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wir sind anders
Die indigene Bewegung in Ecuador: wie alles begann
Ecuador ist ein multiethnisches und multikulturelles Land. Laut der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2010 beträgt die Gesamtbevölkerung rund 14 483 000 Einwohner, von denen 7 % Indigene sind. Die ethnische und regionale Vielfalt Ecuadors ist durch die Präsenz von Mestizen, Indigenen und Afro-Ecuadorianern gekennzeichnet. In Ecuador gibt es 34 indigene Völker, die, wie in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern auch, stark diskriminiert und ausgegrenzt wurden. Erst zu Beginn der 1990er Jahre rückte die indigene Bewegung in den Mittelpunkt der politischen und sozialen Geschichte des Landes. 1986 gründeten Aktivisten aus vierzehn indigenen Völkern die Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors (CONAIE), die sich u. a. für den Schutz der Rechte indigener Gemeinschaften auf die Verwaltung ihrer Gebiete, die Entwicklung ländlicher Regionen und die Zweisprachigkeit in Schulen einsetzte.
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Der erste Auftritt der Bewegung auf der politischen Bühne Ecuadors war 1990, als der erste nationale indigene Aufstand organisiert wurde, der die CONAIE in die nationale Politik katapultierte und sie zum wichtigsten Sprachrohr der indigenen Bevölkerung machte. Die Wahrnehmung der Indigenen durch die ecuadorianische Gesellschaft hat sich seit diesem Aufstand grundlegend verändert. Darüber hinaus brachte die CONAIE eine bis dahin nicht existierende Debatte ins Land, und zwar die Auseinandersetzung mit der Multinationalität und die Notwendigkeit eines interkulturellen Dialogs. “Wir sind anders”, sagen die Indígenas, und “wir sind stolz darauf, anders zu sein”. “Wir müssen diese Unterschiede respektieren und in Frieden mit anderen Kulturen leben”.
Der Beginn des Prozesses der Multinationalität wird durch die Billigung der zweisprachigen interkulturellen Erziehung und deren Anerkennung durch den ecuadorianischen Staat markiert. Dies war in der Tat die erste Errungenschaft der indigenen Bewegung im politischen und sozialen
Rahmen des Landes. Erst 1998 jedoch wurde die nationale Verfassung dahingehend abgeändert, dass Ecuador ein multikulturelles und multiethnisches Land ist, was zweifelsohne ein Verdienst der indigenen Bewegung ist.
Ihr Einfluss ist so stark gewachsen, dass im Laufe der Geschichte des Landes indigene Märsche im Bündnis mit anderen sozialen und militärischen Sektoren sogar mehrmals amtierende Präsidenten gestürzt haben.
Der Widerstand: soziale Mobilisierung im Oktober 2019
Die politische Lage in Ecuador war recht instabil, als 2017 Lenin Moreno die Wahlen gewann. Im Gegensatz zum vorherigen Präsidenten Correa, lehnte Moreno jede Art von sozialistischer Politik ab und setzte auf eine neoliberale Wirtschaft, Sparmaßnahmen und die Kürzung der öffentlichen Ausgaben.
Im Jahr 2018 suchte die Regierung nach Möglichkeiten, die öffentlichen Ausgaben, einschließlich der Kraftstoffsubventionen, zu senken. Seit den 1970er Jahren subventioniert Ecuador die wichtigsten Erdölerzeugnisse, wie Benzin, Diesel und Gas. Ecuador ist eines der Länder Lateinamerikas, das Kraftstoffe am stärksten subventioniert und dafür sogar mehr finanzielle Mittel als für Bildung und Gesundheit bereitstellt. Die Kraftstoffsubvention entspricht 17 Prozent des allgemeinen Staatshaushalts.
Das Land befand sich in einer Wirtschaftskrise, und Moreno verhandelte mit dem Internationalen Währungsfonds über einen Kredit. Im Gegenzug für dieses Finanzpaket erklärte sich Ecuador bereit, Wirtschaftsreformen durchzuführen. Am 3. Oktober strich Moreno mit dem Dekret 883 die Treibstoffsubventionen. Die Dieselpreise verdoppelten sich, die Benzinpreise stiegen um 25 Prozent und demzufolge stiegen die Transportpreise um über 40 Prozent.
Umgehend brachen Proteste aus, beginnend mit einem Streik der Taxi-, Lkw- und Busfahrer, die die wichtigsten Verbindungswege des Landes blockierten. Einige Gewerkschaften und die CONAIE schlossen sich den Protesten an, und in Quito kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Elf Tage lang waren daraufhin die Straßen Ecuadors von Auseinandersetzungen geprägt. Zivilisten, Polizisten, Indigene und Militärs standen sich gegenüber, es kam zu Vandalismus, Beschädigung von öffentlichem und privatem Eigentum, Raubüberfällen auf Geschäfte und Brandstiftung. Die Gewalt und der Vandalismus steigerten sich so sehr, dass die Gefahr einer Eskalation in einen Bürgerkrieg bestand. Die Proteste erreichten ein solches Ausmaß an Gewalt, dass sich die Regierung am 8. Oktober gezwungen sah, eine Ausgangssperre zu verhängen und den Regierungssitz vorübergehend von Quito nach Guayaquil zu verlegen. Am 13. Oktober fand unter Vermittlung des UN-Vertreters in Ecuador und der katholischen Kirche ein Dialog statt, bei dem die CONAIE und die Regierung schließlich eine Einigung erzielen konnten. Am 14. Oktober kündigte Moreno über Twitter die Annullierung des Dekrets 883 an.
Die Proteste im Oktober 2019 sorgten national und international für große Aufregung. Ecuador gilt seit jeher als relativ friedliches Land, doch bei dieser Demonstration erreichte die Gewalt ein noch nie dagewesenes Ausmaß. Abgesehen von den wirtschaftlichen Verlusten und der Beschädigung von öffentlichem und privatem Eigentum hat der landesweite Streik gezeigt, dass Ecuador immer noch ein tief gespaltenes und intolerantes Land ist, in dem rassistischer Hass und Verachtung gegenüber der indigenen Bevölkerung in verschiedenen Gruppen und sozialen Schichten immer noch vorherrschen.
In den letzten Jahrzehnten waren die indigenen Völker aufgrund ihrer großen Mobilisierungs- und Widerstandsfähigkeit zweifellos die wichtigsten politischen Akteure in der Geschichte Ecuadors. Die indigene Bevölkerung lebt seit 500 Jahren im Widerstand. Obwohl auch diese Bewegung in den letzten Jahren einen Bruch erlitten hat, ist ihr Zusammenhaltgefühl immer noch sehr ausgeprägt. Ihre Idee der Gemeinschaft unterscheidet sich sehr von der eher individualistischen und wettbewerbsorientierten westlichen Gesellschaft. Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, dies spielt eine grundlegende Rolle bei der Organisierung der Minga (Gemeinschaftsarbeit) oder bei Protesten und der Einforderung ihrer Rechte.
minga, eine Gemeinschaftsarbeit besonderer Art
In Ecuador ist Minga eine willkommene Form Arbeiten zu erledigen, die für ganze Dorfgemeinschaften von Nutzen sind: vom Bau von Wasserleitungen, bis hin zu Brücken, Zufahrtswegen und noch vieles mehr. Minga schweißt zusammen.
Während der Gemeinschaftsarbeiten wird über verschiedenes gesprochen. Meistens geht es darum, wofür und wie die Gemeinschaft von der Regierung Unterstützung anfordern kann. Nach dem Motto “gemeinsam sind wir stark“ finden sie, mitunter bei den verschiedenen Ministerien, Gehör.
Bei meinem zwölfjährigen Aufenthalt in Ecuador ist Minga auch für mich zur Tradition geworden. Immer wieder sind wir zu den Ministerien nach Quito gefahren, um wichtige Infrastrukturen wie Zufahrtsstraßen und Brücken zu bekommen. Einmal sind wir über ein gesamtes Jahr hinweg, in Gruppen von ca. 15 Personen, zweimal monatlich nach Quito gefahren, um unsere Stimme hören zu lassen. Die Rechnung ging auf. Wir bekamen, was wir so notwendig brauchten.
Ich habe mit den Leuten etliche Mingas gemacht. In einigen haben sogar Freunde aus Südtirol mitgeholfen: da stand ein Hausbau für eine mittellose Familie an, Sammeln von rund 80 000 Pajatoquillas (Palmenblätter) zum Decken des Kirchdaches, als Alternative zu einem Blech- bzw. Eternit-Dach, der Bau einer Wasserleitung für ein ganzes Dorf...
Eine der schönsten Mingas war jedoch der Bau einer befahrbaren Hängebrücke. Jeden Montag waren bis zu 30 Leute am Bau. Einmal hat sogar ein Lehrer mit seinen 60 Schülern teilgenommen. Es ging darum, aus dem Flussbett Steine für die Fundamente der Brückenpfeiler zu holen. Sie haben gelernt, wie unterhaltsam und schnell es geht, wenn wir Menschenketten vom Fluss bis zum festgelegten Ort machen. Von Dienstag bis Samstag wurden für jeden Tag 6 Leute verpflichtet beim Brückenbau zu helfen. Alles musste ehrenamtlich erledigt werden. Nach sechs Monaten, im Juli 1997 wurde die 95m x 3m Hängebrücke eingeweiht. Das war ein Fest!! Als ich vor rund 3 Jahren dort auf Besuch war und über die noch stehende Brücke fuhr, kamen so tolle Erinnerungen hoch...