Museumsjournal 03/2025

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Ausstellungen in Berlin und Potsdam

3/25 JULI AUGUST

SEPTEMBER

AUFRECHT

Irma Stern im Brücke-Museum

MARION ACKERMANN

Die neue Präsidentin der Preußenstiftung im Interview

UNHEIMLICH

Issy Woods

Bildwelten im Schinkel Pavillon

MUSEUMSINSEL

Der Strand unter dem Pflaster

INHALT

CAMILLE PISSARRO

PANORAMA

6

Postmodern

Die revolutionäre Mailänder DesignGruppe Alchimia im Bröhan Museum

10

Blickfang

Daniel Hölzl bringt mit seiner Installation »Soft Cycles« die Berlinische Galerie zum Atmen

Geh doch nach …Wannsee

Das Café Max in der Liebermann-Villa bietet starken Kaffee bei herrlicher Aussicht

11

Momentaufnahme

Ein Blick auf die Hauptstadt-Archäologie im neuen Petri Berlin

12 News

Aus den Berliner Museen und Ausstellungshäusern

15

Drei Fragen an die Präparatorin Christin Scheinpflug

16

Kolumne

Museumsbesuche auf Rezept Neue Bücher

Fünf Empfehlungen aus der Redaktion

18

Tagesreise

nach Weimar

Die Stadt der Klassiker widmet Goethes »Faust« ein Themenjahr

Camille Pissarro, »Blick aus meinem Fenster bei trübem Wetter«, 1886-1888
Cover: Irma Stern, »Zanzibar Boy«, 1945
Irma Stern, »Zanzibar Boy«, 1945, Öl auf Leinwand, ungerahmt: 86,4 x 61cm © Courtesy of Rupert Art Foundation, Rupert Museum, Stellenbosch

INTERVIEW

Marion Ackermann

20

Die neue Präsidentin über die Zukunft der Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Museumsinsel

30

Kulturmagnet in Mitte

Die Geschichte der Berliner Museumsinsel

36

Schinkelbau

Eine Reise zu den Anfängen des Alten Museums im 19. Jahrhundert

38

Jahrhundertfund

Antike Bronzestatuen aus der Toskana in der James-Simon-Galerie

40

Mythologisch

Michael Müller feiert die Abstraktion in der Treppenhalle des Neuen Museums

41

Chipperfieldbau

Haus Bastian, das Zentrum für kulturelle Bildung der Staatlichen Museen zu Berlin

42

Bilderschicksale

Die Kunst von Lovis Corinth und Charlotte Berend-Corinth in der Alten Nationalgalerie

AUSSTELLUNGEN

44

Unheimlich

Der Schinkel Pavillon zeigt Issy Woods klaustrophobische Objektbilder

49

Blick auf das Alte Museum im Jahr 1885, Druck nach einer Zeichnung von Robert Geissler, 1885

Mode aus Paris im Kunstgewerbemuseum Berliner Klassik im Schloss Neuhardenberg Porträts von Geflüchteten im Museum Europäischer Kulturen

50

Wiederentdeckt

Die Avantgardefotografin Marta Astfalck-Vietz in der Berlinischen Galerie

52

Impressionistisch

Camille Pissarro und das Zusammenspiel von Mensch und Natur im Museum Barberini

PANORAMA

Aus purer Freude am Design – das Bröhan Museum

die

lädt in
ästhetische Traumwelt von Alchimia

Kathleen Reinhardt

Kuratorin Deutscher Pavillon der Venedig Biennale

Kathleen Reinhardt ist die Kuratorin des Deutschen Pavillons auf der 61. Venedig Biennale 2026. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin war Kuratorin für Gegenwartskunst am Dresdner Albertinum, bis sie Ende 2022 die Leitung des Georg Kolbe Museums übernahm. Die aktuelle Jubiläumsschau thematisiert die ambivalente Rolle des Bildhauers während der NS-Zeit. Zuletzt trat sie mit Ausstellungen zu Noa Eshkol, Lin May Saeed oder Ruth Wolf-Rehfeldt hervor. Für den Deutschen Pavillon hat sie die Künstlerinnen Henrike Naumann und Sung Tieu ausgewählt. Beide stellen mit ihrem Werk »Fragen nach historischer Verantwortung und der Rolle individueller wie kollektiver Handlungsmacht aus der Perspektive einer jungen Generation«, begründet Reinhardt ihre Entscheidung.

Markus Hilgert

Präsident der Universität der Künste

Markus Hilgert ist seit April 2025 als neuer UdK-Präsident im Amt. Seit 2018 war der Kunsthistoriker und Kulturmanager Vorstand und Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder, zuvor Direktor des Vorderasiatischen Museums im Pergamonmuseum und von 2007 bis 2014 Professor für Altorientalistik in Heidelberg. Hilgert ist seit Jahren ehrenamtlich in den Bereichen Wissenschaft und Kultur tätig, unter anderem seit 2018 als Vorstandsmitglied der deutschen Unesco-Kommission. Neben seiner akademischen Tätigkeit engagiert er sich für die Förderung junger Künstler und die Entwicklung kreativer Bildungsformate.

Sarah Wedl-Wilson

Senatorin für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt

Sarah Wedl-Wilson wurde Ende Mai zur Senatorin für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt ernannt. Die 1969 in Großbritannien geborene Politikerin und Kulturmanagerin war seit 2023 bereits Staatssekretärin für Kultur in der Berliner Senatsverwaltung. Sie gilt als Kennerin der hauptstädtischen Kulturszene, die aktuell mit einschneidenden Sparmaßnahmen konfrontiert ist. Als Rektorin leitete die ausgebildete Violinistin von 2019 bis 2023 die Berliner Hochschule für Musik Hanns Eisler. Die parteilose Wedl-Wilson folgt auf Joe Chialo (CDU), der Anfang Mai nach anhaltender Kritik an seiner Amtsführung und neuen Sparvorgaben für den Kulturetat seinen Rücktritt erklärt hatte.

Lange Nacht der Museen Eine Nacht der Liebe

Ruth Ur

Direktorin der Stiftung Exilmuseum Berlin

Am 1. Juni 2025 hat Ruth Ur die Direktion der Stiftung Exilmuseum Berlin übernommen. Die in Großbritannien geborene Kuratorin und Kunsthistorikerin soll das Programm am derzeitigen Standort der Stiftung in der Fasanenstraße in Berlin-Charlottenburg weiterentwickeln. Ur war von 1998 bis 2017 in führenden Positionen für das British Council unter anderem in Großbritannien, Deutschland, Israel, der Türkei und Indien tätig. 2018 gründete sie »urKultur«, eine Strategieberatungsagentur für Museen und öffentliche Kunstprojekte. Christoph Stölzl, der Gründungsdirektor des Exilmuseums, war im Januar 2023 gestorben.

In der Langen Nacht der Museen am 30. August wird es gefühlvoll: Thema dieses Jahr ist die Liebe. So kann man im Berliner Medizinhistorischen Museum erfahren, was bei Liebeskummer im Körper und Gehirn passiert oder im DDR Museum, was mit der »Wunschkindpille« gemeint war. In den Ausstellungen begegnet das Publikum berühmten Paaren – von Caesar und Cleopatra bis zu Yoko Ono und John Lennon. Um Liebe und Anziehung geht es zu später Stunde auch beim Maskenball im Jüdischen Museum, beim Tango im Musikinstrumenten-Museum, beim klassischen Konzert in der Großen Orangerie des Schlosses Charlottenburg oder bei der Lovesongparty in der Ausstellung »Berlin Global«. 75 Museen in ganz Berlin öffnen von 18 bis 2 Uhr und laden zu einem ganz besonderen Abend ein. Programm: langenachtdermuseen.berlin

Lange Nacht 2024 auf der Museumsinsel

3 Fragen an CHRISTIN SCHEINPFLUG, Europameisterin der Tierpräparatoren 2025

1

Herzlichen Glückwunsch, Sie haben bei der Europameisterschaft der Präparatoren in Salzburg in der Kategorie Säugetiere den Titel »Best of Europe for Mammals« gewonnen. Wie kam es dazu, dass Sie zwei Nebelparder präpariert haben?

Grundsätzlich habe ich eine ausgeprägte Leidenschaft für die Katzenpräparation. Es gibt einige besondere und seltene Arten unter den Katzen, zum Beispiel den Manul, die Fischkatze und auch den Nebelparder. Nebelparder zeichnen sich durch eine besonders schöne Fellzeichnung aus, die etwas wolkenähnlich aussieht, daher auch der Spitzname Wolkenleopard. Außerdem besticht diese bezaubernde Katzenart durch ihre sportlichen Leistungen. Diese mittelgroßen kompakten Katzen sind absolute Akrobaten auf Bäumen. Wie der Zufall es wollte, hatten wir zwei gefrostete Nebelparderweibchen. So begann die Recherche zu Körperhaltungen, ich hatte zwei Haltungen in die engere Auswahl genommen. Da ich mich nicht entscheiden konnte, habe ich einfach zwei Katzen in dynamischer Position präpariert.

2

Vor welche Herausforderungen hat Sie das preisgekrönte Präparat gestellt und was sind die Highlights ihrer Arbeit als Präparatorin?

Tiere in Bewegung stellen generell eine große Herausforderung dar. Ich muss als Präparatorin den Spagat zwischen anatomischer Korrektheit und toller Optik finden. Nicht jeder Bewegungsablauf eines lebenden Tieres sieht auch im Präparat gut aus.

Auch die Erarbeitung eines geöffneten Maules, mit originalgetreuer Nachbildung der Zunge und Zähne stellte mich vor eine neue Aufgabe, mit der ich noch nicht oft konfrontiert war. Eine weitere Schwierigkeit bestand in der Ausarbeitung der Gesichter beziehungsweise der Köpfe der Katzen, gerade in Bezug auf die richtige Augenplatzierung und die Symmetrie. Meine Highlights sind die Präparation mittlerer bis großer Säugetiere, nicht nur Katzen, Gemeinschaftsprojekte mit Kolleginnen und auch, mein Wissen an junge motivierte Präparatorinnen weiterzugeben. Persönlich beschäftige ich mich gerade intensiver mit Tieren und Tiergruppen in Bewegung.

3

Sie arbeiten seit 2019 am Museum für Naturkunde. Gibt es ein Exponat, das Sie besonders fasziniert?

Es gibt mehrere, auf ein Exponat kann ich mich schlecht festlegen. Das erste ist der Klassiker: der Gorilla Bobby –wunderschön. Menschenaffen stellen Präparatorinnen bis heute vor große Herausforderungen. Bobby war zu seiner Lebzeit nicht nur ein Gorilla, sondern

ein Individuum, und eben das hat der Präparator überzeugend herausarbeiten können – der Blick, die Mimik, die Gestik. Für die Zeit, in der diese Arbeit entstand, ist das eine herausragende Leistung. Da ziehe ich meinen Hut. Exponat Nummer zwei ist der springende Jaguar, ein Gemeinschaftsprojekt mit meinen Kollegen. Das war das erste Tier, das ich in einer solchen Position und Größe präparieren durfte. Es war auch ein sehr intensives Projekt. Dieses Tier ist in rund 15 Tagen, an fünf langen Wochenenden entstanden. Die Flusspferdgruppe, auch ein älteres Objekt, fasziniert mich ebenfalls sehr. In unserem Gemeinschaftsraum in der Präparation hängen alte Schwarz-Weiß-Fotografien, die die Entstehung dieser Tiere zeigen. Hier sind die Größe, die Haarlosigkeit und die Erhaltung von Hautstrukturen die größten Herausforderungen. Die Flusspferde wirken absolut lebensecht, obwohl es keine Echthautpräparate, sondern Abgüsse sind. Die Tiere wurden präpariert und dann einmal komplett abgegossen. Eine Wahsinnsarbeit, die ich nur erahnen kann. Das größte Objekt in meiner Zeit als Präparatorin war ein circa drei Meter großer Eisbär und das war schon eine riesige Herausforderung.

Marion Ackermann

ist seit dem 1. Juni 2025 neue Präsidentin der Stiftung

Preußischer Kulturbesitz. Vor dem Wechsel nach Berlin leitete die Kunsthistorikerin, Kuratorin und Kulturmanagerin von 2016 bis 2025 als Generaldirektorin die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, einen Museumsverbund mit 15 Museen und mehreren Millionen Sammlungsobjekten. Von 2009 bis 2016 war sie Direktorin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen und zwischen 2003 und 2009 leitete sie das Kunstmuseum Stuttgart. Geboren wurde Ackermann 1965 in Göttingen. Nach dem Abitur studierte sie in Göttingen, Kassel, Wien und München Kunstgeschichte, Germanistik sowie Geschichte und promovierte 1995 über die autobiografischen und theoretischen Texte von Wassily Kandinsky.

»Wir müssen unsere Kooperationen radikal interdisziplinär und global denken«

Sie ist neu an der Spitze der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. MARION ACKERMANN spricht über Digitalisierung, Teamgeist und die Relevanz von Bildung und Vermittlung. Wie die Präsidentin die Museen und Einrichtungen der SPK in den kommenden Jahren noch mehr zum Strahlen bringen will

Archäologische Sternstunde

Die aus Schlamm aufgetauchten BRONZESTATUEN aus San Casciano dei Bagni zeugen von Heiligtümern, Medizin und Glaubenswelten der Antike

Die Bronzen von

Eine Sensation aus dem Schlamm

5. Juli bis 12. Oktober 2025 James-Simon-Galerie smb.museum

San Casciano dei Bagni.
Bronzestatue eines schwerkranken jungen Mannes aus San Casciano dei Bagni in Fundlage

Vor drei Jahren wurde in San Casciano dei Bagni in der Toskana bei Grabungen in einem Wasserbecken direkt neben einer immer noch aktiven Thermalquelle eine große Anzahl von äußerst gut erhaltenen Bronzestatuen gefunden. Die Grabungen wurden vom Denkmalamt von Siena (Soprintendenza Archeologia, Belle Arti e Paesaggio) und der dortigen Università degli Stranieri durchgeführt. Schnell war klar: ein Jahrhundertfund und ein archäologischer Glücksfall! Denn antike Bronzefiguren –zumal in derart großer Menge – sind extrem selten, da sie in folgenden Epochen von der Antike an oft dem Metallhunger zum Opfer fielen und eingeschmolzen wurden.

Das Becken erwies sich als Zentrum eines etruskisch-römischen Heiligtums. Dort suchten Kranke Heilung und Eltern göttlichen Schutz für ihre Kinder. Die Statuen sowie die vielen kleineren Objekte waren Weihegaben, mit denen Besucherinnen und Besucher ihre Bitten an die Gottheiten vortrugen oder ihnen für die Erfüllung ihrer Anliegen dankten.

Aus den zahlreichen Inschriften auf Statuen und Altären erfahren wir, dass die Menschen sowohl die Gottheit der Quelle »Flere Havens« um Schutz anflehten als auch die Heilgötter Apollon und Aesculap mit seiner Tochter Hygieia sowie Fortuna Primigenia, die Göttin des glücklichen Schicksals, und Isis. Die Inschriften in etruskischer und lateinischer Sprache geben

uns außerdem Auskunft über die Stifterinnen und Stifter selbst, nennen ihre Namen und Herkunftsorte. Neben Mitgliedern bekannter und einflussreicher Familien der Region um Chiusi und Perugia lassen sich auch Angehörige anderer sozialer Schichten wie Sklaven und Freigelassene identifizieren. Es zeigt sich, dass das Heiligtum über die lokale Bevölkerung hinaus einen weiteren Einzugsbereich hatte. An den Inschriften lässt sich auch der allmähliche Prozess der Romanisierung Etruriens ablesen. Die Verwendung des Etruskischen bis in das 1. Jahrhundert nach Christus hinein belegt jedoch ein Festhalten an einheimischen Traditionen.

Die Weihegaben erzählen uns von den vielfältigen Anliegen, bei denen die heilige Quelle helfen sollte, und sie erlauben uns Rückschlüsse auf die anatomischen und medizinischen Kenntnisse der damaligen Zeit. Körperteile aus Bronze belegen, dass die Heilung von Erkrankungen der Augen, Ohren und Gliedmaßen sowie bei Unfruchtbarkeit eine zentrale Rolle spielte. Bemerkenswert sind ovale Reliefs mit der Abbildung innerer Organe und die plastische Wiedergabe einer Luftröhre. Sehr eindrücklich ist zudem die Statue eines jungen Mannes mit deformierten Gliedern. Der Fund eines chirurgischen Instrumentes nährt die naheliegende Vermutung, dass zu dem Heiligtum auch Kuranlagen gehörten, in denen Ärzte das Thermalwasser für medizinische Behandlungen nutzten, auch wenn diese Einrichtungen bisher nicht ergraben sind. Die vielen Kinderstatuen zeigen, dass man besonders die Kleinsten dem Schutz der Gottheiten anvertrauen wollte – ein Zeugnis für die tiefe Besorgnis der Eltern angesichts der hohen Kindersterblichkeit in der Antike, vor allem in den ersten drei Lebensjahren.

Die minutiöse Beobachtung der Kontexte und der einzelnen Schichten durch die Ausgräber erbrachte auch wichtige Erkenntnisse zur Architektur und Geschichte des Heiligtums, das mindestens vom 3. Jahrhundert vor bis ins 5. Jahrhundert nach Christus ein lebendiges Zentrum des Heilkultes war. Offenbar wurde die Anlage der etruskischen Zeit im frühen 1. Jahrhundert nach Christus von einem Blitzschlag getroffen. Nach dem Glauben der Etrusker und gemäß ihrer hochentwickelten Kunst der Weissagung waren Blitze ein Zeichen göttlichen Willens. Daher wurden viele der bis dahin aufgestellten Opfergaben in einem besonderen Ritual in dem Becken

vergraben, das anschließend mit einer Schicht aus Dachziegeln und einem bronzenen Blitzbündel versiegelt wurde.

Darüber wurde in der römischen Kaiserzeit, in den 30er- oder 40er-Jahren des 1. Jahrhunderts nach Christus, das Heiligtum mit dem Becken an derselben Stelle neu erbaut. Statt großformatiger Bronzestatuen wurde in der Folgezeit Geld gestiftet. So fanden sich in dem Becken tausende, oft prägefrische Münzen von der späten Römischen Republik oder frühen Kaiserzeit bis in die Spätantike, als die Anlage im Zuge der Ausbreitung des Christentums endgültig versiegelt wurde.

Nach drei Stationen in Italien werden die Bronzen aus San Casciano dei Bagni nun in Berlin zum ersten und möglicherweise einzigen Mal außerhalb Italiens gezeigt. Erstmals werden dabei auch spektakuläre Neufunde aus der Grabungskampagne 2024 zu sehen sein – weniger als ein Jahr nach ihrer Auffindung, bevor alle in San Casciano dei Bagni dauerhaft ihren Platz im dortigen Museum erhalten. Ergänzt wird die Schau in Berlin um Objekte aus den Beständen der Antikensammlung aus dem Gebiet des etruskischen Stadtstaates Chiusi, zu dem das Heiligtum von San Casciano dei Bagni gehörte. Gegenstände aus weiteren antiken Zentren des Heilkultes wie zum Beispiel Pergamon in Kleinasien machen deutlich, dass die eher kleinformatigen Opfergaben an anderen Orten normalerweise aus Ton und seltener aus Metall bestanden. Die Abbildungen der erkrankten Körperteile waren oft weniger individuell, vielleicht sogar seriell vorgefertigt. Die kompletten Bronzefiguren und -köpfe mit Stifterinschriften, aber auch der halbierte überlebensgroße Bronzetorso aus San Casciano dei Bagni treten damit als äußerst bemerkenswerte Ausnahmen hervor.

Die Ausstellung beschließen Votive des 19. und 20. Jahrhunderts. Auch wenn sich die Glaubenswelten verändert haben, hat sich die Praxis der Weihegabe als Form der Bitte und des Danks an eine göttliche Macht erhalten. So ist der Votivkult auch im christlichen Bereich bis heute in katholischen und orthodoxen Kirchen verbreitet. Denn die Anliegen hinter den Votivgaben und die Hoffnung auf göttliche Hilfe in Not sind universell menschlich.

Text AGNES SCHWARZMAIER und NINA ZIMMERMANNELSEIFY, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der Antikensammlung

Bronzebüste einer Frau aus San Casciano dei Bagni
Issy Wood, »Corn serenade / using a coaster«, 2024 »Different uncle«, 2025 (vorherige Doppelseite)

Emotionale Verdichtung

Die hypermoderne

Malerei von ISSY WOOD entwirft unheimliche Objektbilder zwischen Oberflächenglanz und Leere. Ein Psychogramm der Gegenwart

Wie sieht eine Zeit aus, die so fragmentiert und brüchig ist wie unsere Gegenwart? Vielleicht fletscht sie angriffslustig die gebleichten Zähne, vielleicht spiegelt sie sich verträumt in verchromten Autofelgen oder teuren Designeruhren, vielleicht legt sie sich wie eine Feuchtigkeitsmaske sanft über das Gesicht und schirmt so die Umwelt ab?

In den Malereien der 1993 geborenen amerikanisch-britischen Künstlerin Issy Wood, die 2018 ihr Studium an der Royal Academy of Arts in London abschloss, wiederholt sich die visuelle Berieselung mit endlosen Instagram-Feeds, in denen Ereignisse auf wenige stilisierte Bilder reduziert und munter geteilt werden. Woods Bilder stellen die materiellen Totems und den Trash unserer Zeit nonchalant auf eine Ebene und verweisen auf das sich verändernde Leben von Objekten, die durch viele Hände wandern – poliert und abgenutzt von Anziehung und Abstoßung, Verlangen und Verlust.

Issy Wood malt mit Ölfarben auf Leinen, mitunter auch auf Samt, Mobiliar oder Kleidung. Die Verwendung von schwerem Samt als Malgrund verleiht dem Dargestellten eine materielle Tiefe, die traditionelle Techniken infrage stellt. Mit Möbeln – Sofas, Cocktailsesseln oder Bänken – und abgenutzter Kleidung trägt sie ihre Motive von der Fläche in den Raum hinein. Woods Malerei zeichnet sich durch eine nuancierte, oft gedämpfte Farbpalette aus, in der erdige Töne dominieren. Anstatt auf Kontraste zu setzen, arbeitet sie mit subtilen Schattierungen und Ton-in-Ton-Abstufungen, die eine melancholische, traumähnliche Stimmung erzeugen. Ihr figurativer, fast schon hyperrealistischer Malstil ist geprägt von einer gewissen Unschärfe, die sich wie ein Filter zwischen Betrachtende und den abgebildeten Gegenstand schiebt und diesen aus der Realität entrückt. Woods Realismus bedient sich gekonnt simultan Darstellungsformen der altmeisterlichen Malerei und des Surrealismus. Die extremen Nahaufnahmen erheben das Dargestellte zum Objekt der Begierde.

Trotz oder gerade aufgrund dieses Anachronismus in Technik und Sujets reflektiert Wood seismografisch das Sentiment unserer Gegenwart. Ihre hypermoderne Bildsprache entspringt einem digitalen Archiv, greift aber auch auf antiquierte Quellen wie Nachlassoder Auktionskataloge zurück. Obskure, altertümliche Fetische der Warenwelt ebenso wie angesagte Luxusgüter sind durchdrungen von sexuellen Anspielungen und reflektieren die Rolle von Frauen in unserer Gesellschaft.

Dargestellt sind Zähne – immer wieder Zähne –, Ziffernblätter teurer Uhren, Luxusgüter, Porzellan und niedliche Tierfiguren. Hasen, Katzen, Hunde und Kälbchen tummeln sich auf den Leinwänden. In ihren zahlreichen Selbstporträts wirkt Wood dagegen beinahe verloren. Auch Titel wie beispielsweise »Fucking Joyride« (2015), »When You I Feel« (2017) oder »I was in ketosis when you met me« (2025) verweisen häufig auf Zustände der Zerrissenheit. Die Malereien sind keine Konsumkritik im klassischen Sinne, sondern hinterfragen Unsicherheiten, die durch materialistisches Begehren und die Fetischisierung von Objekten ruhiggestellt werden. Woods Werke wirken wie eine visuelle Reflektion über das Spannungsfeld zwischen Oberflächenglanz und innerer Leere. Das Abgebildete fungiert als Surrogat für die Ängste und Begierden der inneren, psychischen und äußeren, realen Welt. Sie zeigen eine Entfremdung von eigenen Bedürfnissen und Empfindungen; die dargestellten Objekte drücken so die Perversion unserer Gegenwart aus, die jede persönliche Empfindung im Heilsversprechen des Konsums erstickt. In ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung in Deutschland fügen sich Woods Werke in die historischen Räumlichkeiten des Schinkel Pavillons. 1968 nach Entwürfen Richard Paulicks fertiggestellt, wirkt er neben dessen modernistischen Typenbauten, zu denen auch der Plattenbau zählt, wie eine Hommage an die Vergangenheit, die mit bewussten Brüchen die Gegenwart nicht gänzlich ausblendet. Auch das Mobiliar, das Wood in den Räumen verteilt,

Ich ist ein Anderer

Das multimediale Werk von ERIK SCHMIDT ist eine Reise durch das Dickicht der Städte und zu sich selbst

Erik Schmidt, »Suitwatcher's Anonymous«, 2003

The Rise and Fall of Erik Schmidt« lädt zu einer Achterbahnfahrt der ästhetischen Erfahrungen durch das gesamte Schaffen des Künstlers ein, das neben seinem bekannten malerischen Werk auch Zeichnung, Video, Performance, Fotografie und Collage einsetzt und so ein komplexes, persönliches Universum erschafft.

Schmidts erste umfassende institutionelle Übersichtsschau in Berlin – jener Stadt, in der er seine Praxis seit den späten 1990erJahren entwickelt – reflektiert einen künstlerischen Prozess, der sich konsequent von den traditionellen Gattungsgrenzen gelöst hat. Charakteristisch ist Schmidts Fähigkeit, den dokumentarischen Ansatz zu überwinden und klassische Filmaufnahmen, Fotografien, Magazine oder Zeitungen als Grundlage für seine Arbeiten zu verwenden. Dieses Prinzip ist in all seinen Werken erkennbar, unabhängig von ihrer endgültigen Ausformung. Die Realität bildet den Resonanzboden, auf dem seine Kompositionen aufbauen. Immer wieder werden diese durch gestische oder physische Aktionen unterbrochen, sei es durch einen Pinselstrich oder performative Elemente. Schmidts Werke sind wie magische Spiegel, in die er gewissermaßen hinein- und wieder herausspringt. Offene Fenster, die das Publikum einladen, einen Blick hindurch zu werfen und die Dimensionen alltäglicher Realität zu hinterfragen. Entsprechend porträtiert Schmidt Berlin als soziale Landschaft und architektonisches Umfeld. Seine Reise durch die Stadt beginnt in seinem Zuhause – ein Ort, an dem er verschiedene Alter Egos entwickelt, um gängige Klischees zu hinterfragen. In diesen frühen Arbeiten nimmt seine Suche nach Autonomie, Lebenssinn und sexueller Freiheit ihren Anfang. Und Schmidt sucht bis heute. Soll aus ihm ein Popstar oder ein Intellektueller werden? Soll das Haus ein Zufluchtsort sein oder ein Ausstellungsraum? Ist Sexualität eine private Angelegenheit oder ein soziales Etikett? Zeitschriften, frühe private Zeichnungen, persönliche Fotos und Erinnerungsstücke aus dieser Zeit sind ausgestellt; frühe Videos wie »I Love My Hair« (1997) und »Wenn Kunst zu Pop wird« (1998) werden im Dialog mit der Gemäldeserie »Übermalung« (1996–2006) präsentiert; Straßenansichten und frühe Berliner Stadtlandschaften dem Video »Parking« (1999–2002) gegenübergestellt. Plakate, Zeichnungen, Videos und Magazine verdichten sich zu einem persönlichen und zugleich kollektiven Porträt.

»Glass People«, 2024

Die Auseinandersetzung mit dem Anderssein und die Konstruktion von Identität gehören seit der Antike zu den klassischen Erzählstrukturen, die bis heute wirksam sind – von den epischen Erzählungen des Gilgamesch bis zu den homerischen Heldenepen. Auch Drag Queens, Ziggy Stardust und Avatare aller Art zeigen, wie das Konzept des Alter Ego genutzt wird, um Überzeugungen zu dekonstruieren, auf denen westliche Gesellschaften aufbauen. Unter dem Titel »Workaholic« befasst sich ein Ausstellungsteil insbesondere mit den Vorstellungen von Männlichkeit im Kontext kapitalistischer Strukturen. Als weißer, gebildeter, westlicher Mann, dem eine feste Rolle in der Arbeitswelt zugeschrieben wird, untersucht der Künstler allgemeingültige Vorstellungen von Erfolg sowie Klischees von Macht und Widerstand. Im Streben nach finanzieller Autonomie und einer aktiven Position in der Gesellschaft nimmt Schmidt die Rollen des Geschäftsmannes, Räubers und Systemopfers an. Sexuelle Klischees im Zusammenhang mit Uniformen und Macht überlagern diese Darstellungen spannungsvoll.

Gemälde der letzten Jahre aus Tokio, New York und Berlin (2018–2024) bilden den Hintergrund für die in verschiedenen Medien dargestellten Aktionen. Eine Wand mit fetischisierten Zeichnungen mit Kugelschreiber und Tusche (2002) korrespondiert mit dem frühen Film »Suitwatcher's Anonymous« (2003). Während

der Filmproduktion entstandene Plakate, überschneiden sich mit dem späteren Video »Cut/Uncut« (2015), dieses wiederum mit einer kleinen Serie von Gemälden, die chaotische Stromkabel in Tokio zeigen. Und die Gemäldeserie »Post Occupy« (2013) steht im Dialog mit einer Fotocollage nach dem Film »Downtown« (2012), der inspiriert ist durch die Proteste und die Besetzung des Zuccotti Park, die 2011 in Lower Manhattan nach dem Konkurs der New Yorker Investmentbank Lehman Brothers stattfanden.

Im Ausstellungskapitel »Escape« wechselt Schmidt von der distanzierten Haltung des Flaneurs zur Pose eines Rimbaud‘schen Dichters. Er schlüpft in die Rolle eines Reisenden, der von fremden Landschaften und befreienden Lebensentwürfen gleichermaßen fasziniert wie überwältigt ist. Durch einen Verwandlungsprozess tritt der Künstler mit diesen Landschaften in Beziehung und nimmt verschiedene Persönlichkeiten an, die sich den Erwartungen des Kapitalismus zu entziehen versuchen. Diese Ansichten von Natur und Kultur sind auch sinnliche Darstellungen einer Suche des Künstlers nach Weltentwürfen aus einer existenziellen Perspektive.

Die großformatigen »Palm Bombs« (2022/23) teilen sich den Raum mit Medienarbeiten wie dem Video »Fine« (2019), das Schmidt während seiner Künstleresidenz in der Casa Baldi filmte, eingeladen von der Deutschen Akademie in Rom. Kleinere Gemälde von abstrahierten Baumzweigen überlagern sich mit zwei in Israel produzierten Werken, dem Video »As Above Is So Below« (2008) und der Diashow »Kurz Anhalten« (2008). Queere Stereotypen der Faszination für die High Society und andere »exotische« Landschaften sind in dieser Auswahl ebenfalls präsent. Gemälde, Videoarbeiten und Polaroids im Bezug zu Schmidts bekanntem Film »Hunting Grounds« (2005/08) zeigen eine sowohl unangenehme wie faszinierende Welt im Niedergang.

Erik Schmidt wird immer wieder zugleich Subjekt und Objekt seiner künstlerischen Praxis. Ausgehend von der Suche nach einem Motiv setzt er sich in Szene und spielt meist die Hauptrolle. Die Auseinandersetzung mit Andersartigkeit und die ironische Selbstdistanzierung bestimmen Schmidts künstlerische Praxis. Seine endlose Recherche kulminiert in dem Video »Bottom Line« (2018). Die vergeblichen Bemühungen des Protagonisten, der als zeitgenössischer Sisyphos agiert, zeigen ihn im ständigen Auf und Ab einer hypnotischen, ewigen Suche. Fragen nach Sinn, Motivation und die Unmöglichkeit unsere Wünsche ad acta zu legen, durchziehen diesen Film ebenso wie die gesamte Ausstellung. Sie lädt ein, sich vom eigenen Ich zu distanzieren und hinterfragt humorvoll dessen vermeintliche Bedeutung. Selbst auferlegte mentale Begrenzungen werden erkennbar, das Publikum kann so Abstand gewinnen – und die Fahrt genießen.

Text YARA SONSECA MAS, Kuratorin

The Rise and Fall of Erik Schmidt 14. September 2025 bis 1. Februar 2026 Kindl - Zentrum für zeitgenössische Kunst kindl-berlin.de

Den Spielraum erweitern

Sie trugen maßgeblich zur weiblichen Emanzipation bei.

Wie jüdische DESIGN-PIONIERINNEN gesellschaftliche

Freiräume erkämpften und neue Trends setzten

Annie Rosenblüth

Spiel: Palästina-Domino, 1925–1930

Emmy Roth

Etrog-Dose, Berlin, ca. 1929–1930

Else Oppler-Legband war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bekannte und einflussreiche Designerin, die 1933 aus NaziDeutschland fliehen musste. Heute ist ihr Name so gut wie vergessen, und die meisten ihrer Werke sind entweder verschollen oder ihr nicht zugeordnet. Ihre Geschichte steht beispielhaft dafür, wie jüdische Frauen aus der deutschen Kunst- und Kulturgeschichte herausgedrängt wurden.

Erstmals ist im Jüdischen Museum Berlin eine umfassende Ausstellung zu jüdischen Kunsthandwerkerinnen zu erleben. Die Ausstellung stellt das Leben und Werk von 61 Frauen und das breite Spektrum ihrer Künste vor: Keramik, Textil- und Goldschmiedekunst, Modedesign, Grafik bis hin zu einer Auswahl von Puppen. Sichtbar wird, welchen gesellschaftlichen Hürden die deutsch-jüdischen Kunsthandwerkerinnen ausgesetzt waren. Indem diese Pionierinnen sich für Veränderung, berufliche Chancen und Sichtbarkeit einsetzten, erweiterten sie den Spielraum aller Frauen.

Denn in noch größerem Ausmaß als heute sind Frauen in Deutschland gegenüber Männern strukturell benachteiligt gewesen: Sie konnten ihren Ausbildungs- und Berufsweg nicht frei wählen, sondern mussten sich mit als »weiblich« definierten Erwerbstätigkeiten zufriedengeben. Auch im Ehe- und Familienleben besaßen sie nur eingeschränkte Rechte.

Jüdische Frauen hatten zusätzlich zu kämpfen: Sie waren einem wachsenden Antisemitismus und damit einhergehender Diskriminierung ausgesetzt. Ihre beruflichen und sozialen Optionen schwanden, je mehr die konservativen und nationalsozialistischen Kräfte zunahmen. Jüdische Designerinnen stellten oft nicht nur gesamtgesellschaftliche traditionelle Werte in Frage, sondern auch Werte innerhalb der jüdischen Lebenswelt.

Das zeigt sich insbesondere in der Kindererziehung: Als die Reformpädagogik mit ihren neuen Ideen in Deutschland Fuß fasste, wurden Lehrmaterialien stärker an kindliche Bedürfnisse angepasst. Jüdische Gemeinden erlebten, wie sich ihre Mitglieder vom religiösen Leben abwandten, und erkannten, wie wichtig Lehrmittel zur Förderung eines starken jüdischen Selbstbewusstseins waren.

Tänzerin mit Maske »Weisse 1« von Marianne Heymann, Köln 1926

Flamboyantes Universum

Die Drag-Ikone VAGINAL DAVIS zelebriert die

Grenzenlosigkeit von Identität und Performance

Die Titel »Icon« oder »Mother« werden in den sozialen Medien beinahe inflationär an prominente Persönlichkeiten verliehen. Wie nicht wenige Begriffe, die in der Popkultur zirkulieren, wurden sie durch ihre Verwendung in der Schwarzen und Latine Ballroom-Szene geprägt und umgedeutet, bevor sie ihren Weg in kommerzielle Unterhaltungsformate fanden. Vaginal Davis’ Drag, den José Esteban Muñoz einst als terroristisch betitelte, bewegt sich jedoch entschieden abseits dieser Sphären – ihre künstlerische Praxis formierte sich im queeren Punk-Underground der US-amerikanischen Westküste, als dessen Gründungsmutter sie gilt, und widersetzt sich fixierenden Zuschreibungen und Eindeutigkeiten. Schon als Jugendliche gab sie sich in den 1970er-Jahren, inspiriert vom politischen Kampf der Black Panthers, ihren Namen als Hommage an die Kommunistin, Feministin und Black-Power-Aktivistin Angela Davis. Das Erfinden, Aneignen und Erzählen nicht nur einer, sondern multipler Personas und Geschichten schreibt Davis in ihrem gesamten Schaffen fort: Als Autorin, bildende Künstlerin, Filmemacherin, Gründerin zahlreicher Kunst-Punk-Bands, selbsternannte Blacktress (eine Wortschöpfung aus Black und Actress), Gossipkolumnistin, Performancekünstlerin und Lehrende ist sie eine wichtige Stimme queerer, Schwarzer Gegenkultur.

Geboren und aufgewachsen in Los Angeles, lebt Vaginal Davis seit mittlerweile 20 Jahren in Berlin. Hier ist die vom Kurator Hendrik Folkerts am Moderna Museet initiierte und dezentral in verschiedenen Institutionen Stockholms organisierte Ausstellung »Magnificent Product« nun für den Gropius Bau adaptiert worden. »Fabelhaftes Produkt« umfasst Arbeiten von 1985 bis 2025 und transformiert das persönliche Archiv von Vaginal Davis in sieben großen Installationen. Zines, Collagen, Malerei, Film, Video, Sound und Skulptur – einige von ihnen nur wenige Zentimeter große Aluminiumgüsse, andere lebensgroße Figuren aus Brotteig – bilden hier komplexe oder, wie Vaginal Davis sagen würde, »perverse Gefüge«, in denen Kategorien wie Genre und Identität permanent aufgemischt und durchgearbeitet werden.

In ihrem künstlerischen Schaffen verwendet Davis das, was sie umgibt – neben Schere, Kleber, Porno- und Klatschzeitschriften dienen ihr abgelaufene Medikamente und Schminke, die sie zum Aufhübschen für öffentliche Auftritte verwendet, als Mittel

Punk und Parodie: Vaginal Davis mit ihrer Band »¡Cholita!« (links nach rechts: Melanie Sparks, Fertile La Toyah Jackson, Vaginal Davis, Webmaster, Alice Bag), Foto: Ann Summa, 1990

Vaginal Davis’ Version des Drag: Statt klassischer Makellosigkeit schmückt sich Davis mit dem, was sie umgibt. Annette Frick, »Horracle of Delphy«, 2002/2024

zur Bildproduktion. Michel de Certeaus Konzept der »Perruque«, welches er in »Kunst des Handelns« entwickelt, beschreibt subversive Praktiken innerhalb von Lohnarbeitsverhältnissen, bei denen Arbeiter*innen die Produktionsmittel ihres Arbeitsplatzes temporär und unauffällig für eigene Zwecke aneignen und umfunktionieren. So nutzte Vaginal Davis den Fotokopierer im Büro, in dem sie an der University of California in Los Angeles arbeitete, um Ausgaben ihres legendären Zines »Fertile La Toyah Jackson Magazine« (1982–1991) zu produzieren.

Es sind die langjährigen Wegbegleiter*innen von Davis, die viele der Materialien aufbewahrt haben, die nun für die Ausstellung zusammengetragen worden sind. Nicht in Vitrinen, sondern hinter halbtransparenten Vorhängen, die zugleich verdecken und die Performativität des Betrachtens verdeutlichen, ist das Archiv zu einer begehbaren Installation angeordnet. Ephemera wie Flyer und Poster für Performances, die berüchtigte Veranstaltungsreihe »Club Sucker« (1994–1999) und Screenings ihrer No-Budget-Filme hängen neben ikonischen Fotos von Vaginal Davis und ihren zahlreichen Bands: »Afro Sisters«, »¡Cholita!«, »black fag«, um nur einige zu nennen. Sie zeugen davon, dass Vaginal Davis als Performanceprojekt von Beginn an ein kollektives, von Freundschaft getragenes Unterfangen ist.

Vaginal Davis: Fabelhaftes Produkt bis 14. September 2025 Gropius Bau gropiusbau.de

Zahlreiche der Werke sind in Zusammenarbeit mit anderen Künstler*innen und Kulturschaffenden entstanden. Den Auftakt bildet die raumgreifende Arbeit »Naked on my Ozgoad or: Fausthaus – Anal Deep Throat« (2024/25), die gemeinsam mit Jonathan Berger ortsspezifisch für den Gropius Bau entwickelt wurde und die queeren, feministischen Protagonist*innen in L. Frank Baums »Oz«-Büchern (1900–1919) neu interpretieren, die Davis schon seit ihrer Kindheit faszinieren. Denn mindestens so sehr wie Bühnen sind Bibliotheken die Orte, die Vaginal Davis maßgeblich geprägt haben. Sie tauchen mehrfach als Motiv in der Ausstellung auf und verweisen auf Davis’ eigene Schreibpraxis und ihr Referenzsystem: von imaginären Büchern in der Fantasia »Library« (2021), einer Art Lese- und Kopierraum mit Kolumnen, Reportagen und Zines in »Hofpfisterei« (2024) bis hin zu Portraitmalereien, Publikationen und Zitaten von einflussreichen Autorinnen wie Octavia Butler, Wanda Coleman, Joan Didion, Nikki Giovanni, June Jordan und Audre Lorde.

Als Ausstellung innerhalb der Ausstellung verdeutlicht »Choose Mutation, mit Fotografien von Annette Frick« (2024) des Kollektivs »Cheap« (Konzept von Susanne Sachsse, Marc Siegel und Martin Siemann), wie Strategien der Selbstorganisation Vaginal Davis nun seit über 20 Jahren mit dem Berliner Kunstkollektiv verbinden. »Cheap« gründete sich 2001 aus dem Bedürfnis heraus, soziale Räume jenseits hetero- und homonormativer Ordnungen zu schaffen. Die überlebensgroßen Schwarz-Weiß-Fotografien von Annette Frick dokumentieren die Anfänge der Gruppe, die in unterschiedlichen Konstellationen und Formaten arbeitet. Das titelgebende Video »Choose Mutation« kombiniert gefundenes und selbstproduziertes Film- und Tonmaterial zu einer dystopischen Collage über Paranoia und die Auswirkungen sozialer wie politischer Kontrolle auf Sprache und Körper – und die gewählte Mutation als mögliche Gegenbewegung.

Es sind diese dringlichen Fragen um das Verhältnis von Kollektivität und Intimität, die Vaginal Davis’ Kunst stellt. »Fabelhaftes Produkt« lädt in ihr Universum ein, das von literarischen Heldinnen und echten Ikonen bewohnt wird.

Text CHRISTOPHER WIERLING, Assistenzkurator

EINBLICKE

Außergewöhnliche Nähe: Zur ornithologischen Verhaltensforschung teilten die Heinroths ihren Wohnraum mit rund eintausend Vögeln. Die Fotografie zeigt Oskar Heinroth mit einem Kranich

Berliner Geschichten

Die STIFTUNG STADTMUSEUM BERLIN blickt

auf eine bewegte Vorgeschichte zurück. Zum 30-jährigen

Bestehen reflektiert sie ihre Gründungszeit

Gegründet wurde die Stiftung Stadtmuseum 1995 in Berlin und versammelte zahlreiche Einrichtungen der wiedervereinigten Stadt unter einem Dach. Die größten waren das Märkische Museum und das Berlin Museum. 30 Jahre Stadtmuseum mögen für eine Stadt wie Berlin wenig erscheinen. Tatsächlich ist der älteste Vorläufer der Stiftung das 1874 zunächst ohne eigenes Gebäude gegründete Märkische (Provinzial-)Museum, die »Institution Stadtmuseum« ist also mehr als 150 Jahre alt. Wie sammelt und erzählt das Museum die Geschichte einer Stadt? Wie beeinflussen die Entwicklungen einer wachsenden Metropole die Arbeit eines Museums? Diesen Fragen geht ein im September im BeBra-Verlag erscheinender Sammelband nach: 1874 mit dem Anspruch, ein Bürgermuseum zu sein, gegründet, veränderten sich die Modi und Schwerpunkte des Sammelns über die Jahrzehnte. Große und kleine politische Veränderungen in Berlin spiegeln sich im Museum und seiner Arbeit wider. Der Band stellt zudem Objekte aus der umfangreichen Sammlung der Stiftung Stadtmuseum vor: Echte Vitrinenstars und vermeintliche Depothüter, die Stadtgeschichten Berlins und etwas über das Sammeln selbst erzählen: Von der Rathausglocke aus dem 16. Jahrhundert bis zum Bühnenbildmodell aus den 1960er-Jahren. Während der deutschen Teilung gab es zwei Stadtmuseen. Als das Märkische Museum in Ost-Berlin nach dem Mauerbau für die Menschen aus West-Berlin nicht mehr erreichbar war, entstand die Initiative für ein Berlin Museum. Es befand sich ab

Der Museumsbau des 1874 gegründeten Märkischen (Provinzial-)Museums, Foto: Ernst von Brauchitsch, 1909

1969 im Kollegienhaus in der Lindenstraße, dem Altbau des heutigen Jüdischen Museums Berlin. Unmittelbar nach dem Mauerfall und noch vor der Wiedervereinigung entwickelte ein Team beider Stadtmuseen ein Konzept zur Zusammenarbeit. 1991 eröffnete die erste gemeinsame Ausstellung »Das Brandenburger Tor in Berlin 1791–1991« im Kunstforum in der

Grundkreditbank. Die Fusion zur Stiftung Stadtmuseum Berlin erfolgte am 23. Juni 1995. Zum Märkischen Museum und Berlin Museum kamen kleinere Museen hinzu, darunter das Dorfmuseum Marzahn und das Wassersportmuseum Grünau. Die Stiftung umfasste 20 Standorte, die sich in den folgenden Jahren neu ordneten. Heute betreibt sie sechs Publikumsorte, darunter

drei Museen im Nikolaiviertel – Museum Nikolaikirche, Museum Ephraim-Palais und Museum Knoblauchhaus – das Museumsdorf Düppel in Steglitz-Zehlendorf und die Ausstellung »Berlin Global« im Humboldt Forum. Das Museums- und Kreativquartier am Köllnischen Park wird voraussichtlich 2028 eröffnen. Es besteht aus dem Märkischen Museum und dem benachbarten Marinehaus, die beide derzeit erneuert und umgebaut werden.

2025 widmet das Stadtmuseum Berlin der Zeit um 1990, in die auch seine Gründung fällt, verschiedene Programmpunkte. In der Reihe »Transformationszeit« im Museum Ephraim-Palais spricht die Journalistin Marion Brasch mit Kunst- und Kulturschaffenden aus Ost und West über die Veränderungen im Berlin der 1990er-Jahre. Am 6. August unterhalten sich Jürgen Kuttner und Matthias Lilienthal unter dem Motto »Geteilte Stadt, geteilte Bühne« über das Theater in Ost- und West-Berlin zur Zeit der Wende. Am 7. November teilen in einem Erzählsalon migrantische und diasporische Communitys ihre Migrations- und Widerstandsgeschichten sowie Erfahrungen mit dem starken Anstieg rechtsextremer Gewalt in den 1990er-Jahren. Fotoalben, Musik und Videos werden die Geschichte(n) begleiten. Ab dem 3. Oktober läuft anlässlich des 35. Jubiläums der Deutschen Einheit im Museum Nikolaikirche eine Ausstellung mit Medieninstallationen. Die Nikolaikirche beherbergt nicht nur die ältesten erhaltenen Räume Berlins und zeugt so von der Gründung der Stadt vor rund 800 Jahren. Hier konstituierte sich 1991 auch das neue Gesamtberliner Abgeordnetenhaus. Die Schau macht Berliner Orte aus Ost und West als Schauplätze gesellschaftlicher Umbrüche erlebbar und reflektiert die Entstehung eines neuen alten dezentralen und diversen Berlins nach 1990.

Text CHRISTINE HEIDEMANN, Kuratorin für zeitgenössische Kunst und JULIA RAUSCH, Referentin der Künstlerischen Direktion Stiftung Stadtmuseum Berlin

Programm im Jubiläumsjahr stadtmuseum.de/30-jahre

Nachhaltige Berührungspunkte

Die Hegenbarth-Sammlung Berlin, die Werke vom 15. Jahrhundert bis heute umfasst, befindet sich derzeit in einem ehemaligen Friseurgeschäft in Wilmersdorf. 2027 soll ein neuer Standort im Schöneberger Kleistpark eröffnet werden. Der nachhaltige Museumsneubau wird die private Sammlung, mit ihrem Schwerpunkt auf Zeichnungen, Papierarbeiten und Grafiken, erweitern und ein interdisziplinäres Zentrum für konservatorische und restaurative Bildarbeit bilden. Damit entstehen Depot- und Ausstellungsflächen sowie Etagen für Fachbetriebe wie Restaurierung, Rahmentischlerei oder Art Handling. Ziel ist es, fachspezifische Fragestellungen zu erforschen und zu vermitteln, da in Berlin bislang geeignete Räume für praktische Einblicke fehlen. Das groß angelegte innovative Konzept umfasst zudem Ateliers, weitere Arbeitsräume für die Kunst- und Kreativbranche, mitsamt einem öffentlich zugänglichen Café und einer Bibliothek. So entsteht eine neue Kulturinstitution als lebendiger Treffpunkt für künstlerische Bildung und Praxis, Wissenschaft und kreativen Austausch. Das wegweisende Neubauprojekt wird in Holz-Hybridbauweise errichtet und von einer zierlichen Glasfassade umhüllt. Dabei wird auf nachhaltige Materialien und Energieeffizienz gesetzt, inklusive Geothermie und Regenwassernutzung. Umsäumt von begrünten Dachterrassen und einem kunstvollen Stadtgarten greift das Bildlabor Kleistpark die historische Bedeutung des Ortes – einst Botanischer Garten und Hopfengarten – auf und verbindet urbane Natur mit ökologischen Prinzipien und zeitgenössischer Architektur. Bis zur Eröffnung wird in den Räumen der Laubacher Straße 38 der Ausstellungs-, Forschungs- und Vermittlungsbetrieb der Sammlung fortgesetzt.

Kunstvermittlung trifft auf nachhaltige Stadtentwicklung: Rendering des Bildlabors Kleistpark nach den Architekten kmwf ARGE

Bildlabor Kleistpark

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