Programmheft-Vorschau: Bestien, wir Bestien

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Uraufführung von Martina Clavadetscher

BESTIEN, WIR BESTIEN

ZWEI BÜCHER oder ein THEATERSTÜCK frei nach einer Ameisenkolonie und P. D. James’ Children of Men von Martina Clavadetscher

Mit

Jeanne Devos

Luca Hass*

Lucia Kotikova Isabelle Menke Yohanna Schwertfeger

Kind

Ella Madeira Messiter-Tooze / Mariana Kurmann / Valentina Kurmann

Regie

Franziska Autzen Bühne Ute Radler Kostüme

Naomi Kean Musik Johannes Hofmann

Choreografische Mitarbeit

Saskya Pauzé-Bégin

Licht Rolf Lehmann Dramaturgie Julia Fahle Regieassistenz Loreta Gashi Bühnenbildassistenz Sidonia Helfenstein Kostümassistenz Shayenne Di Martino Soufflage Sabine Bremer Inspizienz Miklos Ligeti Regiehospitanz Federica Egli

Vidmar 1 Uraufführung

Dauer der Vorstellung ca. 2h, eine Pause

Dank an Kilian Land und Genet Zegay für das Einsprechen der Radiostimmen.

* HKB-Schauspielstudio

Technischer Direktor Reinhard zur Heiden Leiter Bühnenbetrieb Claude Ruch Leiter Werkstätten Andreas Wieczorek Leiterin Kostüm & Maske Franziska Ambühl Produktionsleiterin Bühnenbild Konstantina Dacheva Produktionsleiterin Kostüm Maya Däster Bühnentechnik Andy Hohl Tontechnik Jeremias Schulz, Peter Tészás Videotechnik Monja Lalotra Requisite Karin Heinrich, Karin Meichtry Maske Martina Jans, Anja Wiegmann Die Ausstattung wurde in den Werkstätten und Ateliers der Bühnen Bern hergestellt. Co-Leitung Malsaal Jann Messerli, Lisa Minder Leiter Schreinerei Markus Blaser Leiter Schlosserei Marc Bergundthal Leiter Dekoration Oliver Schmid Leiterin Maske Martina Jans Gewandmeisterinnen Mariette Moser, Irene Odermatt, Sina Rieder Leitung Requisite im Team Leiter Beleuchtung Bernhard Bieri Leiter Audio & Video Bruno Benedetti Leiter Vidmar Marc Brügger

Premiere Sa
10.12.2022 19:30

Milch und Blut und Samen

Teil 1

Die Natur ist geheilt, alle Rohstoffe und Ressourcen sind gerecht verteilt, für alles und alle wird gemeinsam gesorgt, niemand muss Kinder kriegen und deswegen benachteiligt werden, und die wenigen Mütter, die es gibt, werden für die damit verbundene Arbeit hoch entlohnt. Alle anderen Genossinnen sind Produzentinnen, arbeiten drei Tage in der Woche und haben ansonsten Zeit für Genuss durch Alkohol und Sex: eine perfekte Welt. Das Kollektiv von Frauen lebt in Harmonie und Kooperation und zu 100 Prozent autark.

Die Vorbereitungen für das grosse Fest zu Ehren Gaias, der grossen Göttin und Weltgebärerin, der Mutter der lebendigen Natur, laufen auf Hochtouren. Bei diesem Fest werden alle Mädchen mit Eintritt ihrer Menstruation beringt: die Eileiter werden elektronisch verödet und durch einen Ring verschlossen, damit weder Einoch Samenzellen die Eileiter passieren können. Alle wohnen diesem Fest der Befreiung von der biologischen Rolle der Frau bei. Vor der Narkotisierung sprechen die zu befreienden Genossinnen den Befreiungspsalm, während die anderen lächelnd zuhören, wohlwissend über ihre eigene kleine Narbe an ihrem Bauch. «GAIA, Töchter, Schwestern, wir sind ein Lebewesen. Wir sind die Gesamtheit, das Ganze. GAIA; dir übergebe ich das Gebären. Lege die Geburt in deinen Schoss. GAIA, lange und glücklich will ich leben, empfängnisfrei, geburtsfrei, kinderfrei will ich leben.»

Nur Roma ist in Gedanken bei Mombasa aus Zelle Null Neun im Quartier der Solitären. Mittels chemischer Kommunikation rufen die beiden Frauen eine Erinne rung in sich hervor, die Erinnerung an die im kollektiven Körper eingeschriebene Erfahrung einer Geburt: «Milch und Blut und Samen und Milch und Tränen und Urin und Samen und Schleim und Schweiss und Milch und Blut und Samen.» Trotz der Angst, entdeckt zu werden, kommt Roma immer wieder zu Mombasa, denn diese hat die Fähigkeit zur Entringung. Doch schon bald können es alle riechen, den «Geruch der verbotenen Gefühle»: der Sehnsucht nach einem Kind, nach «der weichsten Haut der Welt». Und nicht nur Roma trägt diese Sehnsucht in sich. Das Misstrauen untereinander wächst, Gerüchte von Entringungen werden laut, und die Spannung in der Kolonie wird immer deutlicher spürbar. Aus der Furcht um die Gemeinschaft wird ein Geschäft, ein Geschäft mit Wissen und Überwachung.

von Julia Fahle

25 Jahre später: Der Untergang der menschlichen Spezies scheint unaufhaltsam. Seit mehr als zwei Jahrzehnten werden keine Kinder mehr geboren, und Forsche rinnen arbeiten mit Hochdruck daran, die totale Unfruchtbarkeit der Menschen zu erforschen, jedoch ohne Erfolg. Während sich die Tiere langsam das Territorium zurückerobern und mittlerweile sogar in den Stadtzentren leben, ist die Welt der Menschen gezeichnet von Sinnlosigkeit, Trauer und Depression. «Düster und brutal sind sie geworden, es gibt Kleinkriege, Forschungskriege, Spionage, Zwangsbe fruchtungen und Massensuizide.» Zahlreiche Frauen fahren mit Kinderwägen an leerstehenden Häusern vorbei, in den Kinderwägen Puppen, «aus lebloser Materie gebaut und zum Leben erdacht». Und dann passiert das Undenkbare: eine Frau wird schwanger. Doch Kama will auf keinen Fall diese Rolle der Mutter der Menschheit, der Urmutter, der Pseu do-Ikone übernehmen. Das Kollektiv darf nichts von ihrer Schwangerschaft erfah ren, denn sie weiss, all ihre Rechte an ihrem Körper würden ihr aberkannt werden, ihr Körper wäre der Körper des Kollektivs. Als Kama zum ersten Mal das kleine Bein des ungeborenen Kindes sich gegen ihre Bauchdecke drücken sieht, trifft sie eine Entscheidung. Sie flüchtet aus der Kolonie an den Rand der Welt, wo aus Kama Mombasa wird und aus Mombasa ein Kind geboren wird. «Es ist nur ein Kind. Es ist nur ein Kind …»

Martina Clavadetscher, geboren 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie. Seit 2009 arbeitet sie als Autorin, Dramatikerin und Radio-Kolumnistin. Ihr Prosadebüt Sammler erschien 2014. Für die Spielzeit 2013/14 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. Mit ihrem Theaterstück Umständliche Rettung gewann sie 2016 den Essener Autorenpreis und war im selben Jahr für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für Knochenlieder erhielt sie 2016 den Preis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung und wurde 2017 für den Schweizer Buchpreis nominiert. Im Februar 2021 erschien ihr Roman Die Erfindung des Ungehorsams, für den sie mit dem Schweizer Buchpreis 2021 ausgezeichnet wurde. Martina Clavadetscher lebt in der Schweiz.

In ihrem zweiteiligen Auftragswerk für das Schauspiel Bern Bestien, wir Bestien entwirft sie eine Welt in der Zukunft, in der Frauen zuerst vom gesellschaftlichen Reproduktionszwang befreit sind und letztlich die gesamte Menschheit unfruchtbar wird. Auch hier findet man sich, wie in den meisten Werken der Schweizer Autorin, in einer Science-Fiction-Welt wieder, einer Welt, die ebenso utopisch wie dystopisch anmutet. Clavadetscher nimmt die philosophische Strömung des Antinatalismus auf und stellt die Frage: Ist es heute, angesichts zahlreicher Kriege und Naturkatastrophen moralisch vertretbar, Kinder zu zeugen?

Teil
2

Selbstbestimmt

Für reproduktive Rechte

«Es bedarf nur einer politischen, ökonomischen oder religiösen Krise, um die Rechte der Frauen wieder infrage zu stellen», sagt die Philosophin Simone de Beauvoir.

Nie zuvor war die Welt von so vielen Krisen geprägt wie heute: Finanzkri sen, die Klimakrise, die Krise der Biodiversität, die durch ungleiche Verteilung von Nahrungsmitteln verursachte globale Hungerkrise, Krisen und Krieg, die Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat zwingen, die Coronakrise. Es sind multiple Krisen, die miteinander verschränkt und verwoben sind, sich gegen seitig verstärken und bedingen. Und wie de Beauvoir es beschreibt: Diese Krisen haben das Potential, den Kampf um Rechte von Frauen und queeren Menschen um Jahre zurückzuwerfen.

Während der Pandemie wurde offensichtlich, wie fragil reproduktive Rechte sind. Weltweit nahm die Zahl der ungewollten Schwangerschaften zu, weil der Zugang zu Verhütungsmitteln und sicheren Abbrüchen noch prekärer wurde. Gebärende mussten Geburten ohne Partner*in durchstehen. Besonders verletzlich sind in Situationen wie dieser diejenigen, die nicht nur einer, sondern verschiedenen Formen von Diskriminierung ausgesetzt sind: nicht-weisse Menschen oder Frauen mit Behinderung.

Dabei sind die Rückschritte, die drohen und die es zum Teil schon gibt, nur ein Teil des Problems. Denn auch ohne Krisen sind reproduktive Rechte längst nicht verwirklicht. Zu nahezu jeder Zeit und in allen Regionen der Welt kamen Menschen – vor allem Männer – auf die Idee, Frauenkörper und ihre Fruchtbarkeit einzuschränken und zu instrumentalisieren.

Der komplette Programmflyer ist am Vorstellungsabend oder an der Billettkasse erhältlich.

Bis heute sind Frauen und queere Menschen nicht selbstbestimmt in ihrer Sexualität und Fortpflanzung. Sie werden bevormundet, herabgewürdigt, eingeschränkt, schlecht behandelt und allein gelassen. Gesellschaftlich wird von den einen erwartet, Kinder zu bekommen – die anderen sollen möglichst ohne Nachwuchs bleiben. Zugleich wird die Verantwortung dafür in den Schoss der einzelnen Frauen gelegt.

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