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Die 100 der Eisenacher Straße – Regisseur Kolya Reichart im Interview
Die100der Eisenacher Straße
REGISSEUR JOHN KOLYA REICHART IM INTERVIEW
(JM) John Kolya Reichart, gebürtiger Kölner, wohnt seit einigen Jahren in Berlin, wo er als Regisseur und Fotograf arbeitet. Neben dem vielfach ausgezeichneten Spielfilm „Antons Fest“ hat er zahlreiche Dokus und Commercials gedreht. In der Fotografie liegt sein Schwerpunkt auf Porträts. Seine kürzlich veröffentlichte Bilderreihe „Eisenacher Hundert“ zeigt ein Menschenleben in 100 Bildern. Im Interview mit neubau kompass erzählt er von seiner Faszination für die Fotografie und welche Rolle die Menschen und die Stadt darin spielen.
Herr Reichart, wie erleben Sie Berlin? John Kolya Reichart: Ich habe vor Kurzem mit jemandem darüber gesprochen, wie das eigentlich war, als ich 2005 nach Berlin kam. Damals nahm ich die Stadt als wahnsinnig wild und ungeordnet und deswegen aber auch als unglaublich spannend wahr. Ich wohnte in Friedrichshain in der Nähe vom Bahnhof Ostkreuz. Mittlerweile ist das ein glasüberdachter, schicker Bahnhof. Aber damals sah er aus wie aus den 1950er- oder 1960er-Jahren und war ziemlich heruntergekommen. Wenn man Gespräche mit Leuten führt, die schon länger in Berlin leben, geht es meistens darum, dass die Stadt nicht gleich bleibt – dass Kieze sich verändern, dass sich das Gesamtbild verändert. Meine Lieblingsorte in Berlin sind ganz oft solche, die eine lange Geschichte haben und architektonisch nicht so eindeutig zuzuordnen sind. Wo Dinge zusammenkommen, die eigentlich gar nicht so richtig zusammenpassen. Das sind für mich die spannendsten Orte, und die gehen mit der Zeit natürlich immer mehr verloren. Sie werden ausgebaut und umgebaut. Auf Brachflächen werden Wohnsiedlungen gebaut, was per se nicht schlecht ist. Aber vieles, was den Charme ausgemacht hat, verschwindet auch.
Welche Rolle spielt die Stadt in Ihrer Fotografie? JKR: Ich arbeite aktuell an einem Projekt, das „Meine Männer“ heißt, bei dem ich meine nächsten Männer – also meinen Vater, meinen Schwiegervater, meinen Sohn, meine besten Freunde und Arbeitskollegen – in Kleidern oder Röcken fotografiere. Nicht etwa so, dass sie sich schminken und als Frauen verkleiden, sondern
dass sie statt ihren Alltagsklamotten Kleider oder Röcke, in denen sie gut aussehen und sich wohlfühlen, tragen. Das ist der erste Schritt. Etwas später zeige ich ihnen die Porträts und wir sprechen darüber. Wen siehst du da? Was macht das mit dir, dich in diesem Kleid zu sehen? Der zweite Schritt ist, zu überlegen, an welchem Ort das sein könnte. Meinen Vater z.B. habe ich vor der Neuen Nationalgalerie fotografiert – wegen der klaren Strukturen in der Architektur. Eine andere Person habe ich im Kloster Chorin fotografiert. Das Spannendste daran finde ich, dass wir Orte aussuchen, an denen sich die Personen wohlfühlen. Für meinen Sohn war das der Botanische Garten. Wir haben einen Kimono mit rosa Vögeln – ein sehr schönes Stück – für ihn ausgesucht. Und dann war es der vertraute Ort und dieser etwas ungewöhnliche Kimono, den er anhatte, und ein anderes Körpergefühl, weil er sonst natürlich Jeans trägt. Aber das zusammen ergibt etwas Drittes, und das ist eigentlich das, was mich interessiert.
Ihre kürzlich veröffentlichte Bilderreihe „Eisenacher Hundert“ zeigt ein komplettes Menschenleben in Bildern. Was hat Sie dazu inspiriert? JKR: In meiner Straße – der Eisenacher – gibt es ein paar Leute, die ich schon immer mal präsentieren wollte. Das war mir aber irgendwie noch nicht genug, weil ich mir dachte, dass es nicht klar sein wird, dass diese Menschen alle in einer Straße wohnen. Da kam mir der Gedanke, dass in so einer langen Straße wie der Eisenacher, die zwei Kilometer umfasst und so unterschiedlich ist, eigentlich ein ganzes Menschenleben erzählbar sein müsste. In Schaffensprozessen ist es sehr gut, wenn der Auftrag so klar ist. In meinem Fall war er nun, 100 Menschen im Alter von 1 bis 100 zu finden. Dabei ging es mir nicht darum, (z.B.) die „beste“ 54-jährige Person zu finden, sondern eine Person zu finden, die 54 Jahre alt ist. Jede Person, die in dieser Straße wohnt, sollte das gleiche Recht haben, Teil dieser Serie zu sein.