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KIRCHENAUSTRITTE

GESELLSCHAFT

Die Anzahl der Kirchenaustritte wächst. Nach dem Negativrekordjahr 2019 verließen 2022 rund 640.000 Menschen die evangelische und katholische Kirche.

Kirche auf der Kippe

Eine Bestandsaufnahme von Tim Holzhäuser

Das Phänomen an sich ist nicht überraschend. Als diesen Sommer die aktuellen Zahlen bekannt wurden, waren aber selbst Statistiker und andere Fachleute erstaunt über dessen Stärke: 2021 verließen insgesamt 360.000 Menschen die katholische Kirche. Ein Negativrekord, der den Sprecher der Katholischen Bischofskonferenz zu klaren Worten zwang. Die Zahl sei Ausdruck einer „tiefgreifenden Krise, in der wir uns als katho lische Kirche in Deutschland befinden“, sagte Georg Bätzing der Tagesschau.

Die evangelische Kirche verlor im gleichen Jahr rund 280.000 Gläubige. In der Summe führt dies zu einer historischen Verschiebung. Erstmalig leben in der Bundes- verwiesen auf die Kirchensteuer. Mit anderepublik eine Mehrheit von Bürgern ohne ren Worten: Die Kirche ist den Leuten das konfessionelle Bindung, insgesamt 50,3 Geld nicht mehr wert. Prozent. Nach wie vor gibt es eklatante Un- Angesichts der Zahlen sprechen Demoterschiede zwischen Ost und West, aber grafen bereits vom „Point of no return“. Die dieses Mal ist es der Westen, der in Sachen Masse der Nichtgläubigen setzt die verblieKirchenaustritt dem Osten hinterhereilt. benen Kirchgänger durch ihre schiere Prä(Fachleute waren kurz nach der Wende senz unter Druck. Die Frage lautet nicht vom gegenteiligen Szenario ausgegangen.) länger, warum jemand aus der Kirche aus-

Geforscht wird nun wieder nach den Ur- tritt, sondern: Warum tritt man nicht aus sachen. Ganz vorne in der Berichterstat- der Kirche aus, wo dies doch mittlerweile tung stehen die Missbrauchsskandale der gesellschaftlicher Standard in vielen Lankatholischen Kirche und der desteilen ist? Die Dynamik teilweise stümperhaft-ignorante Umgang damit. Dies mag für einzelne Erzbistümer auch tatsächlich der Hauptgrund sein. BundesAngesichts der Zahlen sprechen Demografen bereits von einem der Zahlen stützen diese Thesen und auch die Signale aus der Politik. Olaf Scholz erwähnte bei seinem Amtseid Gott mit keiner weit messen Statistiker je- „Point of no Silbe. doch einen anderen: Geld return“. Was tut nun die Kirche? sparen. Laut einer Studie Sie versucht sich gegen den des Evangelischen Sozialwissenschaftli- Trend zu stemmen, von Seiten der Katholichen Instituts geben nur 24 bzw. 37 Pro- ken mit dem 2019 begonnenen „Synodalen zent (evangelisch bzw. katholisch) der Weg“. Hierbei handelt es sich um ein ReBefragten nach ihrem Austritt einen kon- formpaket, das alles auf den Tisch bringt: kreten Grund an, zum Beispiel einen Skan- Gleichberechtigung, Zölibat, Machtkonzendal. Etwa 20 Prozent machen eine „gute tration. Ziel ist eine offene Kirche, in der Gelegenheit“ geltend und über 70 Prozent sich Geistliche und Gläubige auf Augenhöhe begegnen. Kritische Stimmen blieben aber nicht aus. Befürchtet wird ein Verlust durch Beliebigkeit. Im Grunde steckt die Kirche hier im klassischen Dilemma einer konservativen Partei. Vertritt sie ihre Kernpositionen zu weich, dann wenden sich Traditionsanhänger ab, bleibt sie konservativ, dann wächst der Abstand zur Mehrheitsgesellschaft. Hinzu kommen all die Funktionäre, deren Existenz an den Erhalt der Organisation geknüpft ist. Der wortmächtigste Kritiker katholischer Reformbemühungen war folgerichtig der Papst.

Auch in der evangelischen Kirche gibt es liberale Stimmen, die eine Öffnung fördern, breitere Aufklärung bei Missbrauchsfällen, weniger Filz, mehr frische Luft. Aber auch hier treffen sie auf Konservative, die ebenfalls eine Profilschärfung anmahnen. Auch bei den Protestanten gilt: Je liberaler, desto weniger Profil im Wettbewerb mit anderen Welterklärern.

Tatsächlich ist die moderne Kirche europäischer Prägung bereits jetzt eine Schmusekatze. Das zeigt sich deutlich im historischen Vergleich und beim Blick ins Ausland. Ein aktuelles Beispiel ist Russland. Die orthodoxe Kirche betätigt sich im offenen Schulterschluss mit dem Kreml als Kriegstreiber. Religiöse Botschaften wurden mit Leichtigkeit ausgetauscht gegen imperialistische Parolen.

Der zweite aktuelle Fall kommt aus dem Iran. Bekanntlich wurde dort im September eine 22-Jährige verhaftet, weil sie ihr Kopftuch nicht „korrekt“ trug. Drei Tage später kam sie in der Haft unter unbekannten Umständen ums Leben. Aus den USA kommen unterdessen Nachrichten über religiös motivierte Abtreibungsgesetze ...

Die Kette an Ereignissen, bei denen sich Religionen und ihre Vertreter als Zivilisationsrisiko erweisen, reißt also nicht ab. Der Dreißigjährige Krieg steht neben dem 11. September, neben dem Russischen Pa-

600.000

500.000

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0 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 2021

Gesamt Protestantisch Katholisch

QUELLE: DBK

Kirchenaustritte Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland 2001–2021

40.000

35.000

30.000

25.000

20.000

15.000

10.000

5.000

0 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017 2019 2021

QUELLE: WWW.KIRCHENAUSTRITT.DE

triarchen Kyrill I., neben dem bewaffneten Mob, der auf Teherans Straße Jagd auf 22-jährige Frauen macht.

Das Paradoxe dabei: Je härter Kirchen gegen Menschen vorgehen, desto mehr gefährden sie ihre eigene Existenz. Dies ist in den USA derzeit zu beobachten, wo eben jene Abtreibungsge setze eine Protestbewegung motiviert haben, die auch Unentschlossene erfasst. Die Anzahl der Kirchenaustritte hat daher auch in den USA seit der Jahrtausendwende stark an Fahrt aufgenommen. Den Leuten wird die Kirche schlicht zu „krass“.

Es bleibt also nur die Umwandlung zur spirituellen Wellness-Oase. Warum ist die nicht erfolgreich? Eine weichgespülte Kirche, die alles und jeden toleriert, erschreckt niemanden mehr, ist nicht mehr „zu krass“. Zudem ist der Wille, selbst purer Fantasy zu folgen, ungebrochen. Weite Teile der relativ gebildeten und wohlhabenden deutschen Gesellschaft sind nach wie vor erreichbar für spirituell aufgeladene Erzählungen. Gerade Menschen mit akademischem Background vertrauen auch im Jahr 2022 noch auf Medizin ohne messbare Wirkung, auf PsychoKonzepte ohne Qualitätsnachweis, auf Sternendeutung ohne Bezug zu Naturgesetzen – einfach weil ein konkretes gut verpacktes Versprechen dahinter steht: sanft gesund werden, sich „selbst finden“, das eigene Schicksal vorhersehen können (was nebenbei bemerkt zu einem erheblichen logischen Paradoxon führen würde). Man könnte also sagen, dass alle jene Gebiete, für die Kirche lange Zeit der Allzweckreiniger war, mittlerweile von Spezialisten besetzt sind, die es besser können.

Zurück zu den Kirchenvertretern. Auch Margot Käßmann, ehemals Landesbischöfin von Hannover, ist sich sicher: Ohne Kirche geht es nicht. Dem evangelischen „Sonntagsblatt“ sagte die Theologin: „Die Kirchen werden gebraucht, um den Menschen Halt, Kraft und Trost zu geben. Die Botschaft von der Liebe Gottes wird gebraucht, um Menschen aufzurichten.“

Wirklich die Liebe Gottes? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass Pastorinnen und Pastoren Menschen aufrichten, einfach durch eine nette und empathische Ansprache sowie Zeit zum Gespräch? Nehmen wir die in den Elbvororten zahlreich anzutreffenden Senioren: Die brauchen vor allem Kontakt zu Kindern und Enkeln, hilfreiche Nachbarn, ein ausgebautes Gesundheitssystem, einen Bringdienst fürs Theater und jemanden, der ihnen das Smartphone erklärt.

Alleinerziehende würden der Liebe Gottes fraglos Kinderbetreuung, Transferleistungen, eine flexible Verwaltung und ein funktionierendes Netzwerk vorziehen.

Das alles kostet, genau wie die Kirche. 50,3 Prozent der Deutschen haben entschieden, wo das Geld besser angelegt ist, und ihr Anteil wächst rasant.

Die Anzahl der Kirchenaustritte hat auch in den USA seit der Jahrtausend- wende stark zugenommen ...

Autor: tim.holzhaeuser@kloenschnack.de Infos: www.kirchenaustritt.de

ZUR SACHE: Gemeindeaustritte im Islam?

Der Grad der Religiosität bei Einwanderern ist ein ungelöstes Problem der Sozial forschung. Da der Islam in Deutschland bei Weitem nicht den Organisationsgrad der christlichen Kirchen aufweist, gibt es praktisch keine verlässlichen offiziellen Zahlen. Der Anteil der Muslime in Deutschland wurde in der Vergangenheit vielfach nach Herkunft bestimmt. Wer also aus einem arabischen Land kam, wurde von Amts wegen zu einem Muslim, gleichgültig ob er oder sie nun gläubig ist oder nicht. Aus diesem Grund lässt sich auch die Anzahl derer, die sich von islamischen Gemeinden abwenden allenfalls schätzen.