störungen gehören zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen“, schreibt das Bundesministerium für Gesundheit und spricht von einer „Volkskrankheit“. Immer stärker wirkt sich dies auf die Arbeitswelt aus. Laut aktuellem „Psychreport“ der Krankenkasse DAK-Gesundheit auf Basis der Krankschreibungen von 2,4 Millionen DAK-versicherten Beschäftigten erreichte der Arbeitsausfall aufgrund psychischer Erkrankungen 2022 einen neuen Höchststand. Mit 301 Fehltagen je 100 Versicherten lagen diese Fehlzeiten um 48 Prozent über dem Niveau von 2012. Übertroffen wurden diese Werte nur von Erkrankungen des Atmungssytems (398 Fehltage, vor allem durch Corona- und Erkältungswellen) und des Muskelskelettsystems (354 Fehltage). Eine regionale DAK-Studie von 2021 zeigt, dass sich die Werte im Norden in etwa am Bundesschnitt orientieren – wobei sie in Mecklenburg-Vorpommern mit 55 Prozent am deutlichsten zugelegt haben. „Das hat verschiedenste Ursachen“, sagt Dr. Sylvia Neu, Geschäftsführerin der Unternehmensberatung der Wirtschaft (UdW) in Schwerin. Sie beobachte beispielsweise nur eine geringe Offenheit der Beschäftigten in Mecklenburg-Vorpommern, etwas für ihre psychische Gesundheit zu tun. Zudem komme es auf die jeweilige Branche an: So weise etwa der Dienstleistungssektor einen höheren Grad an psychischen Belastungen auf. Beschäftigte im Handel oder Servicecenter fehlten deutlich häufiger aufgrund von psychischen Erkrankungen als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bau oder Handwerk, so Neu. Ein weiterer Faktor sei das Geschlecht: Frauen seien meist doppelt so lang aus psychischen Gründen krankgeschrieben wie Männer. „Geht man davon aus, dass die neuen Bundesländer eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen haben und diese überwiegend im Dienstleistungsbereich arbeiten, könnte auch dies ein Grund für den höheren Krankenstand in Mecklenburg-Vorpommern sein“, analysiert Neu. Zudem habe das Bundesland 2021 mit einem Durchschnittsalter von 47,5 Jahren die drittälteste Bevölkerung in Deutschland gehabt. „Das ist insofern ein Problem, da der Anteil psychischer Erkrankungen mit zunehmendem Alter ebenfalls zunimmt“, sagt Neu.

Mehr Betroffene suchen sich Hilfe
Zermürbt uns der Dauerkrisenmodus mit Klimakrise, Pandemie, Krieg und wirtschaftlichen Abstiegsängsten? Werden unsere Seelen wund durch zu viele Reize, zu viele Blicke auf Smartphones und Tablets? War früher eben doch alles besser? Nein, so einfach ist das nicht. Denn eine Folie in Merciers Vortrag mag so gar nicht zu dem Anstieg der psychischen Erkrankungen passen: 2021 nahmen sich in Deutschland 9.215 Menschen das Leben, zu Beginn der Achtzigerjahre lag diese Zahl fast doppelt so hoch. Experten führen dies vor allem auf die wachsende Enttabuisierung psychischer Erkrankungen zurück, viel mehr Betroffene suchen sich Hilfe, bevor es zu spät ist. Dies führt eben auch dazu, dass die Zahl der erfassten psychischen Erkrankungen steigt. Für Arbeitgeber bedeutet diese Entwicklung aber auch immense Herausforderungen: Psychische Erkrankungen führen sehr oft zu langen Fehlzeiten, laut DAK lag die durchschnittliche Falldauer 2022 bei knapp 37 Fehltagen pro Krankschreibung. Fast jede zweite Frühverrentung beruht inzwischen auf einer psychischen Erkrankung, was den Fachkräftemangel weiter verschärft. Unmittelbaren Einfluss können Arbeitgeber nur auf mögliche psychische Belastungen am Arbeitsplatz nehmen, die bis zum Burnout reichen können. Dr. Dirk Mackau, Arbeitswissenschaftler bei NORDMETALL, rät Führungskräften, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter regelmäßig zu bitten, folgende Fragen auf einer Punkteskala von eins bis zehn zu beantworten: Wie gestresst fühlst du dich aktuell bei der Arbeit? Wie zufrieden bist du durchschnittlich mit deinem Job? Zur erstmaligen Kalibrierung dienen diese Fragen: Wie gestresst beziehungsweise zufrieden warst du jemals in deinem Traumjob? „Wenn die Werte stark auseinanderdriften, ist das ein deutliches Signal, dass man sich kümmern sollte“, sagt Mackau. Die dritte Frage läge dann auf der Hand: Was müsste sein, damit sich der Stress verringert und wie kann ich dich als Führungskraft dabei unterstützen? Dieses „niederschwellige Instrument“, sagt Mackau, sei auch für hochbelastete Führungskräfte umsetzbar. Die Antworten gäben zudem Aufschluss, wo es im Unternehmen gerade hakt. Etwa, wenn das Hochfahren der Rechner zu lange dauert. Oder die Kommunikation zwischen Abteilungen nicht funktioniert, sodass Kolleginnen und Kollegen über „verplemperte Zeit“ klagen, weil ihnen ständig wichtige Informationen fehlen. „Kein Mitarbeiter und keine Mitarbeiterin erwartet, dass man die Probleme sofort auflöst. Das Signal der Führungskraft, dass man sich kümmern wird, ist entscheidend“, sagt Mackau. Allerdings kann diese Methode nur funktionieren, wenn das Vertrauensverhältnis stimmt – andernfalls wird kaum ein Beschäftigter angeben, dass etwa die Arbeit in der gesetzten Zeit nicht zu schaffen sei. Mackau zitiert Peter F. Drucker, Pionier der modernen Managementlehre: „Culture eats strategy for breakfast.“ Will heißen: Eine gute Unternehmenskultur ist viel wichtiger als eine ausgefeilte Strategie.
„Ein Klima der Angst steigert die Gefahr psychischer Probleme am Arbeitsplatz“, sagt Mackau. Wenn Unternehmen ihn um Rat bitten, was man gegen hohe Fehlzeiten tun könne, nennt er vier Felder: Sorgen Sie dafür, dass das Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit ausgeprägt ist, Entfaltungsmöglichkeiten gegeben sind, die Entlohnung als angemessen empfunden wird und bei den Beschäftigten ein Kohärenzgefühl herrscht. „Mit Kohärenz ist gemeint, dass der Beschäftigte den Sinn seiner Arbeit verstehen und Zusammenhänge erkennen kann. Wenn ich nie ein Feedback bekomme, kann ich nicht einschätzen, was ich für das Unternehmen leiste“, sagt Mackau. Dann empfinde das Gehirn das Gleiche wie bei Schmerz: „Und das löst den Impuls aus, besser gar nicht mehr zur Arbeit zu gehen." Wie sehr mögliche psychische Probleme der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter inzwischen in den Fokus der norddeutschen Unternehmen gerückt sind, zeigt das Beispiel Philips. Die Hamburger Deutschland-Zentrale des Unternehmens mit 2.400 Beschäftigten, 2018 ausgezeichnet mit dem Sonderpreis „Betriebliche Gesundheitsförderung“ beim Wettbewerb „Deutschlands beste Arbeitgeber“, setzt bei der Prävention unter anderem auf Seminare und Webinare zu Themen wie „Psychische Belastungen in Krisenzeiten“, „Mentale Gesundheit“ und „Die Kunst des Nichtdurchdrehens“. Seit 2008 gibt es zudem die sogenannten „Kollegialen Ansprechpartner“ („KAP“) bei Philips. Jeder KAP wird 80 Stunden geschult, lernt die Grundlagen psychischer Krankheiten kennen. Zur Ausbildung gehören Besuche vor Ort in Kliniken und Beratungsstellen. An die insgesamt 18 KAPs bei Philips im deutschsprachigen Raum können sich Beschäftigte mit ihren beruflichen und privaten Sorgen wenden und auf die absolute Schweigepflicht ihrer Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner vertrauen. „Wir leben dieses Programm“, sagt Betriebsärztin Dr. Grietje Duvigneau.
Mit dem PME-Familienservice gibt es eine weitere externe Anlaufstelle, die jeder Beschäftigte kostenlos konsultieren kann – anonym, das Unternehmen erfährt nicht, wer hier Rat sucht. „Selbstverständlich können Beschäftigte mit ihren Problemen auch zu uns in den Betriebsärztlichen Dienst kommen“, sagt Duvigneau. Dies gilt auch für Führungskräfte, die Rat suchen, wenn sie spüren, dass ein Kollege oder eine Kollegin psychisch belastet sein könnte. Auch sie werden eigens geschult, um dies zu erkennen. Sich zur Krankheit bekennen, Rat suchen, dies ist auch das Anliegen der Deutschen Depressionsliga: „Wir unterstützen und ermutigen Betroffene zu einem achtsamen Umgang mit sich selbst. Denn Heilung beginnt mit dem Wissen: Es kann jede und jeden treffen – als Betroffener bin ich nicht schuld an meiner Erkrankung.“ Frank Mercier spricht in seinen Vorträgen über seinen langen Leidensweg, über eigene Suizidgedanken: „Auf einmal erscheint dir der Tod wie ein guter Freund.“ In den Seminaren erklärt Mercier erste Warnzeichen wie unspezifische Kopf- oder Bauchschmerzen, ständige Müdigkeit, dauernde Lustlosigkeit, Reizbarkeit und Angst: „Ich hatte psychotischen Verarmungswahn. Ich habe gedacht, ich verliere meine Job, meine Familie und bettle an einer Straßenecke um jeden Cent.“ Zugleich warnt er davor, „alles zu pathologisieren. Wenn mein Partner stirbt, darf ich traurig sein. Und wenn die Hypothek drückt oder der Chef meckert, sind schlaflose Nächte auch mal okay.“
Wer die Seite der Depressionsliga anklickt, sieht sofort das Gesicht von Torsten Sträter, dem bekannten Satiriker und Komiker und Schirmherrn der Organisation. Die Sendung „Chez Krömer“, in der er 2021 mit seinem ebenfalls betroffenen Berliner Kollegen Kurt Krömer über Depressionen spricht, zählt zu den Glanzlichtern der deutschen TV-Unterhaltung und wurde mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Krömer erklärt, wie er vier Stunden gebraucht habe, um eine Einkaufsliste zu erstellen: „Und dann war ich im Supermarkt, hab angefangen zu weinen, weil ich dachte, ich weiß nicht mehr, wie das hier geht." „Solche Sendungen geben den Betroffenen Hoffnung, dass sie eben nicht allein sind mit ihrer Krankheit“, sagt Mercier: „Und vielleicht gehen sie dann doch schneller zum Arzt.“
Peter Wenig
Deutsche Depressionsliga
Die Deutsche Depressionsliga (DDL) ist eine bundesweit aktive Patientenvertretung für an Depressionen erkrankte Menschen. Der gemeinnützige Verein ist eine reine Betroffenenorganisation, dessen Mitglieder entweder selbst von der Krankheit betroffen sind oder deren Angehörige. Wer nicht zu diesem Personenkreis gehört, kann Fördermitglied werden. Der Vorstand und die Mitglieder arbeiten ehrenamtlich für Aufklärung und Entstigmatisierung, an Angeboten der Hilfe und Selbsthilfe für Betroffene sowie an der Vertretung der Interessen dieser Menschen gegenüber Politik, Gesundheitswesen und Öffentlichkeit. Zu den Angeboten gehören auch Seminare und Workshops bei Unternehmen. Die DDL mit mehr als 1.700 Mitgliedern finanziert sich im Rahmen der Selbsthilfeförderung der gesetzlichen Krankenkassen sowie durch Mitgliedsbeiträge und Spenden. Weitere Informationen bei Deutsche Depressionsliga e. V. – Von Betroffenen, für Betroffene www.depressionsliga.de
Psychische Gesundheit von Azubis
Die Zahlen sind alarmierend: Etwa die Hälfte der Auszubildenden in Deutschland zeigt stressbedingte Warnsignale wie Nervosität oder Stimmungsschwankungen. Jeder fünfte Jugendliche fühlt sich durch den Betrieb oder die Schule belastet und klagt über Schlafstörungen. Die Coronakrise hat für zusätzlichen Stress gesorgt: Rund 55 Prozent der Auszubildenden sahen sich durch die Pandemie in ihrer Ausbildung stark oder sehr stark belastet. Auch in der Freizeit war für viele Jugendliche an Abschalten nicht zu denken. Was also können Ausbildungsleitungen und Personalverantwortliche speziell für die psychische Gesundheit des Nachwuchses tun? Dieser Frage widmete sich das überregionale Netzwerktreffen Ausbildung von NORDMETALL, das Ende April online stattfand. Eine zentrale Erkenntnis: Gezielte Prävention kanndie Situation entschärfen. Dafür warben Dr. Moritz von Gliszczynski und Maxi Schäfer von der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen bei den rund 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Psychosoziale Belastungen gehörten zu den häufigsten Gründen, warum Ausbildungsverträge hierzulande vorzeitig gelöst würden. Die Referenten berichteten von dem Kooperationsprojekt „Präzubi“, das die Landesvereinigung gemeinsam mit der Deutschen Rentenversicherung Hannover Braunschweig durchführt, um mehr über die Bedürfnisse von Jugendlichen und geeignete Präventionsmaßnahmen herauszufinden. Auch Berufsschulen sehen die Experten in der Pflicht und empfehlen, Angebote zu entwickeln, die unter anderem die Selbstorganisation, die Stressregulation und Suchtkompetenz von Auszubildenden fördern. BiB