Niederösterreicherin September 2021

Page 61

Leben

DIE NEUE

NORMALITÄT Die Pandemie hat mit uns allen etwas gemacht. Im privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Kontext sehen wir uns mit Fragen konfrontiert, die uns auch in Zukunft begleiten werden. Wir fragten den Gesundheitsexperten Hon. Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp. Text: Angelica Pral-Haidbauer

I

solation, Vereinsamung, Perspektivenlosigkeit, Ängste – und der vermehrte Griff zu Genussmitteln. Um eine kollektive Widerstandsfähigkeit in und nach der Pandemie aufzubauen, gilt es, Systeme anzuwenden, die jetzt wieder hochaktuell sind: Stichwort Schadensminderung. Dieser Begriff bezeichnet Maßnahmen, Strategien und Praktiken, die darauf abzielen, die negativen gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen menschlicher Verhaltensweisen zu reduzieren. Hierbei stellt sich die Frage, welche Risikobewertung nötig ist, um den eigenen Lebensstil an die neuen Umstände anzupassen und wie können wir Schaden und Einfluss zwischen uns und unserer Umgebung reduzieren? NIEDERÖSTERREICHERIN: Herr Professor Rupp, Wissenschaftler stellen eine zunehmende Pandemie-Müdigkeit fest ... Bernhard Rupp: Menschen entwickeln erstaunlich kreative Überlebensstrategien, gesunde und auch einige ungesunde. Letzteres kann man kaum jemandem verübeln, denn im Moment kommt es ja besonders dick. Als ob die Pandemie nicht schon reichen würde, haben wir jetzt auch global und regional Probleme mit extremer Hitze, Stürmen und Überschwemmungen. Der Mediziner

Foto: Wilke/Wien1

Wilhelm Busch hat schon gedichtet „Es ist bekannt seit alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör“. Die Politik ist für die Zeit nach dem Kampf gegen das Covid-19-Virus gefordert, klare, realistische und attraktive Zukunftsbilder einer reifen, sozial solidarischen und nachhaltigen Gesellschaft zu entwickeln. Das nährt Hoffnung in den Herzen der Menschen Wie kann man die Menschen im Sinne eines zukunftsorientierten Allgemeinwohls also noch bei Laune halten? Mit „bei Laune halten“ ist wohl gemeint, zu trachten, dass die Menschen nicht auf Verordnungen und Empfehlungen der Behörden „pfeifen“? Also, Wissenschaft und Politik wären fürs Erste gut beraten, sorgsam im Umgang mit öffentlichkeitswirksamen Informationen zu sein. Widersprüchliche Expertinnenund Expertenmeinungen, Furchtappelle und das Spielen mit der Angst bringen wissenschaftlich fundiert wenig. Kontinuierliche niederschwellige gesundheitliche Aufklärung – z.B. über Hygiene, persönliches Verhalten und Verantwortung für alle Altersgruppen in Schulen, Kindergärten, Betrieben, Gemeinden sowie in sozialen Medien – wäre meiner Meinung nach der Weg, die notwendige Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung zu steigern. Sie sagen, das Zauberwort ist Bil61

dung ... Genau! Wie heißt es in der Bibel, im Psalm 1:2 sinngemäß so treffend, dass wir alle „Lust am Gesetz“ entwickeln müssen. Nur dann, wenn behördliche Anordnungen von den Menschen inhaltlich verstanden und als nützlich angesehen werden, werden sie auch weitgehend eingehalten. Polizeistaatliche Methoden führen nur zu einem Scheingehorsam („cumplir sin obedecer“) der Bürgerinnen und Bürger mit fatalen gesundheitlichen Folgen für die Gemeinschaft. Soziale Geselligkeit wurde für Monate auf Eis gelegt, digitale Chats ersetzten persönliche Kontakte – wird sich unsere Gesellschaft dadurch nachhaltig verändern? Die soziale Geselligkeit wurde augenscheinlich teilweise nur aus dem öffentlichen Raum ins nicht sichtbare private „Biedermeierzimmer“ verdrängt. Dieser Scheingehorsam ist meines Erachtens nach ein problematischer Schritt in Richtung einer zunehmenden „Bedeutungslosigkeit von Rechtsvorschriften und behördlichen Anordnungen“. Ich würde mir eine Veränderung unserer Gesellschaft dahingehend wünschen, dass die sogenannten „systemrelevanten“ Berufsangehörigen – und hier rede ich ausdrücklich nicht von Ärztinnen und Ärzten vergrößerter Wertschätzung mit erheblich


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.
Niederösterreicherin September 2021 by Bundesländerinnen - Issuu