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EUTSCHER DODOSTDIENST 59. Jahrgang / Nr. 05/2016

Nachrichtenmagazin des Bundes der Vertriebenen

Identität schützen – Menschenrechte achten Politik:

Politik:

Tag der Heimat 2016

Gedenktag in Sachsen


AUSSTELLUNG: „DIE GERUFENEN“ Deutsches Leben in Mittel- und Osteuropa

STADTBIBLIOTHEK IM SALZSTADEL 11. Okt - 17. Nov 2016 Rentamtsberg 1 | 94315 Straubing

WESTPREUSSISCHES LANDESMUSEUM 13. Feb - 15. Mai 2017 | gepl. Klosterstr. 21 | 48231 Warendorf

AUSSTELLUNG: „ERZWUNGENE WEGE“ Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts

STADT OBERASBACH

RONCALLI-FORUM KARLSRUHE

17. Feb - 24. März 2017 | gepl.

8. Mai - 17. Aug 2017 | gepl.

Rathausplatz 1 | 90522 Oberasbach

ALTE TURNHALLE GARCHING 27. März - 7. Mai 2017 | gepl. Rathausplatz 1 | 84518 Garching a.d. Alz

AUSSTELLUNG: „ANGEKOMMEN“ Die Integration der Vertriebenen in Deutschland

MUSEUM HOFMÜHLE

TECHNISCHES RATHAUS

22. Sept - 6. Nov 2016

9. Jan - 06. März 2017| gepl.

An der Aach 14 | 87509 Immenstadt

Bahnhofstraße 16 | 61348 Bad Homburg

MUSEUM FÜR STADTGESCHICHTE 24. Nov 2016 - 26. März 2017| gepl. Kirchplatz 7 | 07806 Neustadt a.d. Orla


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Editorial

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Liebe Leserinnen und Leser, in der Geschichte gibt es Ereignisse, die unsere gesellschaftliche Identität entscheidend mitgeprägt haben und dennoch wenig öffentliche Beachtung finden. Die Ursache dafür ist oft, dass sie mit anderen Ereignissen zusammenhängen, deren historischer „Fußabdruck“ noch tiefer ist. Für dieses Phänomen hat Bundespräsident Joachim Gauck den Begriff „Erinnerungsschatten“ geprägt. Deportation, Zwangsarbeit sowie Flucht und Vertreibung der Deutschen gegen Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch Geschichte und Kultur der deutschen Ostgebiete und der Siedlungsgebiete Deutscher im östlichen Europa haben viel zu lange in einem solchen Erinnerungsschatten gelegen. Dies hat der Bundespräsident in seiner Festrede zum Tag der Heimat in der Urania Berlin erneut bekräftigt. Gleichzeitig hat er gewürdigt, dass sich der Bund der Vertriebenen seit langem dafür einsetzt, die gesamtgesellschaftliche Relevanz dieser Themen sichtbar zu machen und somit Licht in diesen Schatten zu bringen. Die damaligen Ereignisse haben die individuelle Identität der Betroffenen tief verletzt. Traumata, die zum Teil generationenübergreifend bis heute nachwirken, waren die Folge. Die wahrheitsgemäße Erinnerung an dieses Schicksal ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Heilung dieser Verletzungen. Gleichermaßen ging es schon seit der Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950 immer auch darum, anderen das selbst erlittene Unrecht zu ersparen, Vertreibungen weltweit zu ächten und wenn möglich zu verhindern. Das Kulturerbe der Vertriebenen, Aussiedler und ihrer Vorfahren wiederum ist integraler und lebendiger Bestandteil unserer gesamtdeutschen kulturellen Identität. Nach wie vor engagieren wir uns im Bund der Vertriebenen dafür, dass es erhalten, weiterentwickelt und wahrgenommen wird – so wie dies auch der gesetzliche Auftrag vorsieht. Da der Schutz von Identität zu den Kriterien einer modernen Menschenrechtspolitik gehört, hat die bereits jahrzehntewährende Arbeit unseres Verbandes in all seinen Gliederungen also auch große menschenrechtliche Relevanz. Daher freue ich mich über jeden Mitstreiter, dem daran gelegen ist, den von Bundespräsident Gauck thematisierten Erinnerungsschatten weiter auszuleuchten. Mit freundlichen Grüßen

Dr. Bernd Fabritius MdB


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Inhalt

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Schicksal aus dem Erinnerungsschatten holen Unter dem Leitwort „Identität schützen – Menschenrechte achten“ hatte der Bund der Vertriebenen am 3. September 2016 zum zentralen Festakt zum Tag der Heimat in den Humboldt-Saal der Urania Berlin eingeladen. Die Festrede hielt in diesem Jahr Bundespräsident Joachim Gauck. Der prominente Redner und das nach innen wie außen gleichermaßen wirkende Leitwort mögen der Grund dafür gewesen sein, dass erneut viele Gäste aus ganz Deutschland die teils weite und beschwerliche Anreise auf sich genommen hatten. Seite 5

Sächsischer Gedenktag für Opfer von Flucht und Vertreibung Seit dem Jahr 2014 gibt es in Sachsen einen Gedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung, der immer am zweiten Sonntag im September begangen wird. Die diesjährige zentrale Gedenkveranstaltung fand am 11. September 2016 im Sächsischen Landtag in Dresden statt und erinnerte besonders an das schwere Los der Russlanddeutschen. Seite 23

„Nach so langer Zeit wird unser Schicksal gewürdigt“ Im November 2015 hat der Deutsche Bundestag beschlossen, das persönliche Schicksal derjenigen Deutschen, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg wegen ihrer deutschen Staatsangehörigkeit oder ihrer deutschen Volkszugehörigkeit Zwangsarbeit leisten mussten, mit einer einmaligen, symbolischen Anerkennungsleistung in Höhe von 2.500 Euro zu würdigen. Unter der koordinierenden Leitung des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Hartmut Koschyk MdB, und mit Beteiligung des Bundes der Vertriebenen und Fachhistorikern wurde im Bundesministerium des Innern eine entsprechende Richtlinie ausgearbeitet. Seite 25

Bauten als Spiegel der Fürstenmacht Seit vielen Jahren sind die spätmittelalterlichen Residenzbauten Europas Gegenstand intensiver Forschung, besonders solcher der Architekturhistoriker, und damit vor allem von Untersuchungen ihrer Bauform. Gleichwohl bleiben dabei viele Aspekte der Bauten unbestimmt, gilt es in mancher Hinsicht, das wahre Gesicht der königlichen und fürstlichen Residenzen noch zu entdecken. Diese sprechen uns an als Zentren intensiver, bunter Lebensformen, reguliert durch strenge Etikette. Seite 31

Was Krieg und Gewalt mit Frauen und Kindern macht Sehr aktuell war das Thema der Tagung des Frauenverbandes im Bund der Vertriebenen, die mit mehr als 40 Teilnehmern in der Politischen Bildungsstätte Helmstedt, an einem geschichtsträchtigen Ort, stattfand. „Frauen und Kinder erleben Krieg und Gewalt. Wie wirken diese Erfahrungen auf ihr Leben?“. Unter den Besuchern in der Konrad-Adenauer-Stiftung waren viele Zeitzeugen. Titel: Wagenzik (1)

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Wagenzik (2); Bien (1); Gierlich (1); Privat (1); Europaverlag (1)


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Schicksal aus dem Erinnerungsschatten holen Tag der Heimat 2016 mit Bundespräsident Joachim Gauck Unter dem Leitwort „Identität schützen – Menschenrechte achten“ hatte der Bund der Vertriebenen am 3. September 2016 zum zentralen Festakt zum Tag der Heimat in den Humboldt-Saal der Urania Berlin eingeladen. Die Festrede hielt in diesem Jahr Bundespräsident Joachim Gauck. Der prominente Redner und das nach innen wie außen gleichermaßen wirkende Leitwort mögen der Grund dafür gewesen sein, dass erneut viele Gäste aus ganz Deutschland die teils weite und beschwerliche Anreise auf sich genommen hatten. arüber hinaus durfte BdV-Präsident D Dr. Bernd Fabritius MdB etliche Vertreter aus Bundes- und Landespolitik

sowie aus dem Diplomatischen Corps begrüßen. So waren u.a. der Präsident des Hessischen Landtages, Norbert Kartmann MdL, die bayerische Staatsministerin für Arbeit und Soziales, Familie und Integration, Emilia Müller MdL, der innenpolitische Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, Stephan Mayer MdB, der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Vertriebene, Aussiedler und deutsche Minderheiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Klaus Brähmig, BdV-Ehrenpräsidentin Erika Steinbach MdB, der Apostolische Nuntius in Deutschland, Erzbischof Dr. Nikola Eterović, sowie etwa die Botschafter Ägyptens, Armeniens, Litauens oder Serbiens zur Veranstaltung gekommen. Die rege Teilnahme sei ein Zeichen dafür „welch hohen Stellenwert der Tag der Heimat für uns, für unseren Verband, aber auch in der gesamten deutschen Gesellschaft genießt“, erklärte der BdV-Präsident zu Beginn. Im Geistlichen Wort deutete der Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz für die Flüchtlings-, Vertriebenen-

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius MdB begrüßt den Festredner des diesjährigen Tages der Heimat, Bundespräsident Joachim Gauck, an der Urania.

und Aussiedlerseelsorge, Weihbischof Dr. Reinhard Hauke, das Leitwort aus geistlicher Perspektive. Menschenrechte seien übergeordnete Rechte, die Menschen nicht selbst einander zusprechen könnten. Gott habe sie dem Menschen verliehen, und auch vor ihm müsse „sich jeder Mensch für seinen Umgang mit der Welt und dem Menschen verantworten“, so Hauke.

„Menschlichkeit und Nächstenliebe“ Einfühlsam sprach der Weihbischof Worte zum Gedenken an die während Flucht und Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit umgekommenen Deutschen und erinnerte an „Männer, Frauen und Kinder anderer Völker, die aus Menschlichkeit und Nächstenliebe“ damals geholfen hätten. Davon ausgehend ermunterte er zur Anteilnahme am Schicksal heutiger Vertreibungsopfer. Der Blick zurück mahne dazu, „für

Wahrheit und Versöhnung einzutreten, damit dem Bösen zu rechter Zeit gewehrt werde, Recht und Gerechtigkeit gewahrt werden und Frieden das Zusammenleben der Völker bestimme.“ Bundespräsident Joachim Gauck begann seine Rede mit einer persönlichen Bemerkung: Wegen seiner ohnehin vorhandenen Verbundenheit mit der Geschichte der deutschen Heimatvertriebenen habe schon seit Beginn seiner Amtszeit für ihn festgestanden, dass er einmal als Bundespräsident beim Tag der Heimat sprechen wolle.

Spät aus dem „Erinnerungsschatten“ herausgetreten Differenziert und zugewandt betrachtete Gauck im Folgenden das Schicksal der Vertriebenen, Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler in den vergangenen sieben Jahrzehnten. Dabei bedauerte er, dass die Vertreibung von vielen lange als „Kollektivbestrafung für die Verbrechen“


6 der Deutschen im Zweiten Weltkrieg akzeptiert worden und erst spät aus dem „Erinnerungsschatten“ herausgetreten sei. Die im letzten Jahr beschlossene Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter zeige, dass „noch immer nicht alle Wunden geheilt“ seien. Ebenso sprach er aber Gründe an, die seiner Ansicht nach das Heimischwerden der Vertriebenen im Nachkriegsdeutschland erschwert hätten. Die ideologische Marginalisierung oder gar die Unterdrückung der Themen „Flucht und Vertreibung“ sowie „Geschichte und Kultur der ehemaligen deutschen Ostgebiete“ seien heute „glücklicherweise überwunden“, so der Bundespräsident. Diese Themen gehörten „in das kollektive Gedächtnis der ganzen Nation.“

Die Gesellschaft soll sich erinnern Deshalb seien Erinnern, Gedenken und Traditionsbewahrung über die Verbandsarbeit hinausgehende Aufgaben. „Die Vertriebenen dürfen, ja sie sollen sich erinnern, damit ihre Seelen Frieden finden. Die Gesellschaft darf, ja sie soll sich erinnern, um – gerade in der heutigen Zeit – Sensibilität gegenüber den Themen Flucht und Vertreibung auf der ganzen Welt zu schaffen und zu erhalten“, erklärte Bundespräsident Gauck den aus der Vergangenheit erwachsenden Auftrag für Gegenwart und Zukunft. Über das Leitwort zum Tag der Heimat schlug das Staatsoberhaupt die Brücke zu aktuellen Fragen. So sei Identität

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Die Fahnen des Bundes der Vertriebenen vor dem Veranstaltungsort in Berlin.

„keinesfalls als starres, unveränderbares, gar bestimmendes Schicksal“ zu verstehen, „sondern als Prägung, die auch von Wunsch und Willen des Einzelnen abhängig ist“. Stets gelte es, sich veränderten Bedingungen anpassen und diese als Chance begreifen zu können. Der Fall des Eisernen Vorhangs habe Vertriebenen und Aussiedlern Begegnungen mit den Bewohnern ihrer Heimatgebiete, Reisen und Kulturaustausch ermöglicht – und damit „eine Wiederaneignung in neuem historischen Kontext.“ Man könne beobachten, dass „Erinnerungen, die über Jahrzehnte konkurrierend nebeneinander oft auch gegeneinander standen, heute öfter miteinander verflochten und geteilt“ würden, betonte Gauck und skizzierte damit den Weg zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur.

Auf großes Interesse stieß das Angebot des Bundes der Vertriebenen und der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen am Informationsstand im Foyer der Urania.

Wie schon in seiner Rede zum ersten bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2015 ging der Bundespräsident auf die Schicksalsverwandtschaft von Vertriebenen und Flüchtlingen damals und heute ein – „die Zerrissenheit zwischen dem Nicht-Mehr-Dort- und Noch-Nicht-HierSein.“

Opferkonkurrenz ausschließen Gleichzeitig machte er deutlich, dass die Aufnahmesituation eine andere sei, zumal damals Deutsche ohne eine Rückkehroption zu Deutschen kamen, während heute Schutzsuchende aus fremden Ländern kämen, denen die Rückkehr in die Heimat frei stehe, sobald die Lage vor Ort dies zulasse. Es gelte, völkerrechtliche Vereinbarungen zu achten, Bedürftigen mit Empathie zu begegnen und Opferkonkurrenz auszuschließen, erklärte Gauck und ergänzte: „Deshalb ist mir auch jene Haltung im aktuellen Diskurs fragwürdig, die die Flüchtlinge von heute willkommen heißt, das Schicksal der Landsleute von damals aber ignoriert oder marginalisiert.“ Dass es bereits gelinge, das Leid unterschiedlicher Zeiten zu verknüpfen, zeigten Untersuchungsergebnisse, nach denen ein Drittel unter den ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern selbst einer Vertriebenenfamilie entstamme. Abschließend erklärte Bundespräsident Gauck: „Wir werden festhalten an Wagenzik (4)


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unseren Grundlagen der Demokratie und des Rechtes. Und wir werden geprägt bleiben vom humanen Geist und einer Haltung der Offenheit, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit gegenüber Verfolgten, Vertriebenen und Entrechteten.“ BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius dankte dem Bundespräsidenten dafür, dass er gemeinsam mit dem Bund der Vertriebenen Licht in den Erinnerungsschatten bringe, der über dem Schicksal der Heimatvertriebenen liege. „Identität schützen – Menschenrechte achten“ beziehe sich als Leitwort auch auf jene Themen, die erst langsam in den Fokus geraten. So hätten Deportation und Zwangsarbeit deutscher Zivilisten allein aufgrund ihrer deutschen Volkszugehörigkeit und ohne individuelle Schuld, „rein nach dem willkürlichen Prinzip einer Kollektivhaftung“, bei vielen Betroffenen einen Identitätsbruch bewirkt.

Leitwort als Wegweiser für die Zukunft Der vor 75 Jahren ergangene StalinErlass zur Deportation der Wolgadeutschen sei ein „Unheilsspruch über eine ganze Volksgruppe“. Das Leitwort könne aber auch „für die Zukunft als Wegweiser dienen“, denn wann immer die Identität durch dramatische Lebensereignisse in Gefahr sei, brauche man Anknüpfungspunkte wie etwa Traditionen und Bräuche, die es als identitätsstif-

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Voll besetzt war der Saal in der Urania zum Tag der Heimat 2016.

tende Merkmale zu erhalten gelte. Das Kulturerbe der Vertriebenen, Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler, erklärte der BdV-Präsident, sei „ein wesentlicher Teil der gesamtdeutschen, ja gesamteuropäischen Kultur“. Dr. Fabritius lobte die Entwicklungen auf Bundesebene, forderte aber mehr Einsatz von vielen Bundesländern. Der gesetzliche Auftrag zum Erhalt und zur Weiterentwicklung des Kulturerbes müsse ernst genommen werden. Der Verband mache hier „keine Kompromisse“. Überwiegend positiv bewertete Dr. Fabritius die Entwicklungen im Verhältnis zu den meisten östlichen Nachbarländern. Heimatvertriebene und Spätaussiedler wollten „gute Gesprächspartner und Vermittler zwischen Deutschland und unseren östlichen Nachbarlän-

Traditionell gestalten die Potsdamer Turmbläser die feierliche musikalische Umrahmung der Gedenkstunde.

dern“ bleiben. Ein Rückfall in rein nationale Denkmuster der Vergangenheit schade letztlich Europa und allen seinen Bürgern. Fabritius erneuerte seine bereits im letzten Jahr geäußerte Forderung, den heute nach Deutschland kommenden Schutzbedürftigen Empathie zu zeigen. Von anderen Zuwanderern forderte er Solidarität mit den wirklich Verfolgten und ein Freihalten der für diese geschaffenen Auf­nahmewege. Mit dem Verweis auf die 1950 verabschiedete Charta der deutschen Heimatver­ triebenen äußerte er die Vermutung, „dass es um den gesellschaft­ lichen Frieden in Deutsch­ land besser bestellt wäre, gä­be es ein ähnliches eigenes Bekenntnis der Zuwanderer und Flüchtlinge heu­ tiger Tage … – eine ‚Charta der Flüchtlinge und Zuwanderer‘ mit ein­ deutigen Bekenntnissen zum deutschen Rechtsstaat, seiner demo­kratischen Grundordnung und unserer Wertegemeinschaft. Vielleicht auch dem Wunsch nach Rück­ kehr und zum Aufbau der eigenen Heimat.“ Beim würdigen Totengedenken am Mahnmal der deutschen Heimatvertriebenen, der „Ewigen Flamme“ auf dem Berliner Theodor-Heuss-Platz, sprachen in diesem Jahr der Berliner Innensenator Frank Henkel, der Berliner Landesvorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Staatssekretär a.D. Rüdiger Jakesch, sowie BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius. Die höchsten Staatsämter, die Bundesländer, die Landsmannschaften und viele weitere gesellschaftliche Gruppen ließen zu Ehren der Toten Kränze niederlegen. Marc-P. Halatsch


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Grußbotschaft von Papst Franziskus Aus Anlass des traditionellen Tages der Heimat des Bundes der Vertriebenen am Samstag, 3. September 2016 in Berlin übersende ich Ihnen das Grußwort des Heiligen Stuhls: Papst Franziskus hat vom Tag der Heimat in Berlin, der dieses Jahr unter dem Motto „Identität schützen – Menschenrechte achten“ begangen wird, Kenntnis erhalten und übermittelt den Veranstaltern wie den Gästen seine herzlichen Grüße. In seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium stellt der Papst zwei Gruppen der Welt von heute vor, welche jede für sich nicht zu einer gesunden Entwicklung fähig sind: auf der einen Seite „die Bürger eines abstrakten und globalisierenden Universalismus, die wie aufgezogene Passagiere im letzten Waggon mit offenem Mund und programmiertem Applaus das Feuerwerk der Welt bewundern“, und auf der anderen Seite „ein folkloristisches Museum ortsversessener Eremiten, die dazu verurteilt sind, immer dieselben Dinge zu wiederholen, unfähig, sich von dem, was anders ist, hinterfragen zu lassen und die Schönheit zu bewundern, die Gott außerhalb ihres Geheges verbreitet“ (Nr. 234). Die Spannung, die durch diese Gruppen in der Gesellschaft entsteht, gilt es kreativ aufzuheben. Wir Menschen können nur überleben, wenn wir uns auf eine gemeinsame Zukunft ausrichten. Und die Zukunft hat immer eine globale Dimension. Zugleich müssen wir im Blick auf die Zukunft immer wieder unsere eigene Identität finden, und dies ist auch die Grundlage für ein Leben in Würde und sozialer Verantwortung. In der Hoffnung, dass die Menschen unserer Zelt Gestalter einer neuen Gesellschaft werden können, erbittet Papst Franziskus allen Anwesenden beim Tag der Heimat von Herzen Gottes beständigen Schutz und seinen reichen Segen. Prälat Paolo Borgia Assessor des Staatssekretariats dpa (1), Wagenzik (1)


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Geistliches Wort Weihbischof Dr. Reinhard Hauke Das Meinungsforschungsinstitut Forsa hat 2005 herausgefunden, dass zwei Drittel aller Deutschen an Schutzengel glauben. Der Religionspsychologe Sebastian Murken sagt darauf, dass das ein Beweis für die Sehnsucht nach persönlicher Fürsorge ist. Bisweilen gibt es eher den Glauben an den Schutzengel als an Gott, weil vermutlich der Schutzengel für die Menschen in seinem Wirken irgendwie überschaubarer ist als der große Gott, wie er uns in der Heiligen Schrift begegnet. ahlreiche Religionen kennen die Z dienstbaren Geister im Himmel. In den abrahamitischen Religionen des

Judentums, Islams und Christentums stehen sie als Geschöpfe Gottes in dessen Dienst und sind ihm als Boten für die Menschen untergeordnet. In der katholischen Kirche hat sich die Verehrung der Schutzengel besonders im 15. und 16. Jahrhundert verbreitet. 1670 legte Papst Clemens X. das Schutzengelfest für den 2. Oktober fest – bemerkenswerterweise heute bei uns in Deutschland am Vortag des „Tages der Deutschen Einheit“. Für mich ein Omen in politischer Hinsicht, denn wie Gottes Schutz sich ausgewirkt hat auf dem Weg zu diesem Festtag, dem 3. Oktober, das ist uns allen noch bewusst, die mit Bangen und Hoffnung die Wendezeit erlebt haben.

Schutzengel umgeben den Menschen Im Katechismus der katholischen Kirche von 1993 heißt es unter dem Stichwort „Schutzengel“ (Nummer 336): „Von der Kindheit an bis zum Tod umgeben die Engel mit ihrer Hut und Fürbitte das Leben des Menschen. ‚Einem jeden der Gläubigen steht ein Engel als Beschützer und Hirte zur Seite, um ihn zum Leben zu führen‘ (Basilius, Eun. 3,1).“

Weihbischof Dr. Reinhard Hauke beim Geistlichen Wort zum Tag der Heimat 2016 in der Urania.

Gern hören wir den Gesang von Felix Mendelssohn-Bartholdy – gesungen von verschiedenen Kinderchören: „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir“. Es breitet sich dann das Gefühl der Geborgenheit aus, das wir in unseren Tagen so sehr ersehnen und oft schon vermissen müssen, weil Terror und Gewalt nicht nur auf den Schlachtfeldern der Kriege, sondern bis in unsere Städte hinein zu spüren und zu erleiden sind – bis hin zu Hochzeitsfeiern und Sportereignissen. Im Buch Tobit, das von der Begleitung des Tobias durch den Erzengel Raphael spricht, heißt es am Ende beim Dank an den Begleiter Raphael: „Da rief er (der alte Tobit) den Engel zu sich und sagte: Nimm die Hälfte von allem, was ihr mitgebracht habt. Der Engel aber nahm die beiden (Tobias und Tobit) beiseite und sagte zu ihnen: Preist Gott und lobt ihn! Gebt ihm die Ehre und bezeugt vor allen Menschen, was er für euch getan hat. Es ist gut, Gott zu preisen und seinen Namen zu verherrlichen und voll Ehrfurcht seine Taten zu verkünden. Hört nie auf, ihn zu preisen. Es ist gut, das

Geheimnis eines Königs zu wahren; die Taten Gottes aber soll man offen rühmen. Tut Gutes, dann wird euch kein Unglück treffen. Es ist gut, zu beten und zu fasten, barmherzig und gerecht zu sein. … Besser barmherzig sein als Gold anhäufen. Wer barmherzig und gerecht ist, wird lange leben. (Tob 12, 4-9).“

Gott als Instanz der Gerechtigkeit „Identität schützen – Menschenrechte achten“ ist für mich ein geistliches Programm, das mit meinem Glauben an den Schöpfergott zu tun hat. Die Menschenrechte erwachsen für mich als Christ aus dem Glauben daran, dass nicht der Mensch selbst ein Recht gibt und setzt, sondern es von einem anderen – nämlich dem Schöpfer des Menschen – geschenkt wurde. Ich sehe nicht nur den Gerichtshof von Den Haag, sondern ich sehe auch Gott als Instanz der Gerechtigkeit, vor der sich jeder Mensch für seinen Umgang mit der Welt und


10 dem Menschen verantworten muss. Die Geschöpfe der Engel drücken aus, was Gott grundsätzlich im Schilde führt, nämlich: Das Heil für den Menschen auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten. Wenn auch bisweilen die bildlichen Darstellungen der Schutzengel das ernsthafte und engagierte Handeln der Engel verstellen, wie es uns in der Heiligen Schrift vor Augen gestellt wird – denken wir nur an die Verkündigung durch den Erzengel Gabriel und sein Wirken bei der Flucht nach Ägypten, aber auch den Kampf der Erzengels Michael gegen den Satan, wie die Offenbarung des Johannes es berichtet –, so drückt sich doch in den Darstellungen das Vertrauen in den liebenden und helfenden Gott aus, der in Jesus Christus ein anschauliches Gesicht bekommen hat. Der Glaube an Gott wurde in 40 Jahren im Ostteil Deutschlands als unwissenschaftlich und hinterwäldlerisch bezeichnet und beurteilt. Dennoch gab es ja besonders in den Weihnachtstagen die Engeldarstellungen zwar mit dem neuen Namen „Jahresendflügelpuppen“. Der Gedanke an einen Schutzengel kommt besonders heute wieder auf, wenn ein Unglück abgewendet wurde und niemand sich die günstigen Umstände erklären kann. Wir Christen können zusammen mit vielen Glaubenden der unterschiedlichen Religionen trotz aller Erfahrung von Unrecht und Vertreibung Gott loben, der wegen seiner Macht in der Lage ist, die Geschicke der Welt und der Menschen zum Guten zu wenden. Initiativen zu Frieden und Versöhnung, wie sie auch Papst Franziskus in unseren

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Intensive Gespräche am Rande des Tages der Heimat, hier mit BdV-Vizepräsident Christian Knauer.

Tagen immer wieder unternimmt und dazu einlädt – denken wir nur an die Initiativen zur Befriedung von Palästina und Israel, von russisch-orthodoxer und römisch-katholischer Kirche oder an den völkerverbindenden Weltjugendtag in Krakau, an dem 1,5 Millionen junger Katholiken aus der ganzen Welt teilgenommen haben. All das sind Hoffnungszeichen, die uns die Wirksamkeit des Schöpfergottes erahnen lassen. Wenn auch das Gedenken an Leid und Unrecht besonders an heutigen Tag die Herzen traurig macht, so gilt dennoch, was wir im Buch Tobit gelesen haben: „Es ist gut, Gott zu preisen und seinen Namen zu verherrlichen und voll Ehrfurcht seine Taten zu verkünden. Hört nie auf, ihn zu preisen.“

Andächtig lauschten die Zuhörer dem Geistlichen Wort.

Morgen wird Papst Franziskus in Rom die Nobelpreisträgerin Mutter Teresa heilig sprechen. Wenige Jahre nach ihrem Tod nannte man sie schon „Engel der Armen“. Diesen Ehrentitel erhielt sie aufgrund ihres Engagements für die Menschen auf den Straßen Kalkuttas, die arm, krank und hungrig sind. Es hat sich vermutlich seit ihrem Auftreten in Kalkutta nichts Wesentliches an der sozialen Not dort geändert, aber es gibt einen Hoffnungsschimmer für die Armen aufgrund ihres christlichen Engagements für die Menschenwürde. Unabhängig von Religion und Konfession hat sie in den Jahren von 1946 bis zu ihrem Tod am 5. September 1997 die Menschen auf den Straßen Kalkuttas betreut und andere dazu angestiftet, sich vor Ort um menschenwürdige Lebensbedingungen oder auch Sterbebedingungen zu kümmern. Im Gebet vernahm sie beim Anblick des Kreuzes am 10. September 1946 das Wort Jesu: „Mich dürstet.“ Von da an suchte sie nach den hilfebedürftigen Menschen, in denen sie dem dürstenden Christus dienen wollte. Der Blick an die Ränder der Gesellschaft wird durch ihre Heiligsprechung morgen ebenso heiliggesprochen. Wenn wir an diesem Tag auf die dunklen Seiten der deutschen Geschichte schauen, dann in der Hoffnung, dass die Engel und letztlich Gott uns bewahren vor Wiederholung dessen, was zu Leid und Tod geführt hat. Ich möchte Sie nun einladen, der Opfer zu gedenken, die durch Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Leben lassen mussten. Wagenzik (2)


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Totengedenken Wir gedenken hier der alten Heimat, der Heimat unserer Eltern und Großeltern mit den Kirchen und Häusern, die sie gebaut, den Bäumen, die sie gepflanzt, mit den Äckern, die sie bearbeitet haben, mit den Menschen auch aus anderen Völkern, deren Lieder sie gern gesungen haben, deren Sprache ihnen vertraut war, bei deren Klang ihnen heute noch die Tränen kommen. Wir wollen sie weiter in unseren Herzen bewahren, die Erinnerung an sie pflegen und weitergeben. Wir gedenken hier der vielen Todesopfer bei Flucht und Vertreibung, bei Deportation und Zwangsarbeit. Wir gedenken der Kinder, der Frauen und Männer, die auf der Flucht mit den Trecks umkamen, auf verschneiten und verstopften Straßen, von Kälte, Entkräftung und Verzweiflung überwältigt, von Panzern überrollt, von Bomben und Granaten zerrissen, ihre Leichname blieben oft unbegraben zurück. Wir gedenken hier derer, die auf der Flucht im winterkalten Wasser des Kurischen und des Frischen Haffs und der Flüsse versanken, weil das Eis nicht mehr hielt oder unter Beschuss zerborsten war. Wir gedenken hier derer, die in unvorstellbar großer Zahl bei Schiffsuntergängen nach Torpedo- oder Fliegerangriffen in den eisigen Fluten der Ostsee ertranken. Wir gedenken hier der in den Jahren 1944-47 aus der alten Heimat verschleppten und seitdem verschollenen Frauen, Männer und Kinder, der auf den Straßen entkräftet Zusammengebrochenen, der Erschossenen und Erschlagenen, der auf den wochenlangen Bahntransporten in den Weiten Sibiriens Umgekommenen und an den Bahntrassen unbestattet Zurückgelassenen. Wir gedenken hier derer, die in den Straf-, Internierungs- und Todeslagern der Rache für die nationalsozialistischen Verbrechen hilflos ausgeliefert waren, ohne Recht und Gerichtsverfahren blieben und dort schließlich auf elendste Weise zu Tode kamen. Wir gedenken hier all derer, die als Opfer von Massakern, von willkürlichen Vergeltungs- und sogenannten Säuberungsaktionen starben und an deren Gräber sich niemand mehr erinnert. Wir gedenken hier der in den letzten Kriegstagen und in der ersten Nachkriegszeit in der alten Heimat in großer Zahl an Hunger und Epidemien ohne ärztliche Hilfe Verstorbenen und in Massengräbern hastig Verscharrten. Wir gedenken hier der verwaisten und vermissten Kinder, deren Spur sich in den Kriegswirren und Heimen verloren hat. Wir erinnern uns hier an das grausame Schicksal derer, die auch noch Jahre nach Kriegsende willkürlich und zu Unrecht, oft unter grausamen und entwürdigenden Umständen, aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat vertrieben und abtransportiert wurden. Wir erinnern uns in Dankbarkeit an die Männer, Frauen und Kinder anderer Völker, die aus Menschlichkeit und Nächstenliebe ungeachtet eigener Gefährdung und oft selbst große Not leidend den deutschen Deportierten, Vertriebenen und Flüchtlingen Hilfe geleistet und das karge Brot mit ihnen geteilt haben. Im Gedenken an unsere Toten der „vorigen Zeiten“, in der Erinnerung an die Grausamkeit von Flucht und Vertreibung nehmen wir mitfühlend Anteil am Schicksal der Menschen unserer Tage, die vor Krieg, Not und Religionshass auf der Flucht sind oder aus ihrer angestammten Heimat im Zuge ethnischer, politischer oder religiöser sogenannter Säuberungen vertrieben werden. Die Erinnerung mahnt uns, zu unseren Zeiten für Wahrheit und Versöhnung einzutreten, damit dem Bösen zu rechter Zeit gewehrt werde, Recht und Gerechtigkeit gewahrt werden und Frieden das Zusammenleben der Völker bestimme. Wir vertrauen darauf, dass Gott, der Gerechte und Barmherzige seiner Menschenkinder gedenkt, dass sie mit ihrem Namen und Schicksal in seinem Gedächtnis bewahrt bleiben und dass dies auch für unsere verschollenen und an unbekannten Orten ruhenden Toten gilt. So vertrauen wir sie aufs Neue ihm an. Mögen sie in Frieden ruhen und das Licht des neuen Lebens in der anderen Welt schauen. Amen!

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„Das Erinnern gehört in das kollektive Gedächtnis“ Bundespräsident Joachim Gauck zum Tag der Heimat 2016 iele von Ihnen wissen, dass ich V Ihren Anliegen, ihrer Geschichte verbunden bin. Ich bin im Kriege geboren, und ich war auch schon bei Ihnen, bevor ich Präsident wurde. Aber von Beginn meiner Präsidentschaft an war es klar, dass ich einmal zu Ihnen sprechen wollte als deutscher Bundespräsident und das machen wir heute nun. Sehr geehrter Herr Präsident, Exzellenzen, Frau Staatsministerin Müller, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, sehr geehrte Damen und Herren Staatssekretäre, meine sehr verehrten Damen und Herren, mehr als sieben Jahrzehnte ist es her, dass 14 Millionen Deutsche aus ihrer Heimat vertrieben wurden oder flohen. Schon sieben Jahrzehnte ist es her, dass sie neu anfangen mussten: in Gegenden, die sie nicht kannten, unter Menschen, die eine andere Mundart sprachen, in einem Land, das nach einem verlorenen Krieg völlig zerstört war.

Die Vergangenheit ist nicht vergangen Doch selbst nach sieben Jahrzehnten ist die Vergangenheit nicht gänzlich vergangen. Noch immer sind nicht alle Wunden geheilt, noch immer nicht alles Unrecht eingestanden. Erst im vergangenen Jahr hat der Deutsche Bundestag eine Entschädigung für deutsche Zivilisten beschlossen, die während des Zweiten Weltkrieges und danach von fremden Staaten zur Zwangsarbeit herangezogen wurden: Deutsche aus Ostpreußen, aus Pommern und Schlesien, Rumänien und Jugoslawien, aus Ungarn, die in die Sowjetunion deportiert wurden oder auch in Polen und der Tschechoslowakei interniert und zur Zwangsarbeit verpflichtet worden sind. Weit wichtiger aber als die finanzielle Ent-

Bundespräsident Joachim Gauck spricht zu den deutschen Heimatvertriebenen und Spätaussiedlern.

schädigung ist für die Betroffenen dabei die Geste. Dass sie wahrgenommen werden. Wichtig ist, dass unsere Gesellschaft diesen Menschen, die monate- und manchmal jahrelang als menschliche Reparation missbraucht wurden, ein deutliches Signal gibt: Wir interessieren uns für Euer Schicksal! Wir wollen das Wissen über Eure Erlebnisse auch nachfolgenden Generationen vermitteln. Wer kennt beispielsweise das Straflager 517 in Karelien? Ein Straflager vor allem für Frauen aus Ostpreußen, die bei eisigen Temperaturen Bäume fällen und Schneisen in den Wald schlagen mussten. Von den 2.000 Menschen, die im Frühjahr 1945 in Insterburg verladen worden waren, kamen bis zur Auflösung des karelischen Lagers gut ein halbes Jahr später 522 Insassen um. Wer kennt das Lager bei Novo Gorlovka in der Ukraine, in das auf Befehl Stalins tausende von Rumäniendeutschen zum Arbeitsdienst deportiert wurden und das 334 Menschen, ausgemergelt von Arbeit und Hunger und ausgesetzt

der Willkür und Brutalität der Wachmannschaften, nicht überlebten? Und wer das Lager überlebte, den verfolgten die traumatischen Erlebnisse noch über Jahre und Jahrzehnte – die Appelle, die Entwürdigung, die Angst vor Strafen, die Angst vor dem Tod und immer wieder: der Hunger. All das blieb im Kopf und in der Seele auch nach der Entlassung und breitete sich dort aus. „Man kann sich nicht schützen, weder durchs Schweigen noch durchs Erzählen“, bekennt Leopold Auberg, der Protagonist in Herta Müllers Roman „Atemschaukel“.

Dank an den Bund der Vertriebenen Ich begrüße es außerordentlich, dass die Politik nun hilft, das Schicksal dieser Menschen aus dem Erinnerungsschatten zu holen. Und ich danke allen, nicht zuletzt dem Bund der Vertriebenen, die sich dafür eingesetzt haben! Wagenzik (2)


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Flucht und Vertreibungen haben im 20. Jahrhundert massenhaft Bevölkerungsverschiebungen verursacht. Allein in Europa wurden im Zuge des Zweiten Weltkrieges 60 Millionen Menschen vertrieben, über zehn Prozent der Bewohner des Kontinents. Die Deutschen waren die größte Gruppe unter ihnen. In den vergangenen sieben Jahrzehnten haben diese deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen einen langen Weg zurückgelegt. Lassen sie uns den noch einmal in Gedanken nachvollziehen. Er begann mit Verzweiflung, mit Trauer, oft auch mit Groll, führte später zur Öffnung gegenüber der neuen Heimat und schließlich – wohl auch unter dem Druck politischer Ereignisse – zur Aussöhnung mit dem Verlust der alten Heimat. Vorbei die Zeiten, in denen es Hunderttausende zu alljährlichen Großveranstaltungen zog, um Verwandte und Bekannte aus der alten Heimat zu treffen und wenigstens für einige Stunden „heimzukehren“ in die alte, in die verlorene Welt, in den Trachten und mit der Musik von einst. Vorbei auch die Zeiten, in denen große Parteien das Heimischwerden in Westdeutschland erschwerten, weil sie die Rückkehr in die alte Heimat versprachen und Vertriebenenpolitiker eine Revision der deutschen Grenzen forderten. Glücklicherweise überwunden sind auch Denkweisen, die durch die Fokussierung auf das eigene Leid allzu häufig verhinderten, sich der brutalen Unterdrückung, Vertreibung und Vernichtung zu stellen, die Deutsche zuvor zum Alltag deutscher Großmachtpolitik gemacht hatten. Überwunden sind schließlich auch die Unterdrückung des Themas Flucht und Vertreibung – wie in der DDR – oder seiner Marginalisierung – wie in der Bundesrepublik in Zeiten der Entspannungspolitik. Besonders linke und liberale Milieus versuchten damals aus dem öffentlichen Diskurs auszuklammern, was einer Annäherung mit den Nachbarn im Osten im Wege stand. Vertriebene und ihre Verbände gerieten oftmals an den gesellschaftlichen Rand in dieser Zeit. Ich kann verstehen, dass Flüchtlinge und Vertriebene Unwillen auf sich zogen, solange Verbandsvertreter mit territorialen Forderungen auftraten oder selbstgerecht nur das eigene Leid thema-

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Knapp 1000 Besucher verfolgten die Veranstaltung zum Tag der Heimat in Berlin.

tisierten – als Störenfriede in einem Europa, das nach dem Kalten Krieg die Annäherung brauchte und suchte. Ich kann aber auch die Klagen und den Groll vieler Flüchtlinge und Vertriebener verstehen, die sich mit ihrem Schicksal zeitweilig von der Gesellschaft allein gelassen sahen und kaum Verständnis erhoffen konnten. Ich verstehe das.

Heimatverlust war als Bestrafung akzeptiert Viele hier im Saal dürften es mit Bitterkeit erinnern: Heimatverlust wurde im Westdeutschland der 70er und 80er Jahre weitgehend als Kollektivbestrafung für die Verbrechen akzeptiert, die von Deutschen begangen worden waren. Selbst Söhne und Töchter von Vertriebenen wollten oft nichts hören von dem, was Vater und Mutter durchlebt hatten, wollten nichts wissen von dem Verstörenden, was sich manchmal auch hinter Schweigen verbergen konnte. „Heimat“, so erinnert sich die Journalistin Petra Reski, „war ein überwundenes Relikt aus der trüben Vergangenheit, und ich war froh, mit so etwas nicht geschlagen zu sein. [...] Was heult ihr denn jetzt, dachte ich, ihr seid doch selbst schuld, dass man euch vertrieben hat. Ich war der neue Mensch. Ich stand auf der Seite der Sieger.“ Und viele von Ihnen werden sich an Haltungen erinnern, die uns damals im eigenen Umfeld begegnet sind. Und die

jungen Menschen, die so sprachen, kamen sich sehr gut vor. So schrumpfte die Heimat von Flüchtlingen und Vertriebenen zu einem Sehnsuchtsort in der Phantasie, der belebt wurde zu fortgeschrittener Stunde auf Familienfeiern oder beim Lesen der Texte von Johannes Bobrowski, Günter Grass, Arno Surminski oder Siegfried Lenz. Der aber auch tief in der Seele vergraben sein konnte und sich manchmal nur in Träumen meldete. Den versöhnlichen Umgang mit Flucht und Vertreibung lernten wir Deutsche erst mit großem Abstand: Seitdem der Zweite Weltkrieg in unserem Bewusstsein angekommen ist als untrennbare Einheit von der Schuld, die die Deutschen auf sich geladen hatten, und dem Leid, das ihnen als Antwort darauf zugefügt wurde. Viele Vertriebene machten sogar die erleichternde Erfahrung: Gerade weil sie sich zur deutschen Schuld bekannten, konnten sie bei unseren Nachbarn auch Verständnis für deutsches Leid erwecken. Und viele Söhne und Töchter über die ich eben sprach erkannten: Die Empathie mit den Opfern der Deutschen – mit Juden, Russen, Polen – schließt die Empathie mit deutschen Opfern doch keineswegs aus. „Mit einem Mal schämte ich mich dafür, als Kind so hartherzig gewesen zu sein“, bekannte Petra Reski nach einem Besuch der ostpreußischen Heimat ihres Vaters. „Für meine Familie war es Heimat, für mich Ideologie. Für sie war es [...] der morgendliche Dunst über den


14 Feldern, [...] das Schwarz des Waldsees, ein Brombeergebüsch, der Geruch von Kartoffelfeuern. Für mich ein unentwirrbares Knäuel von bedrohlichen Begriffen wie Nationalsozialismus, Revanchismus und Revisionismus. Und die Ideologie verbot mir zu denken, dass die Flüchtlinge für den verlorenen Krieg einen höheren Preis hatten bezahlen müssen als andere Deutsche.“ Siegfried Lenz ließ seinen Protagonisten das masurische Heimatmuseum, das bei der Flucht nach Schleswig-Holstein gerettet worden war und das seinem Roman den Titel gab, „Heimatmuseum“, 1978 noch in Brand stecken. Er fürchtete, es könnte revanchistischen Mitgliedern eines Heimatverbandes in die Hände fallen. Heute hätte sich Lenz wahrscheinlich anders entschieden. Heute brauchen wir nicht mehr aus Angst vor Missbrauch zu vernichten, was uns doch kostbar ist. Die Erinnerung schmerzt vielleicht noch, aber der Blick zurück ist nicht mehr mit einer Hoffnung auf eine Rückkehr zu alten Zeiten verbunden. Die Vertriebenen dürfen, ja sie sollen sich erinnern, damit ihre Seelen Frieden finden. Die Gesellschaft darf, ja sie soll sich erinnern, um – gerade in der heutigen Zeit – Sensibilität gegenüber den Themen Flucht und Vertreibung auf der ganzen Welt zu schaffen und zu erhalten. Deshalb mein Zuruf an die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung: Widmen Sie sich diesen wichtigen Aufgaben engagiert und phantasievoll!

Das Erinnern gehört in das kollektive Gedächtnis der Nation Wir alle haben gelernt – die Vertriebenen, ihre Nachkommen und die ganze Gesellschaft. Wir haben gelernt in Folge der äußeren Veränderungen und des Drucks, uns diesen Veränderungen anzupassen. Die Identität, über die der „Tag der Heimat“ in diesem Jahr nachzudenken einlädt, hat sich keinesfalls als starres, unveränderbares, gar bestimmendes Schicksal erwiesen, sondern als Prägung, die auch von Wunsch und Willen des Einzelnen abhängig ist. Heute können Vertriebene, wenn sie das wünschen, eine Wiederannäherung an die Orte ihrer Kindheit und Jugend leben, wie sie lange illusorisch schien. Seit der Eiserne Vorhang fiel und die mittelosteuropäischen Staaten der Europäi-

Tag der Heimat schen Union beitraten, sind die Staatsgrenzen durchlässig. Nichts steht Begegnungen mit der alten Heimat und ihren neuen Bewohnern im Wege. Und ich bin sicher: Auch viele hier im Saal sind in ihre Geburtsorte gereist, womöglich gemeinsam mit Kindern und Kindeskindern. Und einige haben sich in der alten Heimat sogar einen zweiten Wohnsitz

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begonnen, den ehemaligen deutschen Osten, auf neue Weise wiederzuentdecken. Das, was stattfindet, ist mehr als eine einfache Freilegung dessen, was über Jahrzehnte in den Herkunftsländern verboten, verdrängt oder tabuisiert war – es ist eine Wiederaneignung in neuem historischen Kontext. Und sie erwächst nicht nur aus dem Interesse

Der Bundespräsident am Rednerpult.

geschaffen. All das ist heute möglich. Nun hoffe ich, dass diese vielfältigen Kontakte mit den Herkunftsländern den ehemaligen deutschen Kulturraum des Ostens auch wieder stärker in das Gedächtnis unserer Nation holen. Dass noch mehr Menschen entdecken, wie Architektur, Literatur, Philosophie, Musik, wie die gesamte Geschichte des Ostens nicht nur die östlichen Gebiete geprägt haben, sondern die ganze deutsche Nation. Erinnert sei hier nur an Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder, an Ferdinand Lassalle und Erich Mendelsohn, an Joseph von Eichendorff und Gustav Freytag, an Hermann Sudermann und Ernst Wiechert, an Werner Bergengruen, Georg Dehio und Marie von Ebner-Eschenbach. Lassen Sie mich also mein Anliegen so zusammenfassen. Das Erinnern, das Gedenken, das Bewahren der Traditionen darf nicht allein in den Verbänden aufgehoben sein. Geschichte und Kultur der ehemaligen deutschen Siedlungsgebiete gehören in das kollektive Gedächtnis der ganzen Nation. Zahlreiche Initiativen haben bereits

von Deutschen – manchmal sind die Menschen in unseren Nachbarländern sogar noch stärker motiviert. So werden Erinnerungen, die über Jahrzehnte konkurrierend nebeneinander oft auch gegeneinander standen, heute öfter miteinander verflochten und geteilt. Vielfach sind deutsche Geschichte und deutsche Geschichten bereits in Romane und Filme polnischer und tschechischer Autoren eingegangen. Auf das alte Danzig stoßen wir inzwischen nicht nur in der „Blechtrommel“ von Günter Grass, sondern auch in den Romanen von Stefan Chwin und Paweł Huelle. Und über die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei berichten nicht nur Betroffene wie die Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi, sondern auch junge tschechische Autoren wie Kateřina Tučková und Radka Denemarková. Ja, selbst schwierige Themen werden nicht mehr ausgeklammert. Der WenzelJaksch-Gedächtnispreis der SeligerGemeinde wurde in diesem Jahr an Petr Vokřál verliehen, den Oberbürgermeister von Brünn. Anlässlich des 70. JahresWagenzik (1)


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tages des „Brünner Todesmarsches“ hatte der Stadtrat ein „Jahr der Versöhnung“ ausgerufen und einen Gedenkmarsch organisiert, der in Gegenrichtung zum damaligen Vertreibungsweg in der Stadt Brünn endete: Damit sollen symbolisch die Deutschen in Brünn wieder begrüßt werden.

Bemühungen in Breslau Besonders bemerkenswert sind die vielfältigen Bemühungen zur Bewusstmachung deutscher Geschichte in Breslau, der schlesischen Metropole, die für dieses Jahr zur Kulturhauptstadt Europas ernannt wurde. Nach aufwendiger Renovierung hat sich die Synagoge „Zum Weißen Storch“ zu einem der schönsten kulturellen Zentren der Stadt entwickelt – gebaut wurde sie 1829 vom deutschen Architekten Ferdinand Langhans. Büsten anderer deutscher Breslauer, die sich um die Stadt verdient gemacht haben, stehen in der Eingangshalle des alten Rathauses neben prominenten polnischen Bürgern: von der Heiligen Hedwig über Adolph von Menzel bis zu Max Born und Edith Stein. Und die Universität ehrt in ihren Hallen die zehn Nobelpreisträger, die zu deutschen Zeiten in dieser Stadt geboren wurden. Im vergangenen Jahr hat sie, die Universität, zudem die Aberkennung der akademischen Titel für fast 260 deutsche Wissenschaftler – vor allem jüdischer Herkunft – aufgehoben, die von den Nationalsozialisten in der unglückseligen Zeit vollzogen worden waren. Mag das polnische Breslau auch kein Rechtsnachfolger des deutschen Breslau sein, so fühlt es sich doch zunehmend verantwortlich für das Erbe: Polnische Breslauer wollen nicht einfach die Gebäude bewohnen, sondern sich auch mit dem Geist auseinandersetzen, der in diesen Mauern herrschte. Im Guten wie im Bösen. Und so wollen wir denn loben, was an vielen Orten der Herkunftsländer in den vergangenen 25 Jahren geschah, ohne uns der Täuschung hinzugeben, diese Offenheit und Gemeinsamkeit und staatenübergreifende Sicht seien unumkehrbar. Vielmehr gilt es, weiterhin alles zu tun, damit die Gespenster der Vergangenheit keine Chance erhalten, Völker wieder gegeneinander aufzubringen. Über die Jahrzehnte hin haben wir die

Tag der Heimat Geschichte von Flucht und Vertreibung der Deutschen interpretiert im Rahmen unserer nationalen Geschichte, als Reaktion auf den Krieg, auf Gewaltherrschaft und Genozid, die vom nationalsozialistischen Deutschland ausgingen. Inzwischen haben wir etwas dazugelernt, wir haben gelernt, sie auch im Kontext einer internationalen Geschichte zu verstehen, die das 20. Jahrhundert zu einem Jahrhundert der Vertreibungen werden ließ. Zu einem Jahrhundert, in dem die Gewaltmigration geprägt war von völkischem Nationalismus und Rassismus und so viele Menschen ihre Heimat oder ihr Leben verloren wie niemals zuvor – aus ethnischen, rassistischen, religiösen oder politischen Gründen. In Europa, Asien, Afrika, im Nahen und Mittleren Osten. Nur unzureichend haben wir bisher wahrgenommen, dass Flucht und Vertreibung das 20. Jahrhundert nicht nur in Mitteleuropa, sondern weltweit so stark geprägt haben. Über vier Fünftel aller weltweit registrierten Flüchtlinge sind nämlich möglichst nahe der Heimat geblieben, in den Staaten des Globalen Südens, in Entwicklungs- und Schwellenländern. Deutschland aber war in den letzten Jahrzehnten, wenn wir von den Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien absehen, nur selten Ziel von wirklich großen Gruppen Schutzsuchender. Erst jetzt sind wir konfrontiert mit Hunderttausenden, die gewaltsame Auseinandersetzungen im Nahen Osten und in Afrika nach Europa und in unser Land treiben. Jetzt sind wir gefordert, jene Verpflichtung einzulösen, die die Bundesrepublik mit der Genfer Flüchtlingskonvention Mitte der 1950er Jahre übernommen hat, zu einer Zeit, in der niemand Fluchtbewegungen in der augenblicklichen Größe vorhergesehen hat und vorhersehen konnte. Und wir haben uns mit der schwierigen Frage auseinanderzusetzen, wie wir unserer rechtlichen und moralischen Verpflichtung zum Schutz von Verfolgten nachkommen können, ohne die Stabilität und Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu gefährden. Eines wissen wir: Die existentielle Erfahrung eines Heimatverlusts ist Flüchtlingen auf der ganzen Welt gemein – die tiefe Prägung durch eine häufig traumatische Flucht, die Trauer um das Verlorene, das Fremdsein im Ankunftsland, die Zerrissenheit zwischen dem

15 Nicht-Mehr-Dort- und Noch-Nicht-HierSein. „Es plagte mich die Sehnsucht nach Rückkehr“, gesteht Bahman Nirumand, der als politischer Flüchtling aus dem Iran Anfang der 1980er Jahre nach Deutschland kam. So wie die deutschen Vertriebenen von Schlesien, dem Sudetenland oder der Bukowina träumten, so träumen die Flüchtlinge unserer Tage vom Basar in Aleppo, dem Volkspark in Teheran oder dem Sindschar-Gebirge im Nordirak. Und würde man den Namen des Landes austauschen, könnte das, was der syrische Dokumentarfilmer Orwa Nyrabia anderthalb Jahre nach seiner Flucht bekannte, vor siebzig Jahren auch ein Vertriebener gesagt haben. Ich zitiere: „Die ständige Beschäftigung mit Syrien verhindert, dass ich ein neues Leben in Berlin suche. Man bleibt gefühlsmäßig fremd. Aber andererseits hilft es meinem inneren Gleichgewicht, weil ich spüre, dass ich nicht vollständig von meinen Wurzeln abgeschnitten bin.“

Eingliederung braucht Zeit Wir wissen aus der eigenen geschichtlichen Erfahrung: Es braucht Zeit, Flüchtlinge in eine Gesellschaft einzugliedern, und es braucht Zeit, Einheimische an eine sich verändernde Gesellschaft zu gewöhnen. Wir beginnen aber erst allmählich zu erfassen, wie langandauernd und wie kräftezehrend auf beiden Seiten der Prozess der Eingliederung ist, wenn Einheimische und Ankömmlinge gänzlich anderen und unterschiedlichen Kulturen angehören. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen ja Menschen, die dieselbe Sprache sprachen, denselben christlichen Konfessionen und derselben Kultur angehörten. Heute fällt Einheimischen wie Neuankömmlingen die sprachliche Verständigung sehr schwer, und jede Seite fremdelt mit den Mentalitäten, Religionen und Lebensstilen des jeweils anderen. Der iranische Autor Bahman Nirumand beispielsweise brauchte viele Jahre, sich geistig, kulturell, aber auch emotional der neuen Umwelt anzunähern. „In mir“ – bekannte er – „fand ein permanenter Kulturaustausch, ja ein regelrechter Kulturkampf statt.“ Im Unterschied zu den Vertriebenen von damals ist Deutschland für die


16 Flüchtlinge von heute auch nicht das Vaterland, sondern der fremde Staat, der sich in vielen Fällen nur als vorübergehender Schutzraum oder zeitweiliges Gastland erweisen wird. Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wird, müssen unser Land in der Regel wieder verlassen. Selbst für jene, die als politische oder Bürgerkriegsflüchtlinge anerkannt sind, existiert – anders als bei den Deutschen nach 1945 – oftmals tatsächlich eine Rückkehroption. Nicht verschwiegen werden soll an dieser Stelle auch, dass die augenblickliche Flüchtlingszuwanderung mit Risiken verbunden ist, die die Einwanderung vor siebzig Jahren so nicht kannte.

Tag der Heimat der deutschen Vertriebenen war keineswegs immer eine Erfolgsgeschichte. Das wissen Sie ja viel besser als ich. Allzu oft stießen sie auf Kälte und Ablehnung, obwohl sie Deutsche waren. Sie waren – wie der Schriftsteller Peter Härtling es aus eigener Erfahrung wusste – „Fremde, […] die behaupteten, Häuser und Höfe besessen zu haben, und nichts als dreckige Bündel und ihre Anmaßung mitbrachten. Fremde, die vorgaben, Deutsche zu sein, und sich in einer falschen Sprache ausdrückten, die man weit fortwünschte.“ Wie wir sehen braucht es wenig, um jemanden zum Fremden abzustempeln. Und es fällt leicht, sich seinem Leid dann

„Identität schützen – Menschenrechte achten“ – zu diesem Leitwort sprach Bundespräsident Joachim Gauck.

Kein Land, das Schutzbedürftige aufnimmt, kann völlig ausschließen, dass sich unter die Fliehenden auch Personen mischen, die dem Aufnahmeland Schaden zufügen wollen oder sich nach der Aufnahme radikalisieren. Das macht es heute für viele Menschen noch schwieriger als damals, wirklich Hilfsbedürftigen mit Offenheit und Empathie zu begegnen.

Integration nicht nur Erfolgsgeschichte Wir brauchen also einen langen Atem, damit jene, die bleiben wollen und dürfen, das Gefühl der Zugehörigkeit zu diesem Staat und der Loyalität ihm gegenüber entwickeln. Selbst die Integration

zu verschließen und stattdessen in eine Opferkonkurrenz einzutreten. Ältere hier im Saal dürften sich an die Bewohner bombardierter Großstädte erinnern, die ihr Leid damals gegen das der Flüchtlinge aufrechneten. Andere dürften aber auch von Vertriebenen gehört haben, die den Flüchtlingen von heute eine Unterstützung missgönnen, auf die sie selbst damals leider nicht hoffen konnten. Denen, die so fühlen und denken, möchte ich sagen: Wirkliche Empathie sieht allein das leidende Individuum, den leidenden Menschen. Deshalb ist mir auch jene Haltung im aktuellen Diskurs fragwürdig, die die Flüchtlinge von heute willkommen heißt, das Schicksal der Landsleute von damals aber ignoriert oder marginalisiert. Wir brauchen keinen Wettstreit darü-

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ber, wer mehr gelitten hat und wem mehr geholfen wurde. Flüchtlinge – wie Opfer überhaupt – müssen sich nicht gegenseitig verdrängen im Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit, sie können ihre Schicksale vielmehr miteinander verknüpfen.

Ein Drittel der Flüchtlingshelfer aus Vertriebenenfamilien Es hat mich beeindruckt, wie vertriebene Deutsche in den vergangenen Monaten gemeinsam mit Flüchtlingen aufgetreten sind, wie sie sich ausgetauscht und um gegenseitiges Verständnis geworben haben. Ein Drittel unter den ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern, so ergab es eine neue Untersuchung, kommt selbst aus einer Vertriebenenfamilie, prozentual also weit mehr, als ihrem Anteil in der Bevölkerung entspricht. Ihnen allen gilt mein ausdrücklicher Dank! Wer wüsste besser als die Vertriebenen, dass der beste und schnellste Weg zur Eingliederung über das gemeinsame Tun und das persönliche Miteinander erfolgt – in der Arbeitswelt, aber auch im Alltag. Wer wüsste besser als die Vertriebenen, dass schneller in neuer Umgebung ankommt, wer neben staatlicher Unterstützung auch gesellschaftliche Offenheit erfährt.

Deutschland als Ganzes wird sich verändern Viel Arbeit liegt vor uns. Flüchtlinge wie Mehrheitsgesellschaft werden sich verändern, Deutschland als Ganzes wird sich verändern. Und dennoch werden wir bleiben, wer wir sind, weil wir entschlossen sind, diesen Prozess zu gestalten: in dem Geist und auf die Art und Weise, die uns und unserem Land entsprechen. Wir werden festhalten an unseren Grundlagen der Demokratie und des Rechtes. Und wir werden geprägt bleiben vom humanen Geist und einer Haltung der Offenheit, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit gegenüber Verfolgten, Vertriebenen und Entrechteten. Das bleibt unser Markenzeichen. Das wollen wir, das werden wir nicht aufgeben. Wagenzik (2)


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Entschädigung moralische Wiedergutmachung BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius ieber Herr Bundespräsident, haben L sie vielen, vielen Dank für Ihre wegweisenden Worte. Sie haben den Erinne-

rungsschatten angesprochen, in dem sich unser Schicksal viel zu lange befand. Ich danke Ihnen von Herzen dafür, dass wir mit Ihnen einen Mitstreiter haben, mit dem wir gemeinsam Licht in diesen Schatten bringen können. Meine Damen und Herren, am 1. August hat das Bundesverwaltungsamt mit der Bearbeitung der Anträge zur Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter begonnen. Ich habe gerade gestern die Information bekommen, dass die ersten Gelder bei den Betroffenen angekommen sind. Darüber freue ich mich sehr! Und ich danke Ihnen allen, dass Sie sich – auf der jeweiligen Ebene der Gliederungen zusammen mit unseren politischen Partnern – für diese Entschädigung stark gemacht haben.

Zwangsarbeiter nie aus dem Blick verloren Als Verband haben wir das Schicksal dieser Menschen nie aus dem Blick verloren! Die Männer waren damals vielfach im Krieg, danach in Gefangenschaft. Deswegen wurden besonders viele Frauen, manchmal auch Kinder Opfer von Zwangsarbeit. Sie fanden danach bei unserem Frauenverband sensible Betreuung und die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen und so eigene Traumata aufzuarbeiten und vielleicht zu überwinden. Ich danke daher ausdrücklich dem Frauenverband im BdV für das Geleistete. Meine Damen und Herren, Ihr aller ehrenamtliches Wirken in den Landsmannschaften und Landesverbänden, in unseren Gliederungen bis hin zur Ortsverbänden hat zu diesem Erfolg geführt: Ohne Sie gäbe es diese Entschädigung heute nicht. Dankeschön!

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius MdB bei seiner Ansprache.

Ein Blick auf Zwangsarbeit und Lagerhaft, meine Damen und Herren, ist auch eines der vielfältigen Argumente für das diesjährige Leitwort: „Identität schützen – Menschenrechte achten“. Denn Zwangsarbeit und Lagerhaft sind Menschenrechtsverletzungen, weil sie die Würde und Identität der Betroffenen auf das Tiefste verletzen, ja sogar zerstören können. Unsere heute bereits von Ihnen, Herr Bundespräsident, angesprochene Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller hat genau dieser Identitätszerstörung weit über den konkreten Bezug der Zwangsarbeit hinaus in ihrem Buch „Atemschaukel“ mit einem beklemmendes Denkmal in unsere Erinnerung gebracht. Immer wieder ist dort etwa von der Zerstörung der Menschen durch Hunger in den Arbeitslagern die Rede. Das Hungertrauma prägt den Protagonisten des Romans bis in die Gegenwart. Zitat: „Ich muss dem Hunger heute noch zeigen, dass ich ihm entkommen bin. […] Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem

Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Verhungern.“ Für viele Zivilisten hatte allein ihre deutsche Identität eine Verfolgung ohne individuelle Schuld zur Folge, rein nach dem willkürlichen Prinzip einer Kollektivhaftung. Die Folgen davon sind bekannt: Vertreibung, Verachtung, Identitätsbruch – im schlimmsten Fall Verlust des Lebens. Dabei vergessen wir nicht den Holocaust, vergessen nicht die unsagbaren Verbrechen der Nationalsozialisten, vergessen nicht, wie viele Menschen auch von Nazi-Deutschland zur Arbeit gezwungen wurden.

Stalin-Erlass: Unheilsspruch über ganze Volksgruppe Ganz besonders gedenken wir in diesen Tagen des schweren Schicksals der Deutschen aus Russland. Der nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion verabschiedete Stalin-Erlass zur Deporta-


18 tion der Wolgadeutschen vom 28. August 1941 war ein furchtbarer Unheilsspruch über eine ganze Volksgruppe. Vor 75 Jahren wurden dadurch rund 85 Prozent der in der Sowjetunion ansässigen Deutschen entrechtet, enteignet und deportiert. Familien wurden auseinandergerissen. Der überwiegende Teil der Menschen musste in der sogenannten Trudarmee oder in den sowjetischen Gulags Zwangsarbeit leisten. Verbannung und Lagerhaft forderten unzählige Todesopfer. Liebe russlanddeutsche Landsleute, ich versichere Ihnen, dass der BdV an Ihrer Seite steht und Sie auch zukünftig bei der Durchsetzung ihrer berechtigten Anliegen unterstützt. „Identität schützen – Menschenrechte achten“ ist ein Leitwort, das uns sowohl heute als auch für die Zukunft als Wegweiser dienen kann. Es ist mit Bedacht und nah an der heutigen Realität gewählt worden. Wenn die Identität durch dramatische Lebensereignisse wie Flucht, Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit in Gefahr ist oder beschädigt wird, ist es umso wichtiger, dass Anknüpfungspunkte, zu denen man zurückkehren kann, als identitätsstiftende Merkmale erhalten bleiben. Die vielen unterschiedlichen Bräuche, die tief in den jeweiligen Heimatgebieten und Familien verwurzelt sind, entstammen in unseren Kreisen dem christlichen Glauben. Diese Bräuche und Traditionen sowie die eigenen Vorstellungen davon machen einen beträchtlichen Teil unserer Identität aus. Christliche Werte sind die Grundlage unserer kulturellen, europäischen Identität. Seit Beginn der Flüchtlingswelle ist das Interesse an der Arbeit des Bundes der Vertriebenen, des einzigen repräsentativen Verbandes der rund 15 Millionen vertriebenen Deutschen, gewachsen. Seit nunmehr 60 Jahren nehmen wir verlässlich unsere Aufgaben wahr: von der Erinnerungs- und Kulturarbeit über das verständigungspolitische Zusammenwirken bis hin zur haupt- und ehrenamtlichen Integrationsförderung. Der Bund der Vertriebenen betreibt in 10 Bundesländern 17 Beratungsstellen, die auch den Vertriebenen und Flüchtlingen von heute, jedem Menschen unabhängig von einer Mitgliedschaft im Verband, offen stehen. Dieser Einsatz ist aufgrund aktueller Herausforderungen auch dringend nötig.

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Denn Flüchtlinge und Vertriebene kennen unsere Art zu leben nicht. Sie kommen aus völlig anderen Kulturen. Weder sprechen noch verstehen sie die bei uns gesprochene Sprache. Das sind völlig andere Grundlagen einer Integration als etwa damals bei uns, vor 70 Jahren.

Empathie mit Opfern – Missbrauch bekämpfen Ich habe vor genau einem Jahr von dieser Stelle aus gefordert: Wir schulden Vertriebenen und Flüchtlingen von heute Empathie und Verständnis. Wir brauchen aber auch eine klare Differenzierung zwischen Schutzbedürftigen einerseits und solchen Menschen, die – zum Glück - nicht vertrieben werden und die nicht fliehen müssen, sondern sich selbst, aus meist wirtschaftlichen oder anderen privaten Gründen, für eine freiwillige Migration entscheiden, für die ich oft Verständnis habe. Diese Menschen haben weder Schutzbedürfnis noch haben sie einen Schutzanspruch. Von diesen fordere ich echte Solidarität mit den wirklich Verfolgten und das bedeutet, die Aufnahmewege für diese nicht für eine einfache Migration zu missbrauchen!

Keine Kompromisse bei unserem kulturellen Erbe Wesentlicher Baustein in einem vereinten Europa ist sein kulturelles Erbe. Da, wo es um unser kulturelles Erbe geht, machen wir keinerlei Kompromis-

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se. Es muss ganz klar sein, dass wir eine ehrliche und angemessene Erinnerungskultur benötigen, die sowohl das materielle als auch das immaterielle Erbe umfasst! Unser Kulturerbe – und Sie, Herr Bundespräsident haben es dankenswerterweise heute bestätigt – ist ein wesentlicher Teil der gesamtdeutschen, ja gesamteuropäischen Kultur, unser Schicksal ist Teil unserer kollektiven Biografie. Diese Tatsache in unsere Gesellschaft hinein zu reflektieren – sehr konkret und nicht verwässert –, bleibt unsere gemeinsame Aufgabe. Sie ist gesetzliche Verpflichtung für Bund und Länder gemäß § 96 BVFG. Die Verpflichtung gilt dem Erhalt und der Weiterentwicklung dieses Erbes. Sie steht nicht zur Disposition und darf sich auch nicht etwa in musealer Aufbewahrung erschöpfen! Die Weiterentwicklung bedarf der Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Verbände – eine zunehmende Projektförderung etwa kann sie allenfalls flankieren, aber keinesfalls aber nachhaltig zukunftssicher machen. Anfang 2016 hat Kulturstaatsministerin Professor Grütters eine Konzeption zur Weiterentwicklung und Förderung der Kulturleistungen der Vertriebenen vorgelegt. Das war ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung! Die Eckpunkte skizzieren eine partizipative Herangehensweise unter Einbeziehung der Heimatvertriebenen. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, für die ich ausdrücklich danke und die weitergeführt werden muss, etwa durch Förderung der Landsmannschaften und unserer eigenen Kulturstiftung der deutschen Heimatvertriebenen. Ich danke ausdrücklich auch den Ländern, die dieser Aufgabe ebenfalls gerecht werden. Beispielhaft und stellvertretend dem Freistaat Bayern, und ich bitte Sie, Frau Staatsministerin Müller, diesen Dank stellvertretend für alle Länder, die die Aufgaben erfüllen, an die bayerische Staatsregierung mitzunehmen. Ich appelliere in dieser Sache gleichzeitig nicht nur an die anderen Länder, sondern auch an uns selbst: Wir müssen auch selbst dafür Sorge tragen, dass das Erbe unserer Väter und Mütter einen festen, lebendigen Platz im kollektiven Gedächtnis behält. Ich bin deswegen sehr froh, dass wir mit der Bundesstiftung Flucht VertreiWagenzik (2)


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Tag der Heimat

bung Versöhnung und der Dauerausstellung im Deutschlandhaus nun auf einem guten Weg sind. Hier gilt es, den viel zu langsamen Baufortschritt voranzutreiben und dieses gesamtgesellschaftliche Projekt wirklich bald und ohne weiteren Verzug fertig zu stellen. Besonders am Herzen liegen mir die vielen Heimatstuben und Heimatsammlungen. Es ist bekannt, dass viele davon kurz- und mittelfristig in ihrer Existenz gefährdet sind, weil Kräfte und Mittel zunehmend fehlen. Auch diese besonderen Kleinode der Vergangenheit gilt es zu erhalten! Aus Zuschriften und Briefen, aus vielen persönlichen Gesprächen erfahre ich immer wieder auch Zweifel, ob Deutschland seiner historischen und – über das Bundesvertriebenengesetz sogar gesetzlichen – Verantwortung für die Pflege und Weiterentwicklung der Kultur der Heimatvertriebenen vollumfänglich gerecht wird? Auf Bundesebene ist hinsichtlich zur Verfügung gestellter Mittel ein ganz deutlicher Aufwärtstrend zu verzeichnen, für den ich der Bundesregierung und Staatsministerin Monika Grütters aufrichtig danke. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich bei den nächsten Tagen der Heimat von der gleichen Stelle den Dank an weit mehr Länder als etwa den Freistaat Bayern weitergeben könnte. Ich appelliere an diese Länder, ebenfalls ihren Beitrag zu leisten.

getragenes Sonderopfer. Ebenfalls erfreulich sind die Entwicklungen, die unsere Landsmannschaften in ihrem Verhältnis zu den meisten unserer östlichen Nachbarländer verzeichnen können. Lassen Sie mich mit den Positivbeispielen beginnen: Erstmalig in diesem Jahr hat ein offizieller Vertreter der tschechischen Regierung am Sudetendeutschen Tag in Nürnberg teilgenommen: der tschechische Kulturminister Daniel Herman. Er bekannte, dass dieser Besuch längst überfällig gewesen sei und nutzte auch die Gelegenheit, endlich von offizieller

Zwangsarbeiterentschädigung moralische Wiedergutmachung

Seite eine Abkehr vom lange vorherrschenden Dogma der Kollektivschuld zu erklären. Geradezu historisch in der Tragweite ist seine Aussage, wonach er sich „(…) als Politiker den Worten des Bedauerns anschließen [möchte], die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahre 1990 vom damaligen Präsidenten Václav Havel ausgesprochen wurden.“ Havel sagte damals nämlich, dass die Vertreibung der Deutschen aus den böhmischen Ländern eine unmoralische Tat gewesen sei, die nicht durch das Verlangen nach Gerechtigkeit, sondern durch den Drang nach Rache geleitet gewesen sei. Am 19. Januar 2016 hat Ungarn auf dem „Alten Friedhof“ in Wudersch bei Budapest erneut mit einer Gedenkveranstaltung an das Schicksal seiner deutschstämmigen Bürger erinnert, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entweder verschleppt oder aus dem Land vertrieben wurden. Der Ministerpräsi-

Zu den leidvollen Kapiteln unserer Geschichte, meine Damen und Herren, gehören neben Flucht, Vertreibung, Verlust der Heimat und Millionen von Todesopfern auch die bereits angesprochene Deportation und Zwangsarbeit. Die vom Bundestag beschlossene Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter erfüllt die langjährige Forderung des BdV, endlich auch dieser Opfergruppe Anerkennung zu zollen. Der Bund der Vertriebenen wird den Vollzug der Entschädigung eng mitbegleiten. Die Entschädigung kommt jetzt, 70 Jahre nach Kriegsende, tatsächlich zwar sehr spät. Trotzdem ist es ein Akt hoher Symbolkraft. Die Betroffenen, von denen leider nur noch wenige leben, erfahren damit endlich eine moralische Wiedergutmachung und Anerkennung für ihr

19 dent Ungarns Viktor Orbán selbst hielt in diesem Jahr die Festrede und machte damit deutlich, dass Ungarn den Schutz von Identität sowie die Ächtung von Vertreibungen und ethnischen Säuberungen hoch hält und diesen Aspekten einen hohen Stellenwert einräumt. Auch die Beziehungen zu Rumänien sind mehr als nur gut. Aus Bukarest und aus der rumänischen Gesellschaft hören wir Bedauern über die Aussiedlung der dort seit Jahrhunderten ansässigen deutschen Bevölkerungsanteile. Zum ersten Mal in der Geschichte trat mit Dacian

Gespannt hörten die Teilnehmer BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius zu.

Cioloş ein amtierender Ministerpräsident Rumäniens als Festredner vor die gut 20.000 Gäste des Heimattages der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl, um gleich im Anschluss auch noch am Heimattag in Ulm die Banater Schwaben mit einem Besuch zu ehren. Was das deutsche Kulturerbe in Rumänien angeht, bekräftigte der Ministerpräsident vor versammelter Gemeinschaft, dass sich der rumänische Staat zu diesem deutschen Kulturerbe bekenne und dessen Pflege gemeinsam mit den Siebenbürger Sachsen, den Banater und Sathmarer Schwaben und den anderen Deutschen Rumäniens mit neuem Leben füllen wolle. Die Entwicklung in Polen verfolgen wir weiterhin aufmerksam. Wir bedauern, dass der Dialog zwischen den Vertriebenen und der höchsten politischen Ebene so überaus schwer in Gang kommt. Die Ursachen dafür sind – hüben wie drüben – vielfältig. Um nur ein symptomatisches Beispiel zu nen-


20 nen: Es ist für mich bedauerlich, dass der Deutsche Bundestag 25 Jahre nach der Unterzeichnung des Nachbarschaftsvertrages mit Polen nicht in der Lage war, eine über Parteigrenzen hinweg mehrheitsfähige Entschließung zu diesem in Einzelfragen zwar auch verbesserungsfähigen und im Ergebnis Europa doch sehr fördernden Verständigungswerk zu verabschieden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass interessierte Kreise an längst überholten Feindbildern festhalten – das zu Lasten einer redlichen, beidseitigen Versöhnungsarbeit, die von den Heimatvertriebenen und Spätaussiedlern längst praktiziert, gelebt und vor Ort anerkannt wird!

„Charta der Flüchtlinge“ Diskussionspunkt war ausgerechnet unsere Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950, ein Dokument der Versöhnung, in dem sich die deutschen Heimatvertriebenen der Schaffung eines geeinten Europa und gemeinsamen Werten verpflichteten! Diese Charta ist auch ein sehr frühes Manifest der Aufbau- und

Tag der Heimat Integrationsbereitschaft, unterzeichnet von den Heimatvertriebenen und ihren Verbänden. Ich denke, dass es um den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland besser bestellt wäre, gäbe es ein ähnliches eigenes Bekenntnis der Zuwanderer und Flüchtlinge heutiger Tage, die aus fremden Kulturkreisen zu uns gekommen sind und zu uns kommen und die hier bleiben wollen – eine „Charta der Flüchtlinge und Zuwanderer“ mit eindeutigen Bekenntnissen zum deutschen Rechtsstaat, seiner demokratischen Grundordnung und unserer Wertegemeinschaft. Vielleicht auch dem Wunsch nach Rückkehr und zum Aufbau der eigenen Heimat. Lassen Sie mich zum Ausklang meiner Ansprache eines betonen: Nur wer sich der Wahrheit verpflichtet fühlt, ist glaubwürdig und wird als Gesprächspartner ernst genommen. Das gilt im Übrigen sowohl für den Einzelnen als auch für die Gruppe, es gilt für Verbände und souveräne Staaten. Es gilt etwa bei der Benennung eines Völkermords genauso wie bei der Benennung von Vertreibungsunrecht, in Ostpreußen, im Sudetenland, in Russland oder sonst wo.

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Wir Heimatvertriebene und Spätaussiedler wollen an uns selbst auch weiterhin den Anspruch stellen, gute Gesprächspartner und Vermittler zwischen Deutschland und unseren östlichen Nachbarländern zu bleiben. Wir müssen vorleben, was es heißt, gute und überzeugte Europäer zu sein. Denn ein Rückfall in rein nationale Denkmuster der Vergangenheit schadet letztlich Europa. Nehmen wir zur Kenntnis: Die europäische Osterweiterung hat uns Heimatvertriebenen gleichsam unsere Heimat zurückgegeben, wir leben alle in einem friedlichen und freien gemeinsamen Haus. Zum Schluss sage ich Ihnen allen, die Sie heute hier sind, im Namen des Bundes der Vertriebenen ein herzliches Dankeschön für Ihr Engagement und Ihre Arbeit. Sie alle, wir alle treten für das, was uns verbindet, mit viel Kraft und mit Herzblut ein. Wir tun dies, weil es uns nicht gleichgültig ist, was aus unserem kulturellen Erbe und aus unserer Gemeinschaft wird. Wir tun es auch, weil wir unsere Heimat, die alte und die neue, im Herzen tragen und in die Zukunft mitnehmen wollen. Danke schön!

BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius MdB verabschiedet Bundespräsident Joachim Gauck und Daniela Schadt vor der Urania. Wagenzik (3)


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Tag der Heimat

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„Wir setzen unsere Hoffnung auf die Jugend“ Rüdiger Jakesch begrüßt zur Kranzniederlegung ls Vorsitzender des Berliner LandesA verbandes der Vertriebenen darf ich Sie zur Kranzniederlegung zum 66. Tag der Heimat im Namen des Bundes der Vertriebenen herzlich begrüßen. Wir haben uns heute an diesem Mahnmal zusammengefunden, nicht um anzuklagen oder um gegenseitige Schuld aufzurechnen. Sich des Vergangenen zu erinnern, erfordert von jedem von uns die Bereitschaft, aus der eigenen Geschichte zu lernen und die eigene Zukunft zu gestalten. Die Erinnerung nicht zu verdrängen, sondern sie ernst zu nehmen – dies erst schafft den Grundstock für Versöhnung.

Moralische Glaubwürdigkeit aus der Charta Die deutschen Heimatvertriebenen haben aus ihrer leidvoll erfahrenen

Der Bürgermeister und Senator für Inneres und Sport des Landes Berlin, Frank Henkel, fand eindringliche Worte während der Kranzniederlegung um Theodor-HeussPlatz.

Geschichte gelernt. Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950 ist ein bewegendes Zeugnis des Versöhnungswillens, der Rechtsverbundenheit, der Heimatliebe und des Europagedankens. Aus ihr schöpfen die Heimatvertriebenen ihre moralische Glaubwürdigkeit. Sie ist kein Schlusspunkt, sondern der Anfang einer Friedensbotschaft, deren Kraft zur Überwindung der nationalen und europäischen Grenzen beigetragen hat. Gestützt auf dieses „Grundgesetz der Versöhnung“ haben die Heimatvertriebenen nach dem Krieg beim wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wiederaufbau unseres Landes Vorbildliches und Bleibendes geleistet.

Vertriebene als Mittler und Fürsprecher Gerade die Vertriebenen sind dazu berufen, als Mittler und Fürsprecher Brücken zwischen uns und unseren Nachbarn zu bauen. Die Landsmannschaften pflegen seit Jahrzehnten enge Kontakte zu den Menschen in der Heimat, zu Gemeinden, Vereinen und Organisationen vielfältigster Art. Gegenseitige Besuche, Teilnahme an Veranstaltungen hier wie dort sind das Kernstück der grenzüberschreitenden Kulturarbeit. Diese Heimatliebe hat nichts mit Revanchismus zu tun. Unser Ziel ist es, dass Heimatliebe überall in Europa nie mehr in Revanchismus umschlägt. Wir setzen unsere Hoffnungen auf die Jugend, auf den Jugendaustausch, die Begegnung von Studenten, das Sich kennen lernen von jungen Menschen bei allen nur möglichen Gelegenheiten. In diesem Bereich muss in immer stärker werdendem Maße unser Engagement einsetzen, hier müssen neue Projekte greifen. Die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, die es sich zur Aufga-

Der Vorsitzende des Berliner Landesverbandes der Vertriebenen, Rüdiger Jakesch, begrüßt die Teilnehmer der Kranzniederlegung.

be gemacht, einen Überblick über Flucht, Vertreibung und die Integration von 15 Millionen Vertriebenen in Deutschland zu geben, die Geschichte und das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen aufzuarbeiten und der Vertreibung anderer Völker im zwanzigsten Jahrhundert Raum zu geben, ist weiterhin auf einem guten Weg, wenn auch leider etwas holprig. Wir hoffen und gehen davon aus, dass die Bauarbeiten nunmehr im neuen zeitlichen Rahmen abgeschlossen werden und der Bau im übernächsten Jahr fertig gestellt ist.

Bundesstiftung ist in die Zukunft gerichtet Auch wenn im Deutschlandhaus viele Schrecken der Vergangenheit und viele Mühen der Integration von Vertriebenen und Flüchtlinge dokumentiert werden, so ist dieses Haus doch in die Zukunft gerichtet. Es wird einen Beitrag leisten, um an das Unrecht der Vertreibung zu erinnern und Vertreibung als gewalttäti-


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Zahlreiche Teilnehmer des Tages der Heimat folgten in diesem Jahr der Einladung des Bundes der Vertriebenen, im Anschluss an die Veranstaltung in der Urania am Theodor-Heuss-Platz auch an der Kranzniederlegung teilzunehmen.

ges und völkerrechtswidriges Mittel der Politik zu ächten. Die Einrichtung eines „Nationalen Gedenktages“ zum Zeichen der Verbundenheit mit den deutschen Heimatvertriebenen und in Anerkennung ihres Beitrages zum Aufbau Deutschlands und zum friedlichen Miteinander in Europa ist zu einem guten Ende gekommen.

Zweiter deutscher Vertriebenengedenktag In diesem Jahr ist am 20. Juni zum zweiten Mal der von der Bundesregierung eingerichtete nationale Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung begangen worden. Während die Bundesregierung das Gedenken auf den 20. Juni legt, haben die Bayerische Staatsregierung und die Hessische Landesregierung vor einiger Zeit beschlossen, den zweiten Sonntag im September als Gedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation einzuführen! Ein gemeinsames Gedenken an einem gemeinsamen Gedenktag wäre der Sache dienlicher gewesen. Allein der Ort dieses Gedenkens sagt einiges aus über die Bedeutung, die man

der Leidensgeschichte von etwa 15 Millionen Deutschen einräumt: Nicht der Plenarsaal des Deutschen Bundestages, sondern der Innenhof des Deutschen Historischen Museums war auch in diesem Jahr dafür wieder bereit gestellt worden. Vor einem Jahr gestand der Bundespräsident nicht „ohne eine gewisse Scham“, warum er, warum „Einheimische“ so bereitwillig verdrängten, dass die Vertriebenen „so unendlich mehr bezahlt hatten für den gewaltsamen, grausamen Krieg als wir. Warum wir, die

wir die Heimat behalten hatten, aufzurechnen begannen und eigene Bombardierungen und Tote anführten, um uns gegen die Trauer der Anderen zu immunisieren. Mit politischen Thesen blockierten wir uns die mögliche Empathie.“ Von diesem Bekenntnis des Bundespräsidenten nahm der überwiegende Teil der deutschen Presse keinerlei Notiz Die Teilnehmer dieser Gedenkstunde bekunden ihre Achtung vor allen Opfern von Krieg, Vertreibung und Gewalt, die im Glauben und der Hoffnung auf Freiheit, Recht und Frieden ihr Leben hingaben.

Innensenator Frank Henkel und BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius im Gespräch. Wagenzik (2); Bien (1)


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Politik

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Sächsischer Gedenktag für Opfer von Flucht und Vertreibung Veranstaltung erinnert an das Schicksal der Russlanddeutschen Seit dem Jahr 2014 gibt es in Sachsen einen Gedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung, der immer am zweiten Sonntag im September begangen wird. Die diesjährige zentrale Gedenkveranstaltung fand am 11. September 2016 im Sächsischen Landtag in Dresden statt und erinnerte besonders an das schwere Los der Russlanddeutschen. ingeleitet wurde die Veranstaltung E mit einer Grußansprache des CDULandtagsabgeordneten Frank Hirche,

der Vorsitzender des Landesverbandes der Vertriebenen und Spätaussiedler im Freistaat Sachsen/Schlesische Lausitz (LVS) ist. Er sagte, dass vor 75 Jahren mit dem Dekret des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 die deutsche Volksgruppe in der UdSSR kollektiv der Kollaboration für schuldig befunden worden sei, womit ihr Leidensweg begonnen habe. Darauf solle besonders hingewiesen werden – auch weil der Verband eine enge Zusammenarbeit zwischen Heimatvertriebenen und Spätaussiedlern pflege. Im Hinblick auf aktuelle gesellschaftliche Spannungen sagte Hirche, „andere Meinungen als die eigene von vornherein als falsch anzusehen und solche Meinungsträger pauschal in eine politische Ecke zu stellen“, beschädige „unser politisches System und die Bereitschaft, mitzuwirken und es zu verteidigen”. Der Schirmherr der Veranstaltung, Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler (CDU), sagte, der diesjährige Gedenktag falle „auf den 11. September, an dem vor 15 Jahren die Terroranschläge in den USA verübt worden sind, die etwa 3.000 Menschen das Leben gekostet haben“. Die Doppelung der Termine gebe die Gelegenheit, auch dieser Opfer zu gedenken und sich bewusst zu machen,

Referenten und Ehrengäste der Gedenkveranstaltung im Sächsischen Landtag (v.l.n.r.): Friedrich Zempel (Vorsitzender des Vereins Erinnerung und Begegnung), Dr. Karol Górski (Germanist), Dr. Jens Baumann (Sächsisches Staatsministerium des Innern), Klaus Brähmig (CDU-Bundestagsabgeordneter), Eleonora Hummel (Schriftstellerin), Dr. Matthias Rößler (Präsident des Sächsischen Landtags (CDU), Frank Hirche (CDU-Landtagsabgeordneter und Vorsitzender des Landesverbandes der Vertriebenen und Spätaussiedler im Freistaat Sachsen/Schlesische Lausitz), Gerald Otto (CDU-Landtagsabgeordneter) und Staatsminister Dr. Fritz Jaeckel (Chef der Sächsischen Staatskanzlei (CDU).

„dass zu Krieg und Verfolgung im 21. Jahrhundert der internationale Terrorismus als Fluchtursache vor allem aus dem Nahen und mittleren Osten sowie Teilen des afrikanischen Kontinents hinzugekommen ist“.

Jeder vierte Sachse mit dem Thema Flucht verbunden Der Landtagspräsident wies darauf hin, dass über eine Million Flüchtlinge und Vertriebene in Sachsen geblieben seien. Jeder vierte Einwohner von Sachsen sei „familiär mit dem Thema Flucht und Vertreibung verbunden“. Die Heimatvertriebenen seien „für das Land ein Gewinn“ gewesen – und ebenso die

Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, die seit 1990 aufgenommen worden sind. Heute würden Russen, Kasachen und andere es beklagen, dass die Deutschen weggegangen sind. Besondere Aufmerksamkeit fand eine Rede des polnischen Germanisten Dr. Karol Górski, der an der Hochschule für Logistik in Posen lehrt. Er sagte, er spreche „nicht nur als polnischer, neutraler und objektiver Wissenschaftler“, sondern auch als Vertreter einer Familie, „deren Schicksal mit dem geschichtlichen Gefüge der Deutschen in den letzten Jahrhunderten untrennbar verflochten war“. Seine Großväter seien „als Untertanen des preußischen Staates im Ersten Weltkrieg zwangsweise eingezogen“ worden


24 und hätten mit ins Feld gemusst. Ein Großneffe sei als Matrose der Kriegsmarine auf der SMS „Schlesien“ während der Skagerrakschlacht 1916 gefallen, ein anderer Großneffe als Soldat des preußischen Heeres im Ersten Weltkrieg von den Russen gefangengenommen und nach Sibirien verschleppt worden und gelte seitdem als verschollen. Sein Vater habe als Zwangsarbeiter im Januar 1945 Schwarzmeerdeutsche über die Oder bringen müssen und habe 1946 erlebt, wie deutsche Vertriebene am Bahnübergang Küstrin-Kietz misshandelt worden sind. Górski erklärte, sowohl Deutsche als auch Polen hätten in der Vergangenheit „Unrecht in Form von Verschleppung, Vertreibung und Zwangsumsiedlung“ erlitten. Besonders dramatisch seien die Verschleppungen und Deportationen von Polen in die asiatischen Sowjetrepubliken und nach Sibirien gewesen, zu denen es gekommen sei, nachdem sowjetische Truppen am 17. September 1939 in die damaligen Ostgebiete Polens einmarschiert waren. Bis zum Juni 1941 seien 1,5 Millionen polnische Menschen in sowjetische Arbeitslager verschleppt worden, wovon „eine sehr große Zahl“ ums Leben gekommen sei. Fast zur gleichen Zeit, vom November 1939 bis zum März 1941, seien von den Nazis über 280.000 Polen aus dem besetzten Warthegau zwangsweise ausgesiedelt, enteignet und ins Generalgouvernement deportiert worden.

Deutsche und Polen als Schicksalsgefährten Górski sagte, nach dem Krieg seien die Polen aus den ehemals polnischen, nun der Sowjetunion zugefallenen Gebieten an StelIe der geflüchteten, vertriebenen und zwangsumgesiedelten deutschen Bevölkerung östlich der Oder und Neiße angesiedelt worden. Deutsche und Polen seien „als Opfer der europäischen Neuordnung nach dem Zweiten Weltkriege Schicksalsgefährten“ gewesen. Klaus Brähmig, der Vorsitzende der Gruppe der Vertriebenen, Aussiedler und deutschen Minderheiten der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion wies in einem Grußwort darauf hin, dass der 20. Juni seit 2015 als nationaler Gedenktag zur Erinnerung an die Opfer von Flucht und Vertreibung begangen werde. Neben

Politik

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Auftritt des Kinder- und Jugendensembles des Deutsch-Russischen Zentrums Leipzig im Sächsischen Landtag.

dem symbolischen Gedenken sei es in diesem Jahr gelungen, ein wichtiges politisches Projekt umzusetzen: die Entschädigung ziviler deutscher Zwangsarbeiter. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages habe dafür im November 2015 insgesamt 50 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Seit dem 1. August 2016 sei eine Richtlinie in Kraft, in der das Entschädigungsverfahren geregelt werde.

Weder Kollektivschuld noch stellvertretendes Leiden Der Chef der Sächsischen Staatskanzlei, Staatsminister Dr. Fritz Jaeckel (CDU), betonte in einer Gedenkrede, dass „die Flüchtlinge, die vor den anrückenden sowjetischen Truppen flohen und die nach Kriegsende aus ihrer Heimat Vertriebenen und Zwangsausgesiedelten“ großes Unrecht erlitten hätten. Es gebe „weder eine Kollektivschuld, noch ein stellvertretendes Leiden, was ein Teil eines Volkes für den anderen zu übernehmen hat“. Jaeckel erinnerte auch an die deportierten Wolgadeutschen und die Menschen, die nach Kriegsende in der Sowjetischen Besatzungszone jahrelang in sowjetischen Speziallagern festgehalten worden sind – in der Regel ohne individuelle Schuldprüfung und ohne Urteil. Bei dem Gedenktag gehe es „in erster Linie um die historischen Ereignisse bei

Kriegsende und in der unmittelbaren Nachkriegszeit“. Die Erinnerung daran könne aber auch dazu beitragen, „dass das Verständnis und die Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge und Vertriebene heute wächst beziehungsweise erhalten bleibt“. Musikalisch umrahmt wurden die Redebeiträge durch den Chor „Silberklang“, der zur Dresdner Gruppe der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland gehört, und den Chor „Lied der Heimat“ der BdV-Gruppe Leipzig sowie das Kinder- und Jugendensemble des Deutsch-Russischen-Zentrums Leipzig.

Lesung von Eleonora Hummel Zum Abschluss der Veranstaltung las die Schriftstellerin Eleonora Hummel aus ihren Werken. Die aus dem kasachischen Zelinograd (heute Astana) stammende Autorin, die seit 1982 in Deutschland lebt, wurde vor allem durch Romane bekannt, in denen sie sich mit der Geschichte der Russlanddeutschen auseinandergesetzt hat. Die von ihr vorgetragenen Texte führten die Zuhörer in eine Zeit, die von Hunger, Elend und Verzweiflung geprägt war – die dunkle Zeit vor 75 Jahren, in welcher der Leidensweg der Russlanddeutschen begonnen hat. Peter Bien Bien (1); BMI (1)


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Politik

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„Nach so langer Zeit wird unser Schicksal gewürdigt “ Elisabeth Till berichtet über ihr Schicksal als deutsche Zwangsarbeiterin Im November 2015 hat der Deutsche Bundestag beschlossen, das persönliche Schicksal derjenigen Deutschen, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg wegen ihrer deutschen Staatsangehörigkeit oder ihrer deutschen Volkszugehörigkeit Zwangsarbeit leisten mussten, mit einer einmaligen, symbolischen Anerkennungsleistung in Höhe von 2.500 Euro zu würdigen. Unter der koordinierenden Leitung des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Hartmut Koschyk MdB, und mit Beteiligung des Bundes der Vertriebenen und Fachhistorikern wurde im Bundesministerium des Innern eine entsprechende Richtlinie ausgearbeitet, die nach Zustimmung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages zum 1. August 2016 in Kraft trat. it der Umsetzung der Richtlinie M wurde das Bundesverwaltungsamt beauftragt. Bis jetzt sind dort rund 3.000

Anträge eingegangen und 5.000 Telefonanrufe wurden entgegengenommen. Die ersten Leistungsbescheide für die Anerkennungsleistung sind bereits ergangen. Stellvertretend für diese bedeutende Opfergruppe hat Bundesbeauftragter Koschyk die 92-jährige, im siebenbürgischen Mühlbach (rumänisch: Sebeș) geborene und im Banat aufgewachsene Elisabeth Till ins Bundesministerium des Innern zur persönlichen Übergabe des Bescheides über die Anerkennungsleistung eingeladen. Sie wurde von ihrem Sohn begleitet. Im Kreise von Bundesbeauftragtem Koschyk, dem Bundestagsabgeordneten und Präsidenten des Bundes der Vertriebenen Dr. Bernd Fabritius, der wie Elisabeth Till im rumänischen Sie-

Gruppenaufnahme im Bundesministerium des Innern, v.l.n.r.: Rainer Hoffstedde (BVA), Maria Dierkes (BVA), BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius MdB, Johann Till, Elisabeth Till, Bundesbeauftragter Hartmut Koschyk MdB, Vorsitzender der Gruppe Vertriebene, Aussiedler und deutsche Minderheiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Klaus Brähmig MdB, Dr. Sebastian Klappert (BMI), Tina Tawackolian (BMI) und der zuständige Abteilungsleiter im BMI, Dr. Jörg Bentmann.

benbürgen geboren wurde, dem Vorsitzenden der Gruppe Vertriebene, Aussiedler und deutsche Minderheiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Klaus Brähmig sowie Mitarbeitern des Bundesministeriums des Innern und des Bundesverwaltungsamtes berichtete sie über ihre Lebensgeschichte und insbesondere über ihr Zwangsarbeiterschicksal. Elisabeth Till ist die Tochter eines siebenbürgischen Vaters und einer Mutter aus dem Banat. Sie wuchs in Kleinjetscha (Iecea Mică) und in Temeswar (Timișoara) im rumänischen Banat auf. Am 15. Januar 1945, nach der Besetzung Rumäniens durch die sowjetische Armee, wurde sie im Alter von 20 Jahren ohne Vorankündigung in Gewahrsam genommen und in den Ort Hatzfeld (Jimbolia) verbracht, wo sie gemeinsam mit anderen Banater Schwaben mehrere

Tage in einem stehenden Güterwagon eingesperrt war. Im Februar 1945 erreichte dieser Zug das sowjetukrainische Dnjepropetrowsk (heute: Dnipro). Zunächst war sie in einfachsten Baracken mit dreistöckigen Pritschen untergebracht, ohne sanitäre Einrichtungen und mit völlig unzureichender Verpflegung; in den vier Jahren der Deportation bekam sie kein einziges Mal ein Stück Fleisch zu essen. Infolge Hunger, Kälte und mangelnder medizinischer Versorgung musste Elisabeth Till viele ihrer Landsleute sterben sehen; die Gesamtzahl der Todesopfer schätzen Historiker auf etwa 9.000 der insgesamt 70.000 bis 80.000 Deportierten. Jeden Morgen musste Elisabeth Till zu Fuß, bei jedem Wetter und stets streng bewacht, in ein Ausbesserungswerk der Eisenbahn laufen, wo sie für Bauarbeiten


26 auf dem Werksgelände eingesetzt wurde. In besonderer Erinnerung ist ihr geblieben, dass die Deportierten von den Wachmannschaften immer wieder zum Singen angehalten wurden, auch wenn gleichzeitig viele vor Entkräftung zusammenbrachen. Ende 1946 wurde Elisabeth Till in ein anderes Lager verlegt, wo die Bedingungen besser waren. Der Kontakt zur Familie war weitestgehend unterbunden, erst im zweiten Jahr ihrer Deportation durfte sie über das Rote Kreuz eine Postkarte mit der knappen Auskunft „Mir geht es gut“ nach Hause schicken. Von den vielen Briefen, die ihr ihre Mutter schrieb, hat sie keinen einzigen erhalten. Elisabeth Till berichtete auch von dem Zusammenhalt unter den deportierten Deutschen; das gemeinsame Begehen von kirchlichen Festen wie Weihnachten und Ostern, aber auch gemeinschaftliches Singen und Tanzen gaben vielen die Kraft zum Überleben. Ein Unfall in einer Baugrube, als ein herabstürzendes Brett Elisabeth Till drei Rippen brach, rettete ihr das Leben. Zehn Minuten, nachdem sie aus der Grube herausgeholt worden war, stürzte

Elisabeth Till mit zwei Zwangsarbeiterinnen in Hatzfeld.

die Baugrube ein und begrub drei deutsche Zwangsarbeiterinnen, die dieses Unglück nicht überlebten. Die schwerverletzte Elisabeth Till wurde – nach vier Jahren Zwangsarbeit – in ihre Banater Heimat entlassen. Zunächst gelang es ihr, im siebenbürgischen Kronstadt

Politik

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Elisabeth Till im Gespräch mit Bundesbeauftragtem Koschyk.

(Brașov) ein Architekturstudium aufzunehmen, aber nach einem Jahr wurde sie von den kommunistischen Machthabern relegiert, weil ihr Vater vor dem Krieg in Mühlbach das Hotel „Zum goldenen Löwen“ (Leul de Aur) besessen hatte. Sie arbeitete anschließend als Buchhalterin in Temeswar. 1976 siedelte sie mit ihrer Familie in die Bundesrepublik Deutschland aus. Bis 1988 fuhr sie mit ihrem Ehemann regelmäßig in ihre Heimat. Heute leben keine Verwandten mehr in Rumänien, im Dorf Kleinjetscha gibt es heute überhaupt keine Deutschen mehr. Elisabeth Till lebt heute in Berlin und führt mit 92 Jahren noch ihren eigenen Haushalt. Ihr Sohn, Johann Till, hatte 1976 gerade sein rumänisches Abitur absolviert. In Deutschland erwarb er durch ein Ergänzungsjahr bei der Otto-Benecke-Stiftung im niederrheinischen Geilenkirchen die deutsche Hochschulreife und studierte Architektur. Sichtlich bewegt bedankte sich Bundesbeauftragter Koschyk im Namen von allen Anwesenden bei Elisabeth Till für ihren eindrucksvollen Vortrag. Es sei noch einmal deutlich geworden, wie richtig und wie wichtig die Entscheidung des Deutschen Bundestages für die Gewährung der Anerkennungsleistung für zivile deutsche Zwangsarbeiter gewesen ist. Der Leiter der Projektgruppe „Anerkennungsleistung deutsche Zwangsarbeiter“ im Bundesverwaltungsamt, Rainer Hoffstedde, überreichte Elisabeth Till ihren Leistungsbescheid. Elisabeth Till unterstrich auch die emotio-

nale und moralische Bedeutung der symbolischen finanziellen Anerkennungsleistung: „Nach so langer Zeit wird unser Schicksal gewürdigt!“ Hartmut Koschyk betonte, dass die entscheidende Initiative für die Anerkennungsleistung für deutsche Zwangsarbeiter aus dem Parlament kam. Er würdigte hier besonders den Einsatz der beiden zuständigen Haushaltsberichtserstatter der Koalitionsfraktionen, Martin Gerster MdB und Dr. Reinhard Brandl MdB, sowie der innenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion, Stephan Mayer MdB und Burkhard Lischka MdB. Besondere Anerkennung gebühre auch der Fachebene des Bundesministeriums des Innern mit Abteilungsleiter Dr. Jörg Bentmann und Referatsleiter Dr. Manfred Michl, die innerhalb kurzer Frist die vom Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages verlangte Richtlinie in enger Abstimmung mit dem Parlament und dem Bund der Vertriebenen ausgearbeitet hat. Koschyk dankte zum Schluss Rainer Hoffstedde und seiner Stellvertreterin Maria Dierkes stellvertretend für alle Mitarbeiter des Bundesverwaltungsamt für die bisherige Arbeit. Er habe den festen Eindruck gewonnen, dass die Mitarbeiter bei der Bearbeitung sehr engagiert seien und sehr professionell arbeiteten. In Kürze werde auch ein besonderer Beirat aus Bundestagsabgeordneten, Historikern und Vertretern des Bundes der Vertriebenen gebildet, der über komplexe Sachverhalte bei der Antragsprüfung beraten soll. BMI (1); Privat (1); Rudolf Urban (1)


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Politik

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Helmut Sauer mit Monika Grütters in Breslau „Erleben nicht durch Bücherwissen zu ersetzen“ Ende August 2016 besuchte die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsministerin Prof. Monika Grütters MdB, die diesjährige Europäische Kulturhauptstadt Breslau und informierte sich dort über das reiche und vielschichtige geschichtliche und kulturelle Erbe der Stadt. Zu den Gesprächen und Begegnungen hatte sie auch den Bundesvorsitzenden der Ost- und Mitteldeutschen Vereinigung der CDU/CSU (OMV) – Union der Vertriebenen und Flüchtlinge, Helmut Sauer (Salzgitter), als Begleitung eingeladen. rütters schaute sich in Breslau u.a. G die Dominsel mit ihren Baudenkmälern, die Synagoge zum Weißen Storch

und die im Vier-Kuppel-Pavillon an der Jahrhunderthalle gastierende Ausstellung des Hamburger Bahnhofs in Berlin „Summer Rental. Sammlung Dr. Erich Marx“ an. Außerdem verschaffte sich die Kulturstaatsministerin einen persönlichen Eindruck von diversen Projekten im Bereich Architektur und Denkmalschutz, die in den letzten Jahren mit finanzieller Unterstützung ihres Hauses restauriert wurden. Nach einem kulturhistorischen Stadtrundgang betonte Grütters: „Breslau ist eine blühende kulturelle und dynamische Metropole im Herzen Mitteleuropas. Die Stadt war Schmelztiegel der Völker und Kulturen. Auch die schlimmen und schmerzlichen Zeiten unserer gemeinsamen Vergangenheit haben hier ihre Spuren hinterlassen. Es ist beglückend zu sehen, dass Breslau immer mehr zum Zentrum deutsch-polnischen Miteinanders in Europa wird. Die wunderbare Idee der Kulturhauptstadt Europas steht beispielhaft für die Fähigkeit der Kultur, tragfähige Brücken der Verständigung zu bauen, gerade dann, wenn Politik und Diplomatie es

Nach dem Gespräch mit Vertretern der deutschen Volksgruppe (v.l.n.r.): Abgeordneter Ryszard Galla, Marcin Lippa, Waldemar Gielzok, Zuzanna Donath-Kaziura, Lucjan Dzumla, Helmut Sauer, Rafał Bartek, Renate Zajaczkowska, Staatsministerin Prof. Monika Grütters MdB, Bernard Gaida, Andreas Grapatin, Generalkonsulin Elisabeth Wolbers, Dirk Lölke und Jesko von Samson-Himmelstjerna.

auch einmal schwer haben. Solche Brücken braucht Europa heute mehr denn je.“ Auch ein Treffen mit Vertretern der deutschen Volksgruppe in Schlesien stand auf dem Programm. Außer einem persönlichen Kennlernen ging es dabei um Möglichkeiten einer verstärkten Zusammenarbeit und Förderung. Es nahmen u.a. der Vorsitzende des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen, Bernard Gaida, die Vorsitzende der Deutschen SozialKulturellen Gesellschaft (SKGD) in Breslau, Renate Zajaczkowska, der Vorsitzende der SKGD im Oppelner Schlesien, Rafał Bartek, der Vorsitzende der SKGD in der Woiwodschaft Schlesien, Marcin Lippa, sowie der Abgeordnete der deutschen Minderheit im Warschauer Parlament, Ryszard Galla, am Gespräch teil. Der OMV-Bundesvorsitzende Helmut Sauer nutzte die Gelegenheit, um auf die

bereits seit Jahrzehnten bestehende, gute Zusammenarbeit zwischen der OMV und den Deutschen Freundschaftskreisen in Polen hinzuweisen. Sauer, der auch Landesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien im Patenland Niedersachsen ist und noch Heiligabend 1945 im niederschlesischen Quickendorf geboren wurde, kommentierte später: „Ich freue mich über das große Interesse an der Geschichte und Kultur Breslaus und Schlesiens, mit dem Kulturstaatsministerin Grütters in die Metropole Niederschlesiens gekommen ist. Die Begegnung mit dem dortigen, lebendigen deutschen Kulturerbe, mit den in der Heimat verbliebenen Deutschen und mit dem positiven Umgang der Bevölkerung mit der Geschichte ist nicht durch Bücherwissen zu ersetzen. Es war mir eine Ehre, der Kulturstaatsministerin diesen Teil meiner Heimat etwas näher bringen zu dürfen.“ (PM)


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Kultur

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Barockes Kleinod am Salzmarkt Das geschichtsträchtige Breslauer Oppenheim-Haus wird restauriert Das Haus Nummer 4 am Breslauer Salzmarkt, der zwischen 1824 und 1945 Blücherplatz hieß, ist ein besonderer Ort. Während die benachbarten Patrizierund Geschäftshäuser während der letzten Monate des Zweiten Weltkrieges zu Ruinen wurden, blieb das fünfstöckige, lindgrün gestrichene Gebäude mit seiner prachtvollen, reich verzierten Barockfassade wie durch ein Wunder nahezu unversehrt. Unter dem Namen Oppenheim-Haus spiegelt das architektonische Kleinod die bewegte, speziell deutsch-jüdische Vergangenheit der Stadt. OP ENHEIM steht in schwarzen Großbuchstaben auf einer Metall-Barriere auf dem Gehsteig. Dahinter ist eine Baustelle. Das lange Zeit baulich vernachlässigte Haus wird zurzeit aufwändig restauriert. Auftraggeberin ist die in Berlin und Breslau lebende ImmobilienUnternehmerin Viola Wojnowski. Als sie das Haus 2013 erwarb, hatte sie sich in den Kopf gesetzt, es zu einer Erinnerungs- und Begegnungsstätte zu machen. Einem dauerhaften Ort mit Ausstellungsund Seminarräumen für künstlerische Projekte und geistigen Austausch. Viola Wojnowski gründete eine Stiftung mit dem Namen OP ENHEIM, holte sich fachlichen Rat von deutschen Denkmalsschützern und beauftragte ein ortsansässiges Architekturbüro und einen Berliner Kooperationspartner. Der Name des geschichtsträchtigen Hauses geht auf seine Eigentümer im 19. Jahrhundert zurück. Um 1790 war der junge jüdische Kaufmann Heymann Oppenheim aus Oberschlesien nach Breslau gezogen. Durch Heirat und gute Beziehungen seines Schwiegervaters erhielt er die Genehmigung, sich in der Oder-Stadt niederzulassen und ein

Gewerbe zu betreiben. Als Banker war er so geschäftstüchtig, dass er 1810 das Barock-Gebäude am Salzmarkt erwerben und zum Familien-und Firmensitz des Bankhauses Oppenheim ausbauen konnte. Der blieb es bis zur dritten Generation. Wie viele andere erfolgreiche Breslauer zog es den Gründer-Enkel Ferdinand in die preußische Hauptstadt Berlin. 1860 übersiedelte er mit seiner Ehefrau, einer Baronin von Cohn, an die Spree. Nach seinem Tod im Jahr 1880 überschrieb die Witwe, seinem Wunsch entsprechend, das Haus am Salzmarkt, ergänzt durch eine großzügige finanzielle Schenkung, der Breslauer Jüdischen Gemeinde. Die Mieteinnahmen flossen gemäß einer Verfügung des früheren Besitzers in eine Stiftung zur Armenpflege und zur Förderung jüdischer Wohlfahrtsverbände.

Jüdische und nichtjüdische Deutsche im Oppenheim-Haus Fortan wohnten im Oppenheim-Haus jüdische und nichtjüdische Deutsche neben einander. Die Fluktuation war erheblich. Die Berliner Historikerin Lisa Höhenleitner, hat über die Geschichte einer Mieter-Familie in einem Buchbeitrag über das Oppenheim-Haus berichtet. 1894 eröffnete der Jude Ludwig Herz ein Schuhgeschäft, das sich wegen seiner Qualitäts-Erzeugnisse weit über Breslau hinaus einen Namen machte. Mit dem Slogan „Schuhe mit Herz“ versandte er seine Ware an Kunden im europäischen und überseeischen Ausland. Herz bediente sich auch ungewöhnlicher Werbemethoden. Um Kunden ins Geschäft zu locken, postierte er zum Beispiel vor dem Laden einen dunkelhäutigen Schuhputzer. Seit dem Machtantritt des Nationalsozialisten 1933 mussten die jüdischen Bewohner

des Hauses nach und nach ausziehen. Walter, der Sohn von Ludwig Herz, gelang es im Sommer 1939, mit seiner Familie nach Chile zu emigrieren. Von Walter Herz´ Tochter Steffi, die 1938 in Breslau geboren wurde und jetzt in Argentinien lebt, hat die Autorin Höhenleitner Familienunterlagen erhalten. Darunter einen Brief von Steffis Großmutter Olga, den sie am 15. März 1940 an ihre Enkelin nach Chile geschickt hat. Es war das letzte Lebenszeichen. Olga Herz ist 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt gestorben. 1941 wurde das Haus am Blücherplatz 4 von den Nazis enteignet. Die noch dort wohnenden jüdischen Bewohner gehörten zu den Ersten, die von den Nazis in Richtung Osten deportiert wurden. Mindestens vier von ihnen wurden mit den ersten Transporten aus Breslau verschleppt und in Kaunas sowie im Lubliner Gebiet ermordet. Ein jüdischer Bewohner beging Selbstmord, weil er die Diskriminierung nicht mehr ertrug. „Die jüdische Geschichte des Oppenheim – Hauses,“ schreibt Lisa Höhenleitner, „endete – anders als die Geschichte der Deutschen in Breslau – nicht erst 1945, sondern schon früher.“ Als nach dem Zweiten Weltkrieg Breslau polnisch wurde, geriet das Oppenheim-Haus mit seiner jüdischen Geschichte in Vergessenheit. Alles, was an die deutsche Vergangenheit erinnerte, wurde unter der kommunistischen Herrschaft aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt. Auch polnische Juden, die in KZ-Lagern überlebt hatten, sich in Breslau ansiedelten und dort eine neue jüdische Gemeinde gründeten, wurden von den Regierenden nicht gerade freundlich behandelt. Das Oppenheim-Haus wurde ihnen nicht zurückgegeben. Von der zunächst versprochenen kulturellen Autonomie war bald keine Rede mehr. Die polnischen Juden sollten – wie Gregor Thum in seinem Buch „Die fremde Stadt“ BMI (1)


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schreibt, „entweder mit staatlicher Förderung das Land verlassen oder sich mit der Assimilation an die polnische Mehrheitsbevölkerung abfinden.“ Viele von ihnen kehrten unter dem Eindruck eines latenten Antisemitismus und einer feindseligen Politik der Zentralregierung in Warschau in den 60-er Jahren der Volksrepublik Polen den Rücken. Heute hat sich sie Situation grundlegend geändert. Es gibt eine kleine, aktive jüdische Gemeinde, die medial präsent ist. Die restaurierte und neu geweihte Synagoge „Zum weißen Storch“, von Carl Ferdinand Langhans 1827-29 im klassizistischen Stil erbaut, bildet den Mittelpunkt ihres religiösen und kulturellen Lebens. Und der in der kommunistischen Ära verwilderte jüdische Friedhof an der Lohestraße ist als Museum der Friedhofskunst ein viel besuchter Erinnerungsort. Das Stadtmuseum hat eine Publikation herausgegeben, in der Handelshäuser und Unternehmen aufgeführt sind, die im Besitz jüdischer Eigentümer waren. Darunter das Warenhaus Wertheim, das Warenhaus Barasch, der Musikverlag Julius Hainauer sowie das Uhren & Juweliergeschäft Rosenthal.

2017 soll die Renovierung abgeschlossen sein In einem Interview hat Viola Wojnowski erzählt, wie sie zur Eigentümerin des Oppenheim-Hauses geworden ist. „Ich wollte auch einmal ein schönes Haus besitzen“, sagte sie. Ihr Hauptjob ist es, Einkaufszentren zu planen und zu bauen, die – wie sie einräumt – „in der Regel nicht besonders schön sind.“ Das Barockhaus sei dazu ein Gegenpol, ein Gebäude, „das niemand so richtig haben wollte.“ Dabei hatte sie das Gefühl, „dass es mich anschreit: Rette mich. Also habe ich mich spontan dazu entschieden, es bei einer Versteigerung zu erstehen.“ Nach der Kalkulation der Renovierungskosten dämpfte sich zwar ihre Euphorie. Aber nach wie vor ist sie davon überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. 2017 sollen die Renovierungsarbeiten abgeschlossen sein. Zur Eröffnung des Begegnungszentrums will auch Steffi Herz aus Buenos Aires in ihre Geburtsstadt Breslau kommen. Peter Pragal

Kultur

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Prominente Besetzung bei der Gedenkveranstaltung (v.l.n.r.): Heinrich Zertik MdB, Bundesminister des Innern, Dr.Thomas de Maizière MdB und Bundesbeauftrgater Hartmut Koschyk MdB.

75 Jahre Stalin-Erlass zur Deportation der Wolgadeutschen Berlin. (dod) Anlässlich des 75. Jahrestages des Stalin-Erlasses zur Deportation der Wolgadeutschen hatte die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (LmDR) am 28. August 2016 zu einem eindrucksvollen, zweiteiligen Gedenkprogramm nach Berlin eingeladen. Erster Programmpunkt war eine festliche Gedenkveranstaltung in der Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung mit dem Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière MdB, als Hauptredner. Dieser erinnerte daran, dass die Wolgadeutschen und in der Folge nahezu sämtliche Russlanddeutsche wahrheitswidrig der Kollaboration mit dem Deutschen Reich bezichtigt und dann nach Sibirien und Zentralasien vertrieben worden seien. „Wir rufen uns heute die Familien ins Gedächtnis, die ihre Heimat verloren haben, wir denken heute an die vielen Opfer, die die Strapazen der Verbannung nicht überlebten“, so der Minister. Die Deportation und ihre Opfer, aber auch das weitere Schicksal der Russlanddeutschen während des Kalten Krieges seien eine Mahnung bis in die heutige Zeit. Daher gehörten soziale Unterstützung und Sprachförderung der Deutschen aus Russland „zur gesellschaftlichen und historischen Verantwortung der Bundesregierung.“ Der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Hartmut Koschyk MdB,

wies in seiner Ansprache darauf hin, dass die besondere Wertschätzung der Deutschen aus Russland seitens der Bundesregierung beispielsweise in der Weiterentwicklung der Konzeption zur Bewahrung der Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes zum Ausdruck komme. Waldemar Eisenbraun, LmDR-Bundesvorsitzender, erklärte in seinem Grußwort, die Russlanddeutschen wünschten sich mehr gesellschaftliche Wertschätzung, größere Einbindung in politische Gremien sowie ein schärferes Bewusstsein dafür, dass die Geschichte der Deutschen aus Russland zur Geschichte aller Deutschen gehöre. Zweiter Programmpunkt war eine feierliche Kranzniederlegung auf dem Parkfriedhof Berlin-Marzahn am Denkmal für die russlanddeutschen Opfer des Stalinismus. Hier dankte der Bürgermeister und Senator für Inneres und Sport des Landes Berlin, Frank Henkel, der Landsmannschaft auch für deren erinnerungspolitischen Einsatz. Wie so häufig trügen die Betroffenen selbst maßgeblich dazu bei, das Andenken an das erlittene Schicksal wachzuhalten. Die Schirmherrschaft über die Gedenkveranstaltung hatte der russlanddeutsche Bundestagsabgeordnete Heinrich Zertik übernommen. MPH


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Schlesischer Dichter in Thüringen und Hessen Ausstellung zu Gustav Freytags 200. Geburtstag Der 200. Geburtstag des aus Kreuzburg in Oberschlesien stammenden Schriftstellers Gustav Freytag (1816-1895) am 13. Juli ist im wiedervereinigten Deutschland kaum wahrgenommen worden. So trägt die Ausstellung im Spiegelsaal der Forschungsbibliothek im Gothaer Schloss Friedenstein denn auch den kaum zu widerlegenden Titel „Verehrt und vergessen“. ustav Freytag, ein mit seinen mehrG bändigen Romanen „Soll und Haben“ (1855) und „Die Ahnen“

(1872/80) bis in die Weimarer Republik vielgelesener und hochgerühmter Autor, ist heute so gründlich vergessen, dass Ausgaben seiner Werke nur noch antiquarisch greifbar sind. In Thüringen gibt es zwischen Mühlburg und Wachsenburg den Gustav-Freytag-Weg, in BerlinReinickendorf die Gustav-Freytag-Oberschule und in Gotha-Siebleben das Gustav-Freytag-Gymnasium. Sollte das alles sein, was noch an ihn erinnert? In Westdeutschland wäre es fast zu einer Renaissance des Schriftstellers gekommen: So erschienen 1977 der Roman „Soll und Haben“ bei Carl Hanser in München mit einem klugen Nachwort des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer (Taschenbuchausgabe 1978) und 1979 eine dreibändige Auswahl der „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ (1152 Seiten) bei Albrecht Knaus in Hamburg, vorgenommen durch den Würzburger Historiker Heinrich Pleticha. Es gibt noch weitere Bezugspunkte des vergessenen Oberschlesiers ins verkleinerte Nachkriegsdeutschland, beispielsweise das 1951 gegründete „Gustav-Freytag-Museum“ mit angeschlossenem Archiv in Wangen/Allgäu, das die Eheleute Margret und Karl Fleischer 1945 aus Kreuzburg gerettet und in

Wangen wiederaufgebaut haben. Hier lagern noch rund 1000 Briefe an seine drei Verleger Salomon (1804-1877), Heinrich (1836-1894) und Georg Hirzel (1867-1924), die ihm nicht nur Geschäftspartner, sondern auch Freunde waren, denen er sich anvertrauen konnte. Eine dreibändige Auswahl dieser „Briefe an die Verlegerfamilie Hirzel“ ist in Berlin 1994, 1995 und 2003 erschienen. Im Dorf Siebleben bei Gotha, das 1922 in die Kreisstadt eingemeindet wurde, hatte sich Gustav Freytag, ein an der Breslauer Friedrich-Wilhelms-Universität 1839 habilitierter Literaturwissenschaftler, zusätzlich zu seinem 1847 erworbenen Haus in Leipzig, 1851 ein Landhaus gekauft, wo er die Prosawerke, die ihn berühmt machen sollten, schrieb. Im Gartenpavillon des „GustavFreytag-Parks“ gibt es seit 2009 eine Gedenkstätte, in der Nähe liegen das einstige Wohnhaus des Dichters und auf dem Friedhof an der Kirche St. Helena die Grabstätte. Im hessischen Wiesbaden hatte Gustav Freytag seit 1876, neben denen in Leipzig (bis 1880) und in Siebleben bei Gotha, einen dritten Wohnsitz. Wiesbaden war seit 1806 Hauptstadt des Herzogtums Nassau, das im Deutschen Krieg 1866 mit dem Kaiserreich Österreich-Ungarn verbündet gewesen und deshalb vom Königreich Preußen annektiert worden war. Hier in der Kurstadt Wiesbaden wohnte der Autor, dessen erste Frau Emilie am 18. Oktober 1875 in seinem Sommerwohnsitz Siebleben verstorben war, mit seiner früheren Haushälterin Marie Kunigunde Dietrich (1846-1896), mit der er die Söhne Waldemar (1876-1961) und Willibald (1877-1884) gezeugt hatte. Für diese inoffizielle Familie, von der niemand erfahren durfte, mietete er eine kleine Wohnung in der Biebricher Allee. Am 22. Februar 1879 heiratete er Marie Dietrich in zweiter Ehe, allerdings

erkrankte seine Frau wenige Jahre später und wurde 1884 in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Drei Jahre zuvor, 1881, hatte er im Hainerweg (heute: GustavFreytag-Straße) ein Haus gekauft. Im Herbst 1883 bekam Gustav Freytag in seinem Wiesbadener Haus Besuch vom aus Ungarn stammenden Schauspieler und Rezitator Alexander Strakosch (1848-1909) und seiner Ehefrau Anna (1852-1911). Sie wollten ihm Grüße des ehemaligen Burgtheaterdirektors Heinrich Laube (1806-1884) überbringen, der aus Sprottau in Niederschlesien stammte. Anna Strakosch, die Jüdin war, begann 1884 einen Briefwechsel mit Gustav Freytag, besuchte ihn 1806 für zwei Monate in Wiesbaden und fuhr mit ihm 1887 für vier Monate nach Wien, wo ihre Eltern lebten, sie wurde so seine Vertraute und schließlich seine Geliebte. Nach ihrer Scheidung von Alexander Strakosch und seiner Scheidung 1890 von Marie, die in geistiger Umnachtung in einer psychiatrischen Anstalt lebte, heiratete er Anna am 10. März 1891. Sie brachte drei Kinder mit in die Ehe mit einem Mann, der 36 Jahre älter war: Mika-Maria (1875-1959), Hermance (1878-1956) und Hans (1882-1918). Die beiden Töchter wurden als Jüdinnen 1933 Opfer des aggressiven Antisemitismus der NS-Machthaber: Hermance war etwas geschützter dadurch, dass sie mit dem nichtjüdischen Sänger Gustav Matzner verheiratet war; Mika-Maria wurde 1943 ins Konzentrationslager Theresienstadt in Böhmen, der Vorstufe zum Vernichtungslager Auschwitz, verschleppt und 1945 von amerikanischen Truppen befreit. Sie kehrte nach Siebleben in Thüringen zurück, wo sie 1959 hochbetagt starb. Das alles kann man ausführlich nachlesen in der neuen Biografie von Bernt Ture von zur Mühlen „Gustav Freytag“ (Göttingen 2016). Jörg Bernhard Bilke Gierlich (1)


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Bauten als Spiegel der Fürstenmacht Internationale Fachtagung zu den Residenzbauten Ostmitteleuropas Seit vielen Jahren sind die spätmittelalterlichen Residenzbauten Europas Gegenstand intensiver Forschung, besonders solcher der Architekturhistoriker, und damit vor allem von Untersuchungen ihrer Bauform. Gleichwohl bleiben dabei viele Aspekte der Bauten unbestimmt, gilt es in mancher Hinsicht, das wahre Gesicht der königlichen und fürstlichen Residenzen noch zu entdecken. Diese sprechen uns an als Zentren intensiver, bunter Lebensformen, reguliert durch strenge Etikette. Ihre Raumgestalt kann als wesentlicher Rahmen der höfischen Kultur des Spätmittelalters gesehen werden, als Ort der Repräsentation, gleichsam als „Spiegel der Fürstenmacht“, der hoheitlichen Ambitionen ihrer icht zuletzt gilt dies für die ResidenN zen des östlichen Europa, also etwa der dortigen königlichen Palastanlagen

sowie der Burgen weltlicher und geistlicher Fürsten, viele von ihnen in den historischen deutschen Ost- und Siedlungsgebieten gelegen. Neue Erkenntnisse zu der Entwicklung und Funktion dieser Bauten vorzustellen sowie das Beziehungsgeflecht der Residenzen untereinander und mit anderen Machtzentren in Europa aufzuzeigen, war Intention der internationalen Fachtagung, welche die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn, gemeinsam mit dem Deutsch-Polnischen Forschungsinstitut am Collegium Polonicum (Słubice/ Frankfurt a.d. Oder Ost) sowie dem Museum für Ermland und Masuren (Allenstein/Olsztyn) in der Bischofsburg zu Heilsberg (Lidzbark Warminski) Anfang September durchführte. Die erst jüngst wohlrestaurierte Heilsberger Burg, bis heute Sitz des Bischofs von Ermland, bot den perfekten Rahmen für

Die Bischofsburg in Heilsberg.

die Zusammenkunft, kann sie doch selbst als vielleicht besterhaltenes Exemplar einer spätmittelalterlichen geistlichen Fürstenresidenz des Raumes gelten. Das Symposium fungierte als Begleitveranstaltung zu der zeitgleich an diesem Ort in ihrer polnischsprachigen Fassung präsentierten, neuen Perspektiven der Forschung zur Backsteinarchitektur im Ostseeraum gewidmeten Ausstellung der Kulturstiftung. In der Tat ergänzten einander Ausstellung und Tagung in ihrer Thematik aufs Trefflichste, handelt es sich bei der Heilsberger Burg doch um eine auch in der Ausstellung thematisierte Backsteinanlage. Auf dem Programm stand daher nicht zuletzt die Burg selbst. Die erwähnte Restaurierung der Anlage hatte es ermöglicht, die mittelalterlichen Gemälde an den Wänden des doppelgeschossigen Kreuzgangs der Anlage freizulegen und zu untersuchen, hierbei nur in Resten

Erkennbares digital zu rekonstruieren. Über den so wiedergewonnenen, in seiner Art einmaligen Gemäldezyklus aus dem späten 14. und 15. Jahrhundert mit christologischer und mariologischer Thematik informierte sein Restaurator Ryszard Żankowski aus Thorn/Toruń. Gleichzeitige bauhistorische Untersuchungen hatten vertiefte Erkenntnisse zur Chronologie der gesamten Anlage, zu deren funktionellen und formalen Umwandlungen erbracht, die Dr. Wojciech Wółkowski (Warschau/Warszawa) den Tagungsteilnehmern präsentierte. Dass er hierbei manch bislang als gesichert geltende Auffassung in Frage stellte, war, wie dies einem wissenschaftlichen Symposium angemessen ist, im Anschluss Gegenstand einer fruchtbaren fachlichen Diskussion. Der Wawel, die Residenz der polnischen Könige zu Krakau, war Thema zweier weiterer Beiträge, von Dr. Tomasz Ratajczak (Posen/Poznań und


32 von Prof. Dr. Tomasz Torbus (Danzig/ Gdańsk-Breslau/Wrocław). Wie der Wawel entwickelte sich auch die Residenz des böhmi-schen Königs und römisch-deutschen Kaisers Karls IV. auf der Prager Burg, was im Referat von Architekt Petr Chotěbor (Prag/Praha) deutlich wurde, von bescheidenen Anfängen zu einer repräsentativen, weltliche und sakrale Aspekte der Königsherrschaft repräsentierenden Anlage. Weitere Residenzen Karls IV. hierfür stellte Dr. Richard Němec (Bern) vor und machte dabei die diesen innewohnende Strategie der Sichtbarmachung königlicher bzw. fürstlicher Macht deutlich. Es führte dies zu der Diskussion darüber, was überhaupt unter dem – erst in der Neuzeit geprägten – Begriff der „Residenz“ zu verstehen sei, ob es hierbei mehr auf die tatsächlich ausgeübten landesherrlichen Funktionen oder auf die architektonische Vergegenwärtigung des Herrschers auch bei dessen Abwesenheit ankomme – eine Frage, die sich in gleicher Weise bei den im Anschluss von Dr. István Feld (Budapest) mit zahlreichen Beispielen vorgeführten Residenzen des Königreiches Ungarn, ebenfalls des 14. Jahrhunderts, stellte. Hilfreich war in diesem Zusammenhang, dass Prof. Dr. Gottfried Kerscher (Trier) den Blick auf die wohl prominenteste spätmittelalterliche Herrscherresidenz Westeuropas lenkte, den Papstpalast von Avignon. Die dortige Erfindung des Appartements, also einer dem höfischen Zeremoniell korrespondierenden Raumfolge, hat die weitere europäische Palastarchitektur in wesentlich geprägt. Das Appartement konnte bald als Kennzeichen des herrscherlichen Status seines Bewohners gelten. Auf die Marienburg, den Sitz des Hochmeisters des Deutschen Ordens an der Nogat, der in hinsichtlich Größe und architektonischem Rang dem Papstpalast vergleichbar ist, bezogen sich die beiden letzten Referate der Tagung. Prof. Dr. Christofer Herrmann ergründete anhand von baulichen Befunden und schriftlicher Überlieferung die funktionale Struktur des dortigen Hochmeisterpalastes. Dr. Kazimierz Poszpieszny wies auf Beziehungen von der Architektur dieses und anderer Teile der Marienburg zur westeuropäischen Palastarchitektur hin, etwa auf die Schlosskirche als ein der Sainte-Chapelle in Paris vergleichbares Gehäuse für einen exzeptionellen, das

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Organisatoren der Fachtagung (v.l.n.r.): Dr. Kazimierz Pospieszny (Frankfurt/Oder), Małgorzata Jackiewicz-Garniec (Heilsberg), Dr. Ernst Gierlich (Bonn), Prof. Dr. Christofer Herrmann (Allenstein).

Selbstverständnis ihrer Erbauer versinnbildlichenden Reliquienschatz. Den Abschluss der Tagung bildete eine Exkursion nach Allenstein/Olsztyn mit Besuch der dortigen Ordensburg. Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen organisiert seit 1990 in Deutschland und in Polen Fachtagungen, auf denen Kunsthistoriker und Bauforscher aus diesen und weiteren Ländern ihre Forschungsergebnisse vorstellen. Es gilt, auf diese Weise verstärkt ins

Bewusstsein zu heben, dass es sich bei dem östlichen Mitteleuropa um eine reiche und vielgestaltige, über lange Jahrhunderte in gegenseitigen Nehmen und Geben der hier lebenden Menschen gewachsene und große Gemeinsamkeiten aufweisende Kulturlandschaft handelt, eine Landschaft, die erst durch die willkürlichen nationalen Grenzen der Neuzeit zerschnitten wurde, Grenzen, die es im europäischen Geist zu überwinden gilt. Ernst Gierlich

Ausstellung: Flucht vor der Reformation in Stuttgart Stuttgart. (dod) Ende Oktober eröffnete das Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg in Stuttgart eine Ausstellung anlässlich des Reformationsjubiläums. Bis sich die neue Glaubenslehre endgültig etablierte, tobten heftige Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern unterschiedlicher theologischer Richtungen. Anpassung, Märtyrertod oder Emigration – vor dieser Wahl standen Gläubige, deren Vorstellungen nicht mit der jeweils anerkannten Lehre konform gingen. Die Ausstellung Flucht vor der Reformation konzentriert sich auf diese drei Beispiele für Wanderungsbewegungen zwischen Südwestdeutschland und dem

östlichen Europa. Sie präsentiert Mandate und Verordnungen, die zeigen, wie die Herzöge Christoph und Ulrich versuchten, das Glaubensleben in Württemberg zu vereinheitlichen. Sie lässt die Besucher an einer Hörspiel-Station zu Zeugen der Verurteilung des Täufers Michael Sattler werden, und sie macht die strapaziöse Reise der Pietisten gen Osten per Touchscreen nachvollziehbar. Sie lädt dazu ein, sich mit dem FremdSein, auch in heutiger Zeit, zu beschäftigen. Die Ausstellung wird bis zum 8.6.2017 im Haus der Heimat des Landes BadenWürttemberg, Schlossstraße 92, 70176 Stuttgart gezeigt. Der Eintritt ist frei. Gierlich (1); Fischer (1)


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Kulturstiftung Westpreußen in der Öffentlichkeit Das Kulturgut aus dem Land an der unteren Weichsel steht im Fokus der Forscher Am Tag der Stiftungen (1. Oktober) luden zahlreiche Einrichtungen in ganz Deutschland die Öffentlichkeit ein, Näheres über ihre gemeinnützige Arbeit zu erfahren. Ziel der Veranstaltungen war es, die Aufmerksamkeit und Wertschätzung für gemeinnützige Stiftungen und stifterisches Engagement zu steigern. uch die Kulturstiftung Westpreußen A nahm den Tag zum Anlass, um Pressevertretern im Vortragsraum des

Westpreußischen Landesmuseums in Warendorf ihre Aufgaben und Ziele näher zu bringen. Deutlich wurde einmal mehr, dass die Stiftungsmitglieder bemüht sind, die Geschichte und Kultur des Landes an der unteren Weichsel zu bewahren. Die Stiftung ist Trägerin des Westpreußischen Landesmuseums, sie fördert wissenschaftliche Forschungen, pflegt die Patenschaft zwischen Westfalen und Westpreußen und setzt sich für die europäische Integration ein. So etwa soll das Westpreußische Landesmuseum als Kultur- und Dokumentationszentrum mit der Westpreußen-Bibliothek, dem Westpreußen-Archiv sowie anderen westpreußischen Kunst- und Kultursammlungen dazu führen, dass das Kulturgut des unteren Weichsellandes erforscht und ausgebaut wird. Zu den Zielen der Kulturstiftung Westpreußen gehört, dass man neben den Bestrebungen zum Erhalt des Kulturgutes des unteren Weichsellandes auch Aspekte der Vergangenheit und Gegenwart dieser Kulturregion insbesondere für junge Menschen bekannt und verständlich machen will. Prof. Dr. Erik Fischer, Vorsitzender des Stiftungsvorstandes, erklärte: „Die ein wenig nebulöse Existenz und die Vermutung, dass die Kulturstiftung irgendetwas mit den beiden Museen zu tun

Vertreter der Kulturstiftung Westpreußen bei der Begegnung am Stiftungstag (v.l.n.r.): Grazyna Patryn, Joanna Szkolnicka, Prof. Dr. Erik Fischer, Dr. Jutta Reisiner-Weber, Alexander Kleinschroth, Dr. Peter Paziorek, Annegret Schröder und Armin Fenske.

haben müsse, verdeckten weitgehend die Tatsache, dass die Stiftung einen breiten, keineswegs auf die Museumsarbeit eingeschränkten Aufgabenbereich zu bewältigen hat. Sie bemüht sich nachdrücklich um die Förderung von Kunst und Kultur, indem sie materielles Kulturgut aus dem Land an der unteren Weichsel sammelt, erhält, inventarisiert und erforscht.“

Fruchtbarer Austausch mit Pressevertretern In diesem Sinne werden das Westpreußische Landesmuseum in Warendorf und das Museum in Krockow betrieben. Darüber hinaus sammelt und erschließt die Stiftung aber auch immaterielles Kulturgut und hat sowohl die Westpreußen-Bibliothek als auch das westpreußische Bild-Archiv in ihrer Obhut – zwei Bereiche, die neben dem Kultur- und Dokumentationszentrum Westpreußen (dem späteren WLM) schon seit 1975 stets eigenständige Tätigkeitsfelder ausgemacht haben.

Im Vortragsraum des Westpreußischen Landesmuseums in Warendorf hatten Pressevertreter die Gelegenheit, mit Mitgliedern der Stiftung ins Gespräch zu kommen und Einblicke in das „Stiftungsmosaik“ zu erhalten. Unter dem Motto „Westpreußen in acht Objekten“ referierte Prof. Dr. Fischer. Der stellvertretende Vorsitzende des Stiftungsrates, Alexander Kleinschrodt M. A., wiederum bot einen Vortrag mit dem Titel „Geheimnisvolles Westpreußen: Acht Fragen, auf die wir keine Antworten wissen“. Das Mitglied des Stiftungsrates, Dr. Jutta Reisinger-Weber, präsentierte ihr neues Buch „Silberschmiedearbeiten im unteren Weichselland“. Informationsstände stellten das Museum der Partnerstiftung in Krockow/Krokowa (bei Danzig) sowie die neu gestaltete Monatszeitschrift „Der Westpreuße“ vor. Führungen durch die Dauerausstellung des Westpreußischen Landesmuseums rundeten den Tag der Stiftungen in Warendorf ab. Dieter Göllner


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Verschwunden – Orte, die es nicht mehr gibt ZgV eröffnet fünfte Ausstellung im Berliner Kronprinzenpalais Berlin. (dod) Am 8. November 2016 wird im Kronprinzenpalais in Berlin die neue Ausstellung der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen (ZgV) „Verschwunden – Orte, die es nicht mehr gibt“ eröffnet. Die ZgV-Vorsitzende Erika Steinbach MdB begrüßt zur Ausstellungseröffnung, der ehemalige Präsident des Europäischen Parlamentes und Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung, Dr. Hans-Gert Pöttering wird die Eröffnungsrede zu dieser fünften Ausstellung halten. In den Gebieten, die bis zur Flucht und Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkrieges von Deutschen besiedelt waren, befinden sich zahlreiche Orte, in denen heute keine Menschen mehr leben. Sie liegen vor allem im heutigen Polen, Russland und Tschechien. Dörfer, Städte, Kirchen, Bauernhöfe, Schlösser, Fabriken oder Industrieanlagenleben sowie Friedhöfe, Denkmäler, Standbilder oder Inschriften überdauern nur, wenn es Menschen dafür gibt. Was aber wird aus ihnen, wenn die Menschen plötzlich verschwinden? Neben ganzen verschwundenen Ortschaften sind zahlreiche europäische, vormals zumeist deutsche Kulturzeug-

nisse untergegangen oder bewusst zerstört worden. Der Untergang dieser Orte hatte weitgehend demografische, aber auch ideologische, ökonomische oder soziale Gründe. Die Zerstörung geschah kriegsbedingt, vorsätzlich oder in einer Kette von Ereignissen, die nicht immer die Vernichtung zum Ziel hatte. Meistens gab es mehrere Ursachen für das Verschwinden. Für viele Vertriebene ist der Besuch ihrer nicht mehr vorhandenen Bezugspunkte in der Heimat ein traumatisches Ereignis, eine Art zweite Vertreibung. Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges empfinden aber auch immer mehr der heute in diesen Regionen lebenden Menschen, insbesondere Vertreter der jungen Generation, die verschwundenen Orte als gravierenden kulturellen Verlust. Hauptanliegen der Ausstellung ist es, in einer „historischen Spurensuche“ diesem Untergang exemplarisch nachzuspüren. Gleichzeitig legt die Ausstellung ein Augenmerk auf aktuell zu beobachtende bürgerschaftliche, kommunale und staatliche Initiativen, noch vorhandene Bauwerke, Kulturdenkmäler, Friedhöfe und andere Spuren der deutschen Vergangenheit zu retten oder in Einzelfällen sogar neu zu errichten. Bis zum 8. Januar 2017 wird die Ausstellung im KronINFO prinzenpalais in Berlin auf einer Dienstag, 8. November 2016, um 17 Uhr im Ausstellungsfläche Kronprinzenpalais, Unter den Linden 3, Berlin von rund 400 Quadratmetern präsenBegrüßung: Erika Steinbach MdB tiert und arbeitet Eröffnung :Dr. Hans-Gert Pöttering mit Texttafeln und Präsident des Europäischen Parlamentes a.D. Bildern sowie sogeVorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung nannten Dia Frames, in denen Vom 9. November 2016 bis zum 8. Januar 2017 wird die historische AnsichAusstellung von Montag bis Mittwoch zwischen 10 und ten verschwunde18 Uhr und von Donnerstag bis Sonntag zwischen 12 und ner Orte als Fallbei20 Uhr im Kronprinzenpalais für Besucher geöffnet sein. spiele fortlaufend

gezeigt werden. Ebenfalls zu sehen sind Filmbeiträge mit Zeitzeugen, die an den Originalschauplätzen – den verschwundenen Orten in Polen, Tschechien und Russland – speziell für die Ausstellung entstanden sind. An ihnen wird die emotionale Dimension des Themas für die Betroffenen deutlich. Ebenso wie die sehr erfolgreichen drei Vorgängerausstellungen „Die Gerufenen – Deutsches Leben in Mittel- und Osteuropa“, „Erzwungene Wege – Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts“ und „Angekommen – Die Integration der Vertriebenen in Deutschland“ sowie als vierte Ausstellung die Gesamtschau „Heimatweh“ wird die neue Ausstellung des ZgV später als Wanderausstellung landauf landab in der gesamten Bundesrepublik gezeigt. ZgV (1); BdV (2)


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„Integration durch Ehrenamt“ – Über den Tellerrand geschaut Bund der Vertriebenen tagt mit Ehrenamtlichen in Berlin Berlin. (dod) Am 12. und 13. September 2016 fand in Berlin die dritte zentrale Arbeitstagung „Integration durch Ehrenamt“ im Bund der Vertriebenen statt. Wie in den vergangenen Jahren hatten sich etwa 75 engagierte Ehrenamtliche dazu eingefunden. Begrüßt wurden sie von der stellvertretenden BdV-Generalsekretärin und Referatsleiterin für Eingliederung und Recht, Gisela Schewell. Diese nutzte die Gelegenheit, Einsatz und Erfolge der zahlreichen Mitstreiter in den verschiedenen Gliederungen zu würdigen und Perspektiven für die zukünftige Arbeit aufzuzeigen. Danach bestimmten kurze Referate und intensive Arbeitsgespräche den Ablauf der Tagung. Zunächst berichtete der auch auf Zuwanderungsrecht spezialisierte Frankfurter Rechtsanwalt Thomas Puhe über aktuelle Entwicklungen bei der Aufnahme und Integration von Spätaussiedlern und ihren Familienangehörigen. Danach beantwortete er eine Vielzahl an Fragen und beurteilte geduldig und kompe-

tent konkrete Fälle aus der Arbeit der Ehrenamtlichen. Aus dem Bereich Verbraucherschutz stand im Folgenden das Thema Rundfunkbeitrag im Fokus. Eine Einführung hierzu gab der in der Verbraucherzentrale Berlin zuständige Berater Fabian Tief. Darin erläuterte er kurz die wichtigsten Eckdaten sowie die Arbeitsweise der Landesrundfunkanstalten und des Beitragsservice. Im Gespräch mit den Teilnehmern waren im Hinblick auf die ehrenamtliche Integrationsberatung besonders die Bedingungen für eine Beitragsbefreiung bzw. -ermäßigung von Interesse.

Interkulturelle Öffnung birgt Potential Am Ende des ersten Arbeitsblockes stand ein angeregter Erfahrungsaustausch zum bürgerschaftlichen Engagement auf dem Programm. Unter der Überschrift „Über den Tellerrand – aus der eigenen Erfahrung zu Empathie und Aktion“ und unter der

Gruppenbild mit Seminarleiterin Gisela Schewell (3.v.r.).

Rund 75 in der Integrationsarbeit ehrenamtlich Tätige trafen sich in Berlin zur Fortbildung und zum Erfahrungsaustausch.

gemeinsamen Leitung von Gisela Schewell und DODChefredakteur Markus Patzke wurde herausgearbeitet, dass eine interkulturelle Öffnung der ehrenamtlichen Arbeit im BdV großes Potenzial berge. Gleichermaßen deutlich wurde, dass diese Erweiterung des ursprünglichen Themenfeldes vielerorts bereits erfolgt sei. Die Ehrenamtlichen zeigten sich offen für jeden Zuwanderer, der in Integrationsfragen Hilfe bei ihnen suche. Der zweite Veranstaltungstag begann mit einem Einblick in den Aufenthalt und die Integration von Migranten aus Sicht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Viola Ketzel, BAMFRegionalkoordinatorin im Bereich Berlin, verband in ihren Ausführungen rechtliche Grundlagen anschaulich mit ihren konkreten Erfahrungen aus der Praxis. Damit gab sie den Ehrenamtlichen wichtige Impulse für deren Arbeit mit heutigen Flüchtlin-

gen. Anke Overbeck vom JobCenter Friedrichshain-Kreuzberg stellte Informationen zur Grundsicherung vor und stand den Tagungsteilnehmern danach zum Gespräch zur Verfügung. Thematisiert wurden insbesondere Neuerungen wie die 2017 erneut steigenden Regelsätze, aber auch Fragen zur Grundsicherung im Alter bzw. zur Altersarmut, mit der sich die Ehrenamtlichen immer öfter konfrontiert sehen.

Positive Bilanz und Dank Zum Abschluss zog Gisela Schewell ein positives Resümee aus der Veranstaltung und fasste die Ergebnisse kurz zusammen. Die Teilnehmer dankten der BdV-Bundesgeschäftsstelle für die stets gute Zusammenarbeit und Unterstützung in sämtlichen Fragen der Integrationsarbeit. MPH


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Kultur und Geschichte im Schwerpunkt Veranstaltungshinweise aus den Museen und Institutionen Die Folgen des Ersten Weltkrieges In 2018 jährt sich das Ende des Ersten Weltkrieges zum hundertsten Mal. Die Studiengruppe Politik und Völkerrecht und die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen haben es sich zum Ziel gesetzt, dieses Ereignis einer umfangreichen Würdigung zu unterziehen. In den Jahren 2016, 2017 und 2018 werden drei internationale und interdisziplinäre Tagungen diesem Thema gewidmet. Die Veranstaltung wird vom Bundesministerium des Innern gefördert. Referenten sind Geschichtswissenschaftler/ innen und Rechtswissenschaftler/innen aus Deutschland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowenien, Ungarn, Rumänien, der Türkei, Armeniens sowie aus Taiwan und Chile. Der 1. Teil der „Trilogie“ findet am 20. und 21. Oktober 2016 im Haus Schlesien von Königswinter-Heisterbacherrott unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Gilbert Gornig und Prof. Dr. Hans-Detlef Horn von der Philipps-Universität Marburg, statt. Um die Zukunft der ostdeutschen Heimatsammlungen geht es im Rahmen der 2. Informations- und Begegnungstagung der Kulturstif-

tung der deutschen Vertriebenen vom 9. und 10. November 2016 im Haus Schlesien in Königswinter-Heisterbacherrott. Die Herbsttagung rückt Themenschwerpunkte wie Inventarisierung, zukunftsorientierte Umgestaltung, Museumsdidaktik und Finanzierungsmöglichkeiten in den Fokus.

Gryphius, barockes Glas und mehr Anfang Oktober d.J. führten die Kirchliche Stiftung Ev. Schlesien und die Kulturreferentin für Schlesien gemeinsam eine Tagesfahrt nach Glogau/Głogów aus Anlass des 400. Geburtstages des Barockdichters Andreas Gryphius (1616-1664) durch. Bekannt ist, dass der Dichter schon als Schüler, vor allem aber als Student und später in seiner Glogauer Zeit als Syn-

dicus eine Vielzahl von Dramen und Gedichten veröffentlichte. Während der gesamten Reise und im Rahmen einer Festveranstaltung im neuen evangelischen Gemeindehaus stand Gryphius als Sohn von Glogau im Mittelpunkt. Eine interessante Tagesexkursion – diesmal zum Schwerpunkt „Barockes Glas aus Schlesien“ – führte am 13. Oktober nach Lindava und

Der Fotowettbewerb „Breslau im Fokus“ hat eine Vielzahl an beachtenswerten Beiträgen erbracht, die bis März 2017 im EichendorffSaal im Haus Schlesien ausgestellt sind.

Nový Bor/CZ. Vor dem Hintergrund, dass die Herstellung von Glas auf beiden Seiten des Riesengebirges eine lange, bis ins Mittelalter zurückreichende Tradition hat, standen u.a. das Zentrum der böhmischen Glasherstellung im 19. und 20. Jahrhundert sowie die nordböhmischen Orte Lindava/ Lindenau und Nový Bor/ Haida am Besichtigungsprogramm. Eine Tagung zum Thema „Barockes Glas aus Schlesien“ findet am 18. und 19. November im Muzeum Karkonoskie w Jeleniej Górze ( R i esengeb i rgsm useum Hirschberg) statt. Wissenschaftler aus Polen, Tschechien und Deutschland stellen Sammlungen vor und diskutieren aktuelle Forschungsfragen. Eine Tagesfahrt zu früheren Stätten der Glasherstellung und -verarbeitung im Raum Hirschberg sowie der Besuch der Ausstellung

„Barockes Glas aus Schlesien“ im Schlesischen Museum zu Görlitz runden die Veranstaltung ab. Bis zum 20. November 2016 ist die in Zusammenarbeit mit dem Muzeum Karkonoskie w Jeleniej Górze (Riesengebirgsmuseum Hirschberg) eingerichtete Ausstellung im SMG zu sehen. Anhand von über 130 Gläsern aus den Beständen der beiden Museen und 70 Leihgaben werden erstmals in Deutschland wertvolle Gläser aus dem Nordböhmischen Museum in Liberec und aus bedeutenden polnischen Museen gezeigt. „Auf den Spuren der historischen Grenze zwischen Schlesien und der Oberlausitz“ ist ein Reise-Angebot der Kulturreferentin für Schlesien in Kooperation mit GörlitzTourist, das für den 29. Oktober geplant ist. Mit Hilfe von historischen Karten und auf der Spur der steinernen ZeuGöllner (1)


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gen wird der Verlauf der historischen Grenze im nördlichen Teil verfolgt. „Kirchfahrer, Buschprediger, betende Kinder – 500 Jahre evangelisches Leben in Schlesien“ lautet der Titel der Sonderausstellung des SMG zum Reformationsjubiläum, die am 9. Dezember eröffnet wird. Die Präsentation verfolgt die Geschichte der Protestantismus in Schlesien in der Epoche der Industrialisierung und durch die Katastrophen und Bewährungen des 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Ungarn-Aufstand und Bilddokumentation „Deutsche Spuren in Südosteuropa“ können Besucher des Donauschwäbischen Zentralmuseums Ulm erkennen, wenn sie einen Rundgang durch die Dauerausstellung des Hauses unterneh-

men. Jeweils sonntags um 14 Uhr gibt es öffentliche Führungen, die einen guten Überblick zur Geschichte der Donauschwaben von ihrer Auswanderung nach Südosteuropa bis ins 21. Jahrhundert bieten. Die Sonderschau „Budapest 1956 – Der Ungarn-Aufstand in der Literatur“ ist im Donauschwäbischen Zentralmuseum Ulm bis zum 6. November zu besichtigen. Hintergrund ist, dass die ungarische Revolution 60 Jahre nach ihrem Scheitern Teil der europäischen Erinnerungskultur geworden ist. Die Kabinettausstellung der Ehinger Bibliothek Ungarische Literatur in deutscher Sprache stellt wissenschaftliche, literarische und publizistische Veröffentlichungen vor, die mit dem historischen Ereignis in Verbindung ste-

Nachrichten hen. Vom 14. Oktober 2016 bis zum 17. April 2017 zeigt das DZM Ulm eine Präsentation mit fotografischen Momentaufnahmen von Dragoljub Zamurović unter dem Motto „Unter Anderen – Donauschwaben im südöstlichen Europa“.

Museumsmarkt und Bernstein Traditionsgemäß lädt das Ostpreußische Landesmuseum von Lüneburg am ersten Novemberwochenende (5. und 6. November 2016) zum Museumsmarkt ein. Aussteller aus ganz Deutschland und dem östlichen Europa beteiligen sich an der Veranstaltung und bieten Kunsthandwerk-Erzeugnisse an, deren Entstehung teilweise auch in praktischen Vorführungen gezeigt wird. Vom 25. November 2016 bis zum Anfang Mai 2017 ist im Ostpreußischen Landesmuseum Lüneburg die Ausstellung des Staatlichen Naturhistorischen Museums Braunschweig „Bernstein – Goldenes Fenster zur Vorzeit“ zu sehen. Bei der Vernissage führt Dr. Christoph Hinkelmann vom Ostpreußischen Landesmuseum die Besucher in die Thematik ein und der Autor und Bernsteinexperte Carsten Gröhn hält einen Vortrag.

800 Jahre Deutscher Orden Im September wurde im Kulturzentrum Ostpreußen die Wechselausstellung „800 Jahre Deutscher Orden in seiner Residenz Ellingen“ eröffnet, die bis März 2017 zu sehen ist. Von Oktober bis Ende Dezember 2016 ist die

Kabinettausstellungen mit Bildern aus der Fotosammlung von Walter Engelhardt „Land der vielen Himmel –

Memelländischer Bilderbogen“ eingerichtet. Am 19. und 20. November findet in Ellingen der „Bunte Herbstmarkt“ statt.

Reformation und Erster Weltkrieg in Siebenbürgen Bis zum 31. Oktober ist im Siebenbürgischen Museum von Gundelsheim a. N. die durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien geförderte Tafelausstellung „Die Reformation im östlichen Europa – Sieben-

bürgen“ zu besichtigen. Die Wanderausstellung des Deutschen Kulturforums östliches Europa, Potsdam, präsentiert in Zusammenarbeit mit dem Gastgeberhaus passend zum Jahresthema der Lutherdekade für 2016 „Reformation und die Eine Welt“ Aspekte der facettenreichen, in Deutschland kaum bekannte Reformationsgeschichte Siebenbürgens. Am 29. Oktober 2016 wird im Siebenbürgischen Museum auf Schloss Horneck eine neue Sonderausstellung unter dem Motto „Der Erste Weltkrieg in Siebenbürgen – Aus dem Fototagebuch eines deutschen Offiziers“ eröffnet. Beleuchtet wird der Kriegsschauplatz in Siebenbürgen und Rumänien, der heute in der deutschen Öffentlichkeit kaum im Blickfeld steht. Über 40 Großbilddiapositive von Bernhard Dormeier sind seit

37 1990 im Besitz des Siebenbürgischen Museums.

Breslau in Bildern und Ausstellung zum Heimatverlust Der Fotowettbewerb „Breslau im Fokus“ hat eine Vielzahl an beachtenswerten Beiträgen erbracht, die bis März 2017 im Eichendorff-Saal ausgestellt sind. Die ersten drei Plätze belegten Simon Wolf mit „Eröffnung des neugestalteten „Boulevard Xawery Dunikowski gegenüber der Dominsel“, Christopher Jan Schmidt mit „Unterführung am Hotel Monopol“ und Theo Jantosch Mit „Blick von St. Maria Magdalena“. Die neue deutsch-polnische Sonderschau im Haus Schlesien von Königswinter-Heisterbacherrott „Zu Hause und doch fremd. Vom Umgang mit Entwurzelung und Heimatverlust am Beispiel Schlesien“ ist seit Ende September geöffnet. Neben der Sicht der vertriebenen Deutschen wird auch die Situation der in Schlesien angesiedelten Polen betrachtet. Nicht zuletzt wer-

den die Auswirkungen auf die Nachkommen der Betroffenen und ihre Beziehung zur alten Heimat der Vorfahren und zur Thematik der Vertreibung dargelegt. Bis zum Abschluss der Ausstellung im März 2017 ist ein vielfältiges Rahmenprogramm vorgesehen. Dazu gehört auch die Fachtagung zum Umgang mit der Entwurzelung vom 19. November, die Haus Schlesien in Zusammenarbeit mit der VHS Siebengebirge und


38 dem Katholischen Bildungswerk Rhein-Sieg ausrichten wird.

Volkshochschule im Kulturzentrum Herne Bis zum 25. November ist in der Volkshochschule im Kulturzentrum von Herne eine Ausstellung über Aspekte der Gewaltmigration im 20. und 21. Jahrhundert eingerichtet. Unter dem Titel „Geflohen, vertrieben – angekommen!?“ wird das Thema „Flucht und Vertreibung“ ausgehend von den Fragestellungen der gegenwärtigen Problemlage behandelt. Die Präsentation des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. wurde in Kooperation mit dem Stadtarchiv Herne und der Martin-Opitz-Bibliothek

Nachrichten erarbeitet und weist auf historisch geprägte Erinnerungen an die Ereignisse der Flucht und Vertreibung aus und nach Deutschland von 1933 bis 1946 hin.

OSLM Ratingen verlängert Ausstellungen Noch bis zum 6. November ist die Doppelausstellung über den schlesischen Komponisten Heinrich Schulz-

museum von Ratingen-Hösel zu besichtigen. Aufgrund der guten Publikumsresonanz wurde auch die große Sonderausstellung „Für Leib & Seele. Von der Kultur des Essens und Trinkens“ verlängert und bleibt bis zum 19. Februar 2017 geöffnet. Bei einem Rundgang durch die Ausstellungsräume kann Schlesien als Land mit vielen Traditionen und wechselhafter Geschichte kennengelernt werden.

Liederabend und Fachtagung

Beuthen und die Tochter der oberschlesischen Industriellenfamilie von Tiele-Winckler, im Oberschlesischen Landes-

Im Rahmen der Jüdischen Kulturtage 2016 findet im Haus des Deutschen Ostens in München am 14. November, 19.30 Uhr, ein Liederabend mit Musik des stillen

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Widerstands statt. Zu Gehör werden Lieder und Klaviermusik von Viktor Ullmann, Pavel Haas und Erwin Schulh o f f gebracht. Vom 20. bis zum 24. November steht die „8. HDOStudienwoche“ mit dem Thema „Zwangsmigration und Integration. Erfahrungen von Polen und Deutschen 1945 – 1960“ am Programm. In Zusammenarbeit mit der Heimatpflegerin der Sudetendeutschen wird am 24. November, 19.00 Uhr, eine Autorenlesung geboten: Dietmar Grieser liest aus seinem neuen Buch „Geliebtes Geschöpf. Tiere, die Geschichten machten“. D.G.

Termine der Mitgliedsverbände Alle dem Bundesverband gemeldeten Termine für die kommenden Monate November Mo.-Mi. 31.10.-02.11. LM Ostpreußen Kulturpolitisches Seminar für Frauen Helmstedt Fr. 04.11. LM Ostpreußen Arbeitstagung der Landesgruppenvorsitzenden Wuppertal Sa. 05.11. LV Hessen SL-Landeskulturtagung Wetzlar Fr.-Sa. 04.-05.11 Arbeitsgemeinschaft der Karpatendeutschen aus der Slowakei Bundeskulturtagung der vier karpatendeutschen Organisationen der AG der Karpatendeutschen Stuttgart LM der Banater Schwaben Bundesweites Brauchtumsseminar Jugend Wieshof Fr.-So. 04.-06.11 Sa.-So. 05.-06.11 LM Ostpreußen Ostpreußische Landesvertretung Wuppertal Fr. 11.11. LM Westpreußen Deutsche Minderheit: Herbstkonferenz Thorn Sa. 12.11. LV Hamburg Christkindelmarkt Hamburg Bad Kissingen So.-Di. 13.-15.11. Sudetendeutsche LM Deutsch-Tschechische Erinnerungskultur Di.-Fr. 15.-18.11. Sudetendeutsche LM Erinnerungskulturen im Wandel Erinnerung und Geschichtspolitik im östlichen und südöstlichen Europa Bad Kissingen Fr.-So. 18.-20.11. Deutsch-Balten Internationale Kulturtage Mare Balticum Darmstadt Fr.-Sa. 25.-26.11. LV Sachsen Jahresabschlussveranstaltung Freiberg Sa. 26.11. LV Hessen Vorweihnachtliche SL-Landesvorstandssitzung Rheingau Mo. 28.11. LV Hamburg Stunde der Begegnung Hamburg

Dezember Fr. 02.12. BdV-Bundesverband Bundesversammlung Berlin Di. 06.12. LV Baden-Württemberg Jahresschluss-Sitzung Stuttgart Europaverlag (1)


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Was Krieg und Gewalt mit Frauen und Kindern macht Tiefgreifende traumatische Erlebnisse der Vertreibung kehren im Alter zurück Helmstedt. (dod) „Genau das passiert jetzt in meiner Heimat“, sagte Shirin, als sie in der Politischen Bildungsstätte Helmstedt die Bilder der Flüchtlingstrecks vom Ende des Zweiten Weltkrieges sah, die aus den deutschen Ostgebieten nach Westen strömten. Shirin, ihr Name wurde geändert, um sie selbst und ihre Familie zu schützen, stammt aus einem jesidischen Dorf im nordirakischen Sindschar-Gebiet, das im August 2014 von IS-Milizen überfallen wurde. Sie wurde entführt, misshandelt, vergewaltigt, an mehrere Männer verkauft. Mit Hilfe ihres letzten Mannes gelang ihr die Flucht nach Deutschland. Die Journalistin Alexandra Cavelius hat sie interviewt und ihre Erlebnisse in dem Buch „Ich bleibe eine Tochter des Lichts“ veröffentlicht. Ein erschreckendes Beispiel dafür, dass sich Geschichte wiederholen kann, wenn keine Lehren daraus gezogen werden. Sehr aktuell war also das Thema der Tagung des Frauenverbandes im Bund der Vertriebenen, die mit mehr als 40 Teilnehmern in der Politischen Bildungsstätte Helmstedt, an einem geschichtsträchtigen Ort, stattfand. „Frauen und Kinder erleben Krieg und Gewalt. Wie wirken diese Erfahrungen auf ihr Leben?“ Die Beiträge zeigten, dass die Thematik in den letzten Jahren das Interesse der Historiker erst weckte, nachdem viele Jahrzehnte lang darüber geschwiegen wor-

den war. Auch deshalb, weil die Erlebnisgeneration im Alter bereit ist, darüber zu sprechen, die Enkel sie ermuntert, ihre Erlebnisse aufzuschreiben und eine psychologische Aufarbeitung nötig ist, da die Erlebnisse wieder Raum gewinnen und die Menschen belasten. Tagungsleiterin Dr. Maria Werthan, Präsidentin des Frauenverbandes, hatte eine Reihe von Wissenschaftlern eingeladen, die zu dem Thema forschen. Professor Dr. Manfred Kittel stellte das Thema in einen historischen Rahmen und erläuterte die national-politischen, machtpolitischen und ideologischen Gründe und Hintergründe der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten. Sibylle Dreher, Vizepräsidentin des Frauenverbandes, stellte Katharina Ellingers Leben und Werk vor, die den Einmarsch der Sowjet-Truppen in Schlesien erlebte und zwei autobiographische Bücher darüber geschrieben hat. Professor Dr. Barbara Stambolis zeigte den Dokumentarfilm Rudolf Kipps „Report on the Refugee. Situation/Bericht zur Flüchtlingssituation“, der 1949 im Auftrag der britischen Besatzung gedreht wurde. Die Massenvergewaltigung von Frauen und jungen Mädchen hauptsächlich in Ostpreußen bezeichnete Professor Dr. Ingo von Münch als eines der schlimmsten Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Er versuchte zu erklären, wie es zu den Verbre-

chen kommen konnte, welche Schutzmöglichkeiten die Frauen hatten und wie sie und ihr Umfeld das Thema jahrzehntelang tabuisierten, aus Scham und weil die besiegten Deutschen angeblich nur Täter und keine Opfer sein konnten.

Dass die tiefgreifenden traumatischen Erlebnisse der Vertreibung im Alter wiederkehren und Spuren über Generationen hinterlassen, zeigte Barbara Stambolis anhand von Lebens- und Familiengeschichten. Diesen Schicksalen eine Stimme und ein Gesicht zu geben, sieht sie als vorrangige Aufgabe. Professor Dr. Jürgen Reulecke referierte über Kriegskinder und Kriegsenkelproblematik, wobei er sich auf eigene Erfahrungen und deren Bewältigung in der Nachkriegszeit berief. Spuren dieser Prägungen durch Krieg und Nachkriegszeit versuchte er in den Biografien der heutigen Senioren zu erfassen.

„Wer bin ich?“ fragte Johanna Neumann, die jahrzehntelang nach ihrem Vater und ihrer Identität suchte. Im brennenden Königsberg verlor die kleine Johanna ihre Mutter und ihren kleinen Bruder, sie wusste nichts mehr über ihre Herkunft. In einem Kinderheim wurde ihr der Name Neumann gegeben, den sie auch behielt, nachdem sich viel später herausstellte, dass es nicht ihr richtiger Name war. Die DDR-Behörden vereitelten die Suche nach ihrem Vater, erst nach ihrer Flucht in den Westen konnte sie weiter nach ihren Wurzeln suchen. In seiner Dissertation befasste sich der junge Wissenschaftler Dr. Christopher Spatz mit den Wolfskindern. Er erörterte den Begriff und die wirtschaftspolitische Situation, die den Rahmen für den Überlebenskampf der ostpreußischen Kinder bildete. In einem fremden Land, ohne Sprachkenntnisse, konnten die Kinder nur überleben, weil sie mit der Unterstützung der litauischen Bevölkerung fast immer rechnen konnten. Die Leugnung der deutschen Identität war oft der Preis. Warum gerade diese Wolfskinder in ihrem späteren Leben erfolgreich und als starke Persönlichkeiten sowohl in Litauen als auch in Deutschland ihr Leben gestalteten, führte er darauf zurück, dass nur die stärksten diesen Lebenskampf überlebten. Waltraud Steiner


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Drastische Verfolgung und Benachteiligung von Christen Situation zwischen 1945 und 1960 in der ČSSR, Ukraine, DDR und Polen Bad Kissingen. (dod) Die Situation der Christen unter totalitärer Herrschaft von 1945 bis ca. 1960 beleuchtete in seiner 53. Arbeitstagung das Institut für Kirchen- und Kulturgeschichte der Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa e.V. vom 7. bis 10. August in der Bildungs- und Begegnungsstätte „Der Heiligenhof“ in Bad Kissingen. In den Referaten und bei der Exkursion nach Bamberg ging es um Aspekte der Verfolgung und Benachteiligung von Christen in der Tschechoslowakei, in der Ukraine, in der Sowjetischen Besatzungszone/DDR sowie in Polen. Inklusive einiger Tagesgäste nahmen gut 40 Personen aus Deutschland, Polen, Tschechien, der Slowakei und der Ukraine an der Tagung teil. Der seit einem Jahr an der Spitze des Instituts stehende Prof. Dr. Rainer Bendel freute sich in seiner Begrüßung, neben dem „Heiligenhof“ und der hier angesiedelten „Akademie Mitteleuropa“ auch das „Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität“ als Partner gewonnen zu haben. Zum Thema „Zur Situation der Christen in der ČSSR“ referierte Dr. Otfrid Pustejovsky aus Waakirchen. Die Phase von 1945 bis 1949 beinhaltete die Vertreibung der Deutschen – und damit die Beseitigung eines wichtigen Teils des religiösen Lebens – zugleich auch die Etablierung der Macht der Kommunisten, die mit Gesetzen, Medi-

en/Propaganda, Einschüchterung, Verhaftungen, Zwangsarbeit usw. einen intensiven Kampf gegen die Kirchen führten. Näher ins Detail ging Dr. Jaroslav Šebek, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, in seinem Vortrag zum Thema „Zwei Antlitze der katholischen Kirche nach dem kommunistischen Machtantritt in der Tschechoslowakei – Widerstand und Anpassung“. Als gravierenden Einschnitt sah auch er die Vertreibung der Deutschen mit ca. 1600 Priestern, wodurch die katholische Kirche erstmals die Erfahrung einer Diaspora-Kirche machen musste. „Die katholische Kirche war nicht auf die neue Situation vorbereitet“, stellte Šebek fest. So gab es unterschiedliche Haltungen bei den tschechischen Bischöfen: Unnachgiebigkeit und ein versöhnliches Herangehen. Eindeutig war aber die Haltung der Bischofskonferenz zur KPČ: deren Legitimität erkannten die Oberhirten nicht an, auch lehnten sie die Einheitswahllisten ab. Doch ab Frühjahr 1949 habe die kommunistische Regierung ihre kirchenfeindliche Strategie gestartet: Teilung der katholischen Kirche, d.h. Trennung der Priester von den Bischöfen, Etablierung einer tschechischen Nationalkirche und einer „Katholischen Aktion“ mit regimefreundlichen Priestern und Laien. „Die Mehrheit der

Tagungsteilnehmer in Bad Kissingen.

Priester blieb dem Vatikan treu“, stellte der Referent aber fest. Ab der zweiten Hälfte der 50er Jahre habe die Kommunistische Partei eine mehrheitlich atheistische Gesellschaft erreicht, auch wenn ab 1956, so Šebek, das geistliche Leben wieder besser möglich war. Die Situation der „Christen unter totalitärer Herrschaft in der Slowakei“ beleuchtete Dr. Ivan A. Petranský aus Preßburg. Bereits in den ersten Jahren nach 1945 seien die Kirchen und Religionsgemeinschaften bedrängt worden – zum Beispiel durch Nationalisierung der kirchlichen Schulen, Verbot kirchlicher Verbände und Internierung katholischer Bischöfe. Mit der kommunistischen Machtübernahme 1948 habe die Verfolgung zugenommen – durch Gesetze und Verordnungen, Inhaftierung von Bischöfen und die Gründung einer regimetreuer Priestervereinigung. Den Blick auf die Ukraine richtete die am Institut für

Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg wirkende Prof. Dr. Katrin Boeckh. Sie beschrieb die „Drei Tage, die die Ukraine veränderten. Die Pseudo-Synode von Lemberg vom 8. bis 10. März 1946 zur ‚Liquidierung‘ der Griechisch-Katholischen Kirche in Galizien“. Akribisch skizzierte Boeckh die einzelnen Schritte und nannte die Hauptakteure sowie die Verbidung zum NKWD (Volkskommissariat des Innern). Detailliert zeichnete sie die Vorgänge bei der dreitägigen „Pseudo-Synode“ mit den inhaltlichen Aspekten (Loslösung vom Papst bzw. Vatikan, Bitte um Aufnahme in den Schoß der Orthodoxie) nach. Über die „Stalinistische ‚Wiedervereinigung der Unierten‘ in der Ukraine: Motive, Modelle, Methoden“ referierte Prof. Dr. Oleh Turij, Direktor des Instituts für Kirchengeschichte der Theologischen Akademie der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche in Lemberg. Bei der Umsetzung habe es ähnliche Bauer (1)


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Szenarien wie in Galizien, aber auch einige Besonderheiten gegeben. Insgesamt sei es ein längerer Prozess gewesen mit einer aktiven und unmittelbaren Verbindung zur russisch-orthodoxen Kirche – vor allem staatlich gelenkte Maßnahmen und Versuche der Überführung in die russisch-orthodoxe Kirche. Mit der Angliederung der Karpatenukraine an die Sowjetunion habe diese vollendete Tatsachen geschaffen und im Sommer 1949 die endgültige Liquidierung der ukrainisch-katholischen Kirche in diesem Gebiet proklamiert – auch wenn dies nicht die tatsächliche Vernichtung dieser Kirche bedeutete. Denn diese lebte und wirkte im Untergrund weiter, was Dr. Andriy Mykhaleyko, Dozent für Kirchengeschichte an der Ukrainischen Katholischen Universität in Lemberg, in seinem Vortrag „Untergrundalltag: bischöfliche Sukzession, Priesterausbildung und Seelsorge am Beispiel der Ukrainischen Griechisch-katholische Kirche“ erläuterte. „Die Gläubigen hatten oft keine Kenntnisse hinsichtlich ihres Bischofs“, führte Mykhaleyko aus und ging exemplarisch auf die Priesterausbildung und Formen der Seelsorge unter diesen Bedingungen ein. Erst in den 1980er Jahren sei nach Protesten die Legalisierung wieder eingeleitet und Ende 1989 offiziell vom Sowjetstaat vollzogen worden. In die sowjetische Besatzungszone bzw. DDR führte der nächste Schwerpunkt. Der seit 1. September als Direktor der Katholischen Akademie im Bistum Dresden/Meißen tätige Thomas Arnold brachte das Thema „Christen zwischen den Fronten. Die Jugendweihe als Ausdruck des Kirche-StaatKonflikts in der DDR“. Mit

Nachrichten der Verschärfung des kirchenpolitischen Kurses der SED 1952/54 sei die Jugendweihe als gezielte Aktion gegen die Kirche eingesetzt worden, auch wenn sie nach außen in keinen direkten Bezug zur SED gebracht werden sollte. Die Katholischen Bischöfe lehnten per Hirtenwort die Jugendweihe katgorisch ab, doch gab es unter den Ordinarien keine einheitliche Linie. Arnold schilderte das Auf und Ab der Jugendweihe, den Umgang der christlichen Kirchen damit und die Zusammenhänge mit verschiedenen Kulturen und Milieus. Inwieweit „Bischof Julius Döpfner im Blick der Staatssicherheit“ war, beleuchtete Prof. Dr. Jörg Seiler, Ordinarius für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit in Erfurt. In Döpfners Berliner Zeit (1957 bis 1961) fiel die Verstärkung der Repression der SED-Kirchenpolitik. Für die viereinhalbjährige Amtszeit in Berlin legte die Stasi 238 Seiten über ihn an. Da Döpfner aber in Westberlin lebte, habe es „wenig Handlungsspielraum für das Ministerium für Staatssicherheit“ gegeben, so Seilers Fazit. Über das Thema „Leichter Gegenwind im Sturm des Sozialismus: Zum Leben der Christen in der DDR und ihren kirchlichen Möglichkeiten“ referierte Seilers Lehrstuhl-Vorgänger Prof. Dr. Josef Pilvousek. Er stellte den Weg der Kirche als eine „Gratwanderung zwischen Anpassung und Verweigerung“ dar angesichts der 44 Jahre Christentumsfeindlichkeit und Christenverfolgung durch die DDR. Die Situation in der Volksrepublik Polen stand ebenfalls auf dem Programm. Dr. Grzegorz Bębnik trug Dr. Bernard Lineks (stellvertretender Leiter des schlesischen Instituts

in Oppeln) Beitrag „Der Konflikt zwischen der katholischen Kirche und dem kommunistischen Staat in Oberschlesien in den Jahren 1945 bis 1960“ vor. Diese Phase sei von vielen Prüfungen für die Hierarchie, die Priester und Gläubigen (Erschießungen, sowie Vergewaltigungen und Morde an Nonnen) gekennzeichnet gewesen, dazu die Polonisierung durch die Aussiedlung und den Austausch von Ordensleuten und Geistlichen – und schon in der Anfangsphase auch in der Liturgie, bei religiösen Bräuchen und der nationalen Theologie bis hin zu den Schriften. So sollte die Übereinstimmung der polnischen katholischen Kirche und des polnischen Staates erreicht werden, wobei auch evangelische Kirchen übernommen wurden. Herausragende oberschlesische Priester wurden ausgesiedelt, 1948 kam es – nach der Machtübernahme durch die Kommunisten – zur Verbannung des Religionsunterrichtes aus der Schule und der Kruzifixe aus den Schulräumen. Ende 1949 entstand die Bewegung der „Patriotenpriester“. Auch wenn es ab 1956 kleinere Erleichterungen gab, sei nur ein Teil der Bischöfe und Priester in ihre Heimatorte zurückgekehrt. Mit der „Situation der Ukrainer in Ermland und Masuren nach ihrer Umsiedlung in dieses Gebiet im Jahre 1947“ befasste sich in seinem Vortrag Prof. Dr. Andrzej Kopiczko von der Fakultät für Geistesund Sozialwissenschaften der Universität Ermland-Masuren in Allenstein. Als Ausgangspunkt nannte er die 1947 durchgeführte Aktion „Weichsel“, die Umsiedlung der ukrainischen Bevölkerung aus Südostpolen in die West- und Nordgebiete Polens. „Nach Ermland und Masuren wurden damals 55.448 Menschen ausgesiedelt“, so Kopiczko. Er

41 verwies auf diverse Benachteiligungen und Einschränkungen: Verwüstung in der Landwirtschaft, Einschränkung sozialer und kultureller Aktivitäten, Entzug des eigenen religiösen Ritus, soziale Isolation. Zudem seien sie unter ständiger Aufsicht des Amtes für Sicherheit gewesen und ausspioniert worden – bis hin zu Massenfestnahmen und -inhaftierungen im Jahr 1948. Weitgehend verboten sei im neuen Siedlungsgebiet auch die Seelsorge im griechischkatholischen Ritus gewesen, trotz Niederlassung einiger Priester dieser Konfession. Erst 1952 sei der griechisch-katholische Ritus langsam wieder erlaubt worden. Kopiczko sprach für die erste Phase von einem „Anpassungsversuch“ und danach von einer „Hervorhebung der eigenen Identität“ gegenüber der römischkatholischen Kirche. Eine vollständige Reaktivierung der eigenen pastoralen Arbeit war erst nach dem Oktobertauwetter im Jahr 1956 möglich. Den Abschluss des Vortragsreigens bildete das Referat von Dr. Grzegorz Bębnik vom Polnischen Institut für nationales Gedenken, Filiale Kattowitz, zum Thema „Evangelische Kirchen in (Volks)Polen, unter besonderer Berücksichtigung von Oberschlesien“. Er legte die konfessionelle Situation bzw. die der Volksgruppen in der zweiten polnischen Republik dar mit evangelischen Gläubigen der augsburgischlutheranischen, der reformatorisch-calvinistischen und (nach 1945) der methodistischen Richtung. In Oberschlesien war die lutheranische Konfession vertreten, aber auch eine evangelisch-unierte Kirche. „Am Ende des Zweiten Weltkrieges war bei den Oberschlesischen Evangelischen eine Wende, die Mehrheit war gezwungen, ihre angestammte Region zu verlassen. Markus Bauer


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BJO-Herbstseminar mit historischem Schwerpunkt Der 150. Jahrestag des „Deutschen Krieges“ im Mittelpunkt Bad Honnef. (dod) In seiner 750-jährigen Geschichte war Ostpreußen ein Pfeiler und Mittler in Mitteleuropa. Der im Februar 2000 gegründete Bund Junges Ostpreußen (BJO) hat es sich – als Jugendorganisation der Landsmannschaft Ostpreußen – zur Aufgabe gemacht, dafür zu sorgen, dass Geschichte nicht durch Augenblicksempfindungen beiseitegeschoben werden kann. In diesem Sinne fand Anfang Oktober das BJO-Herbstseminar 2016 zum Thema „150 Jahre Deutscher Krieg – Preußisch-österreichische Perspektiven“ in Bad Honnef bei Bonn statt. Der zweite Bismarcksche „Einigungskrieg“ wurde zum Anlass genommen, um über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und sich mit den Wechselbeziehungen zwischen Preußen und Österreich in Geschichte und Kultur sowie mit dem Themenkomplex Flucht und Vertreibung in Österreich zu beschäftigen.

„Deutsch-deutscher Bruderkrieg“ Der 15. Jahrestag des „Deutschen Krieges“ war Anlass, den beschriebenen weißen Fleck in der deutschen Erinnerungskultur und geschichtlichen Debatte aufzuzeigen

und einige thematische Facetten näher zu beleuchten. Im Fokus stand die Zäsur, die für die Zeitgenossen eine Ungeheuerlichkeit darstellte. Österreich, das jahrhundertelang ein selbstverständlicher Teil Deutschlands gewesen war, wurde durch den deutschen Bruderkrieg von 1866 auf Bestreben des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck aus dem deutschen Staatenverbund herausgedrängt. Die kleindeutsche Lösung von 1871 beließ somit Teile des deutschen Sprach- und Kulturraums außerhalb der Grenzen des neuen Reiches. Die Flucht und Vertreibung der Deutschen im 20. Jahrhundert und ihre Vorgeschichte betrafen allerdings auch die Vertreter deutscher Volkszugehörigkeit im Bereich des Habsburger Vielvölkerstaats, der am Ende des Ersten Weltkriegs an den Nationalitätenkonflikten in seinem Inneren zusammenbrach.

„Als Ostpreuße in Österreich“ Am dem von Gesa Bierwerth und Jochen Zauner organisierten Tagungsprogramm in der Jugendherberge von Bad Honnef beteiligten sich rund 30 Teilnehmer, die die Erinnerungen des Zeitzeugen Jürgen Zauner „Als Ostpreuße in Österreich – Vertriebene in Grünau im Almtal 1944/45“ und den Erfahrungsbericht von Wilhelm Kreuer „Südtirols Kampf um Autonomie –

Gesa Bierwerth und Jochen Zauner hatten das Herbstseminar organisiert.

die Geschichte Südtirols ab dem Schicksalsjahr 1918“ aufmerksam verfolgten. Dr. Wolfgang Thüne, LO-Landesvorsitzender Rheinland-Pfalz sprach „Zum Mysterium und Martyrium Ostpreußens (Eckartschrift 208 der ÖLM)“. Neben Referaten renommierter Historiker aus Deutschland und Österreich gab es unter der Leitung des BJO-Vorsitzenden Marius Jungk auch rege Diskussionsrunden zu zukünftigen Projekten und Möglichkeiten des gemeinsamen Handelns.

Aus dem Vortragsprogramm Das BJO-Herbstseminar 2016 wurde übrigens nach § 96 BVFG durch die Landeszentrale für politische Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen im Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport gefördert.

Zu den Referenten aus Deutschland gehörte Dr. Manuel Ruoff, Historiker und Redakteur der Preußischen Allgemeinen Zeitung, der einen spannenden Beitrag zum Thema „Der preußischösterreichische Dualismus – ein Überblick“ bot. Der Referent sprach über „Dualismus“ im Sinne eines Antagonismus, zum Beispiel die Rivalität zwischen Österreich und Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und 1850 bis 1866. Dabei sei „Dualismus“ als teilweise Interessenidentität zu verstehen, etwa als das Zusammenwirken der beiden Mächte im Deutschen Bund (1815 bis 1848). Dr. Ruoff betonte: „Es ist also die Rede von ‚Doppelherrschaft‘ und „Rivalität‘. Das setzt ein Mindestmaß an Gleichwertigkeit, neudeutsch Augenhöhe, voraus. Dazu gehört, dass Preußen neben Österreich die zweite deutsche Großmacht Göllner (1); BdV-Hessen (1)


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wird.“ Einen weiteren Vortrag hielt der Historiker und Literaturwissenschaftler Dr. Walter T. Rix zum Thema „Der Berliner Kongress und die Konstellation der europäischen Mächte“. „Entwicklung der nationalen Identität in Österreich“ war der Titel des Referates, das Dr. Karl Katary von der österreichischen Landsmannschaft (ÖLM) für das BJO-Herbstseminar vorbereitet hatte, und das stellvertretend vom ÖLM-Mitglied Alwine Hartwig vorgetragen wurde. Im Anschluss an den Vortrag gab es eine rege Diskussionsrunde. Der Historiker Carsten Becher M.A. brachte den

Nachrichten Seminarteilnehmern das Thema „Schlesien zwischen Preußen und Österreich“ näher.

Leitspruch „Ostpreußen erleben“ Zusätzlich zu den programmgemäß stattgefundenen Vorträgen gab es im Anschluss an das BJO-Herbstseminar auf Einladung der LO-Landesgruppe NRW einen Vortrag zum Thema „Polens Kampf“. Damit wurde das Vortragsangebot für die Seminarteilnehmer um weitere interessante historische Aspekte erweitert. Das Jahrestreffen mit dem Herbstseminar ist eine feste

Größe im Veranstaltungskalender des Bundes Junges Ostpreußen. Doch über das ganze Jahr hinweg haben Ostpreußen und Freunde Ostpreußens aus der jungen und mittleren Generation die Möglichkeit, gemeinsam Landschaften zu erleben, Geschichte zu entdecken und Gemeinschaft zu erfahren. Aktivitäten wie Fahrten nach Ostpreußen, Seminare, Paddeltouren, Segeltörns, Kinderfreizeiten, Radtouren, Kriegsgräberpflege und Hilfstransporte sind nur einige der attraktiven Programmpunkte. Im November findet traditionell das Adventstreffen statt (24.-27.11.). Die diesjährige

43 Silvesterfahrt wiederum führt erstmals nach Allenstein (29.12.2016-03.01.2017). Als Besonderheit und sicherlich auch Höhepunkt für das nächste Jahr, gilt die geplante Mehrgenerationenfahrt nach Masuren (13.-25.08.2017). Der BJO stellt den Leitspruch „Ostpreußen erleben“ weiterhin in den Vordergrund. In „Fritz“ – der Jugendzeitung, die sich der Pflege des ostpreußischen Erbes und der Zukunft des „Landes zwischen Weichsel und Memel” verschrieben hat – sind u.a. interessante Berichte zum aktuellen Zeitgeschehen und aus dem Verbandsleben zu lesen. Dieter Göllner

Europäisches Bildungswerk in Oberschlesien Hessische Landesbeauftragte Ziegler-Raschdorf spricht im Rathaus von Neustadt Neustadt/OS. (dod) Im Rahmen einer 6-tägigen Seminarreise des Deutsch-Europäischen-Bildungswerkes in Hessen e.V. zum Thema: „Das deutsch-tschechisch-polnische Miteinander im gemeinsamen Europa“ referierte die Landesbeauftragte der Hessischen Landesregierung Margarete Ziegler-Raschdorf im Rathaus von Neustadt/Prudnik in Oberschlesien über ihre Arbeit und ihren Aufgabenbereich im Sinne des europäischen Einigungsgedankens. Zuvor hieß Bürgermeister Franciszek Fejdych die rund 40 Gäste aus Hessen willkommen und stellte ihnen seine „schlesische Stadt“ mit ihrer eindrucksvollen Geschichte und ihrer europäischen Identität vor. „Ich bin dankbar und freue mich, dass ich heute hier im Rathaus der Stadt Neustadt in Oberschlesien stehen und eine Rede halten darf, denn es verbindet mich viel mit diesem Ort. Dieses Rathaus war

die Wirkungsstätte meines Großvaters väterlicherseits, der hier vor dem Zweiten Weltkrieg Standesbeamter und eine Art Bürgermeister war. Es ist bewegend für mich, hier zu stehen, es ist aber auch beruhigend und ich bin dankbar, dass es möglich ist“, führte Ziegler-Raschdorf aus. Sie erläuterte ihre Mittlerfunktion zwischen Landesregierung und den Vertriebe-nenverbänden und Spätaussiedlerorganisationen. Die seit vielen Jahren beachtlichen und stetigen Leistungen der Hessischen Landesregierung für den Personenkreis der Vertriebenen und Spätaussiedler seien „feste Größen“ in Hessen. Der „Landespreis Flucht, Vertreibung, Eingliederung“, der „Landesgedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation“, der jährliche „Tag der Vertriebenen“ beim Hessentag seien im Jahreskalender als feste Größen etabliert. Das Land Hessen

In Neustadt (v.l.n.r.): Landesbeauftragte Margarete Ziegler-Raschdorf, Bürgermeister Prudnik Franciszek Fejdych und BdV-Landesvorsitzender Siegbert Ortmann.

stelle sich damit seiner Aufgabe aus § 96 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) „das Kulturgut der Vertreibungsgebiete im Bewusstsein der Vertriebenen und Flüchtlinge, des gesamten deutschen Volkes und des Auslandes zu erhalten“. In vielen Regierungen und Parlamenten Europas erwache in den letzten Jahren der Sinn für Recht und Verantwortung sowie die Kultur der

Heimatvertriebenen. So habe Ungarn einen Gedenktag für die Vertriebenen eingeführt und die Donauschwaben zur Rückkehr eingeladen, Serbien biete den Donauschwaben eine Entschädigung an, Rumänien wolle die Siebenbürger Sachsen mit einer Opferrente ehren und der Europarat habe die Republik Polen aufgefordert, seine Verpflichtungen gegenüber der deutschen Volksgruppe zu erfüllen.


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PERSONALIEN Thomas Strobl ist zum Landesbeauftragten für Vertriebene und Aussiedler Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl ist zum Landesbeauftragten für Vertriebene und Aussiedler berufen worden. Baden-Württemberg gehört nun neben Hessen wieder zu den Bundesländern, die einen offiziellen Regierungsvertreter für diesen Bereich benennen. BdVPräsident Dr. Bernd Fabritius begrüßte die Berufung und freute sich, dass „diese traditionsreiche und für die Betroffenen auch symbolisch sehr wichtige Position nunmehr wieder besetzt sei“. Er dankte der CDU Baden-Württemberg, dass diese sich „nach Gesprächen mit dem Bund der Vertriebenen dieses Themas angenommen und es erfolgreich durch die Koalitionsverhandlungen gebracht hat.“ Der OMV-Bundesvorsitzende und ehemalige BdV-Vizepräsident Helmut Sauer erklärte, die CDU bleibe damit „ein verlässlicher Partner an der Seite der deutschen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler“. Insbesondere würdigte er den Einsatz der OMV/UdVFLandesvorsitzenden Iris Ripsam MdB vor Ort. Minister Strobl sprach bereits kurz nach seiner Berufung bei mehreren Veranstaltungen zum Tag der Heimat. Dabei sagte er u.a.: „Die Aktivitäten des Landes zeigen, dass das Land Baden-Württemberg die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge wertschätzt. Wir fühlen uns dem kulturellen Erbe verpflichtet und werden dieses auch in Zukunft weiter pflegen. Zentrale Herausforderung hierbei wird sein, dieses Erbe auch bei den Jüngeren im Bewusstsein zu erhalten, die keine persönlichen oder in der Familie tradierten Erinnerungen an die Herkunftsgebiete haben.“ LO-Sprecher Stephan Grigat erhält Bundesverdienstmedaille Der Bundespräsident hat Stephan Grigat, Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen (LO) in Anerkennung seiner um die Bundesrepublik Deutschland erworbenen besonderen Verdienste die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. In der Begründung heißt es, „aufgrund des langjährigen Engagements für die Belange der Menschen aus dem ehemaligen Osten Deutschlands.“ Axel Lehmann, Landrat des Kreises Lippe, überreichte die Auszeichnung im Rahmen einer Feierstunde. In seiner Laudatio würdigte er Grigats langjähriges Engage-

ment für Ostpreußen und in der Landsmannschaft Ostpreußen: „Ihr Wirken für die Kreisgemeinschaft Goldap und die Landsmannschaft Ostpreußen war jederzeit gewinnbringend.“ Schon in jungen Jahren engagierte sich Grigat in der landsmannschaftlichen Arbeit. Seit 1992 steht er an der Spitze der Kreisgemeinschaft Goldap, dem Zusammenschluss der geflüchteten, vertriebenen und im Laufe der Jahre ausgesiedelten deutschen Bürger des Kreises Goldap in Ostpreußen und der noch heute dort lebenden Deutschen. Sie vertritt etwa 1300 zahlende Mitglieder mit rund 7500 Angehörigen. Als Kreisvertreter legt Grigat den Schwerpunkt seiner Arbeit auf die Betreuung der in der Heimat verbliebenen Deutschen und die Wahrung ihrer gesellschaftlichen und rechtlichen Anerkennung. Mehrmals im Jahr hält er sich vor allem im heute polnischen Teil Ostpreußens auf, um Gespräche mit den dortigen Behörden und Vertretern der deutschen Vereine zu führen. Seit rund 20 Jahren gehört Grigat dem Bundesvorstand der Landsmannschaft Ostpreußen an, die ihn 2010 zu ihrem Sprecher wählte. Im gleichen Jahr wurde er Mitglied des Stiftungsrates der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Seit 2012 ist Grigat Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen. Klaus Johannis erhält Hermann-Ehlers-Preis Die Kieler Hermann Ehlers Stiftung hat Rumäniens Staatspräsident Klaus Werner Johannis mit dem HermannEhlers-Preis ausgezeichnet für seinen Kampf gegen Korruption und für mehr Rechtstaatlichkeit in Rumänien. Der seit 2014 amtierende Präsident Rumäniens nahm den Preis bei einer feierlichen Zeremonie vor 300 Gästen im Plenarsaal des Schleswig-Holsteinischen Landtages in Kiel entgegen. Der Vorsitzende der Hermann Ehlers Stiftung, Otto Bernhardt, überreichte den Preis. Laudator Dr. Bernd Fabritius MdB, Präsident des Bundes der Vertriebenen und Verbandspräsident des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland, betonte, dass Johannis gerade bei der jungen Generation in seinem Land sehr beliebt sei und auch deshalb als Brückenbauer zwischen den Ländern Europas gelte. Fabritius erinnerte an die äußerst erfolgreiche 15-jährige Amtszeit des Siebenbürger Sachsen als Bürgermeister von Hermannstadt, der Europäischen Kulturhauptstadt 2007. Damals schon habe sich der Preisträger als „überzeugter Europäer“ und „Vermittler zwischen den Ethnien“ profiliert. Dieser innere „Kompass“ präge auch seine bisherige Arbeit als Staatspräsident von Rumänien. Ohne sich „am medial überdrehten und oft sich selbst genügenden Bukarester Polit-Zirkus“ zu beteiligen, zeichne sich Johannis „durch eine ruhige, ehrliche, sachliche und kluge Art“ aus. Als Präsident repräsentiere er „nicht das politische Establishment, sondern seine Bürgerinnen und Bürger“. Chaperon (1); Kreis Lippe (1), Hermann-Ehlers-Akademie (1)


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Nachrichten

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12. Domus Revaliensis-Tage in Reval Deutschbaltisch-Estnische Kulturtage haben eine besondere Tradition Reval. (dod) Die Akademie der Wissenschaften in Reval/ Tallinn ist nach wie vor der richtige Ort für die Domus Revaliensis-Tage 2016. In diesem Haus (ehemals v. Ungern-Sternberg) befand sich in der Zwischenkriegszeit (1918-1939) die Deutsche Kulturselbstverwaltung und die letzte Registrierung (1939) aller Deutschen für die Umsiedlung. Der Schreibtisch steht noch heute dort. Im Vorhof des Hauses befindet sich der Gedenkstein für das Baltenregiment, den die Deutschbalten gespendet haben. Etwa 60 Personen hatten sich im wunderschönen Spiegelsaal zur Eröffnungsveranstaltung eingefunden. Unter ihnen zwölf angereiste Personen aus Deutschland. Die Festveranstaltung begann mit der Begrüßung der Gäste durch M. Silm und B. v. Sass. Anschließend hielt Helmut Scheunchen einen sehr interessanten Vortrag (mit neuesten Forschungen) über die „Deutschbaltische Liedschule“ in Estland.

Deutsches Liedgut im Vortrag Im zweiten Vortrag ergänzte Alo Poldmäe diese Ausführungen, in dem er den Ursprung der Estnischen Sängerfeste als Folge des deutschen Liedgutes erklärte. Beim anschließenden Empfang freute man sich, Bekannte wieder zu treffen und sich mit neuen Gästen auszutau-

schen. Die Kranzniederlegung am Denkmal des Baltenregiments fand am Samstag statt. Die Teilnehmer gedachten des Ereignisses zum Ende des Ersten Weltkrieges, bei dem Deutschbalten und Esten freiwillig, unter estnischem Kommando

gegen die Bolschewisten kämpften. Dr. Olav Liivik berichtete über dieses historische, besondere Ereignis. Die Feier endete mit dem gemeinsam gesungenen, baltischen Lied „Segne und behüte“. Anschließend begaben sich alle Teilnehmer und weitere Gäste in den Spiegelsaal der Akademie der Wissenschaften, wo die nächste Veranstaltung, das Konzert „Ella mit dem Paukenschlag“ begann. Das klingende Erbe der hochmusikalischen Deutschbaltin Ella v. Schultz, die ihre Jugend auf einem Gut in Estland verbrachte hatte, berührte alle Zuhörer. Die Sängerin Martina Doehring berichtete über das Leben der Künstlerin. Sie unterbrach ihre anschaulichen Schilderungen immer wieder, um Kompositionen von Ella v. Schultz

meisterhaft vorzutragen. Aivars Kalejs begleitete Sie sehr feinfühlig am Flügel. Am Samstagnachmittag besichtigten die Teilnehmer das Dominikaner-Kloster (1229) mitten in der Stadt. Das Kloster war der größte und älteste sakrale Bau des Baltikums mit einer Dreischiffigen Hallen-Kirche Es stellte den größten Handelsumschlag Estlands im Mittelalter dar. Verschiedene Räumlichkeiten werden noch heute genutzt als Bibliothek, geistliche Räume oder Gastronomie. Zum Gesellschaftsabend fanden sich etwa 40 Personen ein. Unter ihnen 10 Jugendliche. Leider waren viele Lücken in der Teilnahme der älteren Generation festzustellen. Dennoch verlief der Abend sehr lebendig. Alle Gäste mischten sich – Esten, Deutschbalten, Deutsche und Russen. Das Ziel, sich näher kennen zu lernen, wurde vollendst erreicht. Die Andacht am Sonntag wurde früh vom estnischen Pastor Dr. Jaan Lahe in der Olai-Kirche gehalten werden, damit der Aufbruch zur großen Fahrt nach Wesenberg/Rakvere rechtzeitig erfolgen konnte. Wir sangen zum Schluss wieder unser gemeinsames Lied „Segne und behüte“. Die Ausfahrt führte in diesem Jahr nach Wesenberg/Rakvere. Dort wurde die Dreifaltigkeitskirche der Stadt mit uralten Grabsteinen besichtigt. Ein weiteres Ziel war das

„Haus-Museum des Bürgers“ aus dem 19. Jahrhundert. Eine sehr kundige Dame führte durch alle Räume des Hauses und die Nebengebäude im Garten. Arvo Pärt, der berühmte estnische Pianist und Komponist hat in diesem Haus gelebt. Auch das ehemalige Gut Wesenberg/Rakvere (ehemals Familie von Tiesenhausen) mit einer riesigen, sehr gepflegten Parkanlage, in dessen Gutshaus sich heute ein Theater befindet, wurde besichtigt. Den Höhepunkt der Reise bildete die Besichtigung der sehr gut restaurierten Burg aus dem 13. Jahrhundert. Sie ist museal hergerichtet und zeigt in verschiedenen Räumen, das Leben der Menschen vom 14. bis 16. Jahrhundert. Auf dem Hof erlebten wir verschiedene Haustiere und Wirtschaftsbereiche. Ein Däne hatte die Burg verkauft. Später war sie Sitz eines deutschen Vogts. Eine Rundfahrt durch die Stadt und verschieden Stadtteile mit Parkanlagen, Gedenkstätten, Krankenhaus und Schulen beendete unsere große Ausfahrt. Zufrieden und froh, so viel von Estland gesehen und erlebt zu haben, kehrte die Gruppe nach Reval/Tallinn zurück. Der Abschied nahte. Wehmütig verabschiedete man sich von Freunden und neuen Bekannten. Ein Gefühl der Gemeinschaft hat sich im Laufe der Jahre besonders ausgeprägt. Babette Baronin v. Sass


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Auch Kirche kann Heimat bieten Berlin. (dod) Zum angekündigten Ende der überdiöze­sanen Seelsorge für Heimat­vertriebene und Aussiedler der katholischen Kirche erklärt BdV-Präsi­dent Dr. Bernd Fabritius MdB: Die Vertriebenenseelsorge der katholischen Kirche hat sich in den vergangenen sieben Jahrzehnten ihrer Arbeit große Verdienste er­ worben. Durch sie haben die katholischen deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge nach dem Heimatverlust zumindest ihre religiöse Heimat bewahren können. Bischöfe, Visitatoren und Priester aus den Diözesen der Heimatund Siedlungsgebiete spendeten Trost und Hoffnung in schwieriger Zeit. Die Vertriebenen wiederum haben sich ehrenamtlich in die Strukturen eingebracht. Gemeinsam konnten religiöse wie kultu­ relle Bräuche gesichert, Traumata bewältigt und der Schmerz der Ent­ wurzelung gelindert werden. Viele der Seelsorger haben dabei auch zukunftsfähige verständigungs­p olitische Schwerpunkte gesetzt, so unter vielen etwa der in diesem Jahr mit der Ehrenplakette des Bundes der Vertriebenen ausgezeich­ nete, ehemalige Visitator für Priester und Gläubige aus der Grafschaft Glatz, Großdechant Franz Jung. Daher halte ich das nunmehr angekündigte Ende der bisherigen ver­triebenenseel-sorgerischen Strukturen der katholischen Kirche für sehr bedauerlich. Auch Kirche kann Heimat bieten und sollte in diesen Bestrebungen nicht nachlassen. Ich begrüße, dass der Erfurter Weihbischof Dr. Reinhard Hauke weiter­hin Beauftragter der deutschen Bischofskonferenz für die Vertriebe­ nen-

Nachrichten und Aussiedlerseelsorge bleiben und dass das ehrenamt­ liche Engagement katholischer Vertriebenenverbände fortan verstärkt gefördert werden soll. Dennoch wäre gegenüber den Zeitzeugen von Flucht, Vertrei­bung und Deportation nach dem Zweiten Weltkrieg an ihrem Lebensabend ein deut­licheres Zeichen seelsorgerischer Verbunden­heit wünschens­wert gewesen.

„Schlesien begeistert!“ Königswinter. (dod) Schlesien begeistert!“ lautet das Motto für das kommende Deutschlandtreffen der Schlesier im nächsten Jahr. Dies beschloss der geschäftsführende Bundesvorstand der Landsmannschaft Schlesien – Nieder und Oberschlesien e.V. auf seiner Sitzung am Sonnabend, den 13. August im Haus Schlesien in Königswinter. „Wir haben als Vorstand bewusst ein kurzes und prägnantes Motto für unser Deutschlandtreffen gewählt“, so Stephan Rauhut, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft Schlesien. „Begeisterung für Schlesien ist das tragende Fundament der Arbeit der vielen ehrenamtlichen Funktionsträger und Mitglieder der Landsmannschaft. Diese Begeisterung für unsere Heimat Schlesien im Herzen Europas soll auch im nächsten Jahr bei unserem Deutschlandtreffen spürbar werden. Vor allem gilt es, diese Begeisterung an die Jüngeren weiterzugeben, damit Schlesien auch in Zukunft weiterlebt“, so der Bundesvorsitzende. Das Deutschlandtreffen 2017 beginnt am Freitag, den 23. Juni 2017 in der Hannoverschen Innenstadt mit einem ökumenischen Gottesdienst und einem schlesischen

Volksfest. Von Sonnabend bis Sonntag öffnen die Hallen des „Hannover Congress Centrum (HCC)“ mit vielfältigen Angeboten, Darbietungen, Gottesdiensten, Vorträgen, schlesischen Köstlichkeiten und der Gelegenheit für zahlreiche Begegnungen. Das erste Deutschlandtreffen der Schlesier fand 1950 in Köln statt und wird seit 1953 von der Landsmannschaft Schlesien im Zweijahresrhythmus ausgerichtet.

SPD begrüßt Grundsteinlegung München. (dod) Der vertriebenenpolitische Sprecher der bayerischen SPD-Landtagsfraktion, Volkmar Halbleib, begrüßt, dass nach zehn Jahren der Vorbereitung nun endlich der Grundstein für das Sudetendeutsche Museum in München gelegt wurde: „Die SPD hat das von der Staatsregierung angekündigte Projekt von Anfang an politisch-parlamentarisch unterstützt und im Landtag mehrfach auf eine raschere Realisierung gedrängt. Das Museum wird dazu beitragen, das große sudetendeutsche Kulturerbe von Bayerns „Viertem Stamm“, wie der SPDPolitiker und frühere bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner die nach Bayern geflüchteten Sudetendeutschen genannt hat, zu bewahren. Es geht uns dabei nicht nur um die Nachkommen der Heimatvertriebenen. Dieser Teil der Geschichte muss für alle Bayern präsent bleiben.“ Das Projekt aus Sicht der SPD-Fraktion ein weiterer Baustein in dem sich gut entwickelnden Nachbarschaftsverhältnis zwischen Bayern und Tschechien. Das Museum wird unmittelbar neben dem Sudetendeutschen Haus in der Münchner Innenstadt gebaut.

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IMPRESSUM

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Erscheinungsweise: zweimonatlich

Bezugspreis im Jahresabonnement: 48, – Euro für BdV-Mitglieder 36, – Euro Abdruck nach Vereinbarung. Die mit Namen oder Chiffre gezeichneten Artikel geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers wieder. Für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos, Bespre­ chungsexemplare etc. wird keine Haftung übernommen.



AUSSTELLUNG: „DIE GERUFENEN“ Deutsches Leben in Mittel- und Osteuropa AUSSTELLUNG: „ERZWUNGENE WEGE“ Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts AUSSTELLUNG: „“ANGEKOMMEN“ Die Integration der Vertriebenen in Deutschland AUSSTELLUNG: „VERSCHWUNDEN“ Orte, die es nicht mehr gibt

ZgV - Zentrum gegen Vertreibungen

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