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Gamen als Beruf
Stefanie Holenweg am Arbeitsplatz: Sie hat ihr Hobby zum Beruf gemacht und verdient ihr Geld mit Gamen. Zum zehnten Geburtstag bekam Stefanie Holenweg ein Geschenk, das ihr Leben prägen sollte: eine Nintendo 64 mit dem Videospiel «The Legend of Zelda: Ocarina of Time». «Seither löst Gamen bei mir Glücksgefühle aus und lässt mich in neue Welten eintauchen», schwärmt die 32-Jährige. Lange war sie auch Journalistin bei «eSports.ch». Seit elf Monaten kann sie allein vom Gamen leben. Ein Schweizer Onlinehändler hat für sie die Stelle als «Content Marketing Managerin Gaming» geschaffen: Sie spielt Videogames, filmt sich dabei und verdient damit ihr Geld. Ihr Ziel ist es, Gaming aus der Nerd-Ecke zu holen. Bis dahin sei es jedoch noch ein weiter Weg.
Mehr Preisgeld als Tennisprofis Dabei ist Gaming längst kein Kinderkram mehr, sondern ein Milliardengeschäft. 90 Prozent der unter 35-Jährigen gamen – längst nicht mehr nur Nerds. Hunderte Millionen Menschen schauen regelmässig zu, wie andere stundenlang Videospiele zocken. Die besten Spielerinnen und Spieler kassieren an Turnieren höhere Preisgelder als Tennisprofis ein WimbledonSieg einbringt. Und Xbox, die Spielkonsolenabteilung von Microsoft, bietet Kurse für die Karriereplanung an.
Trotzdem getrauten sich Schweizer Unternehmen kaum, sich auf diese Welt einzulassen, sagt Holenweg. Die Migros startet mit «Merge: Rätsel der Zeit» nun einen ersten Versuch. «Auch bei meinem Arbeitgeber geht es langsam voran», sagt Holenweg. Seit Januar streamen sie und ihr Team mehrmals pro Woche auf der Onlineplattform Twitch, spielen neueste Videogames wie aktuell «Lego Star Wars» und bewerben nebenbei ihre Produkte. Twitch ist derzeit der Treffpunkt Nummer eins für Gamerinnen und Gamer. Dort gehen Menschen wie Stefanie Holenweg live, zocken und chatten mit ihrem Publikum. «Es ist wie fernsehen, einfach besser», sagt sie. Im Twitch-Kalender sieht man: 8BITBLNDE – das ist Holenwegs Benutzername – streamt für ihre 3800 Follower dreimal pro Woche. Dann sitzt sie mit lila Kopfhörern in einem weissen Lederstuhl, der aussieht, als stamme er aus einem Rennauto. Bis zu zwölf Stunden sitzt sie darin.
Die meisten Menschen, die ihr zuschauen, hat sie noch nie gesehen. Mit zwei oder drei ist sie mittlerweile aber befreundet.
Vom Streamen allein könnte Stefanie Holenweg jedoch nicht leben. «Dafür bräuchte ich mindestens 1500 Leute, die ein Abo bei mir lösen.» Ein solches Abo kostet sechs Franken pro Monat, wovon die Hälfte an Streamerinnen wie Holenweg geht. Abonnenten erhalten spezielle ChatEmojis und können Werbung im Stream ausblenden. Das Publikum kann Holenweg auch mit sogenannten Bits direkt unterstützen. 100 Bits kosten Fr. 1.40 und lösen eine Animation auf dem Bildschirm der Streamerin aus. Holenweg erhält pro Bit einen Rappen. Die erfolgreichsten Streamer verdienen so innert Minuten Tausende von Franken. 8BITBLNDE kann davon nur träumen: Sie erhält, wenn es gut läuft, alle zehn Minuten ein paar Bits und kann sich bei jedem Spender noch einzeln bedanken.
Stefanie Holenweg Profi-Gamerin
Die «Wölfin» quatscht gern Hin und wieder müsse sie sich überwinden, live zu gehen. «Am Ende tut mir der Austausch aber immer gut», sagt Holenweg, die sich selbst als «Wölfin» bezeichnet, also gern allein ist – aber nicht einsam. Das scheint auf die meisten Gamerinnen und Gamer zuzutreffen. Die beliebteste Streamingkategorie auf Twitch heisst «Just Chatting», einfach quatschen. Holenweg schweift während des Gamens auch mal ab, plaudert über gesunde Ernährung, Dinos oder Panikattacken. Etwa wenn sie beim Videospiel «Unpacking» Umzugsboxen auspackt und Schränke einräumt.
«Ich bin grosser Fan von solchen Indie-Games. Es gibt viel mehr als nur Kriegsspiele im ‹Call of Duty›-Stil», sagt Holenweg. Die Spiele können gesellschaftskritisch sein, den Umgang mit dem Tod behandeln, das Gehirn trainieren oder entspannen (siehe Tipps links).
Holenweg zögerte lange, bis sie der Mutter erzählte, dass sie sich beim Gamen filmt und dabei Fremde zuschauen lässt. «Wie viele Eltern verstand sie nicht, warum ich so viele Stunden vor dem Bildschirm verbrachte.» Mit 23 nahm sie ihren Mut zusammen, holte einen Stuhl für ihre Mutter, zeigte ihr, wie alles funktioniert, und beantwortete ihre Fragen. «Ich empfehle allen Eltern, einmal einen Nachmittag mitzuspielen und Interesse für das Hobby zu zeigen. Denn genau das ist Gamen: ein Hobby. Kein Heroin, das süchtig macht und Leben ruiniert», sagt Holenweg.
Führungserfahrung gewonnen Im Gegenteil: Sie hat dank der Videospiele sogar einen Karrierepfad gefunden, der ihr viel Spass macht und sie erfüllt. «Freunde von mir haben schon Stellen bekommen, weil sie im Lebenslauf erwähnt haben, dass sie Gamer-Gruppen anführen.» Denn die Firmen werteten dies als Führungserfahrung. Für Holenweg ist klar: Die Zukunft gehört den Gamerinnen und Gamern. MM