regiotto – Gutes aus Hessen – Frühjahr/Sommer 2022

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Im Gespräch

Liebe zum Bier In Gießen steht ein Weißbräuhaus, das deutschlandweit, wenn nicht weltweit, einmal Vorbildcharakter haben soll. Doch soweit ist es noch nicht. Eine junge weibliche Führungskraft aus München nimmt sich der Aufgabe an. Wolfgang Burger traf Julia Seiss am Brauereistandort in Lich, um mit ihr über Konzeptionen, „Gastronomie mit System“ und gelernte Maßkrughalter zu sprechen Von der Paulaner Brauerei Gruppe in München kommend, sind Sie vor kurzem in Gießen beim Benediktiner Weißbräuhaus als Führungskraft gelandet. Sie sind Geschäftsführerin der Brau-Gastro-Kontor GmbH, einer hundertprozentigen Tochter der Bitburger Brauerei. Davor haben Sie sogar eine Doktorarbeit zum Thema deutsche Brauereien in Privatbesitz verfasst. Was ist aktuell Ihre Aufgabe? Kurz gesagt soll ich das Konzept Benediktiner Weißbräuhaus fortentwikkeln, um es später als Franchise in die Welt zu tragen. Wie kommt es, dass ausgerechnet das Thema Bier zu Ihrem beruflichen Lebensinhalt wurde? Wurde Ihnen das Thema in die Wiege gelegt, sind Sie vielleicht die Tochter eines Wiesenwirts? Nein, leider nicht. (lacht) Ich bin tatsächlich die einzige in der Familie, die in der Gastronomie arbeitet. Als Münchnerin habe ich mit sechzehn das Hotelfach in Hamburg gelernt und danach eigentlich eine ganz klassische Laufbahn in der Gastronomie absolviert. Ihre Ausbildung in Hamburg, das ist wohl die Erklärung, dass man Ihnen überhaupt nicht anhört, dass Sie aus München kommen. Das ist ein Grund, ein anderer ist es, dass man uns damals in der Schule mehr oder weniger verboten hat, Dialekt zu sprechen. Was meinen Sie denn damit, wenn Sie sagen, Sie hätten den klassischen Weg gemacht? Meine Stationen waren Restaurants und Hotels in Frankreich, China und Holland. In China war ich bei der Hotelkette Kempinski beschäftigt, wo es eine Kooperation mit der Paulaner Brauerei gab. In Xi’an, das ist da, wo

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die Terracotta Armee steht, habe ich ein Paulaner Bräuhaus miteröffnet und später das Restaurant auch geleitet. So kam ich zu Paulaner. Und damit waren Sie mittendrin im Biergeschäft. Ja so ungefähr. Von Holland kommend habe ich mich später erneut spontan auf eine Stelle bei Paulaner beworben, wo jemand für deren Konzeptionssparte gesucht wurde. Solche Stellen sind vermutlich eher dünn gesät. Tatsächlich gibt es nur ganz wenige Player im Biermarkt, die sich eine eigene Konzeption leisten. Das liegt daran, dass die Entwicklung von eigenen Gastroformaten ziemlich aufwändig ist und auch immer mit einem gewissen Risiko einhergeht. Wenn Sie eine Dissertation geschrieben haben, dann müssen Sie ja wohl die Arbeit im Gastrobetrieb zeitweise gegen ein Studium getauscht haben. Das stimmt. Zumindest teilweise, da ich hauptsächlich berufsbegleitend studiert habe. Ich habe International Business und Management in Amsterdam studiert und den MBA gemacht und später an der Edinburgh Napier University eine Dissertation mit dem Thema, ich sag es mal auf Englisch, „Internationalisation and development strategies of privately-owned breweries in Germany“ geschrieben. Damit waren Sie dann endgültig für das Thema Bier und Brauerei vorgeeicht. Mit diesem Abschluss hätten Sie auf dem Arbeitsmarkt aber sicher noch viele andere Dinge machen können. Sie wollten aber unbedingt dem Thema Bier die Treue halten. Warum? Bier ist ein Kernprodukt unserer Kultur in Deutschland, egal in welchem Bundesland. Das gehört einfach mit

Julia Seiss im Schankraum vom Benediktiner Weißbräuhaus in Gießen

dazu und ich finde es sehr schade, wenn immer mehr Brauereien existentiell gefährdet sind. Die Neigung kann ich also nicht verleugnen und letztendlich hat die Beschäftigung mit dem Thema Bier und Brauereien im Rahmen der Doktorarbeit zu dem geführt, was ich heute mache. Ohne diese Arbeit wäre ich wohl kaum bei Bitburger gelandet. Es war sogar so, dass ich von Bitburger aktiv angesprochen wurde Wie kam das? Das hatte mit den Kontakten zu tun, die ich während meiner Recherche knüpfen durfte. Irgendwann hieß es, ob ich denn nicht Lust hätte, das Thema Konzeption und Franchise bei Bitburger zu übernehmen. Verzeihen Sie die Frage. Das, was Sie hier in Gießen im Benediktiner Weißbräuhaus in der aufwändig restaurierten Alten Post machen, darf man das Systemgastronomie nennen? Also ich würde es lieber Gastronomie mit System nennen, und das nicht nur weil es besser klingt. Wir sind auch keine klassische Systemgastronomie. Es ist nicht so, dass wir gegenüber unserem Personal und was die Produkte angeht, jeden einzelnen Punkt akribisch vorgeben. Allerdings gehört es schon zu unserem Selbstverständnis, ein gewisses übertragbares Grundkonstrukt zu haben. Aber wir lassen uns selbst im Rahmen des Gießener Pilotprojekts und später natürlich auch gegenüber den Betreibern noch gewisse Freiheiten.


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