Leseprobe PADUA 1/2020

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Herausgeberinnen und Herausgeber Michael Bossle Doris Eberhardt Katrin S. Rohde Susanne Schewior-Popp Kordula Schneider Angelika Zegelin Assoziierte Herausgeberin Tanja Segmüller

PADUA

Jahrgang 15 / Heft 1 / 2020

Fachzeitschrift für Pflegepädagogik, Patientenedukation und -bildung Gesundheitskompetenz Lehren und Lernen Bildung und Psychiatrische Pflege Wissen und Forschen Die Aufnahme der generalistischen Pflegeausbildung in die Schulgesetze der Länder Informiert sein und Handeln Gesprächszeit für belastete Angehörige


Ersteinschätzung bei Notfallpatienten Das Manchester-Triage-System ist eines der weltweit verbreitetsten Systemen, um Notfallpatienten in ihrer Behandlungsdringlichkeit einzuschätzen, einzustufen und klinisch zu priorisieren. Kein anderes System ist in Europa so etabliert: Weit mehr als 25 Mio. Patienten werden alljährlich nach diesem übersichtlichen und verständlichen System in Notfallambulanzen von Pflegenden eingeschätzt. Das System unterstützt den Neuling in der Pflege genauso wie den Experten. Es zeigt die Bedürfnisse des Patienten auf und hilft bei der Organisation der Behandlungsprozesse.

Notfallpatienten klinisch priorisieren

Notfallpatienten telefonisch triagieren

Kevin Mackway-Jones / Janet Marsden / Jill Windle (Hrsg.) Ersteinschätzung in der Notaufnahme Das ManchesterTriage-System

Kevin Mackway-Jones et al. (Hrsg.) Ersteinschätzung am Telefon Die ManchesterTelefon-Triage

Assessment-Karte beiliegend Deutsche Ausgabe herausgegeben und übersetzt von Jörg Krey und Heinzpeter Moecke. 4., vollst. überarb. u. erw. Aufl. 2018. 248 S., Kt € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85839-5 Auch als eBook erhältlich Arbeitsmappe zum Buch: Arbeitsmappe Ersteinschätzung in der Notaufnahme Präsentationsdiagramme des Manchester-Triage-Systems 2018. 14 S., 56 farbige Abb., Kunstoff in Schuber € 49,95 / CHF 65.00 ISBN 978-3-456-85926-2

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Deutsche Ausgabe herausgegeben und übersetzt von Jörg Krey. 2019. 208 S., 7 Abb., 65 Tab., Kt € 29,95 / CHF 39.50 ISBN 978-3-456-85724-4 Auch als eBook erhältlich


PADUA

Fachzeitschrift für Pflegepädagogik, Patientenedukation und -bildung

Jahrgang 15 / Heft 1 / 2020

Schwerpunkt Gesundheitskompetenz Herausgeber Michael Bossle Doris Eberhardt Katrin S. Rohde Susanne Schewior-Popp Kordula Schneider Angelika Zegelin Assoziierte Herausgeberin Tanja Segmüller


Herausgeberinnen und Herausgeber

Prof. Dr. Michael Bossle, Deggendorf Prof. Dr. rer. medic. Doris Eberhardt, Deggendorf Katrin S. Rohde, Berlin Prof. Dr. phil. Susanne Schewior-Popp, Mainz u. Vallendar Prof. Dr. phil. Kordula Schneider, Münster Prof. Dr. rer. medic. Angelika Zegelin, Dortmund (Verantwortliche Patientenedukation)

Assoziierte Herausgeberin

Prof. Dr. rer. medic. Tanja Segmüller, Bochum

Redaktorin

Edith Meyer, BScN, MScN, Nürnberg padua@hogrefe.ch

Verlag

Hogrefe AG, Länggass-Str. 76, 3012 Bern, Schweiz, Tel. +41 (0) 31 300 45 00, zeitschriften@hogrefe.ch, www.hogrefe.ch

Anzeigenleitung

Josef Nietlispach, Tel. +41 (0) 31 300 45 69, inserate@hogrefe.ch

Abonnemente

Zeitschriftenvertrieb, Tel. +41 (0) 31 300 45 13, zeitschriften@hogrefe.ch

Herstellung

Beatrix Marthaler, Tel. +41 (0) 31 300 45 38, beatrix.marthaler@hogrefe.ch

Satz und Druck

AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten im Allgäu

Titelbild

gettyimages / Luis Alvarez

ISSN

1861-6186

Elektronische Version

econtent.hogrefe.com/loi/pad

Preise

Jahresabonnementspreise: Institute: CHF 402.– / € 306.– (print only; Informationen zu den Online-Abonnements finden Sie im Zeitschriftenkatalog unter www.hgf.io/zftkatalog) Private: CHF 119.– / € 90.– Vorzugspreis für Studierende und Teilnehmende an Weiterbildungen im Pflegebereich (nur gegen Nachweis): CHF 69.– / € 52.– Porto und Versandgebühren: Schweiz: CHF 16.– Europa: € 17.– Übrige Länder: CHF 28.– Der Zugang zu den Ausgaben ab 2006 ist im Abonnement inbegriffen und kann online aktiviert werden. Einzelheft: CHF 29.– / € 20.– (+ Porto und Versandgebühren)

Hinweise für Autoren

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Für die Einreichung Ihres Beitrags und für jegliche redaktionelle Fragen wenden Sie sich bitte an die Redaktion unter padua@hogrefe.ch. Mit der Einreichung Ihres Beitrags willigen Sie einer allfälligen redaktionellen Bearbeitung ein und bestätigen, dass das Manuskript weder im Inland noch im Ausland publiziert, und dass es nicht gleichzeitig bei anderen Publikationsorganen eingereicht wurde. Weiter bestätigen Sie, dass sämtliche Abdruckgenehmigungen von allfälligen Abbildungen vorliegen. Bitte befolgen Sie die Hinweise zur Manuskriptgestaltung, die auf www.padua-zeitschrift.com downloadbar sind. Jeder Autor erhält ein kostenloses Belegexemplar des Hefts, in dem der Artikel erschienen ist. Sonderdrucke können gegen Rechnung bestellt werden. Eine diesbezügliche Bestellung muss spätestens mit der Rücksendung der Korrekturfahnen an den Verlag erfolgen. Die Verantwortung für den redaktionellen Inhalt der einzelnen Beiträge liegt bei den Autoren.

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Inhalt Gasteditorial

Förderung der Gesundheitskompetenz – eine Zukunftsaufgabe Doris Schaeffer und Svea Gille

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Schwerpunkt

Gesundheitskompetenz – eine Übersicht

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Konzept und Maßnahmen Regula Rička 8

Bewegungsbezogene Gesundheitskompetenz (bGK) Die Vermittlung von bGK in der Lehre für eine qualitativ hochwertige Klientenversorgung Stephanie Hecht

15

Bedürfnisgerechte Information von Angehörigen kritisch Kranker Eine Analyse des Informationsangebots auf Webseiten bayrischer Intensivstationen Cornelia Kölblin und Doris Eberhardt

23

Wollen oder können sie nicht? Gesundheitskompetenz von Patienten und die Vermittlung von Wissen und Können im Unterricht Annalena Welp und Sonia Lippke Mit Leadership zur personenzentrierten Vermittlung von Gesundheitsinformationen

31

Ein Praxisentwicklungsprojekt zur Förderung selbständiger Bewegung nach Kniegelenksimplantation Nadine Schmidkonz und Doris Eberhardt 38

Betriebliches Gesundheitsmanagement in der Pflegeausbildung Eine Chance für nachhaltige Veränderungen in Pflegeeinrichtungen Stephan Gronwald und Jasmin Weber Lehren und Lernen

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Bildung und Psychiatrische Pflege Bildungsdurchlässigkeit – mögliche Auswirkungen auf die psychosoziale Versorgung Hilde Schädle-Deininger

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Wissen und Forschen

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Die Aufnahme der generalistischen Pflegeausbildung in die Schulgesetze der Länder Ein Werk ahnungsloser Kultusbürokraten oder Ausdruck gesellschaftlicher Anerkennung? Frank Arens

Informiert sein und Handeln

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Gesprächszeit für belastete Angehörige Angebot einer Pflegeexpertin am Universitätsklinikum Bonn Renate Kunz

63

Service Meldungen, Neuheiten, Termine Vorschau

64

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Förderung der Gesundheitskompetenz – eine Zukunftsaufgabe Gesundheitskompetenz, verstanden als Fähigkeit, Gesundheitsinformation finden, verstehen, bewerten und nutzen zu können, stellt eine wichtige Grundlage für einen besseren Umgang mit der eigenen Gesundheit dar – sei es im Bereich der Gesundheitsförderung, Prävention oder Krankheitsbewältigung und Versorgung (Sørensen et al., 2012). Doch zeigen vorliegende empirische Befunde, dass ein Großteil der Bevölkerung über eine geringe Gesundheitskompetenz verfügt und sich vor erhebliche Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen gestellt sieht. Nach den Ergebnissen einer europäischen Vergleichsstudie trifft dies auf nahezu die Hälfte (47,6 %) der EU-Bürger_innen zu (HLS-EU Consortium, 2012). In Deutschland gilt dies einer repräsentativen deutschlandweiten Studie zufolge sogar für 54,3 % der Bevölkerung und damit mehr als jeden Zweiten (Schaeffer et al., 2016). Menschen mit geringem Bildungsniveau und Sozialstatus, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen im höheren Lebensalter und Menschen mit chronischer Erkrankung sind dabei besonders von einer geringen Gesundheitskompetenz betroffen. Sie finden es besonders schwer, geeignete Gesundheitsinformation zu finden und zu beurteilen (Schaeffer et al., 2016). Trotz der zunehmenden Digitalisierung hat die persönliche Information nach wie vor hohe Bedeutung (Schaeffer et al., 2016; Schaeffer et al., 2019). Der Pflege kommt hier eine wichtige Funktion zu, denn Pflegefachpersonen sind in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung zu finden. Vielfach sind sie sogar im Alltag der Patient_innen tätig und können sich einen direkten Überblick über die sich dort stellenden Herausforderungen und Schwierigkeiten verschaffen (Ewers et al., 2017). Sie haben zudem meist die längste Kontaktzeit mit Patient_innen und Angehörigen, haben dadurch größere soziale Nähe zu ihnen und sind zudem an vielen Stellen präsent, an denen der Bedarf an kommunikativer und informativer Unterstützung sichtbar wird. All dies sind gute Voraussetzungen für die Förderung von Gesundheitskompetenz. International wird ihnen bei dieser Aufgabe deshalb seit längerem eine wichtige Position zugeschrieben. Damit Pflegefachpersonen diese Aufgabe auch in Deutschland wahrnehmen können, bedarf es jedoch geeigneter Voraussetzungen. Dazu zählt die Berücksichtigung der Förderung von Gesundheitskompetenz und adäquater Strategien der Informationsvermittlung in der Aus-, Fortund Weiterbildung in der Pflege. Auch strukturelle Investitionen, einerseits in mehr Ressourcen und Personal und

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andererseits in die Etablierung gesundheitskompetenter Settings, die die Förderung von Gesundheitskompetenz auf organisationaler Ebene unterstützen, sind wichtige Voraussetzungen. All dies erfordert auch eine Intensivierung der Forschung zur Gesundheitskompetenz im Kontext Pflege. Die Stärkung der Gesundheitskompetenz stellt eine künftig wichtige gesellschaftliche Aufgabe dar. Daher wurde inzwischen von einer Gruppe von ca. 20 Expert_innen ein Nationaler Aktionsplan zur Förderung der Gesundheitskompetenz erarbeitet (https://www.nap-gesundheits kompetenz.de/). Er enthält insgesamt 15 Empfehlungen dazu, was geschehen muss, um die Gesundheitskompetenz in Deutschland nachhaltig zu stärken. Es bleibt zu hoffen, dass er auch in der Pflege Resonanz und Aufmerksamkeit findet, denn die Förderung der Gesundheitskompetenz wird eine Aufgabe sein, mit der sich auch alle Pflegefachpersonen künftig intensiv befassen müssen.

Literatur Sørensen, K., van den Broucke, S., Fullam, J., Doyle, G., Pelikan, J., Slonska et al. (2012). Health literacy and public health: a systematic review and integration of definitions and models. BMC Public Health, 12 (1), 80. HLS-EU Consortium (2012): Comparative Report on Health Literacy in eight EU Member States. The European Health Literacy Project 2009 – 2012. Maastricht. Schaeffer, D., Vogt, D., Berens, E-M. & Hurrelmann, K. (2016). Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland: Ergebnisbericht. Bielefeld: Universität Bielefeld. Schaeffer, D., Vogt, D. & Gille, S. (2019). Gesundheitskompetenz. Perspektive und Erfahrungen von Menschen mit chronischer Erkrankung. Bielefeld: Universität Bielefeld. Ewers, M., Schaeffer, D. & Meleis, A. I. (2017). „Teach More, Do Less“ – Förderung von Health Literacy als Aufgabe der Pflege. In Schaeffer, D. & Pelikan J.M. (Hrsg.), Health Literacy: Forschungsstand und Perspektiven (S. 237 – 259). Bern: Hogrefe. Prof. Dr. Doris Schaeffer Leitung (mit Prof. Dr. Ullrich Bauer) des Interdisziplinären Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung und Direktorin des Instituts für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld Svea Gille Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld svea.gille@uni-bielefeld.de

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Doris Schaeffer und Svea Gille


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Version B


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Gesundheitskompetenz – eine Übersicht Konzept und Maßnahmen Regula Rička

Aufgrund der steigenden Lebenserwartung werden gesunde Lebensjahre im Alter immer wichtiger. In dieser Übersichtsarbeit wird das Konzept der Gesundheitskompetenz und ihre Messung vorgestellt.

chronischen Krankheiten und besserer Lebensqualität führen. Akteure der öffentlichen Gesundheit (PublicHealth) sehen in der Förderung der Gesundheitskompetenz einen wichtigen Schlüssel dazu.

heitskompetenz aufgezeigt und Vergleiche von Ansätzen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gemacht.

Lebens- und Gesundheitserwartung in ausgewählten europäischen Ländern In den letzten Jahrzehnten ist die Lebenserwartung in Europa stetig gestiegen. 2017 lag die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen und Männer in den EU-Ländern bei 81 Jahren (Urmersbach, 2019). In Ländern mit politisch stabilen Verhältnissen, hoher sozialer Sicherheit und einem funktionierenden Gesundheitssystem stieg die Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten vor allem aufgrund der gesunkenen Säuglingssterblichkeit und einem gut ausgebauten Gesundheitssystem. Aber, allein die Lebenserwartung sagt wenig über den Gesundheitszustand der Bevölkerung aus. Aus diesem Grund sind die statistisch berechneten gesunden Lebensjahre ein wichtiger Indikator, um die Gesundheit der Bevölkerung eines Landes zu beschreiben. Diese sogenannte Gesundheitserwartung, die auch als behinderungsfreie bzw. gesunde Lebensjahre bezeichnet werden. Diese berechnen sich aus Mortalitäts- und Mortalitätsdaten. Die nachfolgende Tabelle illustriert, welches Entwicklungspotenzial zur Förderung von gesunden Lebensjahren in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Vergleich mit Schweden brach liegt. Bei der Gesundheitserwartung belegt Schweden den 1. Rang: Schwedinnen erwarten 73,3 Jahre und Schweden 73,0 Jahre gesunde Lebensjahre ab Geburt. Das europäische Mittel der Gesundheitserwartung ab Geburt liegt bei Frauen bei 64 Jahren und bei Männern bei 63,5 Jahren (Eurostat, 2019). Dieses im Laufe eines Lebens erarbeitete gesundheitliche Kapital kann im Alter zu guter Gesundheit, weniger ©2020 Hogrefe

Relevante gesellschaftliche Entwicklungen Je gesünder die Bevölkerung ist, umso leistungsfähiger ist sie auch. Gesundheit ist zu einem wesentlichen Aspekt des Alltags sowohl von Einzelpersonen als auch von gesellschaftlichen Gruppen und der ganzen Bevölkerung geworden. Gesunde und leistungsfähige Erwerbstätige tragen zum wirtschaftlichen Erfolg eines Landes in wesentlichem Maße bei. Insbesondere Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention können dazu beitragen, dass die Risiken für nichtübertragbare Krankheiten abnehmen und die Gesundheitserwartung gesteigert wird. Mit dem Bestreben, bei guter Gesundheit zu sein, entwickelt sich Gesundheit zu einem Konsumgut in einem stetig wachsenden Markt (Rička et al., 2007). Neue Produkte oder Maßnahmen, um die Gesundheit zu erhalten oder zu verbessern und um Krankheiten zu verhindern (z. B. Lifestyle-Medikamente, Schönheitschirurgie), erweitern die Palette der herkömmlichen Angebote der Medizin. Eine bedeutsame Entwicklung des 21. Jahrhunderts sind in diesem Zusammenhang die neuen Kommunikationstechnologien, die zu anderen Verhaltensmustern führen und neue Kompetenzen der Informationsverarbeitung erfordern. Der Umgang mit diesen neuen Kommunikationstechnologien wird im Bereich Gesundheit sowohl für die gesunde und die kranke Bevölkerung als auch für die Fachpersonen zu einer zentralen Herausforderung. Diese Technologien erlauben die eigene gesundheitliche Planung und die tägliche Vermessung des eigenen Körpers. Begleitete, unbegleitete, kostenpflichtige und kostenlose Applikationen stehen im Internet zu Themen wie Ernährung, Bewegung, Entspannung und Medizin zur Verfügung. Vor dem Kontakt mit einer Ärztin oder einem Arzt ziehen heute viele Menschen verschiedene Quellen heran. So kommt es, dass Gesundheitsthemen zu den am meisten gesuchten Themen im Internet zählen. Das mag ein HinPADUA (2020), 15 (1), 3–7 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000528

Schwerpunkt

Weiter werden Ansätze zur Förderung der Gesund-


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Schwerpunkt

Tabelle 1. Rangliste der Gesundheitserwartung bei Geburt Rangliste ausgewählter Länder

Frauen

Rangliste ausgewählter Länder

Männer

Schweden (1. Rang)

73,3 Jahre

Schweden (1. Rang)

73,0 Jahre

Deutschland (7. Rang)

67,3 Jahre

Deutschland (9. Rang)

65,3 Jahre

Schweiz (26. Rang)

57,7 Jahre

Schweiz (19. Rang)

61,0 Jahre

Österreich (28. Rang)

57,1 Jahre

Österreich (27. Rang)

57,0 Jahre

Quelle: ec.europa.eu/eurostat, 2016, Daten Island, Norwegen und Schweiz, 2015

weis dafür sein, dass gesundheitlichen Themen generell mehr Aufmerksamkeit eingeräumt werden. Mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen erhofft sich die Gesundheitspolitik, dass die Patientinnen und Patienten zu informierten, mündigen, autonomen und kompetenten Partnern der Fachpersonen werden. Ein Beispiel dafür sind die elektronischen Patientendossiers. Basierend auf Wissen und Informationen Entscheidungen treffen zu können, stellt eine Herausforderung für alle dar: Für Konsumentinnen, Konsumenten, Patientinnen und Patienten, aber auch für Fachpersonen sowohl in der Versorgung als auch im Gesundheitssystem insgesamt. Zurzeit ist die Qualität des Inhalts von gesundheitsbezogenen Web-Angeboten häufig zweifelhaft und für Benutzerinnen und Benutzer nicht überprüfbar. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wird „Gesundheitskompetenz“ (engl. Health Literacy) immer wichtiger.

Entwicklung des Konzepts der Gesundheitskompetenz Das Konzept Gesundheitskompetenz hat ihre Wurzeln in der Bildungsforschung und in der Erwachsenbildung in Hinblick auf die Lese- und Schreibfähigkeit aus den frühen 1970er Jahre (Nutbeam, 2008). Bezogen auf Gesundheit bedeutet dies, sich Zugang zu Informationen und Wissen über Gesundheit und Krankheit zu verschaffen, diese Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen, sie anzuwenden, und im Alltag angemessene Entscheidungen für die Gesundheit zu treffen. Das Konzept wurde zuerst in der klinischen Versorgung im Gesundheitswesen aufgegriffen, aber auch in der öffentlichen Gesundheit (Public Health) gewinnt Gesundheitskompetenz immer mehr an Bedeutung. Eine ausgeprägte Gesundheitskompetenz stellt ein individuelles gesundheitliches Kapital dar. Eine geringe Gesundheitskompetenz kann jedoch ein gesundheitliches Risiko darstellen. Die Zusammenhänge zwischen Lese- und Entscheidungsfähigkeiten und dem Gesundheitszustand sind heute gut anerkannt und besser verstanden. Don Nutbeam zählt zu einem der ersten Forschenden über Gesundheitskompetenz. Für ihn beinhaltet Gesundheitskompetenz eine gesundheitsrelevante Lebensweise, Angebote zur Früherkennung von Krankheiten nutzen, PADUA (2020), 15 (1), 3–7

Zugang haben und nützen können von Dienstleistungen im Gesundheitswesen sowie Behandlungsempfehlungen im Falle einer Krankheit umsetzen (Nutbeam, 2008). Dazu unterscheidet Nutbeam drei Ebenen: • Funktionale Gesundheitskompetenz: Ausreichende Grundkompetenzen für das Lesen und Schreiben in Hinblick auf die Gestaltung der eigenen Gesundheit sowie bei der Betreuung der Familie und nahestehenden Personen. Dazu braucht es Wissen, Motivation und Handlungskompetenz. • Kommunikative, interaktive Gesundheitskompetenz: Grundlegende kognitive und soziale Kompetenzen, die erlauben aktiv am Alltag teilzunehmen, Informationen zu sammeln und in Interaktionen mit anderen Personen zu interpretieren sowie vorhandene Informationen unter veränderten Bedingungen anzuwenden. Das heisst, sich im Gesundheitssystem zurechtfinden und gegenüber den Fachpersonen im Gesundheits- und Sozialwesen als kompetente Partnerin bzw. kompetenter Partner auftreten zu können. • Kritische Gesundheitskompetenz: Fortgeschrittene kognitive und soziale Kompetenzen, die für eine kritische Analyse von Informationen eingesetzt werden können, um eine größere Kontrolle zu erhalten. Das beinhaltet die Fähigkeit zu entwickeln, Entscheide beim Konsumverhalten unter gesundheitlichen Aspekten zu treffen. Die drei Ebenen der Gesundheitskompetenz führen zu einem höheren Maß an Selbstbestimmung beim Einzelnen. Wobei Gesundheitskompetenz durch lebenslanges Lernund Sozialisierungsprozesse entstehen. Dabei prägen soziokulturelle Lebensbedingungen die Chancen auf die Entwicklung der Gesundheitskompetenz (Sommerhalder & Abel, 2007). Je besser die Bildung und das Einkommen, desto ausgeprägter ist eine hohe Gesundheitskompetenz. Selbstbestimmung und Chancengleichheit sind zentrale Anliegen der Ottawa-Charta für Gesundheitsförderung 1986 (Kickbusch et al., 2016). Dafür braucht es Rahmenbedingungen. Vor diesem Hintergrund hat die WHO die Gesundheitskompetenz in einen breiteren Kontext gestellt. Dazu zählt der Settingansatz. Das heisst, Personen müssen in ihren Lebensräumen mit Gesundheitsbildung erreicht werden. Das sind Familien, Schulen, Arbeitsplätze und Gemeinschaften (z. B. Stadtquartiere, Dörfer). Deshalb empfiehlt die WHO den Mitgliedstaaten, die Förderung der Gesundheitskompetenz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu ernennen. Dafür braucht es gesundheits©2020 Hogrefe


Schwerpunkt

politisches Handeln. Die Politik soll sich für aktuellere Gesundheitsrechte einsetzen und Gesundheits- und Patientenorganisationen fördern, damit die Mitbestimmung aus der Betroffenenperspektive ermöglicht wird. Zugunsten der Gesundheit der Bevölkerung müssen sich die Verantwortlichen in anderen Politikbereichen für die Anliegen der Gesundheit einbringen.

Abgrenzung zu verwandten Begriffen Gesundheitskompetenz kann auch als Komponente von Prozessen des Empowerments im Gesundheitsbereich gesehen werden. Nach Rappaport (1987) führt Empowerment Menschen, Organisationen und Gemeinschaften dazu, die Kontrolle über ihre eigenen Angelegenheiten zu gewinnen. Dieser Prozess liegt in der Interaktion zwischen verschiedenen Ebenen. Fachpersonen im Gesundheitsund Sozialwesen können Ressourcen und Kompetenzen fördern sowie Bedingungen schaffen, die sowohl ein höheres Empowerment und eine höhere Gesundheitskompetenz ermöglichen. Laut Sommerhalder und Abel (2007) stellt die Patientenkompetenz eine aufgabenspezifische Form der Gesundheitskompetenz dar. Patientenkompetenz bezieht sich auf die Kompetenz einer Person in der Rolle als Patientin bzw. Patient, sinnvoll mit den Angeboten der Gesundheitsversorgung umzugehen.

Gesundheitskompetenz ist messbar Um die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung weiterzuentwickeln, muss sie gemessen werden können. Eine ausgeprägte Gesundheitskompetenz drückt sich aus, wenn gesundheitsrelevante Entscheidungen im Alltag getroffen werden und gesundheitsrelevant gehandelt wird. In messbaren Grössen heisst dies: Gesundheitsförderlich körperlich aktiv sein, sich gesund ernähren, Genussmittel risikoarm genießen (z. B. alkoholische Getränke), ausreichend schlafen und achtsam mit Stressfaktoren umgehen sowie Angebote von Gesundheitsdienstleistungen angemessen nutzen. In messbaren Größen heisst dies weiter: Mehr Prävention, weniger Notfallbehandlung und Umsetzung von gesundheitlichen Vorsorge- und Behandlungsempfehlungen im Falle von Krankheit. Derzeit gibt es mehrere Verfahren, um Gesundheitskompetenz zu messen. Ein international zusammengesetztes Konsortium hat dazu einen Fragenbogen entwickelt. Darin werden 12 Dimensionen von gesundheitlichen Fähigkeiten zur Krankheitsprävention und zum Zugang zu gesundheitlichen Informationen im Falle von Krankheit erfragt. Gemessen wird dabei die Fähigkeit des Verstehens, der Beurteilung und des Anwendens in jeder Dimension (Kickbusch et al., 2016). Sowohl aus Deutschland als auch aus Österreich und aus der Schweiz liegen Studien ©2020 Hogrefe

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vor, die aufbauend auf dem European Health Literacy Survey (HLS-EU) die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und einzelner Bevölkerungsgruppen untersuchen. Es zeigt sich dabei, dass die Bevölkerung in den drei Ländern Schwierigkeiten im Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen hat und Handlungsbedarf auf verschiedenen Ebenen besteht. Zur Fortsetzung von regelmäßigen ländervergleichenden Studien wurde unter dem Dach der Europäischen Gesundheitsinformationsinitiative der WHO das Aktionsnetzwerk zur Messung der Gesundheitskompetenz eingerichtet (Kickbusch et al., 2016). Erhebungen zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung und einzelner Bevölkerungsgruppen ist zentrale Voraussetzung für eine evidenzbasierte Politik und Praxis zur Förderung der Gesundheitskompetenz.

Förderung der Gesundheitskompetenz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe Auf der Basis der Begriffsdefinition ist die eigen- und mitverantwortliche Gesundheitskompetenz fast allgegenwärtig: Im privaten Umfeld, in der Schule, am Arbeitsplatz, in der Markt- und Konsumwelt sowie in der Politik. Zur Förderung dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe bildeten sich in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum auf strategische Grundlagen, Umsetzungsmaßnahmen und Netzwerke zur Förderung der Gesundheitskompetenz. Nachfolgend wird am Bespiel der Schweiz aufgezeigt, welche Bestrebungen auf verschiedenen Ebenen laufen.

Ebene Bund Die Stärkung der Gesundheitskompetenz und der Eigenverantwortung der Bevölkerung ist Bestandteil der gesundheitspolitischen Strategie „Gesundheit 2020“ des Bundesrats in der Schweiz. Mit dieser Strategie sollen Patientinnen und Patienten sowie Krankenversicherte gefördert werden, sich effizienter im Gesundheitssystem bewegen und Krankheiten besser vorbeugen zu können. Im Falle von Krankheit sollen sie mit der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen sorgsamer umgehen können. Weiter ist die Förderung der Gesundheitskompetenz in verschiedenen nationalen Gesundheitsstrategien als Querschnittsthema mitberücksichtigt. So wird beispielsweise in der Strategie zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCD-Strategie 2017 – 2024) des Selbstmanagements von Menschen mit chronischen Krankheiten gefördert. Die Förderung der Gesundheitskompetenz der Patientinnen und Patienten ist auch ein Ziel der gemeinsamen Strategie eHealth Schweiz 2018 – 2022 von Bund und Kantonen. Im Rahmen der Umsetzung der schweizerischen Integrationspolitik gibt es zudem ein Informationsportal im Internet, aus dem leicht verständliche PADUA (2020), 15 (1), 3–7


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Gesundheitsinformationen in zahlreichen Sprachen verfügbar sind und weit über die Landesprachen der Schweiz hinaus gehen (Schweizerisches Rotes Kreuz, 2019). Damit soll der Zugang zu Gesundheitsinformationen für vulnerable Gruppen erleichtert werden. Als Beispiel einer Kampagne zur Fehlversorgung von Medikamenten hat der Bund im Rahmen der Strategie Antibiotikaresistenzen eine öffentliche Kampagne zur korrekten Verwendung von Antibiotika lanciert (Birrer-Heimo, 2019).

Regionale Ebene In der Schweiz sind in erster Linie die Kantone für die Umsetzung konkreter Maßnahmen und Angebote für die Gesundheit der Bevölkerung zuständig. Der Kanton Zürich hat im Jahr 2018 das Programm „Gesundheitskompetenz Zürich“ lanciert, das mit Praxisprojekten und Kampagnen einen Beitrag zur Stärkung der Gesundheitskompetenz der Zürcher Bevölkerung und der Gesundheitsversorger leisten will. Der Titel lautet: Gut informiert entscheiden (Gesundheitskompetenz Zürich, 2019).

Private Initiativen Die Fachorganisation Public Health Schweiz, die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, die Careum Stiftung, die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) sowie eine Firma aus der Pharmazie hat im Jahr 2010 die Allianz Gesundheitskompetenz gegründet. Sie organisiert Tagungen, unterstützt Projekte, zeichnet Projekte mit einem Preis aus und veröffentlicht Publikationen zum Thema Gesundheitskompetenz (Allianz Gesundheitskompetenz Schweiz, 2019). Damit strebt die Allianz eine deutlich verbesserte Gesundheitskompetenz der Schweizer Bevölkerung an. Wichtig ist dabei, dass die Bevölkerung gestärkt wird, im Alltag Entscheide zu treffen, die ihre Gesundheitskompetenz fördern und das selbstbestimmte Leben mit gesundheitlichen Einschränkungen oder mit einer Krankheit leben zu können. Aus diesen Gründen ist es ein Anliegen der Allianz, wichtige politische oder gesetzliche Rahmenbedingungen für die Verbesserung der Gesundheitskompetenz anzuregen, um das Thema gesundheits- und gesellschaftspolitisch breiter zu verankern. Auch in Deutschland und Österreich sind ähnliche Bestrebungen entsprechend der Organisation des Gesundheitssystems in Gange.

Aktivitäten in Deutschland und in Österreich In Deutschland und Österreich haben die Bundesministerien für Gesundheit die Gesundheitskompetenz als eines ihrer Gesundheitsziele definiert. In Deutschland haben die Robert Bosch Stiftung, die Universität Bielefeld und die Hertie School of Gouvernance im Jahr 2018 gemeinsam einen „Nationalen AktionsPADUA (2020), 15 (1), 3–7

Schwerpunkt

plan Gesundheitskompetenz“ veröffentlicht (Schaeffer et al., 2018). Ein breit abgestützter Kreis von Expertinnen und Experten hat ihn erarbeitet. Er nimmt den Handlungsbedarf in den alltäglichen Lebenswelten, im Gesundheitssystem, beim Leben mit chronischen Erkrankungen und in der Forschung in den Blick. In insgesamt 15 aufeinander abgestimmten Empfehlungen wird aufgezeigt, wie die Gesundheitskompetenz in Deutschland gestärkt werden kann. Der Aktionsplan steht unter der Schirmherrschaft des Bundesgesundheitsministeriums. Im Jahr 2019 wurde weiter das Deutsche Netzwerk für Gesundheitskompetenz (DNGK) gegründet. Diese interdisziplinär zusammengesetzte Fachgesellschaft bestätigt sich mit der Theorie und der Praxis der Gesundheitskompetenz. Das Netzwerk dient dem fachlichen Austausch der an Gesundheitskompetenz Interessierten. Es betreibt eine webbasierte Informationsund Kommunikationsplattform. Daneben beschäftigt es sich an der Entwicklung und Vermittlung von Aus-, Weiterund Fortbildungscurricula und -modellen sowie der Abstimmung laufender Gesundheitskompetenz-bezogener Forschung, Ausbildung und Praxis. Neben der Durchführung von Evaluations- und Forschungsprojekten arbeitet es an der Weiterentwicklung von Theorie und Methoden. Auch werden ethische Fragen der Gesundheitskompetenz bearbeitet. Webbasiert stellt dieser Verein nützliche Informationen zum Begriff und Gesundheits- und Patienteninformation bereit. Zudem bietet es eine E-Bibliothek an. Die Österreichische Plattform „Gesundheitskompetenz“ (ÖPGK) koordiniert, unterstützt und entwickelt die Umsetzung des bundesstaatlichen Gesundheitsziels „Gesundheitskompetenz“ bereits seit längerer Zeit. Die reichhaltigen Informationen dieser Webseite richten sich an Mitgliedsorganisationen der ÖKPK und an alle im Bericht „Gesundheitskompetenz“ tätigen Akteurinnen und Akteure aus Praxis und Forschung sowie an weiter interessierte Personen und Organisationen.

Eigenverantwortung ermöglichen Im heutigen (gesundheits-)politischen Diskurs wird häufig „Eigenverantwortung“ gefordert. In den 1970er-Jahren setzte eine Entwicklung ein, die vom informierten zum mündigen, autonomen und kompetenten Patienten führte. Entscheidungen, basierend auf Informationen, sind eine Herausforderung für alle: für Konsumentinnen und Konsumenten oder Patientinnen und Patienten, aber auch für Fachpersonen im Gesundheitsbereich (Anbieter) und das Gesundheitssystem im Ganzen; alle Beteiligten sollten ihre Rolle überdenken. Kommunikationsfähigkeit von Fachleuten (Expertinnen und Experten) und die Lesbarkeit der Systeme (Rahmenbedingungen) spielen eine große Rolle, wenn Gesundheitskompetenz ein etabliertes Prinzip bei der Förderung von gesundheitsrelevanten Entscheiden im Alltag und im Krankheitsfall werden soll. Die Übernahme von Verantwortung sollte immer an bestimmte Rahmenbedingungen geknüpft sein. In diesem ©2020 Hogrefe


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Sinne braucht es doppelgleisige Interventionsstrategien, die sowohl die persönlichen Fähigkeiten verbessern und zugleich die Komplexität der Kommunikation verringern. Auch das Vertrauen der Nutzerinnen und Nutzer in das Gesundheitswesen sollte erhöht werden – etwa durch die Verbesserung der Patientensicherheit und die Qualität von Gesundheitseinrichtungen. Von besonderer Bedeutung ist die Frage, wie Gesundheitsfachpersonen mit benachteiligten Kundinnen und Kunden sowie Patientinnen und Patienten umgehen können und ob sie diese Herausforderung mit Interesse anpacken. Die Pflege könnte rasch auf diese gesundheitspolitische Perspektive eingehen. Die Ressourcenorientierung ist ein wirksamer Ansatz zur Stärkung der Selbstverantwortung. In der Pflege hat die Ressourcenorientierung eine lange Tradition. Bereits Florence Nightingale konzipierte die Pflege mangels Kenntnisse über Infektionskrankheiten in der Unterstützung der selbstheilenden Kräfte und in der Verbesserung der hygienischen Verhältnisse in der Umgebung (Nightingale, 1859). Viele namhafte Pflegeexpertinnen konzipierten die Pflege (Pflegetheorien) als Unterstützung des Selbstmanagements und in der Krankheitsbewältigung im Alltag oder setzten den Schwerpunkt auf die Beziehung zwischen „Patient und Pflege“ (Fawcett, 1996). Diese pflegetheoretischen Grundlagen sind günstige Voraussetzungen, um in praxisorientierten Projekten die Gesundheitskompetenz in ganz unterschiedlichen Pflegesituationen zu fördern und so zu entwickeln, dass sie zu einer neuen Qualität im Gesundheitswesen beitragen. Die meisten Pflegenden arbeiten in Spitälern und die Aus- und Weiterbildungen richten sich hauptsächlich nach den institutionellen Bedürfnissen der dort behandelten Patientengruppen. Die unaufhörliche Entwicklung und die informierten Versicherten verlangen nach neuen Kompetenzen. Mit den immer kürzer werdenden Spitalaufenthalten wird eine gute Beratung bei der Vorbereitung und der Nachsorge zum entscheidenden Erfolgsfaktor für das Ergebnis. Es wird sich eine neue pflegerische Expertise herauskristallisieren müssen. Neben den Angeboten für Grundausbildungen wird sich die Pflege für die Entwicklung von folgenden Kompetenzen interessieren müssen: • Klinische Kompetenz kombiniert mit Beratungskompetenz und vertiefter Kenntnis von Lebensstilen und dem Zusammenhang zwischen Lebensstil und Gesundheitsverhalten; • Klinische Kompetenz kombiniert mit didaktischer und pädagogischer Kompetenz zur Aufbereitung und Vermittlung von Wissen für verschiedene Adressaten; • Klinische Kompetenz kombiniert mit betriebswirtschaftlichem Wissen, psychologischer Kompetenz und ethischer Kompetenz, um die Entscheidungsprozesse zu leiten. Neben den Kompetenzen braucht die Pflege dafür aber auch einen gesellschaftlichen Auftrag und in Folge ein verändertes Finanzierungssystem sowie eine veränderte politische Steuerung. ©2020 Hogrefe

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Die Pflege kann sich auch interprofessionell und gesundheitspolitisch für die Förderung der Gesundheitskompetenz stark machen: Angefangen bei jeder einzelne Person – unabhängig ihres Alters-, in Institutionen, die in Belangen der Gesundheit verständlich informieren und ihre Dienstleistungen leicht zugänglich machen wollen, sowie bei Akteuren der Gesundheits- und Bildungspolitik, die Mittel zur Förderung der Gesundheitskompetenz bereitstellen können.

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Regula Rička, PhD, MPH Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin, unterrichtet zu verschiedenen Themen der öffentlichen Gesundheit, in diesem Bereich wissenschaftlich tätig. Bern regula.ricka@bluewin.ch

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Bewegungsbezogene Gesundheitskompetenz (bGK) Die Vermittlung von bGK in der Lehre für eine qualitativ hochwertige Klientenversorgung Stephanie Hecht

Regelmäßige körperliche Aktivität birgt enorme gesundheitsförderliche Wirkungen. Ein Großteil der Bevölkerung erreicht jedoch die Mindestempfehlungen für Bewegung nicht. Das Konstrukt Bewe-

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gungsbezogene Gesundheitskompetenz adaptiert Ressourcen und Barrieren, um körperliche Aktivität bestmöglich zu initiieren und zu verstetigen. Die Umsetzung verlangt hoch kompetente Gesundheitsexperten, die unterschiedliche Handlungsansätze für die Bedarfe einer Zielgruppe bzw. eines Menschen entwickeln.

Rahmenbedingungen In den letzten Jahren wurde der Erkenntnisstand zu den Wirkungen körperlicher Aktivität auf die Gesundheit sukzessive erweitert: Der aktuelle Report des nordamerikanischen Physical Activity Guidelines Adisory Commitee weist dahingehend gravierende Veränderungen zur Vorgängerversion von 2008 aus (PAGAC, 2018). Neben den schon bekannten Gesundheitswirkungen hinsichtlich Gesamtmortalität, der Prävention kardiometabolischer Erkrankungen und Krebs, erscheint insbesondere die Evidenzlage für psychologisch relevante Gesundheitswirkungen überzeugend (Tabelle 1). Der Bereich „Brain health“ (PAGAC, 2018) beinhaltet unter anderem verstärkte Evidenz hinsichtlich der Förderung kognitiver Funktionen, der Prävention demenzieller Erkrankungen, einer verbesserten Lebensqualität sowie dem reduzierten Auftreten von Depression. Dieser gesundheitswirksame Nutzen durch Bewegung ist nicht nur bei Erwachsenen nachweisbar, sondern ebenso bei Kindern und Jugendlichen, die beispielsweise mit einer spezifischen Gesundheitsstörung wie ADHS diagnostiziert sind (PAGAC, 2018). Einleitend wird in der PAGAC-Schrift allgemein konstatiert: „Physically active individuals sleep better, feel better, and function better.“ (PAGAC, 2018). Die überzeuPADUA (2020), 15 (1), 8–14 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000529

gende Evidenzlage bezüglich Gesundheitswirkungen geht eng mit dem zeitgemäßen Verständnis von Gesundheit einher. Dieses charakterisiert sich nicht ausschließlich über körperlich funktionelle Aspekte, sondern zeigt sich in bio-psycho-sozialen Dimensionen, die über das Individuum hinaus, auch die sozial-ökologischen Bedingungen in den Fokus stellen. Trotz dieser positiven Argumentationslage respektive der außergewöhnlichen Gesundheitseffekte, die sich im gesamten Versorgungsspektrum von Gesundheitsförderung, Prävention über Rehabilitation und Therapie bis hin zur Pflege, erzeugen lassen, bewegen sich die Menschen immer weniger. Die Autorengruppe um Froböse legt im DKV-Report 2018 dar, dass Bewegungsmangel in Deutschland ein immer größeres Ausmaß annimmt (Froböse et al., 2018). Waren es im Jahr 2010 noch 60 %, so konnten 2018 nur noch 43 % der befragten Bundesbürger die Mindestempfehlungen für gesundheitswirksame körperliche Aktivität erfüllen (Froböse et. al, 2018). Diese angesprochenen Aktivitätsempfehlungen sind seit 2016 in deutscher Sprache zugänglich (Nationale Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung – NEBB, Rütten & Pfeifer, 2016) und orientieren sich an den von der WHO 2010 erarbeiteten Richtlinien (WHO, 2010). Erwachsene sollten demnach mindestens 150 Minuten aerobe körperliche Aktivität mit moderater Intensität (z. B. 5 × 30 Minuten zügiges Gehen) oder 75 Minuten aerobe körperliche Aktivität mit höherer Intensität (z. B. Joggen) oder jeglicher Kombination der beiden Varianten pro Woche nachgehen und darüber hinaus muskelkräftigende körperliche Aktivitäten an mindestens zwei Tagen pro Woche ergänzen (Rütten & Pfeifer, 2016). In den NEBB wird weiterhin dargelegt, dass es sich dabei um das Minimum an körperlicher Aktivität handelt: Durch eine Steigerung des Umfangs und / oder der Intensität der Bewegung können weitere Gesundheitseffekte wirksam werden (Rütten & Pfeifer, 2016). Es finden sich in den nationalen Empfehlungen noch folgende brisante Aspekte im Bezug zur Durchführung der gesundheitsförderlichen Aktivität: • Der Umfang der Bewegungseinheit ist vordergründig, nicht die Art der Bewegung. ©2020 Hogrefe


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Tabelle 1. Gesundheitsnutzen körperlicher Aktivität in der allgemeinen erwachsenen Bevölkerung nach PAGAC-Report 2018 Gesamtmortalität

geringeres Risiko

kardio-metabolische Faktoren

geringere Inzidenz kardiovaskulärer Erkrankungen und kardiovaskulärer Mortalität geringere Inzidenz Bluthochdruck geringere Inzidenz Diabetes mellitus Typ 2

Krebserkrankungen

geringere Inzidenz für Brust-, Darm-, Magen-, Harnblasen-, Nieren-, Endometrium-, Speiseröhren und Lungenkrebs

„Brain health“

reduziertes Risiko für Demenz verbesserte kognitive Funktion verbesserte kognitive Funktion nach Einheit aerobe Aktivität verbesserte Lebensqualität verbesserter Schlaf reduzierte Angstgefühle und Depressivität bei gesunden Menschen sowie Menschen mit klinischen Symptomen reduzierte Inzidenz Depression

Gewichtsstatus

reduziertes Risiko für exzessiven Gewichtsanstieg Gewichtsreduktion sowie Vorbeugung Wiederanstieg des Gewichts nach initialer Gewichtsreduktion, wenn ausreichende Dosis moderater bis anstrengender körperlicher Aktivität erreicht wird zusätzlicher Nutzen, wenn körperliche Aktivität mit Veränderung des Ernährungsverhalten kombiniert wird

Anmerkung: Veränderungen gegenüber dem PAGAC-Report 2008 sind kursiv gedruckt; Es werden nur Wirkungen dargestellt, für die starke oder moderate Evidenz vorliegt.

• Grundsätzlich sind alle Aktivitäten im Rahmen der motorischen Hauptbeanspruchungsformen (Kraft, Ausdauer, Koordination, Beweglichkeit) Gewinn bringend. • Die Bewegungszeiten können akkumuliert werden. Als Mindestumfang gelten 10 Min. am Stück (z. B. 3 × 10 Min. über den Tag verteilt). • Es können auch Aktivitäten unter zehn Minuten gesundheitswirksam sein, z. B. als Einstieg in einen aktiven Lebensstil. • Lange Sitzphasen sollen vermieden und durch häufige Bewegung unterbrochen werden. • Jede Aktivität ist besser als keine. Jegliche Reduzierung des Bewegungsmangels ist als Benefit zu bewerten. • Der gesundheitliche Nutzen regelmäßiger körperlicher Aktivität überwiegt den möglichen Risiken bei weitem. Eindringliche Relevanz erhält an dieser Stelle die Berücksichtigung, dass der Begriff körperliche Aktivität respektive Bewegung per se nicht mit Sport gleichzusetzen ist. Gesundheitsförderliche körperliche Aktivität bzw. Bewegung orientiert sich an dem international gebräuchlichen Begriff „health-enhacing physical activity“ (Foster, 2000) und subsumiert Freizeittätigkeiten (u. a. gesundheitsförderlicher Sport), bewegungsaktiven Transport sowie körperliche Arbeit im Beruf oder Haushalt (Rütten & Pfeifer, 2016). Mit der Abkehr vom engen Sportbezug vollzieht sich ein Paradigmenwechsel, demzufolge Sport sich als Teilbereich der umfassenden körperlichen Aktivität unterordnet. Diese definiert sich als eine „durch die Skelettmuskulatur erzeugte Bewegung von Körper und Gliedmaßen, die zu einem Anstieg des Energieverbrauchs über den Ruheenergieverbrauch hinausführt.“ (Rütten & Pfeifer, 2016). Der geöffnete Blickwinkel impliziert die Aktivitätsbereiche Alltag, Freizeit, Transport sowie Beruf und geht dementsprechend mit einer vermeintlich höheren Adressatenliste einher als bislang. Denn in einem nicht unerheblichen ©2020 Hogrefe

Maß, assoziieren viele Menschen negative Affekte zu Sport (z. B. Anstrengung, Schweiß, Unwohlsein), die in den meisten Fällen zu einer aversiven Haltung führen und konsequenterweise einer Veränderung der Gewohnheiten hin zu einem körperlich aktiven Lebensstil, maximal entgegenstehen. Weiterhin erfährt in den letzten Jahren das sedentäre bzw. sitzende Verhalten erhöhte Aufmerksamkeit. Damit ist die körperliche Inaktivität mit langen Sitzperioden am Arbeitsplatz und / oder in der Freizeit und einem sehr geringen Energieverbrauch gemeint (Rütten & Pfeifer, 2016). Die Studienlage verdichtet sich und bringt das Auftreten von chronischen Erkrankungen sowie einer erhöhten Mortalität mit lang andauerndem sitzendem Verhalten in Zusammenhang (Füzeki et al., 2015). Bis heute existiert kein individuelles oder die Verhältnisse betreffendes Allheilmittel, dem fortschreitenden Bewegungsmangel in der Bevölkerung Einhalt zu gebieten. Aktuell wird deutlich, dass sich die Konzipierung effektiver Interventionen zur Bewegungsförderung als hoch komplex erweist. Das Bewegungsverhalten ist zum einen von den individuellen Fähigkeiten, dem bewegungsbezogenem Wissen und der Motivation jedes einzelnen abhängig, wird zum anderen aber auch von Bewegungsgelegenheiten, die die jeweiligen Lebenswelten bieten (z. B. Schule, Betrieb, Kommune), reguliert (Rütten & Pfeifer, 2016). Demzufolge ist das individuelle Bewegungsverhalten in verschiedene Bewegungsverhältnisse integriert. Den Rahmen bilden Umweltbedingungen (z. B. soziale, bauliche, infrastrukturelle) sowie politische Strategien auf kommunaler, regionaler oder nationaler Ebene. Erfolgversprechende Maßnahmen fordern ein komplexes Gesamtkonstrukt aus Verhaltens- und Verhältnis-orientierten Ansätzen, die sowohl das Individuum als auch die Lebenswelten fokussieren. Für eine aussichtsreiche Implementierung von Interventionen zur Bewegungsförderung in die Praxis bePADUA (2020), 15 (1), 8–14


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darf es einer adäquaten Zielgruppenansprache. Beispielsweise liegt die Drop-out-Quote in rein praktischen Gesundheitsportprogrammen bei 40 – 50 % der Teilnehmer (Pahmeier, 1994). Weiterhin attestiert das bekannte „Präventionsdilemma“ (Bauer & Bittlingmayer, 2016), dass gerade die bereits aktiven Menschen von Bewegungsangeboten profitieren wohingegen die Inaktiven sich nicht angesprochen fühlen. Der propagierte Settingansatz (WHO, 1986), der die differenzierten Interventionen in die vielfältig, heterogenen Lebenswelten der Menschen bringt, findet bis heute zu wenig Beachtung. Ergänzend geht eine zu detaillierte Ausrichtung auf Lebenslage und Herkunft der Bevölkerungsgruppe mit einer unabsichtlichen Diskriminierung einher, die den Interventionserfolg beeinträchtigen kann. Aussichtsreicher erscheint der von Hurrelmann & Richter (2013) propagierte „Setting Approach“: Die Maßnahme passt sich der sozialräumlichen Lebenswelt der Bevölkerungsgruppen an und deren aktive Mitgestaltung wird explizit gefördert. Die Akzeptanz der Adressaten entscheidet maßgeblich über den Erfolg der Maßnahme und lässt neben pädagogischen und psychologischen auch bewegungs-neurowissenschaftliche Geschicke eines Bewegungsförderungskonzeptes sichtbar werden. Diese Disziplinen übergreifenden Kompetenzen sind von expliziter Bedeutung in der Vermittlung einer langfristig und regelmäßig ausgeführten, eigenständig körperlichen Aktivität. Gegenwärtig können eine Reihe wertvoller Publikationen genannt werden, die theoretische Hilfestellungen für Strategien der Bewegungsförderung bieten: • Expertenstandard nach § 113a SGB XI Erhaltung und Förderung der Mobilität in der Pflege (DNQP, 2014) • Bewegungsbezogene Gesundheitskompetenz (Pfeifer et al., 2013) • Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz: Die Gesundheitskompetenz in Deutschland stärken (Schaeffer et al., 2018) • Leitfaden Prävention in stationären Pflegeeinrichtungen (GKV, 2018) Der anschließende Schwerpunkt liegt auf dem Modell der Bewegungsbezogenen Gesundheitskompetenz, da es die langfristige Bindung an gesundheitswirksame körperliche Aktivität fokussiert.

Bewegungsbezogene Gesundheitskompetenz (bGK) Bislang zielen Aktivitätsprogramme überwiegend auf die Wiederherstellung bzw. Verbesserung von Körperstrukturen und / oder Körperfunktionen ab (Sudeck & Pfeifer, 2013). Dafür existieren genaue Trainingsprogramme und Bewegungsempfehlungen (z. B. Muskelkräftigung nach Vorderer Kreuzbandruptur). Die Heranführung von Menschen an regelmäßige gesundheitswirksame körperliche Aktivität ein Leben lang, scheint jedoch von außerordentPADUA (2020), 15 (1), 8–14

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licher Schwierigkeit zu sein. Das Modell der Bewegungsbezogenen Gesundheitskompetenz (Pfeifer et al., 2013) nimmt sich dieser Problematik an. Es setzt sich als Ziel den Aufbau einer „gesundheitswirksamen körperlichen Aktivität“, die weit über die bisher fokussierte funktionelle Verbesserung bzw. Wiederherstellung hinausgeht. Im Sinne einer ICF-Orientierung (WHO, 2001) und nachhaltigen Verhaltensänderung erstreckt es sich explizit auf relevante Aktivitäten, Aspekte der Partizipation sowie personenbezogene Kontextfaktoren. Es geht weiterhin davon aus, dass Personen mit hoher bGK in der Lage sind, regelmäßiges gesundheitswirksames Aktivsein eigenständig in ihren Alltag umzusetzen. Die damit verbundene Verhaltensänderung oder -anpassung bedarf eines komplexen Lehrund Lernkonzeptes, das den Klienten bzw. Patienten als aktiven und mündigen Teilnehmer in den Mittelpunkt des Geschehens stellt. Der Lehrende übernimmt nicht die Rolle des „Zeigefinger hebenden“ Lehrers, sondern die Rolle des Moderators, der Wissen je nach Zielgruppe und Teilnehmer differenziert aufbereitet sowie über die situationsangepasste Verknüpfung der Dimensionen „LernenErfahren-Üben“ (Pfeifer et al., 2013) individuelle Selbstregulierungsprozesse auslöst. Abbildung 1 erfasst das Gesamtkonstrukt „Bewegungsbezogene Gesundheitskompetenz“ (Pfeifer et al., 2013), das sich aus den Teilkompetenzen Bewegungs-, Steuerungsund Selbstregulierungskompetenz zusammensetzt. • Die Bewegungskompetenz umfasst alle bewegungsbezogenen Grundfähigkeiten und -fertigkeiten, die die Motorik sowie die Körper / - und Bewegungswahrnehmung betreffen. Personen mit einer hohen Bewegungskompetenz haben die motorischen Fähigkeiten (z. B. Ausdauer, Koordination), um bestimmte Aktivitäten durchführen zu können (z. B. Wandern) und haben durch ihre Fertigkeiten (z. B. Gleichgewichtsübungen), eine Auswahl an möglichen Bewegungsformen. • Die Steuerungskompetenz bildet das körper- und bewegungsbezogene Grundwissen ab. Es setzt sich zusammen aus dem Effektwissen, das sich mit dem „Warum“, also den Wirkungen von Bewegung auf die Gesundheit befasst und dem Handlungswissen, dem alles Wissen um das „Wie“ es günstig ist, sich zu bewegen, zugeordnet werden kann. Personen mit einer hohen Steuerungskompetenz können das Bewegungsverhalten zur Förderung ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens selbst gestalten. Dazu gehört u. a. die Kontrolle der eigenen Beanspruchung bei der Bewegung, eine individuelle Befindensregulation für den Ausgleich von Belastung und Erholung sowie eine flexible Anpassung der Aktivität auf die eigene, aktuelle psychische und körperliche Situation. Die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung ist als Voraussetzung dafür essenziell. • Die bewegungsspezifische Selbstregulierungskompetenz erfasst förderliche personale Handlungseigenschaften und Einstellungen, die die Implementierung der gesundheitswirksamen Aktivität in den Lebensalltag sicherstellen können. Für eine erfolgreiche langfristige Modifikation des Verhaltes in Richtung körperlich aktiven ©2020 Hogrefe


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Lebensstil ist einzig eine hohe Motivation nicht ausreichend. Menschen sind häufig hoch motiviert, ihr Verhalten zu ändern, schaffen es aber dauerhaft nicht, die gewünschte Handlungsweise in ihren Alltag zu integrieren. An diesem Punkt unterstützen die günstige selbstbestimmte Motivationslage vor allem volitionale Strategien, die auf die tatsächliche Umsetzung der Absichten fokussieren. Zu solchen volitionalen Techniken gehören u. a. die Formulierung konkreter Handlungspläne (was, wann, wo, mit wem), die Identifikation individueller Barrieren und die Erarbeitung adäquater Bewältigungspläne sowie die Selbstbeobachtung durch z. B. Bewegungstagebücher (Geidl et al., 2012). Personen mit hoher Selbstregulationskompetenz können ein Bewegungsverhalten, das ihrer Gesundheit und ihrem Wohlbefinden dient, in die Tat umsetzen und dauerhaft aufrechterhalten. Didaktische und methodische Vermittlungsstrategien zum Aufbau von bewegungsbezogener Gesundheitskompetenz verknüpfen die folgenden Inhalte auf drei Interventionsebenen (Pfeifer & Sudeck, 2013): 1. Lernen (kognitiv, motorisch): Wissen über die Wirkungen von Bewegung auf Gesundheit sowie auf Gesundheitsstörungen (Effektwissen), Wissen über die Durch-

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führung von Bewegung (Planung, Umsetzung, Steuerung) (Handlungswissen), Techniken zur Selbstregulation (z. B. Selbstbeobachtung, Bewegungsdokumentation) 2. Erleben / Erfahren (affektiv-emotional, kognitiv): Selbstwirksamkeitserfahrungen, positive Bewegungserfahrung und Bewegungsfreude, Motivation und Volition für einen dauerhaften aktiven Lebensstil 3. Üben / Trainieren (physisch, motorisch): strukturelle bzw. physiologische Anpassungen an individuelle Beanspruchungen, Stärkung physischer Ressourcen und motorischer Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten, Verbesserung der Körper- und Bewegungswahrnehmung Insgesamt zielen alle Maßnahmen des Konstruktes darauf ab, die enormen gesundheitsförderlichen Ressourcen bewegungsbezogener Interventionen auszureizen und den Klienten adäquat zugänglich zu machen. Dieser individuell passende Zugang respektive das Erkennen der eigenen Ressourcen eröffnet sich über praktische Erfahrungen, die mit theoretischem Wissen sinnvoll in Verbindung gebracht werden. Ergänzend sind neurowissenschaftliche Erkenntnisse in bewegungsbezogene Interventionen einzubringen, die sich hauptsächlich auf die Bindung der Teilnehmer an die Intervention selbst (Stichpunkt: positive Emotionen) sowie auf die Initiierung und langfristige Verstetigung re-

Abbildung 1. Bewegungsbezogene Gesundheitskompetenz (modifiziert aus Pfeifer et al., 2013, mit freundlicher Genehmigung des Verlags). ©2020 Hogrefe

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gelmäßiger körperlichen Aktivität auswirken. Sinnvoll erscheint zunächst, die Vorerfahrungen der Teilnehmer miteinzubeziehen, da nur das Vorhandensein eines persönlichen neuronalen Netzwerks dazu führt, dass neues Verhalten authentisch ausgeführt werden kann und nicht antrainiert erscheint (Storch, 2010). Ferner ist es notwendig, den Klienten verschiedenste Formen körperlicher Ak-

tivität anzubieten, denn die Freiwilligkeit der Bewegung stellt eine notwendige Bedingung dar, um physiologische Benefits auszulösen (Stichpunkt BDNF-Ausschüttung) (Ameri, 2001; vgl. Spitzer & Kubesch, 2005). In diesem Zusammenhang kommt, neben der Existenz einer starken Zielintention, dem Ausmaß der Selbstkonkordanz eine außerordentliche Bedeutung zu: Je stärker die Absichten

Tabelle 2. Allgemeine didaktische und methodische Implikationen für die Implementierung von Bewegungsinterventionen in die Pflegepraxis Vermittlung von Handlungsund Effektwissen

Um Informationen handlungsleitend werden zu lassen, ist die systematische Verknüpfung von theoretischer Information, praktischen Erfahrungen bzw. Bewegungsübungen und konkretem Erleben bzw. subjektiver Wahrnehmung zu gewährleisten (siehe methodische Hinweise bei Tiemann, 2006).

Erhöhung der intrinsischen Motivation

Die Stärkung der Autonomie, Erhöhung der Gesundheitskompetenz sowie die verstärkte soziale Einbindung der Teilnehmer ist dafür von hoher Bedeutung. Dies kann erfolgen durch (Markland & Ingledew, 2007): • variantenreiche Bewegungseinheiten • Einsatz kooperativer Lernstrategien • Mitbestimmung der Teilnehmer • Anleitung von Sequenzen durch den Teilnehmer • Anerkennung von Kompetenz durch den Interventionsleiter

Förderung motivationaler Prozesse

Herausbildung einer starken Zielintention (Fuchs, 2007). Dafür ist es notwendig, • die Interessen und Bedürfnisse der Teilnehmer zu beachten (Wagner, 2008) • an die Teilnehmer zu appellieren, ihre eigenen Beweggründe für die Verhaltensänderung zu hinterfragen und zu ergründen (Markland & Ingledew, 2007) • die Formulierung der Zielintention selbstkonkordant (Fuchs, 2007) und konkret zu initiieren: z. B. durch Veranschaulichung von Vorteilen des neuen Verhaltens • die intrinsische Motivation jedes Teilnehmers zu aktivieren: Miteinbeziehung der Vorerfahrung der Teilnehmer, da nur die Existenz eines persönlichen neuronalen Netzwerks dazu führt, dass das neue Handeln authentisch ausgeführt werden kann und nicht als antrainiert erscheint (Storch, 2010) • Hintergrund-, Handlungs-, und Effektwissen (Bildung einer positiven Kon-sequenzerwartung) sowie Selbststeuerungskompetenzen zu vermitteln: Die Teilnehmer sind motiviert, sobald sie erkennen, dass der Nutzen die Kosten übersteigt und sie der Überzeugung sind, das neue Verhalten kontrollieren zu können (Fuchs, 2007)

Förderung volitionaler Prozesse

• die Teilnehmer sollen nach Bildung der Handlungsabsicht genau einplanen wann, wie, wo und mit wem sie zukünftig körperlich aktiv sind (Implementierungsintentionen nach Gollwitzer, 1999): Vermittlung von Selbstmanagementstrategien, z. B. Nutzung eines Bewegungstagebuchs um Bewegungsgelegenheiten und Routinen zu schaffen • Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten, Barrieren zu überwinden (Wagner, 2008): Bildung individuell sinnvoller Abschirmungsstrategien (Fuchs, 2007) initiieren

Berücksichtigung unterschiedlicher Stadien der Verhaltensänderung

• eine zielgruppenspezifische Organisation der Intervention (Wagner, 2008), z.B. Eingangsbefragung der Teilnehmer nach Bewegungsverhalten, Aktivitätsbiographie • die Schritte der Teilnehmer auf dem Weg zur Verhaltensänderung zu unterstützen und anzuerkennen (Wagner, 2008), z. B. Auswertung der Hausaufgaben und des Bewegungstagebuchs • Rückfallprozesse zu vermeiden, z. B. durch Nachmotivation (Fuchs, 2007) und Unterstützung bei der Auswahl geeigneter Bewegungsangebote

Schaffung anregender Lernumgebung

• Anforderungen stellen, die nicht auf Anhieb zu bewältigen sind, die jedoch auf Vorwissen / Erfahrungen der Teilnehmer aufbauen und evtl. in Teamwork, Kleingruppen oder in der gesamten Gruppe gemeinsam erarbeitet werden • Nutzung vielfältiger Umgebungsstimuli (Ameri, 2001), z. B. durch das adäquate Benutzen verschiedener Kleingeräte oder Hilfsmittel. Wichtig erscheint hierbei, dass die Anwendung aller Gegenstände für die Teilnehmer auch in ihrem individuellen Alltag realisiert werden kann. Weiterhin bieten sich auch Kursinhalte im Freien (z. B. Walking, Laufen, Mobilisationsübungen, Entspannung) oder an verschiedenen Orten (z. B. zum Schwimmen / Aquajogging, Klettern) als Varianten an

Verstetigung der gesundheitsförderlichen Maßnahmen

Die praktischen Inhalte müssen • nahezu ausnahmslos von den Teilnehmern barrierefrei und geradewegs in den Alltag umsetzbar sein: z. B. eine Muskelkräftigungsübung mit Theraband lässt sich ohne zu Hause vorhandenes Theraband nicht sofort in den Alltag weiterführen; eine vorgelesene „Körperreise“ als Entspannungsübung ist im Laufe der nächsten Woche schwierig, ohne den Text und den Vorleser auszuüben. • variantenreich sein und individuelle Lösungsansätze bieten, die zu freiwilliger körperlicher Aktivität anregen (vgl. van Praag et al., 1999; Ameri, 2001; Spitzer & Kubesch, 2005), z. B. die Bewegungsempfehlung Schwimmen ist nicht „jedermanns“ Sache Es sollten sogenannte „Booster-Interventionen“ (Stark & Fuchs, 2011) eingesetzt werden, z. B. im Sinne von Erinnerungsmaßnahmen in Form von Emails. Damit kann eine realistische Möglichkeit für die Stärkung der Nachhaltigkeit der Intervention geschaffen werden. Zusätzlich kommt der Überleitung der Teilnehmer in individuell zugeschnittene weiterführende gesundheitsförderliche Bewegungsmaßnahmen (z. B. Gesundheitssportverein) eine bedeutende Rolle für die langfristige Bindung an körperliche Aktivität zu.

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den individuellen Werten, Bedürfnissen und Interessen entsprechen, desto wahrscheinlicher ist auch deren Umsetzung (Fuchs, 2007).

Transfer in die Lehre In den grundständigen Bachelor-Studiengängen Pflege dual, Physiotherapie dual mit Schwerpunkt Bewegungswissenschaft sowie dem berufsbegleitenden Bachelorstudiengang Pflegepädagogik an der Fakultät Angewandte Gesundheitswissenschaften der Technischen Hochschule Deggendorf kommt die Vermittlung der Bewegungsbezogenen Gesundheitskompetenz in verschiedenen Modulen zum Tragen. Im Studiengang Physiotherapie stellt das Konstrukt eine theoretische Basis, für jegliche Bewegungsvermittlung über den gesamten Studienverlauf hinweg, dar. In den Pflegestudiengängen greifen in einzelnen Modulen entsprechende Elemente ineinander: • Zunächst steht die Sensibilisierung der Studierenden für die Bedeutung der körperlichen Aktivität im Vordergrund. Die Unterscheidung der Begrifflichkeiten von Bewegung, körperlicher Aktivität und Sport sowie das Kennenlernen der Nationalen Bewegungsempfehlungen stellen für die Studierenden Neuigkeiten dar, mit denen sie bislang weder in der beruflichen Ausbildung noch in der professionellen Praxis in Verbindung gekommen sind. • Darauf aufbauend kommen die Wirkmechanismen von Bewegung auf die Gesundheit und bei Gesundheitsstörungen zur Sprache. In Zuge dessen erkennen die meisten Pflegestudierenden die gewichtige Rolle, die dem Aufbau von bewegungsbezogener Gesundheitskompetenz im Umgang mit Klienten zuteilwerden kann. • Unterstützend erfolgen einträgliche Informationen zu den aktuellen politischen Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen. • Es erfolgt das Kennenlernen und praktische Anwenden von bewegungsbezogenen Assessments, die für eine Evaluation unabdingbar sind, aber auch für die Klienten und die Gesundheitsexperten selbst, eine wertvolle Dokumentation der durchgeführten Maßnahmen darstellen. Gerade die volitionalen Techniken der Selbstbeobachtung und Selbstdokumentation des Bewegungsverhaltens können Zeit schonend und trotzdem hoch effektiv in den Pflegealltag transferiert werden. • Die Kenntnis pädagogischer & psychologischer Determinanten und Modelle für eine Verhaltensänderung fundiert das Verständnis und impliziert u. a. motivationale und volitionale Methoden sowie das darauf aufbauende MoVo-Modell (Göhner & Fuchs, 2007). • Der Themenkomplex körperliche Aktivität & Lernen unter aktuellen neurowissenschaftlichen Gesichtspunkten erfasst den Schwerpunkt langfristiges Lernen, das in Interventionen die nachhaltige Änderung von Gewohnheiten bedingen kann. Darunter fällt ebenso die Auseinandersetzung mit dem Nutzen sowie der Förderung Ex©2020 Hogrefe

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ekutiver Funktionen in Hinblick auf die Fähigkeit zur Selbstregulation (Kubesch, 2008). • Die Anleitung zu Eigenübungen, in verschiedenen Ausgangsstellungen (z. B. im Liegen, Sitz, Stand, im Transfer) für unterschiedliche Gesundheitsstörungen (z. B. orthopädische, internistische Erkrankungen), bedarf eines praktischen interprofessionellen Workshops, bei dem es sich anbietet, die Studierenden der Studiengänge Physiotherapie und Pflege zusammenzubringen. Oberste Intention der Übungsauswahl betrifft eine hohe Transferfähigkeit zur selbständigen Anwendung in den individuellen Alltag und den Zusatzauftrag, die Bewegung für den Klienten nachhaltig bedeutsam werden zu lassen. Als Lernort fungiert zu einem Großteil das Lernund Transferzentrum der Fakultät Angewandte Gesundheitswissenschaften, das durch ein videogestütztes Patientenzimmer, die Kleingruppen-Arbeit an Fallsituationen optimal ermöglicht. Vordergründige Bewandtnis der bewegungsbezogenen Module findet sich in der Beratung und Anleitung von Klienten. Aber auch die Konzeption, Realisation und Evaluation von bewegungsbezogenen Interventionen für spezifische Zielgruppen kommt als übergeordnete Zielsetzung zur Sprache. Der Unterricht zeichnet sich durch einen hohen Anteil an Eigenarbeit, Selbsterfahrung und Diskussion aus. Die propagierte Verknüpfung von Theorie und Praxis fungiert als roter Faden. Tabelle 2 weist eine Übersicht handlungsleitender Strategien für die Implikation bewegungsbezogener Gesundheitskompetenz in die Praxis aus.

Fazit Die Vermittlung bewegungsbezogener Gesundheitskompetenz und darüber hinaus die Entwicklung bewegungsbezogener Interventionen beansprucht Kompetenzen, die sich Disziplinen übergreifend zusammenfügen. Pädagogische, psychologische, aber auch bewegungs-neurowissenschaftliche Kenntnisse sind unabdingbar für eine qualitativ wertvolle Beratung und Anleitung von Klienten sowie für die Konzeption, Realisation und Evaluation bewegungsbezogener Interventionen in unterschiedlichen Settings. Zukünftige Gesundheitsexperten sind aufgefordert, sich mit den bislang vernachlässigten Perspektiven vertraut zu machen und innovative Wege in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu gehen.

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Prof. Dr. phil. Stephanie Hecht Technische Hochschule Deggendorf – Fakultät Angewandte Gesundheitswissenschaften, Lehrgebiet Gesundheits- und Trainingswissenschaften, Studiengangleitung Physiotherapie dual mit Schwerpunkt Bewegungswissenschaft stephanie.hecht@th-deg.de

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PADUA (2020), 15 (1), 8–14

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Bedürfnisgerechte Information von Angehörigen kritisch Kranker Eine Analyse des Informationsangebots auf Webseiten bayrischer Intensivstationen

Angehörige kritisch kranker Menschen haben ein vielschichtiges und umfassendes Bedürfnis nach Informationen. Die Webseiten von Intensivstationen könnten mit relevanten und verlässlichen Informationen einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Angehörige im Umgang mit der belastenden Situation zu unterstützen. In Rahmen einer Bachelorarbeit wurde untersucht, inwiefern die Webseiten bedürfnisgerechte Informationen anbieten.

Die Bedeutung der Suche nach Informationen Die Aufnahme eines Menschen auf eine Intensivstation hat vielfältige Auswirkungen auf seine Angehörigen. Als zentrale Aspekte arbeiteten Nagl-Cupal und Schnepp (2010) in ihrer Metasynthese zu den Auswirkungen und Bewältigungsstrategien von Angehörigen kritisch Kranker „Leben mit der Unsicherheit“, „Emotionale Reaktionen“ und „Veränderte Rollen und Verantwortlichkeiten“ heraus. Um diese Auswirkungen bewältigen zu können, entwickeln Angehörige verschiedene Bedürfnisse. An erster Stelle steht hier das Bedürfnis nach Informationen (Davidson, 2009; Nagl-Cupal, 2012). Nagl-Cupal und Schnepp kommen auf Basis ihrer Metasynthese auch zu dem Schluss, dass „… der Bedarf an Informationen häufig viel größer als angenommen ist und viel höher als er auch befriedigt wird“ (ebd. S. 76). Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Zufriedenheit mit der Kommunikation nicht immer ausschlaggebend dafür ist, ob Angehörige aktiv nach weiteren Informationen suchen. Denn eine hohe Zufriedenheit mit der Kommunikation von Fachpersonen führt nicht automatisch zu einem ausreichenden Verstehen von Diagnose, Prognose und Behandlung (Mathew et al., 2015). Gerade dieses Verständnis stellt jedoch eine zentrale Voraussetzung für Angehörige dar, stellvertretend die ©2020 Hogrefe

richtigen Entscheidungen treffen zu können (Cox et al., 2014). Die eigene Suche scheint daher durch das Bedürfnis motiviert zu sein, zu einem vertiefteren Verständnis der Krankheit und Situation der Betroffenen zu gelangen (Chan & Twinn, 2007; Nguyen et al., 2017). Zudem kann eine Nicht-Erfüllung des Informationsbedürfnisses mit der gleichzeitigen Anforderung, Entscheidungen treffen zu müssen, bei Angehörigen kritisch Kranker das Risiko erhöhen, eine post-traumatische Belastungsstörung zu erleiden (Azoulay et al., 2005). Diese geht mit verschiedenen Reaktionen einher, wie z. B. Unzufriedenheit, Ängsten, Schlaflosigkeit, Depressionen, die unter dem Komplex „postintensive care syndrome-family“ (Davidson, et al., 2012) zusammengefasst werden. Das tiefere Verstehen trägt damit in gewisser Weise auch zur Bewältigung der mit der Situation verbundenen eigenen Belastung der Angehörigen bei. Daher kann es für Angehörige wichtig sein, auch bei einem als zufriedenstellend erlebten, standardmäßigen Informationsangebot durch das Fachpersonal selbst nach Informationen zu suchen. Auf Intensivstationen gehört die Vermittlung von Informationen im Wesentlichen zur Aufgabe zweier Professionen. Behandelnde Ärzt_innen sind gemäß § 630c PRG (Patientenrechtegesetz) verpflichtet, Patient_innen zu Beginn und im Verlauf der Behandlung wesentliche Umstände in verständlicher Weise zu erläutern. Auch Pflegende sind laut § 5 PflBG (Pflegeberufegesetz) zur Beratung und Begleitung der zu pflegenden Menschen in allen Lebensphasen verpflichtet. Die Betroffenen hierbei immer auch zu unterstützen, selbständig Gesundheitsinformationen zu finden, diese zu verstehen und zur Entscheidungsfindung zu nutzen, kurz gesagt, Gesundheitskompetenz zu fördern (Sørensen et al., 2012, S. 3), kommt in zweifacher Hinsicht Bedeutung zu. Aus Sicht der Angehörigen scheinen die eigene Suche nach und Auseinandersetzung mit Informationen eine wichtige Bewältigungsfunktion einzunehmen. Aus professioneller Sicht fordert die Umsetzung des nationalen Gesundheitsziels „Förderung von Gesundheitskompetenz“ von allen Gesundheitsprofessionen, qualitätsgesicherte Gesundheitsinformationen zu empfehlen (Schaeffer et al., 2018). PADUA (2020), 15 (1), 15–22 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000530

Schwerpunkt

Cornelia Kölblin und Doris Eberhardt


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Allgemeine Anforderungen an Gesundheitsinformationen Wesentliche Voraussetzung für die Empfehlung qualitativ hochwertiger Gesundheitsinformationen stellt deren Existenz dar. Der S3-Leitlinie für evidenzbasierte Gesundheitsinformation (Lühnen et al., 2017) zufolge werden in qualitativ hochwertigen Gesundheitsinformationen relevante Informationen zu Gesundheitsentscheidungen umfassend, verständlich, transparent, unverzerrt und objektiv dargestellt. Außerdem werden anhand patientenrelevanter Ergebnisparameter, wie z. B. Mortalität, Morbidität oder Lebensqualität, Aussagen über Verlauf und Auswirkungen von Erkrankungen sowie Nutzen und Schaden von Maßnahmen getroffen. Beim Einsatz von Webseiten kommen zusätzliche Qualitätskriterien zum Tragen. Kandari et al. (2011) stellen hierfür ein Instrument mit 22 Kriterien zur Verfügung, die sich im Rahmen einer Metasynthese der 20 bedeutendsten Modelle zur Bewertung der Informationsqualität von Webseiten aus Anwenderperspektive herauskristallisierten. Hier werden unter anderem Aspekte wie Aktualität, Sicherheit, Navigation, einfache Bedienung und Zugänglichkeit berücksichtigt. Teilweise decken sich diese Kriterien mit den Empfehlungen der oben genannten S3-Leitlinie für evidenzbasierte Gesundheitsinformation.

Welche Informationen wünschen sich Betroffene? Neben allgemeinen Qualitätsmerkmalen müssen Gesundheitsinformationen vor allem Relevanz für die Nutzer_innen aufweisen. Daher stellt sich die Frage, welche Informationen für Angehörige kritisch kranker Menschen bedeutsam sind. Um ein besseres Verständnis hierüber zu erlangen, ließen Hoffmann et al. (2018) 26 Angehörige kritisch kranker Patient_innen, 28 Ärzt_innen und 282 Intensivpflegende die Priorität unterschiedlicher Informationen einschätzen. Die Befragten erhielten hierfür Fragen zu spezifischen Themen, die aus einer qualitativen Studie zum Informationsbedürfnis von Angehörigen kritisch Kranker (Peigne et al., 2011) entnommen wurden. Aus der Studie von Hofmann et al. wird ersichtlich, dass für Angehörige folgende fünf Informationen die größte Bedeutung haben: 1. Krise / Verlauf: z. B. Aktuelle Verschlechterung der Werte oder der Psyche 2. Meine Mithilfe: z. B. Was kann ich beitragen? 3. Keime im Krankenhaus: z. B. Was ist für mich als Angehöriger wichtig zu wissen (bezüglich Händedesinfektion, Isolierung usw.)? 4. Körperliche Schmerzen: z. B. Hat mein Angehöriger Schmerzen? Was wird gegen die Schmerzen getan? 5. Wahrscheinlichkeiten / Annahmen: z. B. Wie geht es nach der Intensivstation weiter? PADUA (2020), 15 (1), 15–22

Schwerpunkt

Darüber hinaus deuten die Ergebnisse der Studie darauf hin, dass Angehörige kritisch kranker Menschen sowohl ein breites als auch ein vertieftes Informationsbedürfnis haben. Um zu einem besseren Verständnis für die Erkrankung zu gelangen, benötigen sie umfangreiche Informationen zum aktuellen Befinden, zur Prognose und Behandlung der Patient_innen. Informationen zu organisationsbezogenen Aspekten und zu psychosozialen bzw. spirituellen Unterstützungsangeboten sind hierbei gleichermaßen von Bedeutung. Und nicht zuletzt geht aus der Untersuchung hervor, dass die Priorisierung von Angehörigen und Fachpersonal zum Teil deutliche Differenzen aufweist. Weder Umfang noch Gewichtung der einzelnen Themen aus Betroffenensicht scheinen dem Fachpersonal von Intensivstationen bisher in Gänze bewusst zu sein.

Webseiten als kaum genutztes Potential Das Internet stellt eine niederschwellige, jederzeit und überall verfügbare Informationsquelle dar. Auch Angehörige kritisch Kranker greifen häufig darauf zurück, wenn sie versuchen, ihr Informationsbedürfnis zu erfüllen (Bouju et al., 2014; Nguyen et al., 2017). Dabei besteht der mehrheitliche Wunsch, von Gesundheitsprofessionen eine Liste mit zuverlässigen Webseiten zu erhalten (Nguyen et al., 2017). Dementsprechend könnten die Webseiten von Intensivstationen eine wichtige Funktion bei der Förderung von Gesundheitskompetenz und Bewältigungsprozessen von Angehörigen kritisch kranker Menschen einnehmen. Im Allgemeinen nutzen Kliniken jedoch kaum gezielt das Potential ihrer Webseiten und es entsteht der Eindruck, dass Patient_innen und Angehörige nicht die primäre Zielgruppe sind, für die Informationen auf den Webseiten angeboten werden (Maucher, 2010). Diese Erkenntnis trifft auch auf Intensivstationen in Bezug auf das Angebot evidenzbasierter, bedürfnisgerechter Patienteninformationen zu. So existieren lediglich einzelne Best-Practice-Beispiele, wie z. B. die Webseite www.angehörige.at, eine zugangsgeschützte und interaktive Webseite, die von Hoffmann et al. (2018a) entwickelt wurde. Eine legitime und ressourcenschonende Möglichkeit für Intensivstationen, den Informationsbedürfnissen von Angehörigen auf ihren Webseiten Rechnung zu tragen, stellt auch die Verlinkung zu entsprechenden externen Inhalten dar. So Tabelle 1. Gesamtpopulation in Bayern Gruppe

Bettenanzahl

Anzahl der einschlussfähigen Intensivstationen

1

bis 249 Betten

20

2

250 – 499 Betten

17

3

500 – 999 Betten

18

4

1000 Betten und mehr

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hat z. B. die Universitätsklinik Augsburg die von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie & Intensivmedizin und dem Berufsverband Deutscher Anästhesisten e. V. entwickelte Webseite „www.zurueck-ins-leben.de“ verlinkt. Diese Möglichkeit wird jedoch gegenwärtig wenig genutzt.

Fragestellung und Zielsetzung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die bedürfnisgerechte Information von Angehörigen kritisch Kranker – die auch die Empfehlung qualitätsgesicherter, weiterführender Informationen einschließen sollte – zur Aufgabe des Fachpersonals von Intensivstationen gehört. Webseiten von Intensivstationen bieten sich als Kommunikationsmedium an, um die mündlichen Ausführungen des Personals parallel zu unterstützen und Angehörigen ein tieferes Verständnis der Situation zu ermöglichen. Hierzu müssen Webseiten jedoch bestimmte Anforderungen erfüllen. Wie bereits beschrieben, umfasst die Informationsqualität von Gesundheitsinformationen im Allgemeinen und von Webseiten im Besonderen unterschiedliche Dimensionen. Diese Komplexität konnte im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht abgebildet werden. Da die inhaltliche Relevanz der Informationen für Nutzer_innen eine zentrale Rolle spielt und nicht davon ausgegangen werden kann, dass das Fachpersonal von Intensivstationen über ein geteiltes und zutreffendes Verständnis der für Angehörige bedeutsamen Themen verfügt (Hoffmann et al., 2018), erfolgte eine Fokussierung auf die Inhalte der Webseiten. Vor diesem Hintergrund sollte folgende Frage beantwortet werden: Bieten Webseiten von Intensivstationen bedürfnisgerechte Informationen für Angehörige kritisch kranker Menschen an? Die Ergebnisse der Arbeit geben Aufschluss darüber, welche Themen gegenwärtig abgedeckt bzw. nicht abgedeckt werden und können genutzt werden, um Implikationen für die zielgruppengerechte inhaltliche Weiterentwicklung der Webseiten abzuleiten.

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Dies erfolgte durch das Suchkriterium „Region“ im deutschen Krankenhausverzeichnis. Eingeschlossen wurden alle Kliniken, die im besagten Verzeichnis mit folgenden Merkmalen aufgeführt waren: „Intensivmedizin“, „Angehörigenbetreuung / -beratung / -seminare“ und „Spezielle Angebote zur Anleitung und Beratung von Patienten und Patientinnen sowie Angehörigen“. Anhand der Bettenzahl der Kliniken gliederte sich das Suchergebnis in vier Gruppen (Tabelle 1). Die Untersuchungspopulation umfasste 61 Kliniken. Um eine merkmalspezifisch-repräsentative Stichprobe zu erreichen, wurde eine Kombination aus Zufalls- und nicht-proportionaler Quotenstichprobe angewandt (Döring & Bortz, 2016). Da die Gruppen 1 – 3 zahlenmäßig in einem vergleichbaren Größenverhältnis lagen, wurden aus diesen Gruppen mit Hilfe einer einfachen Zufallsstichprobe je 25 % der Treffer ausgewählt. Die Zufallsauswahl wurde mit Hilfe eines online verfügbaren Zufallsgenerators durchgeführt. Aus Gruppe 4 wurde eine nicht-proportionale Quotenstichprobe gezogen. Dazu wurden 50 % der Treffer mit Hilfe einer einfachen Zufallsstichprobe und einem Zufallsgenerator ausgewählt. Für diese Vorgehensweise gab es zwei Gründe: • Kliniken mit 1000 Betten und mehr stellen im bundesweiten Vergleich ca. 25 % der gesamten Intensivbetten zur Verfügung. Mit nur zwei untersuchten Kliniken wäre die Schwerpunktversorgung der Intensivpatienten nicht berücksichtigt worden. • Bei fünf von sechs Kliniken dieser Gruppe handelt es sich um Hochschulkliniken. Neben der Versorgung der Patienten werden sie unter Berücksichtigung ihrer Aufgaben aus Forschung und Lehre in die bayerische Krankenhausplanung mit einbezogen. Die sechste bayrische Universitätsklinik Regensburg hat 885 Betten und ist folglich Gruppe 3 zugeordnet. Der prozentuale Anteil wurde in ganze Zahlen ab- bzw. aufgerundet.

Entwicklung des Analyseinstruments

Methodisches Vorgehen Die Fragestellung wurde mit der Methode der quantitativen Inhaltsanalyse bearbeitet. Diese eignet sich für die deduktive Erfassung von Ausprägungen unterschiedlicher formaler und inhaltlicher Merkmale von Dokumenten anhand eines vollstandardisierten Kategoriensystems. Die Merkmalsausprägungen werden dabei quantifiziert und die dadurch gewonnenen Messwerte anschließend statistisch ausgewertet (Döring & Bortz, 2016).

Population und Stichprobenkonstruktion Aus forschungsökonomischen Gründen wurde die Auswahl der Kliniken auf das Bundesland Bayern begrenzt. ©2020 Hogrefe

Das Instrument zur Analyse der Webseiten wurde in einem mehrstufigen Verfahren entwickelt. Um zu entscheiden, welche Themen des Original-Fragebogens aus der Studie von Hoffmann et al. (2018) in das Analyseinstrument aufgenommen werden, wurde eine Expertengruppe zusammengestellt. Bei der Zusammensetzung der fünfköpfigen Gruppe (eine Pflegewissenschaftlerin, zwei Pflegefachpersonen, ein Facharzt für Intensivmedizin und Anästhesie, ein medizinischer Laie) wurde darauf geachtet, alle Perspektiven einzubeziehen. Die Experten bewerteten unabhängig voneinander, zu welchen Themen ihrer Meinung nach auf einer Webseite angemessene Informationen angeboten werden können. Als Wertung war eine dreistufige intervallskalierte Antwort (geeignet, teilweise geeignet, nicht geeignet) möglich. Jede Expertenmeinung wurde gleichstark gewichtet. Hierbei erfolgte der Ausschluss der PADUA (2020), 15 (1), 15–22


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Schwerpunkt

Themen „Krise / Verlauf “ und „Erinnerungen“. Zur Beurteilung der Angemessenheit und Handhabbarkeit des Bewertungsinstruments erfolgte anschließend ein Pretest mit drei Webseiten der Gruppen 1 – 3 und 2 Webseiten der Gruppe 4, die nicht Teil der Untersuchung waren. Hierbei erwiesen sich die Themen „Informationen erhalten“ und „News“ als mehrdeutig, so dass diese ebenfalls nicht in das Analyseinstrument übernommen wurden. Das finale Analyseinstrument kann in Abbildung 1 eingesehen werden.

Nr. Themen

Datenerhebung Die Datenerhebung erfolgte im Juni 2019. Mithilfe einer Likert-Skala wurde jedem der im Analyseinstrument festgelegten Themen eine von vier Ausprägungen zugeteilt: • 0 = Webseite bietet keinerlei Informationen • 1 = Webseite bietet kaum Informationen • 2 = Webseite bietet einige Informationen • 3 = Webseite bietet vollumfängliche Informationen

Exemplarische Beschreibung

1

Neurologischer Status

Bewusstsein, sehen können

2

Fieber

Risiko und Folgen, Unterkühlung

3

Krankheiten

Häufige Erkrankungen, Komplikationen

4

Erscheinungsbild

Starke Rötung oder Blässe

5

Vitalfunktionen

Blutdruck, Atemfrequenz, Herzschlag

6

Untersuchungen

Röntgen, Herzultraschall

7

Operationen

Herzoperation, Magenoperation

8

Behandlung & Therapie

Neueste Therapiemethoden

9

Entwöhnung vom Beatmungsgerät

Dauer, Komplikationen

10 Beatmungsgerät

Schläuche- u. Gerätefunktionen

11 Medikamente

Wirkung, Nebenwirkungen

12 Krankheitsdauer

Durchschnittliche Zeit bis zur Gesundung

13 Todesfall

Mit wem muss ich sprechen, was ist zu tun?

14 Wahrscheinlichkeiten/Annahmen

Wie geht es nach der Intensivstation weiter?

15 Auskunftsrechte und Information

Warum brauchen wir ein Codewort? Wer darf Informationen erhalten?

16 Psychische Belastung

Angst, Stress bei Patient_innen und Angehörigen

17 Wohlbefinden steigern

Wohlbefinden von Patienten und Angehörigen steigern

18 Körperliche Schmerzen

Hat mein Angehöriger Schmerzen? Was wird dagegen getan?

19 Ernährung

Durch Magensonde oder Infusion?

20 Schlafen

Warum schläft mein Angehöriger?

21 Sprechen

Auf welchen Wegen kann mein Angehöriger mit mir sprechen?

22 Antworten

Kann mein Angehöriger antworten?

23 Berührungen

Darf ich meinen Angehörigen berühren?

24 Hören

Kann mein Angehöriger mich hören?

25 Meine Mithilfe

Was kann ich beitragen?

26 Termine auf der Intensivstation

Tagesablauf, wann kann ich mit einem Arzt sprechen?

27 Team

Wer hat welche Aufgabe bei der Behandlung und Betreuung?

28 Telefon

Wo kann ich wann anrufen?

29 Besuchszeiten

Wer darf wann kommen?

30 Keime im Krankenhaus

Was ist für mich als Angehöriger wichtig zu wissen z.B. Händedesinfektion, Isolierung?

31 Familienkonferenz

Entscheidungsfindung

32 Belastung und Sorge

Wo gibt es Hilfe?

33 Religion

Wie kann ich einen religiösen Beistand für uns finden?

34 Länge des Aufenthalts

Durchschnittliche Aufenthaltsdauer

35 Rückfall

Was kann vorsorglich getan werden?

36 Folgeerkrankungen

Mangelernährung, Wundliegen, Immobilität

37 Verlegung

Wo kommt mein Angehöriger hin und warum? Tipps für die Entlassung

38 Tod und Trauer

Abschiednehmen, Kindern den Tod erklären

Abbildung 1. Analyseinstrument (eigene Darstellung in Anlehnung an Hoffmann et al., 2018, 68 f.); farbig markiert sind Themen, denen von Angehörigen die höchste Priorität zugeschrieben wird. PADUA (2020), 15 (1), 15–22

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Datenauswertung Für die deskriptive Analyse der ordinalskalierten Daten wurde Microsoft Excel 2016 genutzt. Für jedes Thema wurden sowohl die Verteilung der einzelnen Ausprägungen als auch die von Top Box (Codes 2 + 3) und Bottom Box (Codes 0 + 1) ermittelt. Zusätzlich erfolgten gruppenbezogene Auswertungen.

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zen“ angeboten. Das spärlichste Informationsangebot besteht hinsichtlich des Themas „Wahrscheinlichkeiten / Annahmen“ (Abbildung 3). Auch wenn keine der Gruppen für sich beanspruchen kann, zur überwiegenden Zahl der Themen mit der größten Bedeutung für Angehörige ausreichend Informationen zu bieten, ergeben sich bezüglich des Informationsumfangs gruppenbezogene Unterschiede. So kann in Gruppe 1 das umfangreichste und in Gruppe 4 das geringste Informationsangebot verzeichnet werden (Abbildung 4).

Ergebnisse Da die ausführliche Darstellung aller Ergebnisse den Rahmen dieses Artikels sprengt, wurde eine Auswahl getroffen. Neben dem graphisch dargestellten Gesamtüberblick über den Umfang der Informationen zu jedem Thema, wird vor allem auf die am stärksten und schwächsten abgebildeten Themen sowie auf die Themen mit größter Bedeutung für Angehörige eingegangen.

Stichprobe Insgesamt wurden 17 Webseiten analysiert. Fünf Webseiten stammen von Kliniken aus Gruppe 1, vier Webseiten von Kliniken aus Gruppe 2, fünf Webseiten aus Gruppe 3 und 3 Webseiten aus Gruppe 4.

Informationsangebot Informationsangebot zu allen Themen Die Ergebnisse zeigen, dass in der Fläche keines der untersuchten Themen auch nur annähernd gut abgedeckt ist. So existiert kein Thema, zu dem auf allen Webseiten vollumfängliche oder zumindest einige Informationen angeboten werden (Abbildung 2; die den Nummern zugeordneten Themen können in Abbildung 1 eingesehen werden). Am besten schneiden die Themen „Besuchszeiten“, „Telefon“ und „Termine“ ab. Im Gegensatz dazu sind folgende drei Themen am schlechtesten repräsentiert: „Fieber“, „Krankheitsdauer“ und „Tod und Trauer“. Zu diesen konnten auf allen Webseiten keinerlei Informationen gefunden werden.

Informationsangebot zu den Themen mit größter Bedeutung für Angehörige Wie bereits beschrieben, konnten von den fünf Themen, die aus Sicht der Angehörigen als prioritär eingeschätzt wurden, vier in das Analyseinstrument aufgenommen werden (Abbildung 1). Auch zu diesen finden sich überwiegend keine oder kaum Informationen auf den untersuchten Webseiten. Die vergleichsweisen umfangreichsten Informationen werden zum Thema „Körperliche Schmer©2020 Hogrefe

Diskussion Aus den Daten geht hervor, dass auf Webseiten von Intensivstationen gegenwärtig nur in stark begrenztem Ausmaß bedürfnisgerechte Informationen für Angehörige kritisch kranker Menschen angeboten werden. Es wird ebenfalls deutlich, dass das Informationsangebot eine heterogene Struktur aufweist. Weder bestimmte Themen noch bestimmte Gruppen heben sich eindeutig positiv oder negativ ab. So bieten zwar alle Webseiten zu den vier Themen mit der größten Bedeutung für Angehörige Informationen an, dies jedoch überwiegend in geringem Umfang. Dass diese nicht zu den am umfänglichsten beantworteten zählen, verstärkt den Eindruck, dass das Fachpersonal von Intensivstationen insgesamt wenig über das Informationsbedürfnis von Angehörigen weiß, wodurch die Ergebnisse bereits vorliegender Untersuchungen (Davidson, 2009; Hoffmann et al., 2018) untermauert werden können. Ebenso kann vermutet werden, dass die Bedeutung bedürfnisgerechter Gesundheitsinformationen noch zu wenig im Bewusstsein der Fachpersonen verankert ist. In jedem Fall bestätigen die Ergebnisse das ungenutzte Potential von Webseiten und den Eindruck, dass die Betroffenen selbst nicht (immer) als primäre Zielgruppe von Klinikwebseiten gesehen werden (Maucher, 2010). Die Ergebnisse lassen auch erkennen, dass die angebotenen Informationen vor allem organisatorische Themen abdecken. So wird am umfangreichsten über Besuchszeiten, Telefonnummern und Termine informiert. Auch wenn dem Fachpersonal bewusst zu sein scheint, dass es Angehörigen wichtig ist, ihre Nächsten zu besuchen und sich telefonisch nach deren Befinden zu erkundigen (Hoffmann et al., 2018), sorgen diese Informationen gleichzeitig für möglichst reibungslose Abläufe. So ist bekannt, dass Besuchszeiten auf Intensivstationen traditionell eher restriktiv gehandhabt werden (Metzing, 2004). Daher liegt die Vermutung nahe, dass durch die Angabe dieser Information auch die Einhaltung der Zeiten erreicht werden soll. Ähnlich verhält es sich mit der Angabe der Telefonnummer. Als allgemeine Kontaktinformation hat sie für alle möglichen Personengruppen Relevanz und sichert allgemein die Erreichbarkeit der Abteilung. Dass zur Planung von Terminen und Abläufen mit am meisten Informationen zu finden sind, obwohl die Relevanz dieses PADUA (2020), 15 (1), 15–22


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Abbildung 2. Informationsangebot zu den einzelnen Themen, 0 + 1 = keinerlei oder kaum Informationen, 2 + 3 = einige oder vollumfängliche Informationen.

Abbildung 3. Informationsangebot zu den 4 Themen mit größter Bedeutung für Angehörige, 0 + 1 = keinerlei oder kaum Informationen, 2 + 3 = einige oder vollumfängliche Informationen.

Themas für Angehörige von Fachpersonen deutlich geringer eingeschätzt wird, als von Angehörigen selbst (Hoffmann et al., 2018), spricht ebenfalls dafür, dass die Auswahl von Inhalten gegenwärtig vor allem aus der Perspektive betrieblicher Prozesse erfolgt. Vor dieser Annahme ist es nachvollziehbar, dass zu den Themen „Fieber“, „Krankheitsdauer“ und „Tod und Trauer“ auf keiner der Webseiten Informationen angeboten werden. Die fehlenden Informationen zu spezifischen Aspekten der Bewältigung von Verlusten und Trauer sind angesichts der bekannten Defizite interprofessioneller Teams im Umgang PADUA (2020), 15 (1), 15–22

mit Tod und Sterben (Mercadante et al., 2018) wenig überraschend. Dieses Ergebnis steht vielmehr im Einklang mit der Lücke in der palliativen Versorgung, die im Kontext von Intensivstationen zu verzeichnen ist (ebd.; Davidson et al., 2017). Bei der gruppenbezogenen Auswertung der Themen mit der größten Bedeutung für Angehörige fällt auf, dass Gruppe 4 das vergleichsweise geringste Informationsangebot aufweist. Dies verwundert insofern, da dieser Gruppe drei Universitätskliniken angehören. Mit einem umfassenden, differenzierten medizinischen Leistungsangebot, in©2020 Hogrefe


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Abbildung 4. Gruppenbezogener Vergleich des Informationsangebots zu den 4 Themen mit größter Bedeutung für Angehörige, 0 + 1 = keinerlei oder kaum Informationen, 2 + 3 = einige oder vollumfängliche Informationen.

klusive eines Auftrags für Forschung und Lehre, finanziert aus öffentlicher Hand, könnte man annehmen, dass Universitätskliniken auch bezüglich bedürfnisgerechter Angehörigeninformation eine Vorreiterrolle einnehmen können. Die meisten Informationen zu den Themen mit der größten Bedeutung für Angehörige finden sich hingegen in Gruppe 1. Mit Blick auf diese Ergebnisse wird deutlich, dass man nicht davon ausgehen kann, dass in größeren Einrichtungen eine bedürfnisgerechtere Information von Patienten und Angehörigen erfolgt bzw. das Potential der Webseiten dort besser genutzt wird und umgekehrt.

Stärken und Limitationen der Untersuchung Die größte Stärke der Arbeit liegt in der empirischen Begründung des Analyseinstruments. Dadurch orientiert sich die Untersuchung hochgradig an der Wirklichkeit der Angehörigen und ermöglicht aussagekräftige Schlussfolgerungen hinsichtlich der bedürfnisgerechten Gestaltung der Webseiten. Zudem ist durch das gewählte Stichprobenverfahren davon auszugehen, dass die Stichprobe die Untersuchungspopulation angemessen abbildet. Anders sieht es mit der bundesweiten Verallgemeinerung der Ergebnisse aus. Auch wenn es keinen Grund zur Annahme wesentlicher Unterschiede im Angebot von Gesundheitsinformationen zwischen den Bundesländern gibt, lassen sich die Ergebnisse nicht ohne Weiteres auf Kliniken ©2020 Hogrefe

außerhalb Bayerns übertragen. Hierzu wäre eine deutschlandweite Untersuchung notwendig. Zudem wurde statistisch nicht ausgeschlossen, dass die gruppenbezogenen Unterschiede zufällig entstanden sind. Um eindeutige Zusammenhänge zwischen der Einrichtungsgröße und dem Umfang des Informationsangebots feststellen und die in der Untersuchung angedeuteten Trends bestätigen zu können, sind weitere Untersuchungen mit größeren Fallzahlen erforderlich.

Fazit Die Untersuchung gibt Aufschluss über Art und Umfang des Informationsangebots auf Webseiten von Intensivstationen. Aus den Ergebnissen lässt sich eindeutig Verbesserungspotential hinsichtlich der bedürfnisgerechten Gestaltung der Webseiten ableiten. Zentrale Bedeutung kommt hierbei der Sensibilisierung von Fachpersonen für das subjektive Informationsbedürfnis der Betroffenen zu.

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Schwerpunkt

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Cornelia Kölblin, B. A. Pflegepädagogin und Fachkrankenschwester für Intensiv und Anästhesie, Lehrkraft am Bildungszentrum für Gesundheitsberufe in Erding cornelia.koelblin@ bildungszentrum-erding.de

Prof. Dr. Doris Eberhardt Fakultät Angewandte Gesundheitswissenschaften, Technische Hochschule Deggendorf doris.eberhardt@th-deg.de

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Wollen oder können sie nicht? Gesundheitskompetenz von Patienten und die Vermittlung von Wissen und Können im Unterricht Annalena Welp und Sonia Lippke

Therapeuten nicht richtig zu verstehen oder sich nicht an deren Empfehlungen zu halten. Wie können Pflegende wenig gesundheitskompetente Patienten unterstützen? Ziel des IMPACCT-Projektes ist es, Inhalte zu Gesundheitskompetenz in die Ausbildung von Gesundheitsfachleuten zu integrieren. Die Akademisierung der Pflegeberufe ist dabei eine große Chance. Frau M., die aufgrund eines Schlaganfalls halbseitig gelähmt ist, bekommt von ihrer Pflegefachkraft gesagt, sie solle ihr Köpergewicht reduzieren und mehr gezieltes körperliches Training ausüben. Aber da Knieschmerzen sie von ihrem bisherigen Sport abhalten und sie nicht versteht, wie sie Gewicht abnehmen soll, bleibt sie inaktiv und nimmt nur Tabletten gegen die Schmerzen. Ihre Pflegefachkraft hat den Eindruck, sie würde nicht über ausreichend Fähigkeiten verfügen, sich nachhaltig und selbstbestimmt gesundheitsförderlich zu verhalten. Welche Rolle haben Pflegende im Umgang mit Patienten? Viele Pflegende und andere Gesundheitsfachkräfte sehen sich wenig in der Lage, Patienten besser zu helfen oder ihre eigene Kommunikation zu optimieren (Whittal & Lippke, 2016). Deswegen beginnt der erste Schritt mit der Bewusstmachung, dass Pflegende eine wichtige Rolle spielen und einen großen Einfluss haben können – insbesondere, wenn Patienten wenig gesundheitskompetent sind. Was ist Gesundheitskompetenz, wann ist ein Patient wenig gesundheitskompetent und welche Möglichkeiten haben Pflegende und andere Gesundheitsfachkräfte? Genau diese Fragen untersuchten bisherige Forschungsprojekte. Empfehlungen waren, dass Gesundheitsfachkräfte sensibilisiert und gezielt trainiert werden sollten. Entsprechend ist die Aufgabe des europäischen IMPACCTProjektes (Lippke, 2019a), Gesundheitskompetenz in der Pflege- und Medizinerausbildung durch die Bereitstellung von Lernmaterialien zu verankern und eine verbesserte Ausbildung zu unterstützen. Die Akademisierung der Pflegeberufe ist eine Chance, zukünftigen Pflegenden Wissen und Werkzeuge im Umgang mit Patienten an die Hand zu geben, um so Gesundheitskompetenz in Deutschland langfristig zu verbessern. Aber auch für bestehende Studiengänge, Fort- und Ausbildungen bieten sich viele Möglichkeiten, die Lernmaterialien zu nutzen. ©2020 Hogrefe

Jede zweite Person hat Defizite im Umgang mit der eigenen Gesundheit Pflegende und andere Gesundheitsfachkräfte kennen die Frustration, die entstehen kann, wenn ein Patient anscheinend sein Verhalten nicht ändern „will“ – so wie Frau M., die sich nicht an die Empfehlung hält, Gewicht zu verlieren oder gezielt Muskelaufbau zu betreiben. Gleichzeitig ist uns allen bewusst, wie schwierig es sein kann, gesundheitsförderliche Verhaltensweisen umzusetzen: möglicherweise hat Frau M. die Absicht, ihr Verhalten zu ändern, aber sie weiß nicht, welche Übungen sie angesichts ihrer Knieschmerzen machen kann oder welche hochwertigen Nahrungsmittel sie kaufen sollte, mit denen die Gewichtabnahme leichter wird. Für die aktive Beteiligung von Patienten an der Herstellung und Erhaltung der eigenen Gesundheit ist also ein gewisses Maß an Gesundheitskompetenz nötig – allgemeine Bildung und Verständnis von gesundheitsbezogenen Themen (Habermann-Horstmeier & Lippke, 2019). Jedoch fühlt sich weniger als jeder zehnte Bürger in Deutschland vollkommen sicher im Umgang mit seiner eigenen Gesundheit. Mehr als die Hälfte (54,3 %) verfügt nicht über eine ausreichende Gesundheitskompetenz (Schaeffer et al., 2016). Diesen Patienten fällt es oft schwer, ihre Erkrankung und Einflussfaktoren zu verstehen sowie Behandlungsempfehlungen einzuhalten. Andererseits haben Gesundheitsfachkräfte mitunter Schwierigkeiten, sich in die Rolle der Betroffenen (Patienten und Angehörigen) hineinzuversetzen und nachzuvollziehen, was diese nicht verstehen oder warum sie bestimmte Verhaltensweise nicht umsetzen. Als Folge können Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Patienten und Fachkraft auftreten (Lippke et al., 2019b).

Gesundheitskompetenz ist mehrdimensional Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheitskompetenz als „die kognitiven und sozialen Fähigkeiten, welche die Motivation und Fähigkeit des Einzelnen bestimmen, Zugang zu Informationen zu erhalten, zu verstehen und zu nutzen, um die Gesundheit zu fördern und zu erhalten“ (Nutbeam, 1998, S. 3 57). PADUA (2020), 15 (1), 23–29 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000531

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Viele Patienten scheinen Pflegefachkräfte, Ärzte und


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Ausgehend von dieser globalen Definition lassen sich drei aufeinander aufbauende Komponenten der Gesundheitskompetenz unterscheiden (Paech & Lippke, 2015). Die Grundlage bildet die funktionelle Gesundheitskompetenz: Lese- und numerische Fähigkeiten, die notwendig sind, um sich im Gesundheitssystem zurechtzufinden. Auf dieser Grundlage baut die kommunikativinteraktive Gesundheitskompetenz auf: die Fähigkeit, sich relevantes Wissen anzueignen, zu besprechen und Entscheidungen zu treffen. Langfristig ist die letzte Komponente, die kritische Gesundheitskompetenz, entscheidend. Sie bezeichnet die Fähigkeit, eigenes gesundheitsrelevantes Verhalten zu steuern, aufrechtzuerhalten und die Relevanz von Informationen für die eigene Situation zu beurteilen. Die obige Definition von Gesundheitskompetenz setzt also einen kompetenten Patienten voraus – jemanden, der für seine Belange eintritt, Ressourcen aufbaut und Verhalten langfristig ändert (Nagel & Schreiber, 2013). Dieses Idealbild erscheint jedoch wenig realistisch. Dementsprechend sind Minderheiten, ältere Menschen und Menschen mit geringem Bildungsgrad, niedrigem sozioökonomischen Status oder geringen Kenntnissen der Amtssprache besonders von eingeschränkter Gesundheitskompetenz betroffen. Dies hat weitreichende Folgen – so sterben beispielsweise wenig gesundheitskompetente Patienten mit chronischen Krankheiten früher als diejenigen mit hoher Gesundheitskompetenz (Lippke et al., 2019c). Zudem entstehen hohe Kosten für das Gesundheitssystem – Schätzungen der WHO zufolge 15 Milliarden Euro pro Jahr allein in Deutschland (Kickbusch et al., 2016).

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ren für den Patienten, der eigentlich mehr Zeit benötigen würde, kommt es zusätzlich darauf an, dass Experten Möglichkeiten zur Nutzung der eingeschränkten Zeit (Effektivitätssteigerung) aufzeigen (Duan et al., 2018). Optionen bestehen beispielsweise darin, schriftliches oder elektronisches Material (Stichwort „App“) hinzuzuziehen, das der Patient bearbeitet, damit die Antworten zeitsparend hinzugezogen und für eine passgenaue Behandlung genutzt werden können. Frau M. könnte zum Beispiel ihr Bewegungsverhalten elektronisch aufzeichnen, um es an ihre Pflegekraft zu übermitteln, mit ihr zu besprechen und aufgrund der Daten Vorschläge zu ihrem Verhalten bekommen. Aus Sicht von Patienten mit niedriger Gesundheitskompetenz ist die größte Schwierigkeit, mit der sie konfrontiert sind, mangelnde Patientenzentrierung. Diese drückt sich in verschiedenen Bereichen aus, wie interpersonelle Kommunikationsfähigkeiten der Fachkräfte, Unterstützung beim Selbstmanagement von Krankheiten, Einbezug des informellen Unterstützungssystems (Freunde und Familie) oder Barrieren im Gesundheitssystem (Verständlichkeit von Dokumenten) (Jager et al., 2019). Wissen über Gesundheitskompetenz ist also mehr als die Vermeidung von Fachausdrücken – im Umgang mit wenig gesundheitskompetenten Menschen müssen Fachkräfte über weitergehende Kommunikationskompetenzen Tabelle 1. Überblick über die Lerneinheiten des Gesundheitskompetenz-Bildungsprogramms (rot hinterlegt: auf Deutsch verfügbar bis zur Berichtlegung) 1. Gesundheitskompetenz: Einführung 2. Multimorbidität

Wie können Pflegende die Gesundheitskompetenz ihrer Patienten fördern?

3. Kommunikation zwischen Patienten und Gesundheitsfachkraft 4. Diversität 5. Partizipative Entscheidungsfindung 6. Identifikation von Patienten mit geringer Gesundheitskompetenz

Zu erklären sind diese Auswirkungen für Patienten mit den oben beschriebenen Verständnis- und Kommunikationsproblemen, aber auch durch die mangelnde „Aushandlung“ von Behandlungsansätzen (Shared decision making) und Schwierigkeiten im Umgang mit Problemen wie (subjektiv) zu wenig finanziellen Ressourcen für die Behandlung (Lejeune et al., 2017). Pflegende und andere Gesundheitsfachkräfte haben die Aufgabe, solche Schwierigkeiten zu erkennen und mit dem Patienten zu besprechen, sie zu überwinden oder auch einfach Verständnis dafür zu haben, wenn die Behandlung dieser Patienten mehr Zeit beansprucht. Wollen Pflegende ihre Patienten unterstützen, etwas für ihre Gesundheit zu tun, dann sind Themen wie „Gesundheitsförderliches Verhalten“ (z. B. körperliche Bewegung), „Umgang mit Krankheit“ (Benefit Finding) und „Mitwirkung an der Behandlung“ (Einhaltung von Empfehlungen der Pflegenden) wichtig. Insbesondere wenn sich Fachkräfte unter Zeitdruck fühlen und keine Optionen sehen, mehr Zeit zu investiePADUA (2020), 15 (1), 23–29

7. Verbesserung der Beteiligung von Patienten 8. Patientenzentrierte und flexible Kommunikation 9. Entlassung und Rehabilitation 10. Gesundheitskompetente Gesundheitssysteme 11. Verbesserung des Gesundheitsverhaltens – Barrieren und Ressourcen 12. Ernährungsbezogene Gesundheitskompetenz 13. Wissenschaftliche Forschung zu Gesundheitskompetenz 14. E-Health 15. Lebenslanges Lernen und gesellschaftliche Veränderungen 16. Mentale Gesundheitskompetenz 17. Management von Demenz 18. Selbstmanagement chronischer Krankheiten 19. Einbeziehung der Unterstützungssysteme von Patienten

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verfügen, theoretisches und praktisch umsetzbares Wissen zu Motivation und Verhaltensänderung besitzen und sich vor allem in die Gedanken- und Erlebenswelt der Patienten einfühlen können (Lippke et al., 2019b). Hierzu gehört zum Beispiel das Bewusstsein, dass Patienten mit einem kulturellen Hintergrund, der sich von dem der Gesundheitsfachkraft unterscheidet, ganz andere Ansprachen brauchen oder Symptome anders beschreiben (Whittal et al., 2017).

Entwicklung eines Bildungsprogramms für Gesundheitskompetenz: Das IMPACCT-Projekt Vermittlung von Wissen über Gesundheitskompetenz ist in Europa derzeit nicht flächendeckend in Ausbildung und Studium von Gesundheitsberufen eingebunden. Aus Sicht von Experten und Betroffenen besteht jedoch durchaus Bedarf (Schaeffer et al., 2018). Das IMPACCT-Projekt (IMproving PAtient Centered Communication Competences, auf Deutsch: Verbesserung der patientenzentrierten Kommunikationskompetenzen) nimmt sich dieser Thematik an. Ziel des Projektes ist es, dem gesteigerten Bedarf an Gesundheitskompetenz-Inhalten in Studium und Ausbildung von Gesundheitsberufen durch Bereitstellung von Lernmaterialien zu decken. Dazu wurden im Rahmen von IMPACCT Lerneinheiten zu verschiedenen Themen der Gesundheitskompetenz wie beispielsweise Unterstützung bei Verhaltensänderung, Ehealth oder Kommunikation entwickelt (Tabelle 1), die in-

teressierten Pflegepädagogen bzw. Lehrenden oder (Hoch) Schulen zur Verfügung gestellt werden. Um sicherzustellen, dass sich Themen und Inhalte am tatsächlichen Bedarf orientieren, wurden im Rahmen einer Bedarfsanalyse und der Arbeit mit Fokusgruppen bestehend aus Patienten, Gesundheitsfachkräften, Studierenden, Lehrenden und Wissenschaftlern sowie Analyse der bestehenden Literatur (Jager et al., 2019) ein pädagogischer Rahmen und Kernthemen herausgearbeitet (Abbildung 1). Didaktisch orientieren sich die Lerneinheiten am europäischen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen (EQR) und aktuellen (hochschul-)didaktischen Empfehlungen (Europäische Kommission, 2008). Hierzu gehört unter anderem das Konzept des „Constructive Alignment“, das heißt, der Angleich von Lernergebnissen, LehrLernmethoden und Evaluation (Eugster, 2012) oder die Gliederung von Lernergebnissen verschiedener Komplexität nach der Taxonomie von Bloom (1976).

Flexible Materialien ermöglichen Anpassung an Lernende Die inhaltliche Entwicklung orientiert sich an den drei Säulen „Zentrierung am Lernenden“, „Praxisorientierung“ und „wissenschaftliche Fundierung“. Der Schwierigkeitsgrad der Lerneinheiten ist auf Bachelor-Niveau angesiedelt – somit können die Inhalte in die derzeit entwickelten Curricula der akademisierten Pflegeausbildung integrieren werden. Pro Lerneinheit ist 1 ECTS (28 Stunden Präsenz und Einzelstudium) vorgesehen.

Grundlegende Lernergebnisse: Überblick über Gesundheitskompetenz • •

Kenntnisse der aktuellen Gesundheitskompetenz-Konzepte, Konsequenzen geringer Gesundheitskompetenz und Interventionen Kenntnisse verschiedener Strategien, um Patienten mit geringer Gesundheitskompetenz zu identifizieren und die Kommunikation zu adaptieren

Erweiterte Lernergebnisse

Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz stärken • Auswahl und Bewertung wichtiger Ressourcen und Strategien zur Unterstützung von Patienten beim Selbstmanagement von Krankheiten und Umsetzen von Verhaltensänderungen

Freunde, Familie und Lebensumfeld stärken • Evaluieren von Strategien, um Unterstützung durch Gesundheitsfachkräfte, Freunde, Familie und das erweiterte Lebensumfeld zu stärken • Den Wert von Unterstützungssystemen erkennen

Patientenzentrierte Interaktionen stärken • Kenntnis effektiver Kommunikationsstrategien für den Austausch mit Patienten mit geringer Gesundheitskompetenz • Anwendung effektiver Kommunikationsstrategien in klinischen Situationen

Führungskapazitäten und Zusammenarbeit stärken • Identifikation und Design von Strategien oder Interventionen, um Koordination, Kontinuität und Sicherheit von Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz zu stärken

Kommunikationsbarrieren reduzieren • Identifizierung von Barrieren, die Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz in Gesundheitsorganisationen antreffen • Bereitstellen verständlicher Dokumente

Abbildung 1. Pädagogischer Rahmen des Projektes zur Entwicklung von Gesundheitskompetenz-Wissen. ©2020 Hogrefe

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Lehrende können Schwierigkeitsgrad und zeitlichen Aufwand jedoch anpassen. Bis zur Berichtlegung lagen fünf der insgesamt 18 Lerneinheiten in der deutschen Übersetzung vor. Daneben werden als niedrigschwelliges Angebot zwei Massive Open Online Courses (MOOCs – frei über das Internet zugängliche Kurse) entwickelt, die institutionsunabhängig ab Mitte 2020 über die Plattform futurelearn.com genutzt werden können. Die MOOCs behandeln Grundlagen zu Gesundheitskompetenz sowie das Thema gesundheitskompetente Organisation. Sie eröffnen Interessierten die Möglichkeit, sich selbständig Wissen anzueignen. Dies kann unabhängig von Lehrveranstaltungen geschehen – die MOOCs können jedoch auch ergänzend in ein Modul integriert werden. Der Aufbau der Lerneinheiten ist jeweils gleich: Zu jeder Lerneinheit gehört eine theoretische Einführung in Form eines Vortrags mit interaktiven Elementen. Zudem beinhaltet jede Lerneinheit vier bis sechs Workshops, in denen zum Beispiel Materialien entworfen oder Rollenspiele gemacht werden (z. B. Durchführung einer E-Konsultation). Unterstützende Materialien, wie wissenschaftliche Studien und Arbeitsblätter, sind ebenfalls erhältlich. Für Lehrende gibt es zu jeder Aktivität ergänzende Informationen zu Relevanz der Thematik, Durchführung der Aktivität und Lernzielen. Weiterhin gehört zu jeder Lerneinheit eine Orientierung für Lehrende, die einen Überblick über Lernziele, Typ der Lernaktivität, verfügbaren

Materialien, Möglichkeiten der Bewertung und Dauer der Lernaktivität gibt. (Abbildung 2). Die Lerneinheiten wurden nach dem ‚SupermarktPrinzip‘ entwickelt: Lehrende werden die Möglichkeit haben, sich durch Eingabe von Suchbegriffen über eine zentrale Plattform wie in einem Supermarkt-Regal zu bedienen und die für die Bedürfnisse der Lernenden passenden Inhalte auszuwählen. Auch können sie komplette Lerneinheiten zu einem Thema wie beispielsweise Diversität abrufen.

Orientierung am Bedarf: Einbezug wichtiger Akteure in die Entwicklung Die Vernetzung mit lokalen Akteuren (Gesundheitsfachkräfte, Lehrende / Lehrkoordinatoren, Studierende, Auszubildende, Wissenschaftler und Patienten) im Rahmen von Workshops ist ein zentraler Bestandteil des Projekts. Hier steht vor allem die Anpassung der Lerneinheiten an den deutschsprachigen Bildungsraum sowie die Sensibilisierung für die Thematik an Bildungsinstitutionen und in der Politik im Vordergrund. Teilnehmende vergangener Workshops waren sich insgesamt einig, dass das Thema Gesundheitskompetenz

ORIENTIERUNG FÜR LEHRENDE ZUR LERNEINHEIT ‚VERBESSERUNG DES GESUNDHEITSVERHALTENS‘ Lernheinheit (LE)

Lernergebnisse: Basis

Lernaktivität

Verfügbares Material (Powerpoint, Word oder pdf)

Verbesserung des Gesundheitsverhaltens (LE11)

Die Studierenden....

• Einführungsvorlesung

• 11 Einführung

....definieren Gesundheits- und Gesundheitsrisikoverhaltensweis en und verstehen deren Zusammenhang mit dem Altern, Alterskohorten und Stereotypen. .... verstehen das Verhaltensänderungs-Rad und wissen, wie es die Änderung des Gesundheitsverhaltens bei Patienten erleichtern kann. ...analysieren die aktuelle wissenschaftliche Literatur zur Bedeutung von proaktivem Gesundheitsverhalten, insbesondere für ältere Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz. ...identifizieren verschiedene Verhaltensänderunstechniken (Behavior Change Techniques, BCT) und erklären, wie sie die verschiedenen Prozesse der Veränderung des Patientenverhaltens unterstützen.

Bewertung der Studierenden

• Übung und Diskussion im Unterricht

• 11 Lernaktivität 1 • 11 Information Lehrperson 1 • 11 M1 Artikel Michie, Stralen & West (2011)

Feedback von Kommilitonen oder Pädagogen auf der Grundlage von Beobachtungen

• Übung und Diskussion im Unterricht

• 11 Lernaktivität 2 • 11 Information Lehrperson 2 • 11 M2 Artikel Bennet (2009) • 11 M2 Artikel Federman (2014) • 11 M2 Artikel Fleig (2016) • 11 M2 Artikel Geboers (2014) • 11 M2 Artikel Geboers (2016) • 11 Lernaktivität 4 • 11 Information Lehrperson 4 • 11 M4 Artikel Michie, Atkins & West (2011) p. 145-163 • 11 M4 Artikel Michie, Atkins & West (2011) Arbeitsblatt

Feedback von Kommilitonen oder Pädagogen auf der Grundlage von Beobachtungen

• Übung und Diskussion im Unterricht

Feedback von Kollegen oder Pädagogen auf der Grundlage von Beobachtungen

Abbildung 2. Beispiel für Lernmaterialien. PADUA (2020), 15 (1), 23–29

©2020 Hogrefe


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derzeit in beiden Bereichen unterrepräsentiert sei. Die Bereitstellung von Lerneinheiten als einen niedrigschwelligen Ansatz, um gesundheitskompetenzbezogene Inhalte unkompliziert in Ausbildungen zu integrieren, stieß auf hohe Resonanz – insbesondere die Möglichkeit der individuellen Anpassung. Auch bewerteten sie die Lerneinheiten inhaltlich und didaktisch insgesamt als sehr positiv. Bezüglich der Anpassung an das deutsche Bildungssystem identifizierten die Teilnehmenden drei Themen: • Anpassung von Inhalten an verschiedene Zielgruppen, d. h. Auszubildende und Studierende. Dies betraf vor allem die unterschiedliche Gewichtung von theoretischen und praktischen Anteilen. In Aus- und Weiterbildungen könne die Bearbeitung wissenschaftlicher Studien reduziert werden zugunsten praktischer Übungen und der Reflexion eigener Praxiserfahrungen. Eine weitere Idee war die Bereitstellung einer Fallstudiendatenbank, aus der je nach Lernziel und Zielgruppe Patientengeschichten ausgewählt werden können. • Anpassung an das deutsche Gesundheitssystem. Hierzu zählten beispielsweise die Integration deutscher Gesetze und Regularien (z. B. Sozialgesetzbuch) und Lernaktivitäten zu deren Anwendung oder die Anpassung der Lerneinheit „Diversität“ an kulturelle und soziale Gruppen, die in Deutschland häufig anzutreffen sind. • Erweiterung der Leitfäden für Lehrende. Lehrende wünschten sich die Bereitstellung weiterer Hintergrundinformation zu theoretischen Modellen und deren Anwendung. So werde die Implementierung in bestehende Kurse und Vermittlung (angesichts des Mangels an Lehrpersonal) durch Personen, die über weniger Expertise verfügen, erleichtert. Als Nebenthema ergab sich die Bedeutung des teilweisen gemeinsamen Unterrichts in verschiedenen Gesundheitsberufen. So könne von Grund auf interprofessionelle Zusammenarbeit trainieren werden – anstelle des Zusammentreffens verschiedener Professionen erst nach der Ausbildung, was häufig Kommunikationsschwierigkeiten und Konflikte nach sich ziehe. Durch die derzeit laufende Überarbeitung des nationalen kompetenzbasierten Lernzielkatalog des Medizinstudiums (NKLM)

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könne die Zusammenarbeit mit Pflegenden gestärkt und im Rahmen der Curriculum Entwicklung Synergieeffekte erzielt werden. Diese Rückmeldungen verdeutlichen, dass Gesundheitskompetenz zwar ein gesamteuropäisches Thema ist – und die Lerneinheiten dementsprechend in einem europäischen Konsortium entwickelt wurden. Dennoch ist eine Anpassung auf nationaler Ebene notwendig, um das Lernprogramm nutzbar zu machen. Dies liegt unter anderem an der Vielfalt der Möglichkeiten in Deutschland bezüglich Abschlüsse und Ausbildungsweg, um einen Gesundheitsberuf zu erlernen und an der Akademisierung der Pflegeberufe. Die Rückmeldungen arbeiten wir derzeit in die Lerneinheiten ein. Interessierte können den Autorinnen unter https://survey.jacobs-university.de/impacct. htm ihre Meinungen und Empfehlungen zur Vermittlung von Gesundheitskompetenz-Wissen mitteilen.

Strategien zur Implementierung Bezüglich Sensibilisierung für die Thematik an Bildungsinstitutionen, an denen das Thema noch nicht auf der Agenda steht, waren sich Teilnehmende einig, dass es aufgrund bürokratischer Hürden am effektivsten sei, auf das Bottom-up-Prinzip zu setzen. Das heißt: • Akteure in niedrigen Stufen der (Hoch-)Schulhierarchie, wie den Studiengangsleiter anstelle des Dekans, für das Anliegen zu gewinnen • Motive der Gesprächspartner antizipieren: möglicherweise ist die Einfachheit der Implementierung zunächst wichtiger als die didaktische Qualität oder die Bedeutung der Thematik im nationalen Kontext • Mitstreiter suchen anstatt Gegner überzeugen. Intensiver Austausch mit einigen wenigen ist erfolgsversprechender und mit weniger Aufwand verbunden als das Vorgehen auf breiter Front • Lerneinheiten im kleinen Rahmen implementieren (z. B. als Exkurs in einem Seminar) und deren Nutzen und Bewertung durch Kursteilnehmer dokumentieren • Bildungsinstitutionen finden, die Inhalte zu Gesundheitskompetenz bereits erfolgreich implementiert haben und von ihnen lernen Mit Hilfe dieser Vorschläge könnten Lerninhalte zu Gesundheitskompetenz unkompliziert implementiert werden, um langfristig an Bedeutung zuzunehmen und ins Bewusstsein von Entscheidungsträgern zu rücken. Es könne jedoch auch sinnvoll sein, die aktuelle politische Debatte zu den Themen Pflegenotstand und Patientensicherheit zu nutzen, um mit Hilfe von gesundheitskompetenzbezogenen Inhalten die Professionalisierung der Pflege voranzutreiben. Weiterhin schlugen Teilnehmende die Entwicklung eines nationalen oder institutionellen Zertifikates „gesundheitskompetente Organisation“ (ähnlich der Zertifikate zu familienfreundlichen Unternehmen) vor.

Abbildung 3. Erarbeitung von Themen. ©2020 Hogrefe

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Wie kann Gesundheitskompetenz nachhaltig gefördert werden? Das Thema Gesundheitskompetenz ist bereits in Ansätzen auf der Agenda im Bereich Pflege / Medizin vorhanden. So sollen gesundheitskompetenzbezogene Inhalte in den nationalen kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM) integriert werden. Auch aus der Pflege gibt es Rufe, diese Inhalte in die Ausbildung einzufügen (Kolpatzik et al., 2018). Sich derzeit in Entwicklung befindliche weiterführende Studiengänge und Weiterbildungsangebote, die sich unter anderem an Pflegende richten, integrieren die Thematik in ihr Curriculum. Die aktuelle Akademisierung der Pflegeberufe kann als große Chance für eine Fokussierung des Themas „Gesundheitskompetenz“ gesehen werde. Durch die derzeit laufende Umstrukturierung der Curricula sollten gesundheitskompetenzbezogene Inhalte relativ problemlos in die Pflegeausbildung integriert werden – und die Inhalte der Lerneinheiten können je nach Bedarf ausgewählt werden. Diese Inhalte rekrutieren sich aus verschiedenen Disziplinen wie Psychologie, Kommunikationswissenschaften, Pädagogik oder Public Health. Dabei fördern sie die Entwicklung übergeordneter Kompetenzen wie emotionale Intelligenz, Reflexivität und analytische Fähigkeiten. Studierende erwerben universell einsetzbares Wissen – die Vermittlung gesundheitskompetenzbezogener Inhalte trägt so zur Professionalisierung der Pflegeberufe bei. Langfristig kann damit das Thema Gesundheitskompetenz gestärkt werden. Gesundheitskompetente Pflegende tragen zum Aufbau einer gesundheitskompetenten Organisation bei. Durch den ausgeprägten Kontakt von Pflegenden mit Patienten können Pflegende als „Multiplikator“ wirken – und so durch Weitergabe ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten zum Aufbau einer gesundheitskompetenten Patientenpopulation beitragen (Bolognesi et al., 2006).

Erste Erfahrungen aus der Implementierung und konkrete Nutzung Die in deutscher Sprache vorliegenden Lerneinheiten wurden bereits mit Bachelor-Studierenden getestet und hinsichtlich der Wissenserweiterung und dem Kompetenzzuwachs evaluiert. Da es sich vorerst um kleine Stichproben handelte und keine quantitativen Daten erhoben wurden, sind interessierte Institutionen eingeladen, die Materialien einzusetzen und durch die Evaluation an einer iterativen Verbesserung beizutragen. Dazu stehen Feedback- und Lehrveranstaltungs-Evaluationsbögen und Empfehlungen für empirische Evaluationen unter http://slippke.user. jacobs-university.de/immpactdeutsch/ zur Verfügung. Interessierte Institutionen und Personen können sich auf dieser Homepage sowie der europäischen Webpräsenz PADUA (2020), 15 (1), 23–29

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(http://healthliteracycentre.eu/impacct/what-is-impacct/) informieren oder die Autorinnen dieses Artikels unter den angegebenen Email-Adressen kontaktieren. Hier können sie die Lerneinheiten anfordern. Generell ist für eine gute Lehrplanung nicht nur eine detaillierte Anpassung von Lernzielen und Lehrinhalten notwendig, sondern maßgeblich auch auf praktische Übungen und Aufgaben zur kritischen Reflexion. Im Zeitalter der Digitalisierung stehen dazu neben MOOCs (auch mit den oben beschriebenen Inhalten) auch Online-Tools zur Verfügung (siehe Link-Liste).

Link-Liste zu Online-Tools für die Anreicherung der Lehre https://www.classpager.com/ https://www.edmodo.com/ https://www.futurelearn.com/ https://www.learningcatalytics.com/ https://www.kahoot.com/ https://www.mentimeter.com/ https://www.remind.com

Datenbank mit Instrumenten zur Erfassung von Gesundheitskompetenz http://healthliteracy.bu.edu/ Mit dem Project IMPACCT sind Lerneinheiten bereitgestellt worden, die es nun gilt, in die Ausbildung von Studierenden und Auszubildenden sowie die Fortbildung von im Gesundheitswesen Tätigen zu integrieren. Die Autorinnen hoffen auf großes Interesse und stehen bei Rückfragen zur Verfügung.

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Schwerpunkt

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Dr. Annalena Welp wissenschaftliche Mitarbeiterin, Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin, Jacobs University Bremen a.welp@jacobs-university.de

Prof. Dr. Sonia Lippke Professorin für Gesundheitspsychologie und Verhaltensmedizin, Jacobs University Bremen s.lippke@jacobs-university.de

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Mit Leadership zur personenzentrierten Vermittlung von Gesundheitsinformationen Ein Praxisentwicklungsprojekt zur Förderung selbständiger Bewegung nach Kniegelenksimplantation

Zu den zentralen Aufgaben von Pflegefachpersonen in chirurgischen Abteilungen gehört es, Patienten nach operativen Eingriffen bei der Wiedererlangung ihrer Selbständigkeit zu unterstützen. Der nachfolgende Artikel beschreibt ein Praxisentwicklungsprojekt, in dem unter Einbezug der Patienten- und Professionellenperspektive ein Informationsangebot zur postoperativen selbständigen Bewegung erstellt und implementiert wurde.

Effektive Gesundheitsinformation als professionelle Aufgabe Im nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz (Schaeffer et al., 2018) werden u. a. Verständigungs- bzw. Verständnisprobleme zwischen Nutzern und professionellen Anbietern von Gesundheitsleistungen beklagt. Begünstigt werden diese Probleme durch die Verwendung von Fachausrücken, eine abstrakte Ausdrucksweise, Zeitmangel und ein Vergütungssystem, das nur wenig Anreize für Patientenzentrierung setzt. Derartige Kommunikationsprobleme wirken sich nicht nur negativ auf die Versorgungsqualität aus und gefährden die Patientensicherheit. Sie verhindern auch, dass Betroffene aktiv und koproduktiv am Behandlungs- bzw. Versorgungsprozess mitwirken und dadurch ihre Gesundheitskompetenz ausbauen. Der Aktionsplan unterstreicht daher die Bedeutung einer an den Wissensstand und an die individuellen Lernvoraussetzungen der Betroffenen angepassten Kommunikation und betont die Verantwortung aller Gesundheitsprofessionen für wirksame und nutzerfreundliche Kommunikations- und Vermittlungsstrategien. Zur entsprechenden Aufbereitung gesundheitsrelevanter Informationen gehören nach Schaeffer et al. (2018) z. B. ©2020 Hogrefe

• die erfahrungsnahe und lebensweltorientierte Gestaltung der Informationen • eine laienverständliche Sprache und Textstruktur • der Einsatz multimedialer Formate, so dass die Informationen auch von Menschen mit eingeschränkten Lesefähigkeiten genutzt werden können • die Erarbeitung, Erprobung und systematische Einführung didaktisch aufbereiteter Medien und Materialien • die gezielte Unterstützung der Informationsverarbeitung durch individuelle und flexible Beratungsangebote Für die Ausrichtung von Gesundheitsinformationen auf die Rezeptionsgewohnheiten, Kompetenzvoraussetzungen und Präferenzen der unterschiedlichen Nutzergruppen ist es zwingend erforderlich, Nutzer in den Erstellungsprozess einzubeziehen (ebd.).

Leadership als Konzept zur Gestaltung von Veränderungsprozessen Um pflegerische Führungspersonen zur Übernahme von Aufgaben innerhalb der Praxisentwicklung zu befähigen, setzt das Klinikum Neumarkt u. a. auf die Entwicklung von Leadership. Leadership stellt einen Ansatz dar, der geeignet ist, Menschen zu motivieren, gemeinsamen Werten zu folgen und sie durch Veränderungsprozesse zu führen (Bass, 1994). Sogenannte transformationale Führungsbzw. Leadership-Konzepte gelten als besonders vielversprechend, um Wandel, Innovation sowie fachliche und persönliche Entwicklung zu fördern (Felfe, 2006). Pflegerische Leadership-Konzepte richten den Blick zusätzlich auf eine personenzentrierte, evidenzbasierte Pflegepraxis und die Etablierung einer fördernden Arbeitsumgebung (Huber, 2006). Vor diesem Hintergrund wird am Klinikum Neumarkt seit 2015 ein Leadership-Programm angeboten (Eberhardt, 2017). Das Programm folgt der Idee des PADUA (2020), 15 (1), 31–37 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000532

Schwerpunkt

Nadine Schmidkonz und Doris Eberhardt


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Clinical Leadership Programme am Royal College of Nursing und ist auf einen patienten-, mitarbeiter-, forschungsund ergebnisorientierten Führungsstil ausgerichtet. Es ist auf 18 Monate angelegt und zeichnet sich durch eine Kombination verschiedener Methoden der Organisations-, Praxis- und Personalentwicklung aus. Im Laufe des Programms führen die Teilnehmenden ein Praxisentwicklungsprojekt durch, in dessen Fokus die Entwicklung einer personenzentrierten Versorgungskultur steht. Impulse für das Projekt bieten zum einen die inhaltlichen Inputs an den Seminartagen und zum anderen die Ergebnisse der Patienteninterviews und Pflegebeobachtungen, die zur Identifikation verbesserungsfähiger Bereiche der Pflegepraxis durchgeführt werden.

Der Projektkontext Das Klinikum Neumarkt ist ein Schwerpunktkrankenhaus mit 530 Betten, 17 Fachabteilungen und ca. 1800 Mitarbeiter_innen. Jährlich werden mehr als 26.000 stationäre und 48.000 ambulante Patienten behandelt. Das nachfolgend beschriebene Projekt wurde in einer orthopädischen Abteilung durchgeführt, in der überwiegend Patienten mit Hüft- und Kniegelenksimplantationen behandelt werden. Das Pflegeteam dieser 30-Betten-Station besteht aus 19 Personen. Geleitet wurde das Projekt von der Erstautorin, der Stationsleitung der Projektstation, die von 2017 – 2019 am Leadership-Programm teilnahm. Die Zweitautorin leitete das Leadership-Programm im Projektzeitraum und war als Mentorin für die wissenschaftliche und methodische Begleitung des Projekts zuständig.

Methodisches Vorgehen Entwicklung einer gemeinsamen Wertebasis Da das Leben von Werten ein zentrales Leadership-Prinzip darstellt (Kouzes & Posner, 2003) und eine gemeinsame Wertebasis auch für Praxisentwicklungsprozesse unabdingbar ist (McCormack et al., 2009), bekommen alle Teilnehmer_innen des Programms die Aufgabe, mit ihren Teams eine solche Wertebasis zu entwickeln. Um sicherzustellen, dass sich möglichst viele Teammitglieder mit den Werten identifizieren können und davon abgeleitete Entscheidungen mittragen, werden die Werte nicht von der Führungskraft vorgegeben, sondern im Team ermittelt und konsentiert. Die Werteentwicklung bedarf daher einer spezifischen Methodik, die im vorgestellten Projekt wie folgt aussah (Dewing et al., 2014): Im ersten Schritt wurden während einer Teamsitzung fiktive Dankeskarten geschrieben. Dazu wurden Postkarten verteilt und jede Pflegeperson aufgefordert, eine Dankeskarte zu schreiben, die sie gerne von einem Patienten bzw. Angehörigen PADUA (2020), 15 (1), 31–37

Schwerpunkt

erhalten und die sie mit Stolz erfüllen würde. Die Postkarten wurden reihum vorgelesen und analysiert. Die darin enthaltenen Hinweise auf Werte wurden diskutiert und konkretisiert. So entstanden z. B. Ziele wie „Wir bilden uns stetig weiter, um den Patienten bestmögliche Sicherheit geben zu können“ oder „Jeder Mitarbeiter vermittelt dem Patienten Sicherheit durch ausreichende Informationen“. Nach und nach entstand aus den gemeinsamen Werten ein Wertehaus. Dieses hängt gut sichtbar im Stationszimmer aus, wird in regelmäßigen Abständen mit dem gesamten Pflegeteam evaluiert und entsprechend weiterentwickelt.

Identifikation von Verbesserungspotential Um stationsspezifische Verbesserungsbereiche zu ermitteln, wurden vier Patienteninterviews und vier Pflegebeobachtungen durchgeführt. Die offenen Leitfadeninterviews wurden zur Hälfte von der Stationsleitung der Projektstation und zur Hälfte von einer Stationsleitung einer anderen Station, die ebenfalls am Programm teilnahm, durchgeführt. Der Interviewleitfaden wurde von der Programmleitung unter Rückgriff auf empirische Belege zu von Patienten als wichtig eingeschätzten Aspekten der Gesundheitsversorgung (Coulter, 2005) entwickelt und den Teilnehmenden des Leadership-Programms zur Verfügung gestellt (Tabelle 1). Die Patienten wurden vor dem Interview über den Zweck der Interviews informiert und um Teilnahme gebeten. Gleichzeitig wurden sie auf Freiwilligkeit und Anonymität hingewiesen. Das Einverständnis der Patienten war Voraussetzung für die Durchführung der Interviews. Die vier Interviews wurden in einem separaten, störungsfreien Raum durchgeführt und dauerten durchschnittlich 30 Minuten. Im gleichen Zeitraum wurden – wieder im oben genannten Tandem – nichtteilnehmende, nichtstrukturierte Pflegebeobachtungen durchgeführt. Hierfür wurden unterschiedliche Orte bzw. Situationen ausgewählt (Übergabe, Arztvisite, allgemeines Geschehen auf dem Stationsgang, stationäre Aufnahme von Neuzugängen), die für ca. 15 Minuten beobachtet wurden. Das Team wurde vorab über die Beobachtungen und ihren Zweck informiert. Die Auswertung der Interviewdaten und Beobachtungsnotizen erfolgte ebenfalls im Tandem. Mittels einer Mindmap wurden die Stärken und Schwächen der gegenwärtigen Praxis in Kategorien zusammengefasst. Als zentrale Stärken zeigten sich u. a. eine ausgeprägte Freundlichkeit und Aufmerksamkeit des Pflegepersonals, die starke Berücksichtigung individueller Bedürfnisse der Patienten sowie eine effektive Zusammenarbeit im Team. Optimierungsbedarf kristallisierte sich vor allem in Bezug auf eine verbindliche und einheitliche Beratung von Patienten über postoperative Verhaltensweisen und Hilfestellungen heraus. So wurde in den Interviews z. B. berichtet, dass sich Patienten nach der Operation nicht trauten, selbständig an die Bettkante zu setzen, da sie nicht wüssten, ob sie dies überhaupt dürften und was sie hierbei zu beachten hätten. ©2020 Hogrefe


Schwerpunkt

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Tabelle 1. Leitfaden für Patienteninterviews Narrativer Einstieg 1) Herr/Frau … Sie waren jetzt … Tage auf unserer Station. Wie haben Sie die Pflege hier erlebt? Welche Erfahrungen haben Sie mit der Pflege gemacht? 2) Was war für Sie besonders hilfreich bzw. was haben Sie besonders geschätzt? 3) Was haben Sie vermisst, was könnten wir anders gestalten? Aspekte, die von Patienten als wichtig eingeschätzt werden (Coulter 2005)

Interviewfrage

Schnelle Reaktionen bzw. Hilfe bei Problemen / Symptomen bekommen

Wie haben Sie die Reaktionen bzw. die Hilfestellung der Pflegenden bei Problemen, Symptomen oder Bedürfnissen erlebt?

Klare und umfassende Informationen erhalten

Wie haben Sie sich informiert gefühlt? Wie waren die Informationen, die Sie vom Pflegepersonal erhalten haben?

Bei Pflegeentscheidungen mitsprechen und eigene Vorlieben einbringen

Inwiefern konnten Sie bei Entscheidungen zur Pflege mitsprechen? Inwiefern konnten Sie eigene Vorlieben einbringen?

Unterstützung im Umgang mit der Erkrankung / zur Bewältigung von Symptomen erhalten

Welche konkrete Unterstützung im Umgang mit der Erkrankung/zur Bewältigung von Symptomen haben Sie von den Pflegenden erhalten? Wie hilfreich war diese Unterstützung?

Emotionale Unterstützung, Empathie und Respekt erfahren

Inwiefern wurden Sie vom Pflegepersonal respektvoll und mit Einfühlungsvermögen behandelt?

Versorgungskontinuität und koordinierte Abläufe erleben

Wie haben Sie die Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Pflegepersonen erlebt? Wie haben Sie die Abläufe hier auf der Station erlebt?

Zuverlässigkeit / Sicherheit erleben und Vertrauen aufbauen können

Wie empfanden Sie die Zuverlässigkeit des Pflegepersonals? Inwiefern haben Sie sich sicher gefühlt und Vertrauen gehabt?

Einbezug und Unterstützung von Familienmitgliedern und Bezugspersonen erleben

Inwiefern wurden Familienmitglieder und Bezugspersonen von den Pflegenden einbezogen? Welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich gemacht?

Wohltuende / angemessene Umgebungsbedingungen vorfinden

Wie haben Sie die Atmosphäre, die Rahmenbedingungen, die Umgebung hier auf der Station erlebt?

Ableitung von Projektzielen und Maßnahmen Die Ergebnisse wurden dem gesamten Pflegeteam in einer Teambesprechung vorgestellt. Um das Projektthema gemeinsam festzulegen, wurde ein „Speed-Dating“ durchgeführt. Hierfür bekam jede Person den Auftrag, sich über folgende Fragen Gedanken zu machen: Du hast gerade die Ergebnisse der Patienteninterviews und Pflegebeobachtungen erfahren. Welche Kritikpunkte haben Dich am meisten bewegt? Welche Punkte sind nicht mit dem Ziel einer personenzentrierten Pflege vereinbar? Schreibe die drei bedeutsamsten Punkte, Themen, Verbesserungsbereiche auf. Danach erfolgte der wechselseitige Austausch im SpeedDating-Format, um im Anschluss in der gesamten Gruppe einen Bereich festzulegen, der gezielt angegangen werden sollte. Als besonders wichtig wurde vom Team die Problematik erachtet, dass Patienten sich nicht darauf verlassen konnten, alle für sie wichtigen Informationen zur postoperativen Bewegung zu erhalten. Ziel des Projekts war es daher, sicherzustellen, 1. dass Patienten standardmäßig ein spezifisches Schulungsangebot zur postoperativen Bewegung erhalten und 2. dass dieses Angebot Patienten unterstützt, sich nach der Operation schnellst möglichst selbständig bewegen zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden ein Patientenschulungskonzept und begleitende ©2020 Hogrefe

Materialien entwickelt. Zur Umsetzung entstand eine Projektgruppe, die von der Stationsleitung geleitet wurde und weitere vier Mitglieder des Pflegeteams einschloss. Am Klinikum Neumarkt existieren für Patienten, denen ein künstliches Hüftgelenk (Hüft-TEP) eingesetzt wird, von der Operationstechnik abhängige, unterschiedliche Vorgaben bezüglich erlaubter bzw. unerlaubter postoperativer Bewegungen. Für Patienten, denen ein künstliches Kniegelenk (Knie-TEP) eingesetzt wird, gelten hingegen einheitliche Vorgaben. Da es sich um ein Pilotprojekt handelte, erschien es sinnvoll, den Komplexitätsgrad der einzuführenden Maßnahme so niedrig wie möglich zu halten. Daher wurde das Projekt zunächst auf Patienten mit KnieTEP beschränkt.

Festlegung der Schulungsinhalte Um bei der Entwicklung des Schulungskonzepts die Perspektive aller an der Versorgung Beteiligten einzubeziehen, wurde neben dem Pflegeteam auch das Ärzteteam und das Team der Physiotherapie gebeten, persönliche Erfahrungen und Ideen zu sammeln, die für das Schulungskonzept von Bedeutung sein könnten. Methodisch wurde dies mit Plakaten umgesetzt, die über einen Zeitraum von einem Monat ausgehängt wurden und als „Ideenspeicher“ dienten. Ebenfalls über diesen Zeitraum hinweg führte die PADUA (2020), 15 (1), 31–37


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Schwerpunkt

Tabelle 2. Schulungsinhalte und -zeitpunkte Zeitpunkt

Inhalt

Aufnahmetag

Hinweis: Schulungskonzept und Informationsplakat Information: Stellung des Nachtkästchen auf der Seite des operierten Beines

OP-Tag

Beratung: Verhalten bei und Umgang mit postoperativen Schmerzen Aufklärung: Pelzigkeit des operierten Beines aufgrund der Schmerzpumpe und die daraus folgende Sturzgefahr

1. Post-OP-Tag

Information: Stufenweise Mobilisation im weiteren postoperativen Verlauf Beratung: Zeitpunkt und Gestaltung der Erstmobilisation Wiederholte Aufklärung: Pelzigkeit des operierten Beines aufgrund der Schmerzpumpe und die daraus folgende Sturzgefahr

2. Post-OP-Tag

Schulung: Selbständige Mobilisation an die Bettkante mit angeleitetem Erstversuch Beratung: Sicheres Aufstehen und Steigerung des selbständigen Aufstehens im weiteren Verlauf Wiederholter Hinweis: Informationsplakat

Projektleitung mit 8 Patienten, die eine Knie-TEP erhalten hatten, Leitfadeninterviews. Ziel der Interviews war es, aus Sicht der Betroffenen zu erfahren, welche Informationen als besonders hilfreich für die selbständige Bewegung nach der Operation erlebt wurden bzw. welche Informationen oder pflegerischen Aktivitäten notwendig gewesen wären, um die selbständige postoperative Bewegung bestmöglich zu unterstützen. Sowohl die Ergebnisse der Ideenspeicher als auch die der Patienteninterviews wurden in einer Teambesprechung analysiert, diskutiert und von der Projektgruppe in das Schulungskonzept integriert. In den Patienteninterviews kristallisierte sich heraus, dass keinesfalls alle Informationen präoperativ oder am ersten postoperativen Tag vermittelt werden durften, sondern eine zeitliche Aufteilung der Inhalte auf mehrere Tage als zielführend erachtet wurde. Daher wurden die Schulungsinhalte nicht nur festgelegt, sondern auch mit spezifischen Zeitpunkten hinterlegt (Tabelle 2). Als Erinnerungshilfe, aber auch um die Verbindlichkeit der Umsetzung zu fördern, wurde eine sogenannte Schulungskarte eingeführt, die sich in der Patientenkurve befindet und auf der die einzelnen Schulungsbestandteile abgezeichnet werden (Abbildung 1).

rekapitulieren. Zudem nimmt das Plakat für die Betroffenen eine Erinnerungsfunktion ein.

Schulung des Pflegeteams Um zu gewährleisten, dass alle Pflegepersonen einheitlich und nach dem geplanten Konzept vorgehen, wurde das gesamte Team vor der Erprobungsphase von Mitgliedern der Projektgruppe in Gruppen geschult. In den 30-minütigen Schulungen wurden Zeitpunkte und Inhalte der Patientenschulung im Detail besprochen. Ebenfalls wurden die Schulungskarte und das Informationsplakat vorgestellt

Erstellung des Informationsplakats Neben der Schulungskarte wurde ein Informationsplakat für Patienten erstellt, das Hinweise und Übungen zur selbständigen postoperativen Bewegung für Knie-TEP-Patienten beinhaltet und in jedem Patientenzimmer angebracht wurde. Gemäß den Empfehlungen zur Aufbereitung gesundheitsrelevanter Informationen (Schaeffer et al., 2018), wurde bei der Entwicklung des Plakats insbesondere auf eine laienverständliche Sprache, eine einfache Textstruktur und den Einsatz illustrierender Fotos geachtet (Abbildung 2). Um die Informationsverarbeitung individuell zu unterstützen, wird das Plakat mit jedem Patienten im Rahmen der Patientenschulung eingehend besprochen. Durch den Aushang im Patientenzimmer ist es Patienten und Angehörigen jederzeit möglich, die Inhalte zu PADUA (2020), 15 (1), 31–37

Abbildung 1. Schulungskarte als Zusatz zur Kurve. Fotos: Nadine Schmidkonz. ©2020 Hogrefe


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Abbildung 3. Gemeinsame Vorausbetrachtung.

Erprobungsphase

und deren Handhabung wurde erklärt. Die Schulungen fanden nach dem Frühdienst in einem ruhigen, separaten Raum statt und wurde an drei Terminen angeboten, so dass jeder Mitarbeiter Gelegenheit hatte, teilzunehmen.

Die Erprobungsphase fand von September 2018 bis Januar 2019 statt. Um schnell auf Umsetzungsprobleme reagieren und Korrekturen vornehmen zu können, fanden während dieser Zeit prozessbegleitende Evaluationen statt. Hierfür wurde im Stationszimmer ein Plakat ausgehängt, auf dem alle Teammitglieder laufend Veränderungsbedarf bzw. Hinweise zur Verbesserung eintragen konnten. Die Eintragungen wurden in regelmäßigen Abständen im Team besprochen. Die Ergebnisse der formativen Evaluationen zeigten, dass das Schulungskonzept gut in den Alltag umgesetzt werden konnte und die erstellten Materialen einfach zu handhaben waren. Somit mussten keine wesentlichen Änderungen vorgenommen werden.

Gemeinsame Vorausbetrachtung

Summative Evaluation

Zur kognitiven und emotionalen Vorbereitung auf die Umsetzungsphase erfolgte eine Vorausbetrachtung des Projektverlaufs. Symbolisch unterstützt von einer Kristallkugel (Abbildung 3) wurden die Teammitglieder aufgefordert, sich die Zukunft in einem halben Jahr vorzustellen: Wir schauen mit der Kristallkugel in die Zukunft. Wie sieht unsere Praxis 6 Monate nach Einführung der Patientenschulung aus? Was könnte sich verbessert haben? Was könnte schiefgegangen sein? Die Kristallkugel wurde reihum weitergegeben, so dass sich jedes Teammitglied äußern konnte. Auf diese Weise wurden mögliche Hürden identifiziert und überlegt, wie diesen frühzeitig entgegenwirkt werden könnte. So wurde beispielsweise klar, dass die geplanten Schulungszeitpunkte wahrscheinlich nicht eingehalten werden konnten, woraufhin die zeitliche Struktur angepasst wurde. Durch die Vorausbetrachtung sollten die Teammitglieder auch ermutigt werden, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie die durch das Projekt verbesserte Zukunft konkret aussehen könnte und sich entsprechend für diese Vision zu engagieren.

Die summative Evaluation fand im Januar 2019 statt. Eingeschlossen wurden über einen Zeitraum von sechs Wochen alle Patienten, die eine Knieprothese erhalten hatten. Da die Wahrscheinlichkeit, dass alle Patienten nach der Operation selbständig einen Fragebogen ausfüllen, vom Team als sehr gering eingeschätzt wurde, erhob die Projektleitung die Daten mit Hilfe standardisierter Interviews. Die Teilnahme war freiwillig und anonym und erfolgte frühestens am 3. Tag nach der Operation. Der Fragebogen beinhaltete insgesamt sechs Fragen zum Implementierungsund Interventionserfolg. Als Erfolgskriterium wurde vorab festgelegt, dass 90 % der Antworten im positiven Bereich („voll und ganz“ oder „überwiegend“) der 4-stufigen Likert-Skala liegen mussten (Tabelle 3).

Abbildung 2. Informationsplakat für Patienten.

©2020 Hogrefe

Ergebnisse Im Evaluationszeitraum wurden 24 Patienten stationär zum Einsatz einer Knie-TEP aufgenommen. Ein Patient PADUA (2020), 15 (1), 31–37


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wurde vor dem 3. postoperativen Tag in eine andere Abteilung verlegt, so dass 23 Patienten in die Evaluation eingeschlossen werden konnten. Wie die Ergebnisse zeigen, erhielten alle Patienten das Schulungsangebot, das auch von allen als voll oder überwiegend verständlich bewertet wurde. 91 % der Patienten erhielten Hinweise zum Plakat. 87 % der Patienten empfanden diese Hinweise voll oder überwiegend verständlich. 96 % der Patienten konnten die erhaltenen Informationen zum selbständigen Bewegen nach der Operation vollständig oder überwiegend umsetzen. Alle Patienten empfanden das Schulungsangebot voll und ganz oder überwiegend hilfreich, um nach der Operation selbständiger zu werden.

Diskussion Wie die Ergebnisse zeigen, führte das Projekt insgesamt zum gewünschten Erfolg. Für den Interventionserfolg spricht vor allem, dass 100 % der Patienten die Schulung als hilfreich für die selbständige postoperative Bewegung ansehen. Durch die gute Verständlichkeit und Umsetzbarkeit der Schulungsinhalte kann der Implementierungserfolg im Wesentlichen ebenfalls bestätigt werden. Einzig die individuelle Unterstützung der Informationsverarbeitung durch das Plakat wurde nicht so umgesetzt wie angestrebt. Auch wenn 91 % der Patienten Hinweise zum Informationsplakat erhalten haben und die Verständlichkeit der Hinweise mit 87 % nur knapp unter der Zielvorgabe liegt, schneidet dieses Ergebnis im Vergleich zum Gesamtergebnis deutlich schlechter ab. Beeinflusst worden sein könnte dieses Ergebnis durch die anfangs fehlende Schulung von Aushilfspersonal und

Schwerpunkt

Kollegen aus dem Springerpool. Durch die Arbeitsgruppe wird künftig sichergestellt, dass auch temporär mitarbeitende Pflegepersonen geschult werden. Ein weiterer möglicher Grund für den verminderten Einbezug des Informationsplakats sind Belastungsspitzen, die bei gleichzeitiger stationärer Aufnahme mehrerer Patienten entstehen und das ausführliche Erklären des Informationsplakates in den Hintergrund rücken lassen. Da sich derartige Belastungsspitzen nicht vermeiden lassen und die Umsetzung des Schulungskonzepts vom Pflegeteam gleichzeitig als prioritär gesehen wird, entschied sich das Team, die Arbeitsteilung so zu verändern, dass der Zeitrahmen für die Erklärung des Informationsplakats sicher gegeben ist. Zu den zentralen Stärken des Projekts gehört zum einen das partizipative Vorgehen. Alle Beteiligten wurden vor Projektstart über die Planungen informiert und hatten im gesamten Verlauf immer wieder Gelegenheit, sich einzubringen. Dieses Vorgehen führte zur hochgradigen Akzeptanz der Veränderung. Eine Mischung aus Offenheit und Struktur im Projektmanagement sorgte für Sicherheit bei der Umsetzung und schaffte gleichzeitig den notwendigen Raum für Ideen und Korrekturen im Prozess. Zum anderen zeichnet sich das Projekt durch den konsequenten Einbezug der Patientenperspektive aus. Die Erfahrungen und Bedürfnisse der Patienten trugen maßgeblich zur Problemdefinition und Maßnahmenentwicklung bei, so dass mit der Veränderung ein wesentlicher Beitrag zur Realisierung einer personenzentrierten Versorgung geleistet wird. Diese beiden Aspekte werden das Vorgehen in weiteren Projekten maßgeblich anleiten. Veränderungsbedarf besteht hingegen bei der summativen Evaluation. Es ist bekannt, dass eine persönliche Befragung sozial erwünschtes Antwortverhalten von Befragten begünstigt (Kelle & Niggemann, 2003). Dass eine

Tabelle 3. Summative Evaluationsergebnisse Frage

Antworthäufigkeit (n=23)

Voll und ganz

überwiegend

überwiegend nicht

gar nicht

1a) Wurden Ihnen die Möglichkeiten zum selbständigen Aufstehen bzw. Bewegen nach der Operation erklärt?

23

0

0

0

1b) Waren die Erklärungen verständlich?

17

100 %

0% 6

0

100 % 2a) Haben Sie Hinweise zum Plakat erhalten?

21

0% 0

2

91 % 2b) Waren die Hinweise verständlich?

17

3

16

2

6

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21

1

0 4%

2 100 %

1 13 %

96 % 4) War die Schulung insgesamt hilfreich, um sich nach der Operation selbständig zu bewegen?

0 9%

87 % 3) Konnten Sie die Informationen umsetzen?

0

0

0 0%

©2020 Hogrefe


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solche Tendenz durch die gleichzeitige Funktion der Interviewerin als Stationsleitung verstärkt wird, ist sehr wahrscheinlich. Auch wenn die im Leadership-Programm besprochenen Strategien zur Vermeidung unerwünschter Intervieweffekte (ebd.) von der Projektleitung beachtet wurden, ist die Überschätzung des Interventionserfolgs durch diese Konstellation bei der Datenerhebung nicht ausgeschlossen. Bei der Durchführung weiterer Projekte werden daher externe Evaluatoren herangezogen.

Fazit und Ausblick Neben dem belegten Nutzen für die Betroffenen ist sich das Pflegeteam einig, dass mit der Förderung der Gesundheitskompetenz von Patienten auch der professionelle Auftrag der Pflege in den Vordergrund gerückt wurde. Die Möglichkeit, mitzugestalten, Verantwortung zu übernehmen und Erfolge zu sehen, waren ausschlaggebend für das Erleben von Selbstwirksamkeit. Ohne gemeinsame Werte ist eine nachhaltige Gestaltung von Veränderung kaum möglich. Die vorab entwickelte Wertebasis bildete damit das zentrale Fundament eines solchen Projekts. Das Schulungskonzept gehört seit Projektabschluss zum festen Bestandteil der Pflegepraxis auf der Projektstation und wird gegenwärtig auf Hüft-TEP Patienten ausgeweitet.

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Nadine Schmidkonz Gesundheits- und Krankenpflegerin, Leitung der orthopädischen Station am Klinikum Neumarkt i. d. Opf., derzeit berufsbegleitendes Studium Pflegemanagement an der FOM Nürnberg

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Prof. Dr. Doris Eberhardt TH Deggendorf, Fakultät Angewandte Gesundheitswissenschaften, 2015 – 2018 Leitung des LeadershipProgramms am Klinikum Neumarkt i. d. Opf. doris.eberhardt@th-deg.de

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©2020 Hogrefe

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Betriebliches Gesundheitsmanagement in der Pflegeausbildung Eine Chance für nachhaltige Veränderungen in Pflegeeinrichtungen Stephan Gronwald und Jasmin Weber

Die Arbeitsbedingungen in der Pflege frühzeitig in die richtigen Wege zu leiten, beginnt bereits bei der

Schwerpunkt

Ausbildung des Pflegefachpersonals. Sowohl Lehrende als auch Auszubildende brauchen grundlegende Kenntnisse, wie sie die Arbeit mitgestalten können. Die Erweiterung des Curriculums um die Kompetenzen eines systemischen Prozessberaters für betriebliches Gesundheitsmanagement bringt dabei für beide Seiten Vorteile.

Nachhaltige Implementierung von Betrieblichem Gesundheitsmanagement (BGM) Wer pflegt die Pflegenden? Mit dem Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals hat das Bundesgesundheitsministerium zum 01.01.2019 das Sofortprogramm Pflege verabschiedet. Damit sollen spürbare Verbesserungen im Alltag der Pflegekräfte sowohl durch eine bessere Personalausstattung als auch durch bessere Arbeitsbedingungen in der Kranken- und Altenpflege erreicht werden. Doch wie gelingt es, das Thema des Betrieblichen Gesundheitsmanagements nachhaltig in der Pflege zu implementieren? Grundlage hierfür kann ausschließlich die Befähigung des eigenen Personals sein. Die Pflegenden brauchen die Kompetenz, die Prozesse in den eigenen Abteilungen und Stationen durchführen zu können, ohne dass sie sich dafür Unterstützung von außen holen müssen. Zentrales Ziel soll sein, dass die Pflegenden selbst in den Einrichtungen ein nachhaltiges und tragfähiges System der Veränderung etablieren können. Dies ist durch die Erweiterung der Pflegeausbildung um einen systemischen Prozessberater für betriebliches Gesundheitsmanagement möglich. PADUA (2020), 15 (1), 38–42 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000533

Konzentrierte Aktion Pflege Mit der Verabschiedung der Konzentrierten Aktion Pflege hat man sich darauf geeinigt, Maßnahmen zu ergreifen, welche die Arbeitsbedingungen von beruflich Pflegenden verbessern, diese entlasten und die Ausbildung in der Pflege stärken sollen (BMFSFJ, 2019). Im Rahmen des Schwerpunkts Ausbildung und Qualifizierung sollen Bildungskarrieren eröffnet und das Tätigkeitsfeld der Pflege weiterentwickelt werden. Mit der Erweiterung des Curriculums um den systemischen Prozessberater wird daher den Pflegeschulen die Möglichkeit gegeben, die Auszubildenden weiter zu fördern. Für zukünftige Arbeitgeber wiederum bedeutet dies, dass sie auf fachlich ausgebildetes Personal zugreifen können, um auch in der eigenen Einrichtung für den Erhalt der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz zu sorgen. Damit deckt sich das daraus resultierende Ergebnis auch mit dem dritten Handlungsfeld für Arbeitsschutz, Prävention und Gesundheitsförderung der Konzentrierten Aktion Pflege.

Grundlegende politische und sozialpolitische Zielsetzung Die klaren wissenschaftlichen Erkenntnisse und die weltweite Beobachtung und Wahrnehmung, dass die vorherrschenden Zivilisationserkrankungen nicht ausreichend über die bisherigen (bio-medizinische) Herangehensweise beherrschbar und schon gar nicht finanzierbar sind, haben – wiederum ausgehend von der WHO – dazu beigetragen, dass auch von politischer Seite diese Erkenntnisse in klare Strategien übersetzt wurden. Abzulesen ist dieser Change-Prozess im gesundheitlichen Leitbild vor allem in Gesetzesänderungen, Novellierung oder sogar neuen Gesetzen: • Arbeitsschutzgesetz (2013): Psychische Belastungen mit Beurteilung von Arbeitsinhalt und Arbeitsaufgabe, ©2020 Hogrefe


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• •

• •

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Arbeitsorganisation, Sozialen Beziehungen und der Arbeitsumgebung Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (2006): Antidiskrimierung, Arbeits- und Gesundheitsschutz, Umgang mit chronischen Erkrankungen Gleichstellung chronischer Erkrankungen mit Behinderungen (Pärli & Naguib, 2012) Präventionsgesetz (2015): Bereitstellung von mehr finanziellen Mitteln für die betriebliche Gesundheitsarbeit; Verbesserung der trägerübergreifenden Arbeit Bundesteilhabegesetz (2018): Bezug auf das bio-psychosoziale Modell, Appell zum „frühen Handeln“, um gezielt präventive Maßnahmen einzuleiten und RehaBedarf zu verhindern Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz (2018) (Schäffer et al. 2017) WHO – ICD 11 (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information): Sie tritt am 1. Januar 2022 in Kraft und katalogisiert auch Störungen, die bislang noch nicht als solche anerkannt sind, analog des bio-psycho-sozialen Modells (ICF)

Konkrete Problemstellung in der Pflege Die schlechten Arbeitsbedingungen, das Fehlen von Mitarbeitern und zu wenig Auszubildende – all das sind Schlagzeilen, die in der Presse immer wieder zu finden sind. Es

stellt sich jedoch die Frage, was die Pflegenden wirklich beschäftigt. Nur mit den Antworten auf diese Frage können Einrichtungen als Arbeitgeber wieder attraktiver werden und auf sich aufmerksam machen. Das Ergebnis aus einem systemischen Gesamtprozess sind gezielte Veränderungen, der Aufbau von Gesundheitskompetenz als Unterweisung für alle Mitarbeiter, der gezielte Aufbau von (fehlenden) Kompetenzen bei den Führungskräften sowie differenzierte Angebote für Risikogruppen. Dadurch entsteht ein ganzheitliches System für die Einrichtung, das in den Bereichen der Organisationsentwicklung, dem Arbeits- und Gesundheitsschutz, der Personalentwicklung und der Gesundheitsförderung unterstützend wirkt. Der Trugschluss, den die Medien oftmals suggerieren, hat dazu geführt, dass zusammen mit zwei öffentlichen Trägereinrichtungen der Pflege ein Modellprojekt durchgeführt wurde. Die Umsetzung erfolgte unter Beachtung aller politischer und sozialpolitischer Vorgaben in acht Einrichtungen der ambulanten und stationären Altenpflege. Insgesamt waren 500 Mitarbeiter_innen in die Bio-Psycho-Soziale Arbeitssituationsanalyse (BIPSA) einbezogen. Das Projekt liefert Daten und Erkenntnisse zum Anforderungs- und Bedarfsprofil des Pflegeberufes, was in der Folge zum einen viele Ansätze, die von außen an die Pflege herangetragen werden, in Frage stellt, zum anderen dann aber konkrete Anforderungen an tragfähige und nachhaltige Interventionen definiert. Neben den auf die pflegerische Praxis zu übertragenden Ableitungen lassen sich grundlegende Meilensteine bestimmen, die wesentlichen

Gezielte Veränderungsprozesse

Gesamtbetrieb/ Abt. Aufbau von Gesundheitskompetenz als Unterweisung

Organisationsentwicklung

Arbeits- und Gesundheitsschutz

Alle Mitarbeiter

Selbstwahrnehmung Selbstanalyse

Bio-psycho-soziale Gefährdungsbeurteilung

Führungskräfte

Alle Mitarbeiter

Gezielter Aufbau von (fehlenden) Kompetenzen Führungskräfte

Angebote für Risikogruppen

Gronwald, S. & Melchart, D. (2017) – Institut für BGM und Arbeitssicherheit der TH Deggendorf

Personalentwicklung

Stoffwechsel, Psyche

Gesundheitsförderung

Abbildung 1. Systemischer Gesamtprozess. ©2020 Hogrefe

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Einfluss auf die Nachhaltigkeit von Systemen und auf angepasste Finanzierungs- und Unterstützungsansätze haben werden (Gronwald et al., 2019a). Durchgeführt wurde der Prozess durch einen systemischen Prozessberater, der sich aus den eigenen Reihen der Einrichtung in diesem Thema weitergebildet hat. Es ist möglich, die Weiterbildung der systemischen Prozessberatung für Betriebliches Gesundheitsmanagment an der Technischen Hochschule Deggendorf als eigenständiges Zertifikat zu absolvieren. Inzwischen wurde es zudem in den Curricula verschiedener Studiengänge integriert. So haben z. B. Studierende der Pflege die Möglichkeit, schon während ihres Studiums Projekte durchzuführen.

Inhalte der Curriculums Erweiterung Durch die Ausweitung des Curriculums der Pflegeausbildung um die systemische Prozessberatung im Betrieblichen Gesundheitsmanagement werden die Auszubildenden dazu befähigt, in der eigenen Einrichtung oder auch häuserübergreifend den nachhaltigen Prozess anzustoßen und die Arbeitgeber bei der Umsetzung zu unterstützen.

Basis für diese Tätigkeit ist die zielgerichtete Ausbildung unter Einbezug des wissenschaftlichen, politischen, sozialpolitischen und gesellschaftlichen Leitbildes. Im Detail gilt es folglich, die nachstehenden Kernbereiche in die Ausbildung zu integrieren: • Aufbau von Gesundheitskompetenz: Wissenschaftliche Zusammenhänge moderner Gesundheitstheorien. Rechtliche Verankerung von Gesundheit. • Aufbau von Prozess- und Methodenkompetenz: Projektentwicklung und -steuerung. Personal und Organisationsentwicklung. • Aufbau von Mediations- und Vernetzungskompetenz: Interprofessionelles Schnittstellenmanagement. Einbezug der Kostenträger. Moderation und Konfliktmanagement. Organisation von (betrieblichen) Teilhabekonferenzen. • Erarbeitung einer Prozess-Struktur mit Modellprojekt Inhaltlich baut das Curriculum auf der identifizierten Kausalität und den systemtheoretischen Beziehungen auf (Gronwald & Weber, 2019b). Verbindendes Element der Ausbildung ist die Entwicklung psychosozialer Kompetenzen. Die Partizipation aller Beteiligten (Stakeholder), die Akzeptanz von Sichtweisen, die Integration von Wissen und Kompetenzen, aber auch die Fähigkeit zu

Tabelle 1. Zentrale Erkenntnisse aus Bio-Psycho-Sozialer Arbeitssituationsanalyse Erkenntnisse

Betroffene Mögliche Lern- oder Transferansätze Mitarbeiter

Beachtung von tatsächlichen Arbeitssettings

100 %

Große Verbundenheit zu Tätigkeit und Arbeitgeber

97 %

Bei achtsamer Führung und Einbezug der Mitarbeiter in Entscheidungen ist wenig Fluktuation zu erwarten

Hoher Anteil weiblicher Mitarbeiter

86 %

Veränderungen bzw. Anpassungen unter femininen Aspekten

Hohe allgemeine Arbeitszufriedenheit

80 %

Arbeit als Erfüllung und Bestätigung, finanzielle Unzufriedenheit bei nur 6 % der Mitarbeiter

Innen- und Außenverhältnisse von Teams

70 %

Geringe Abstimmung / Information ausserhalb der Teams

Akzeptanz der Führung

70 %

Veränderungen können über die Führung implementiert werden, Schulung der Führungskräfte Voraussetzung

Hoher Anteil an Teilzeitkräften

61 %

Mehrfachbelastungen erkennen

Sehr negative innere Grundstimmung

60 %

Die Mitarbeiter begleitet permanent ein negatives Mindset, es müssen die Ursachen und Hintergründe herausgearbeitet werden.

Geringe Fehlzeiten bzw. hohe Anwesenheit

40 %

Eigene Gesundheit wird vernachlässigt, hohe Durchschnittswerte, aber gravierende Situationen in einzelnen Settings

Hohe Zahl von Risikofaktoren und Mehrfachrisiken

40 %

Ausdruck der eigenen Vernachlässigung (= 3 und mehr Risikofaktoren)

Verbesserungsfähige Konfliktkompetenz

40 %

Methodik zur thematischen und fachlichen Auseinandersetzung muss aufgebaut werden

Ungenügendes Gesundheitsverhalten

30 %

Mangelnde Gesundheitskompetenz

Mitarbeiter mit erkennbar sehr hohen Belastungen

11 %

Es können Mitarbeiter mit hoher gesundheitlichen Risikokonstellation identifiziert werden – Aufbau von individueller Hilfe und Unterstützung in Verbindung mit Leistungen der Sozialversicherungsträger

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Belastungen und Ressourcen zeigen sich im tatsächlichen Zusammenleben und -arbeiten der Kleingruppen

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Tabelle 2. Inhalte der Curriculums Erweiterung Module

Workload

SPB-01: Wissenschaftliche Grundlagen im BGM

25 UE Präsenz, 25 UE Selbststudium

SPB-03: Analyseinstrumente, Kennzahlen und Interpretationen

25 UE Präsenz, 25 UE Selbststudium

SPB-02: Individuelle Kompetenzen I – Gesundheit und Lebensstil

25 UE Präsenz, 25 UE Selbststudium

SPB-04: Organisations- und Synergieentwicklung

25 UE Präsenz, 25 UE Selbststudium

SPB-05: Sozialversicherungsrechtliche Grundlagen und Möglichkeiten gezielter Interventionen

25 UE Präsenz, 25 UE Selbststudium

SPB-06: Individuelle Kompetenzen II – Beratung und Prozessbegleitung

25 UE Präsenz, 25 UE Selbststudium

SPB-07: Praxistransfer – Pilotprojekt mit Supervisionsworkshops

50 UE Präsenz (fünf Tages Workshops), 100 UE Selbststudium (Projekt)

Gesamt:

15 ECTS (450 UE Workload)

Forderung und Förderung von Interprofessionalität am Beispiel des ArbSchG

Organisationsentwicklung, Personalentwicklung, Qualitätsmanagement Soziale Sicherungssysteme

Arbeitsschutz Arbeitssicherheit

Betriebsrat, Personalrat, Schwerbehindertenvertretung

BGM – Prozessberater als Bindeglied und Mediator

Betriebswirtschaft, Management

Arbeitsmedizin, Arbeitspsychologie, Soziale Dienste

Arbeitsrecht Sozialrecht Datenschutz

Abbildung 2. Mediator.

Moderation und Mediation sind die Erfolgsfaktoren für eine nachhaltige Implementierung und Verstetigung des Prozesses. Zum Abschluss beziehungsweise zur Erreichung des systemischen Prozessberaters ist eine dreiteilige Abschlussprüfung notwendig. Zum einen werden in einer 90-minütigen schriftlichen Prüfung theoretische Inhalte abgefragt, die jedoch immer mit praktischen Anwendungsbeispielen verknüpft werden sollen. Zum anderen kommt ein umfassender Projektbericht als Studienarbeit hinzu. Dieser dient einerseits zur genauen Darstellung des umgesetzten Pilotprojektes, andererseits ist diese Arbeit auch für die betroffenen Unternehmen ein Nachweis, welche Maßnah©2020 Hogrefe

men getroffen und durchgeführt wurden. Als dritter Teil sollen die Projekte im Rahmen eines BGM-Marktplatzes vorgestellt werden. Diese Veranstaltung ist ein Netzwerktreffen vieler Projektpartner sowie bereits ausgebildeter Prozessberater und denjenigen, die an der Ausbildung interessiert sind. In den Pilotprojekten finden die theoretischen Konstrukte direkt Anwendung, sodass die Ausbildung einen sehr attraktiven aktiven Part vorweisen kann. Die Präsentation der Projekte im Rahmen der Abschlussveranstaltung gibt sowohl den Prozessberatern die Möglichkeit, ihre Arbeit zu präsentieren als auch den Unternehmen die Gelegenheit, auf ihre Arbeit aufmerksam zu machen. PADUA (2020), 15 (1), 38–42


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Schwerpunkt

Vorteil für Arbeitnehmer und Arbeitgeber Durch die Qualifikation zum systemischen Prozessberater für betriebliches Gesundheitsmanagement profitieren sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber. Nicht genutzte Angebote und Möglichkeiten des deutschen Sozialsystems können einerseits für die Wirtschaftlichkeit und den Erfolg von Unternehmen ausgeschöpft, andererseits für das umfassende Wohlbefinden von Mitarbeiter_innen an ihrem Arbeitsplatz eingesetzt werden. Des Weiteren können die Auszubildenden die eigenen Kompetenzen weiterentwickeln. Innerhalb des Betriebes muss ihnen die wichtige Funktion als Bindeglied und Mediator zwischen den einzelnen Arbeitsbereichen zugesprochen werden. Sie sind dafür da, die Interprofessionalität zu fordern und fördern. Sofern es gelingt, Prozessberater dauerhaft als Stabsstellen zu implementieren, stellt die Erweiterung auch eine zusätzliche Möglichkeit dar, im Bereich des Betrieblichen Gesundheitsmanagements Fuß zu fassen.

Gronwald, S. & Weber, J. (2019b). Systemtheoretische Kausalität im modernen Arbeits- und Gesundheitsschutz: Konsequenzen für das Prozessmanagement. In Grzemba A. (Hrsg.). Forschungsbericht der Technischen Hochschule Deggendorf 2018 – 2019. (78 – 87). Deggendorf. Grzemba, A. (Hrsg.) (2019). Forschungsbericht der Technischen Hochschule Deggendorf 2018 – 2019. Technische Hochschule Deggendorf. Verfügbar unter https://www.th-deg.de/files/bkm/ index.php?catalog=forschungsbericht-2018-19#page_242 Pärli, K. & Naguib, T. (2012). Schutz vor Benachteiligung aufgrund chronischer Krankheit. Im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Winterthur. Verfügbar unter http://www.anti diskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publi kationen/Expertisen/Expertise_Schutz_vor_Benachteilig_ aufgrund_chronischer_Krankheit.pdf?__blob=publicationFile Schaeffer, D., Vogt, D., Berens, E.-M. & Hurrelmann, K. (2016). Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland. Ergebnisbericht. Universität Bielefeld.

Literatur

Prof. Dr. Stephan Gronwald Dekan der Fakultät Angewandte Gesundheitswissenschaften Technische Hochschule Deggendorf. Sozialwissenschaftler, Dipl. Pädagoge, Systemischer Mediator stephan.gronwald@th-deg.de

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hrsg.) (2019). Konzentrierte Aktion Pflege. Vereinbarungen der Arbeitsgruppen 1 bis 5. Verfügbar unter https:// www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/ 3_Downloads/K/Konzertierte_Aktion_Pflege/0619_KAP_Ver einbarungstexte_AG_1-5.pdf Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information: ICD-11 – 11. Revision der ICD der WHO. Verfügbar unter https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icd/icd-11/ Gronwald, S., Melchart, D. & Weber, J. (2019a). Ableitungen aus biopsycho-sozialer Arbeitsanalyse (BIPSA) in der Altenpflege. Bericht zum BRK-Projekt im Kreisverband Cham / NB. Nicht veröffentlicht. Deggendorf.

Jasmin Weber, B. A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Lehr- und Forschungsgebiet Betriebliches Gesundheitsmanagement und Arbeitssicherheit, Technische Hochschule Deggendorf jasmin.weber@th-deg.de

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Bildung und Psychiatrische Pflege Bildungsdurchlässigkeit – mögliche Auswirkungen auf die psychosoziale Versorgung

Professionelle Psychiatrische Pflege hat in der psychosozialen Versorgung in Deutschland häufig noch nicht den Stellenwert, den sie in anderen europäischen Ländern einnimmt. Eine Ursache hierfür ist sicher, dass in fast allen anderen europäischen Staaten der Pflegeberuf im Hochschulbereich angesiedelt und akademisiert ist. Die mitmenschliche Tätigkeit „pflegen“ und Pflege als Beruf, also professionelle Pflege, werden im Alltag und in der gesellschaftlichen Wahrnehmung in Deutschland häufig synonym verwendet. Professionelle Pflege, auch psychiatrische, kommt jedoch in der Regel nur dann zum Tragen, wenn Pflegesituationen komplex sind. Das bedeutet, dass Psychiatrische Pflege aufgrund des Unterstützungsbedarfs auf unterschiedlichen Ebenen in ihrem Wissen und Handeln eine hohe Komplexität aufweist. Somit bedarf es gleichzeitig unterschiedlicher Tätigkeitsund Qualifikationsprofile der Pflegefachpersonen, die in der pflegerischen Bildung berücksichtigt werden sollten bzw. müssen. In diesem Kontext wird im vorliegenden Beitrag die Notwendigkeit der Akademisierung der (Psychiatrischen) Pflege als ein mögliches Qualifikationsprofil diskutiert und dargestellt, wie an der Frankfurt University of Applied Sciences im Rahmen des Projektes „MainCareer – Offene Hochschule“ ein wichtiger Zwischenschritt im Sinne einer Bildungsdurchlässigkeit qualitätsbasiert auf der Grundlage des Deutschen Qualitätsrahmens (DQR) geschaffen wurde (Kohlesch et. al., 2014; Müskens et. al., 2012). Es wurde ein Zielstudiengang festgelegt und eine Gleichwertigkeit von Inhalten der Fachweiterbildung Psychiatrische Pflege und des Studiengangs Pflege- und Case Management geprüft und anhand der Systematik des DQR bestimmt. Neben der Entwicklung des pauschalen Anrechnungsverfahrens mit entsprechend fundierten Konzepten, wurden zudem konkrete Ideen hinsichtlich der Etablierung eines Masterangebots im Bereich der Psychiatrischen Pflege entwickelt, um den Beitrag der Pflege als zentralen Bestandteil in der psychosozialen Versorgung zu verdeutlichen. Dabei wurden Schnittstellen zu anderen Berufen deutlich und festgehalten, aber auch inwieweit ein Weiterbildungsmaster, der sowohl berufsübergreifend als auch ©2020 Hogrefe

berufsspezifisch angelegt ist, eher dem professionellen Bedarf entspricht. In der Bundesrepublik wurden bisher hinsichtlich dieser notwendigen Entwicklung nur unzureichende Schritte eingeleitet. Hinzu kommt, dass es lediglich vereinzelt Vorstellungen davon gibt, wie eine qualitativ gute professionelle Pflege den psychiatrisch-psychosozialen Bereich beeinflussen und erweitern würde. Um dem Prinzip der psychosozialen Versorgung von „Integration“ und „Wohlbefinden“ Rechnung zu tragen, muss es genauso wie im Unterstützen, Begleiten und Betreuen auch in der Tätigkeit „pflegen“ verschiedene „Qualifikationsniveaus“ geben. Von daher muss der jeweilige Pflegeund Hilfebedarf von Menschen, die an einer (psychischen) Erkrankung leiden und Unterstützung auf den verschiedenen Ebenen und in unterschiedlicher Intensität benötigen, erhoben und diesem entsprechend begegnet werden. Je umfassender sich eine (Pflege-) Situation darstellt, desto mehr fachliches und übergreifendes Wissen wird benötigt. Von der jeweiligen Komplexität der Situation hängt ab, welches Tätigkeitsprofil und welche Qualifikationen für die Tätigkeit „pflegen“ erforderlich sind. In diesem Kontext ist die Akademisierung der Pflege ein notwendiger und wichtiger Schritt, um Psychiatrische Pflege auf Hochschulniveau weiterzuentwickeln, Pflegewissen und Pflegeforschung mehr in der Alltagspraxis zu etablieren sowie gegenüber anderen akademisierten Fachdisziplinen und Berufen mehr gleichberechtigte Anerkennung zu schaffen und die Profession sichtbarer zu machen. Bereits im Jahre 1983 entwickelte der Arbeitskreis Pflege der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e. V. (DGSP) das Bildungskonzept: „Denkanstöße zu bildungspolitischen Konzepten in der Pflege“, in dem die Akademisierung sowie die Bildungsdurchlässigkeit in der Pflege aufgegriffen wurden (DGSP, 1993; Schädle-Deininger, 2015). Auch der Deutsche Bildungsrat für Pflegeberufe hat schon 2006 in „Pflegebildung offensiv“ im Abschnitt „Bausteine des Bildungskonzeptes“ ein Berufsgesetz gefordert, um die Erstausbildung ausschließlich im Hochschulbereich anzusiedeln (Deutscher Bildungsrat für Pflegeberufe, 2006). Es stellt sich die Frage, warum sich in Deutschland so schwergetan wird, den Pflegeberuf den europäischen und internationalen Kriterien und Qualitätsstandards anzugleichen. Zu bezweifeln ist schon lange, ob der Pflegeberuf ohne diese Angleichung und eine entsprechende Strategie des Einsatzes professioneller Pflege in PADUA (2020), 15 (1), 43–49 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000534

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Hilde Schädle-Deininger


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der direkten Ausgestaltung von pflegerischen Konzepten für junge Menschen mit einer entsprechenden Bildung attraktiv sein kann und ist. Akademisierung der Pflege und Bildungsdurchlässigkeit gehören eng zusammen, da derzeit viele professionell Pflegende nicht über die Voraussetzungen eines Studiums verfügen. Außerdem wird eine Überführung des Lehrberufs in einen akademischen Pflegeberuf nur mit Übergängen gelingen. Auch wenn die Strukturen im tertiären Bildungsbereich geschaffen sind, ist bei der heutigen Bildungsentwicklung eine durchdachte, qualitativ fundierte Durchlässigkeit erforderlich, um dem Bedarf professioneller Pflege zu begegnen. Das Projekt „MainCareer – Offene Hochschule“ wurde in diesem Kontext geplant und durchgeführt, um einen Baustein zur Akademisierung beizutragen. Die qualitätsgestützte Überprüfung von übereinstimmenden Inhalten der Weiterbildung Fachpflege in der Psychiatrie mit einem Studiengang war dazu notwendig und Grundlage weiterer Überlegungen. Da zu Beginn des Projektes an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) kein Studiengang angeboten wurde, der auf professionelle Psychiatrische Pflege spezialisiert war, wurde im Sinne der Bildungsdurchlässigkeit ein Übergang zwischen der an der Frankfurt UAS angebotenen spezifisch-fachlichen Weiterbildung zur / zum Fachpfleger_in für Psychiatrische Pflege und dem Bachelorstudiengang „Pflege- und Case Management“ geschaffen. Hierfür wurde ein pauschales Anrechnungsverfahren unter Berücksichtigung qualitäts-

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sichernder Kriterien entwickelt. Dies war ein wichtiger und notwendiger Schritt, um attraktive Zugänge zum Studium anzubieten und somit die Akademisierung in der Pflege zu fördern. Gleichzeitig stellt dieser Übergang einen wesentlichen Zwischenschritt dar, um folgerichtig ein Masterangebot im Bereich der Psychiatrischen Pflege zu etablieren. In diesem Beitrag wird anhand der Bildungsdurchlässigkeit und des entwickelten Anrechnungsverfahrens punktuell die Bedeutung für das psychosoziale Netzwerk aufgezeigt. Das Projekt „MainCareer – Offene Hochschule“ wurde in der zweiten Projektphase vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Bildungsdurchlässigkeit und Akademisierung Im Rahmen des Projektes „MainCareer – Offene Hochschule“ wurde ab Ende 2011 die Idee, Bildungsdurchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung zu ermöglichen, aufgegriffen. Dieser Grundgedanke war bereits um das Jahr 2000 an der damaligen Fachhochschule Frankfurt (FH FFM) mit dem Fachbereich Pflege und der Leiterin der Weiterbildung zur Fachpflege Psychiatrie an den Universitätskliniken Frankfurt am Main diskutiert worden. Im Jahre 2012 wurde die Weiterbildung

Abbildung 1. Zielstudiengang und Vorgehen Gleichwertigkeit der Inhalte.

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zur / zum Fachpfleger_in für Psychiatrische Pflege an der Hochschule etabliert (die FH FFM wurde 2014 in Frankfurt University of Applied Sciences „Frankfurt UAS“ umbenannt). Vor Beginn des Projektes war eine Anrechnung von Anteilen der Weiterbildung auf pflegerische Studiengänge an der Frankfurt UAS zwar möglich, allerdings ausschließlich im Rahmen eines aufwendigen, individuellen Anrechnungsverfahrens. Um dieses Verfahren perspektivisch zu vereinfachen, wurde ein qualitätsgesichertes, transparentes und nachvollziehbares pauschales Anrechnungsverfahren entwickelt. Dadurch wurde auch offensichtlich, dass Überlegungen zu Qualifikationsgraden ebenso mit einbezogen werden müssen wie Diskussionen um einen Grade-Skill-Mix in den einzelnen psychosozialen Arbeitsbereichen, bei gleichzeitigem Zusammenspiel der Versorgungsstrukturen, um sich umfassend am Bedarf, den Bedürfnissen der Betroffenen und am sozialen Umfeld zu orientieren.

Methode Um zu prüfen, welche in der Weiterbildung erworbenen Kompetenzen eine Gleichwertigkeit zu denen im Bachelorstudiengang „Pflege- und Case Management“ (PCM) aufweisen, wurde ein inhaltlicher und niveaubezogener Abgleich mithilfe des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) für Lebenslanges Lernen (TH Wildau) sowie mit dem Module Level Indicator (MLI) (Müskens et al., 2009) durchgeführt. Ziel war es, Module im Studiengang zu identifizieren, die im Rahmen des pauschalen Verfahrens angerechnet werden können. Der Bachelorstudiengang PCM wurde als Zielstudiengang gewählt, da er bereits erworbene Qualifikationen der Weiterbildungsteilnehmer_ innen berücksichtigt (Schädle-Deininger et al., 2016) Abbildung 1 skizziert die Vorgehensweise (Methode). Die Gleichwertigkeitsprüfung erfolgte entsprechend einer den Rahmenbedingungen der Frankfurt UAS angepassten Form (HIS, 2012). Nach Abschluss der Gleichwertigkeitsprüfung wurde für insgesamt 14 Module eine Anrechenbarkeit nachgewiesen. Allerdings konnten letztendlich nur zwölf Module im pauschalen Anrechnungsverfahren berücksichtigt werden, da maximal 90 Credit Points nach Hochschulrecht angerechnet werden können (KMK, 2002; Schädle-Deininger, 2015). Die zeitliche Ersparnis durch Anwendung des pauschalen Anrechnungsverfahrens ermöglicht ein berufsbegleitendes Studium in fünf Semestern. Dadurch kann die eigene berufliche Arbeitssituation besser integriert werden. Außerdem entsteht vor diesem Hintergrund bei Interesse die Freiheit, Module zu besuchen, um Inhalte aufzufrischen, in denen jedoch keine Studienleistung mehr erbracht werden muss. Wie oben bereits erwähnt konnten nur 12 Module mit 90 Credit Points angerechnet werden. Wir haben die folgenden festgelegt: M1 „Bedarfsindikation“, M2 „Case Management Grundlagen“, M4 „Betriebswirt©2020 Hogrefe

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schaftliche Grundlagen“, M5 „Gesundheitspolitik, Recht, Wirtschaftlichkeit“, M6 „Versorgung bei spezifischen Pflegebedarfen“, M7 „Pädagogik und Didaktik im Pflege- und Case Management“, M9 „Sozialpsychologie“, M12 „Beratung und Moderation“, M13 „Reflexion“, M18 „Ethik“, M19 „Gesundheitsförderung“, M20 „Theorie-Praxis-Transfer“. Die pauschale Anrechnung von Modul 20 „Theorie-PraxisTransfer“ gilt nicht für die Gruppe international.

Ergebnis Im beschriebenen Prozess wurde für die Fachweiterbildung Psychiatrische Pflege ein pauschales Anrechnungsverfahren erarbeitet und installiert. Zudem wurde im Verlauf des Projektes für anrechnungsinteressierte Personen ein Beratungskonzept verschriftlicht und Empfehlungen für individuelle Anrechnungsverfahren entwickelt sowie ein Fachtag durchgeführt (Schädle-Deininger et al., 2016). Im Prüfungsamt der Frankfurt UAS sind ausführliche Grundlagen und detailliertes Informationsmaterial hinterlegt. Bereits im ersten Projektabschnitt wurde deutlich, dass das Erreichte im Sinne einer Akademisierung der Pflege mit entsprechenden Qualifikationsniveaus eine gute Übergangslösung sein kann, um weitere Entwicklungen zu planen. Wenn man davon ausgeht, dass ein Bachelor-Studium einer „Ausbildung“ auf Hochschulebene entspricht und Weiterqualifikationen in einem Master-Studiengang anzusiedeln sind, wäre dieser Schritt in der Weiterführung des Bildungsansatzes nur allzu logisch. Der Abschluss des Bachelors befindet sich auf Niveau 6 im DQR und ist verbunden mit Kompetenzen die zur Planung, Bearbeitung und Auswertung von umfassenden fachlichen Aufgaben- und Problemstellungen sowie zur eigenverantwortlichen Steuerung von Prozessen in Teilbereichen eines wissenschaftlichen Faches oder in einem beruflichen Tätigkeitsfeld benötigt werden. Die Anforderungsstruktur ist durch Komplexität und häufige Veränderungen gekennzeichnet.

Bildungsdurchlässigkeit als notwendiger Zwischenschritt zur Akademisierung auf Masterebene In diesem Kontext entstand die Überlegung, im zweiten Projektabschnitt einen Masterstudiengang für Psychiatrische Pflege zu entwickeln und zu implementieren. Dazu wurde in einer Literaturrecherche zur psychiatrisch / psychosozialen Versorgung der neuste Stand ermittelt und die Schnittstellen der unterschiedlichen Berufsgruppen unter (teil-) stationären, ambulanten, komplementären und beratenden Aspekten und Aufgaben eruiert. Sehr schnell wurde deutlich, dass sehr viele Schnittstellen zwischen einzelnen Berufsgruppen bestehen und dass PADUA (2020), 15 (1), 43–49


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es auf der einen Seite darum gehen muss, diese Überschneidungen mit gemeinsamem theoretischem Wissen für ein konstruktives Miteinander zu füllen und andererseits die spezifischen Aufgaben und Ansätze der einzelnen Berufsgruppen hervorzuheben, zu erweitern bzw. auszubauen. So entstand schon sehr früh im Projekt die Idee, einen Teil des Weiterbildungsstudiengangs berufsgruppenübergreifend zu gestalten. Leider wurde der Plan des Weiterbildungsmasters in der zweiten Projektphase von der Hochschule, aufgrund von im Vordergrund stehenden Veränderungen bestehender Studiengangs-Angeboten, nicht aufgenommen und weiterverfolgt, obwohl ein grober Plan des weiterbildenden Studiengangs bereits erarbeitet war. Vor diesem Hintergrund ist keine wissenschaftlich begleitete Bedarfsanalyse zustande gekommen. Eine nicht repräsentative Befragung von leitenden Pflegekräften, Ärzt_innen sowie Geschäftsführer_innen von Trägern im stationären, komplementären und ambulanten psychosozialen Bereich wurde von der Leiterin der Bildungseinrichtung „Weiterbildung zur / zum Fachpfleger_in für Psychiatrische Pflege“ durchgeführt, um den Bedarf eines berufsübergreifenden Weiterbildungsstudienangebots zu erörtern und eine Einschätzung zu erfragen. Das abgegebene Votum war eindeutig positiv für einen bedürfnisorientierten „psychosozialen“ Masterstudiengang, der sowohl berufsspezifische als auch berufsübergreifende Anteile haben müsste. Dabei stand im Vordergrund, dass eine umfassende qualitativ gute Versorgung von psychisch erkrankten Menschen nur mit gut aus- und weitergebildeten Mitarbeiter_innen zum Wohle von Betroffenen zu leisten sei. Betont wurde zudem, dass der Studiengang berufsbegleitend, praxis- und personenorientiert sein sollte sowie Präsenzzeiten so gering wie möglich gehalten, jedoch anhand der Inhalte konzeptionell Anwesenheit berücksichtigt werden muss. Obwohl im Hinblick auf den Weiterbildungsmasterstudiengang entscheidende Schritte im Projektzeitraum nicht erreicht werden konnten, wurde mit diesem Projekt ein innovativer Beitrag zur Verbesserung der Bildungsdurchlässigkeit sowie zur Akademisierung und bildungspolitischen Weiterentwicklung der Pflege geleistet. Außerdem kann an dieser umfassenden Arbeit jederzeit weiterführend angeknüpft und beispielsweise auch im Hinblick auf eine zukunftsorientierte psychosoziale Versorgung fortgeführt werden.

Sozialpsychiatrische Zusatzausbildung (SPZA) der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e. V. (DGSP) Ergänzt und erwähnt werden soll im Zusammenhang psychosozialer Versorgung zudem, dass im Rahmen des Projektes auch die folgende Weiterbildung qualitätsbasiert in den Inhalten, Wissen und Kompetenzen verglichen wurPADUA (2020), 15 (1), 43–49

Lehren und Lernen

de. Professionell Pflegende mit abgeschlossener SPZAWeiterbildung der DGSP können vor diesem Hintergrund an der Frankfurt UAS auch bis zu 90 Credit Points auf den Studiengang Pflege- und Case Management in einem individuellen Anrechnungsverfahren angerechnet bekommen. Auf individueller Basis deshalb, da es sich um ein berufsgruppenübergreifendes Angebot handelt. Im Rahmen des Projekts wurde auf der bereits erwähnten Basis des qualifizierten Äquivalenzvergleiches im Kontext psychiatrischer professioneller Pflege eine „Grundlage zur Anrechnung für ein verkürztes Studium Pflege- und Case Management für pflegerische Berufe mit abgeschlossener Sozialpsychiatrischer Zusatzausbildung“ der DGSP geschaffen und Infomaterial erstellt (AAEK Verfahren Pflege- und Case Management für Absolventinnen und Absolventen der Sozialpsychiatrischen Zusatzausbildung [SPZA] der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie [DGSP]). Die Unterlagen sind ebenfalls im Prüfungsamt der Hochschule. Damit wurde ein weiteres Mosaik der bildungspolitischen Durchlässigkeit geschaffen, was im Kontext der Versorgung psychisch erkrankter Menschen von Relevanz sein kann.

Psychiatrisch-psychosoziale Versorgung und Psychiatrisches Pflegeprofil Nicht in allen Regionen, Bereichen, Strukturen und Einrichtungen des Hilfe- und Betreuungsangebots ist professionelle Psychiatrische Pflege selbstverständlicher Bestandteil. Häufig fehlt ein umfassendes qualifiziertes Angebot. Psychiatrischer Pflege oder die beruflich-pflegerische Tätigkeit wird vielfach auf die sogenannte „Grundpflege“ reduziert. Manchmal sind es auch die psychiatrisch Pflegenden selbst, die sich nicht mehr mit ihrem Grundberuf identifizieren. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass im Kontext psychosozialer Versorgung die professionelle psychiatrisch-pflegerische Stärke und Kompetenzen in der Verknüpfung und Kombination von pflegerischem, medizinischem und psychiatrischem Fachwissen bestehen. Die sozialrechtliche Unterscheidung von Grund- und Behandlungspflege widerspricht der psychiatrisch-pflegerischen Berufsauffassung und dem Versorgungsbedarf von psychisch erkrankten Menschen. Professionelle Pflege ist nicht teilbar, sie geschieht umfassend mit ganzheitlichem Blick auf den / die Betroffene(n) und den sozialen Kontext. In diesem Zusammenhang ist in den Versorgungsstrukturen zwischen dem Tätigkeitsfeld der beruflichen Pflege und den Leistungen zum Pflegen aus Pflegeversicherung und anderen sozialen Leistungen zu trennen. Das bedeutet, dass sich die Eigenständigkeit und berufliche Autonomie qualifizierter Psychiatrischer Pflege in der Versorgungslandschaft niederschlagen und ganz selbstverständlich in Konzepte eingehen müssen, da sonst den Betroffenen und ©2020 Hogrefe


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ihrem Umfeld die fachlichen Leistungen der Psychiatrischen Pflege nicht im erforderlichen Maße zur Verfügung stehen. Allerdings muss sich dann die Pflege auch für alle pflegerischen Belange in einer individuellen Hilfesituation zuständig fühlen und sich nur „begründet“ Unterstützung aus der somatischen Pflege holen. Psychiatrische Pflege muss deshalb in allen Bereichen der Betreuung und Begleitung psychisch erkrankter Menschen mit verantwortlich sein und ihre spezifischen beruflichen Anteile einbringen. In diesem Zusammenhang stoßen professionell Pflegende immer wieder auf die Tatsache, dass das Berufsbild Pflege sehr eng begrenzt wird, wenig fachlich-inhaltlich bekannt bzw. anerkannt ist und vor allem häufig nicht als spezifisches Tätigkeitsfeld in den unterschiedlichen psychosozialen Bereichen wahrgenommen wird. Da bei psychischen Erkrankungen vielfältiger und unterschiedlicher Hilfebedarf von den verschiedenen Berufsgruppen benötigt wird, ist beispielsweise immer wieder zu bedenken, wie und wo Ambulante Psychiatrische Pflege in eine psychosoziale Pflicht- und Gesamtversorgung verantwortlich eingebunden ist.

artal

Differenzierung der Tätigkeit „pflegen“ Um in der psychosozialen Versorgung im multiprofessionellen Zusammenhang umfassende Hilfen anzubieten ist es dringend notwendig, in der Tätigkeit „pflegen“ verschiedene Unterstützung- Begleitungs-, Betreuungs- und Pflegebedarfe zu differenzieren. Von daher muss der jeweilige Pflege- und Hilfebedarf von Menschen, die an einer (psychischen) Erkrankung leiden und Hilfe auf den verschiedenen Ebenen und in unterschiedlicher Qualität

Master of Nursing le e äda o i , a a eme t, li ealt , e i i e ali i atio e iatrie, alliati

Assistenz- und Alltagsbegleiter Alltagsbegleiter_innen eer , r er el er i , a dere e leiter i e , die „Normalität“ ermittel

artal

In der Diskussion um Tätigkeit, Qualifikation und Bildungsniveaus hinsichtlich der Psychiatrischen Pflege spielen Psychiatrie-Erfahrene, Angehörige, Bürgerhelfer_innen sowie die Nachbarschaft eine zentrale Rolle und sind wichtige „Gradmesser“ in der Auseinandersetzung dessen, was an pflegerischen Hilfsangeboten gebraucht wird.

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Abbildung 2. Zusammenspiel und partnerschaftliche Zusammenarbeit unterschiedlicher Qualifikationen sowie Qualifikationsbedarfe des “Pflegens“ und der „professionellen Pflege“.

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Tabelle 1. Einige Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung von Qualifikationsgraden (auch hinsichtlich der Bildungsdurchlässigkeit) Qualifikationsgrad

Anforderung und Einsatz

Möglichkeiten der Entwicklung

Service- und Betreuungskräfte (unterschiedliche Angebote

Nach Bedarf Angebote für verschiedene begrenzte Alltagsbereiche (z.B. Reinigungsund Einkaufsdienst)

Keine besondere formale Qualifikation für diese Hilfestellungen, einfach Menschen, die zugewandt sind und Kontakt aufnehmen können

Assistenz und Alltagsbegleiter

Peers, Angehörige, Bürgerhelfer, andere Begleiter_innen, die „Normalität“ vermitteln und menschlich begleitend tätig sind

Peer- oder EX-IN-Ausbildung oder andere Grundlage der Auseinandersetzung mit Krankheit und Psychosozialer Versorgung Fortbildungsangebot mit Zertifikat (ähnlich wie bei den Hospizhelfern)

Durchlässigkeit mit Abschluss bei entsprechenden Voraussetzungen (evtl. Schwerpunktsetzung bzw. Teilung, z.B. Sozialassistenten, Gruppen- oder Einzelangebote) Pflegeassistenten

Erweiterte Kranken- oder Altenpflegehilfeausbildung Theorie-Praxis-Verknüpfung

Möglichkeit der Weiterqualifikation durch Schwerpunktsetzung in den unterschiedlichen Disziplinen

Durchlässigkeit mit Abschluss bei entsprechenden Voraussetzungen mit Schwerpunktsetzungen und / oder Spezialisierungen Bacherlor of Nursing

Grundausbildung professioneller Pflege (generalistisch) auf wissenschaftlicher Basis, Theorie-Praxis-Verknüpfung

Um eine erweiterte Pflegekompetenz in einer Disziplin zu erlangen ist ein Masterstudium oder gestufte qualitätsgesicherte Bildungsnachweise erforderlich

Master of Nursing

Weiterbildungsstudium in unterschiedlichen Bereichen und Schwerpunkten sowohl berufsgruppenübergreifend als auch berufsgruppenspezifisch

Pflegepädagogik, Management, Public Health, fachspezifische z.B. Psychiatrie, Onkologie usw. Pflegeexperten in der Praxis, erweiterte Pflegekompetenz ANP (Advanced Nursing Practice)

Promotion – (Pflegewissenschaft und Forschung)

Wissenserweiterung, spezifische und übergreifende Forschung, systematische und statistische Grundlagen, Förderung der Praxis usw.

Pflegewissenschaftler, die neue Erkenntnisse in der Praxis implementieren, ein vertiefendes Verständnis für den sozialen Kontext und Interaktionen zur vermitteln, die Qualität sichern usw.

sowie Intensität benötigen, erhoben und diesem entsprechend mit verschiedenartigen Kompetenzen umfassend begegnet werden. Je umfassender sich eine Situation darstellt, desto mehr fachliches übergreifendes Wissen wird benötigt. In der alltäglichen Begleitung eines unsicheren Menschen können beispielsweise bezahlte Nachbarschaftshilfe oder ein Genesungsbegleiter die besten Helfer sein. Wenn der Betroffene jedoch sehr starke körperliche Symptome entwickelt, die auch Ängste auslösen können, wäre je nach Situation und gesundheitlichem Zustand, möglicherweise eine pflegerische, je nach Bedarf und Ausprägung akademisierte Fachkraft sinnvoller. Von der jeweiligen Komplexität der Situation hängt ab, welches Profil und welche Qualifikation für die Tätigkeit „pflegen“ erforderlich ist. In diesem Zusammenhang wäre auch eine mögliche Bildungsdurchlässigkeit zur Weiterentwicklung zu diskutieren, beispielweise welche Kriterien im Zusammenhang mit der Forderung nach Lebenslangem Lernen bildungspolitisch möglich und erstrebenswert sind und welche aus unterschiedlich inhaltlich begründeten Tatsachen nicht. Das Schaubild in Abbildung 2 und die Tabelle 1 sind ein Versuch, dies in Ansätzen zu verdeutlichen und die Diskussion anzuregen. Die Graphik zeigt deutlich, dass nur ein Zusammenspiel unterschiedlicher Qualifikationen und Kompetenzen zu einem umfassenden und partnerschaftlich arbeitenden Hilfesystem, auch im Hinblick auf die mitmenschliche Tätigkeit „pflegen“ führt und dass professionelle Pflege in PADUA (2020), 15 (1), 43–49

ihren Abstufungen erst ab einer gewissen Komplexität greift. In diesem Kontext gilt es pflegetheoretische Grundlagen, Konzepte und aktuelle Fragen von Hilfebedarfen, Schnittstellen und Forschungsergebnisse in die psychosoziale Versorgung verstärkt zu implementieren und in multidisziplinäre Zusammenhänge vermehrt einzubringen sowie durch wissenschaftliche Projekte zu vertiefen. Nur ein partnerschaftliches Miteinander der unterschiedlichen Akteure in der psychosozialen Versorgung kann die verschiedenen Bedürfnisse eines Menschen, der sich in einer Krise befindet oder über einen längeren Zeitraum Begleitung, Betreuung und Hilfe benötigt, hinsichtlich seiner Gesundung und seines Wohlbefindens unterstützen. Wie die Zusammensetzung im Einzelnen sein muss, ist mit den Vertretern unterschiedlicher Kompetenzen, einschließlich der Experten aus Erfahrung (Betroffenen) und Experten aus Miterleben (Angehörige und Bezugspersonen), gemeinsam zu erarbeiten und immer wieder neu zu reflektieren und zu überprüfen.

Weiterentwicklung und Ausblick Die Ergebnisse des Projektes sowie die grundsätzlichen Überlegungen zur Pflegebildung und der konkrete Beitrag der Psychiatrischen Pflege zur psychosozialen Versorgung, ©2020 Hogrefe


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die in diesem Artikel dargestellt wurden, können nur ein Anfang sein, um vernetztes Denken und differenzierte Hilfsangebote anzuregen. Die Schnittmengen, die sich auf (wissenschaftsbasierte) Kenntnisse und das situative Handeln in den Berufsgruppen beziehen, die in der Regel im Alltag der psychosozialen Versorgung arbeiten (Mitarbeiter_innen der Sozialarbeit, der Sozialpädagogik, Ergo- und Physiotherapie sowie der professionellen Pflege usw.), sind beträchtlich. Im Alltag müssen sowohl übergreifende Kompetenzen als auch spezifisches Fachwissen der einzelnen Berufsfelder mit eingehen und konstruktiv zum Wohle aller Beteiligten eingesetzt sowie in einzelnen alltäglichen Situationen differenziert und individuell gehandelt werden. Deshalb wäre ein berufsübergreifender Weiterbildungsmaster für den Bereich der psychosozialen Versorgung, der beide Aspekte beinhaltet (zwei Semester berufsspezifisch und zwei Semester berufsübergreifend, jedoch verzahnt, um voneinander zu lernen), nach wie vor ein guter Ansatz und mit wenig Mitteln zu verwirklichen. Gemeinsame Projekte, wissenschaftliches Arbeiten und Reflexion sollten fester Bestandteil eines Masterstudiengangs sein und damit wird der zeitliche Aufwand hinsichtlich der Anwesenheitspflicht auf ein geeignetes Maß reduziert (Schädle-Deininger & Behrens, 2018). Gleichzeitig werden im Sinne der Anwendung von forschungsbasiertem Wissen die Kompetenzen in der Praxis erhöht. Vervollständigt wird die praktische aber auch die wissenschaftliche Arbeit jedoch nur, wenn in den Konzepten und Forschungen Betroffene und Angehörige beteiligt sind und dies als Qualitätskriterium gewertet wird. Viele Veröffentlichungen befassen sich mit dem Berufsbild der Psychiatrischen Pflege, dem Tätigkeitsspektrum, dem eigenständigen berufsspezifischen Handeln und pflegerischen Inhalten auf pflegewissenschaftlicher Grundlage. Die strukturelle und inhaltliche Entwicklung der Pflegeforschung ist eng mit der Akademisierung der Pflege verknüpft und schlägt sich in der Praxis nieder. Es ist jedoch ebenso wichtig, dass gut ausgebildete Pflegeexpert_innen das erworbene Wissen in der Praxis implementieren und entsprechend zum Wohle der von einer psychischen Erkrankung betroffenen Menschen, fach- und sachgerecht umsetzen können. Mit einer auf diesen Grundlagen basierenden Entwicklung könnte die Psychiatrische Pflege sichtbarer werden und ihren spezifischen Beitrag zur psychiatrisch-psychosozialen Versorgung im Alltag ganz selbstverständlich zum Nutzen aller Beteiligten leisten, denn wenn dies nicht angestrebt und verwirklicht wird, wird Betroffenen und Angehörigen das spezifische Handlungsspektrum der Psychiatrischen Pflege vorenthalten.

Zusammenfassung Wie in diesem Artikel aufgezeigt und beschrieben, kann eine veränderte, international angepasste sowie konse©2020 Hogrefe

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quent verfolgte Pflegebildung die psychiatrisch-psychosoziale Versorgung nachhaltig befördern und dazu beitragen, dass psychisch erkrankte Menschen von professioneller Psychiatrischer Pflege und den dazugehörenden unterschiedlichen Hilfsangeboten profitieren.

Literatur Deutscher Bildungsrat für Pflegeberufe (Hrsg.) (2006). Pflegebildung offensiv. München: Elsevier Urban & Fischer. Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e. V. (DGSP) Arbeitskreis Pflege (1993). Denkanstöße zu bildungspolitischen Konzepten in der Pflege (Broschüre 3, aktualisiert 2019). Verfügbar unter https://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/pdfs/ Stellungnahmen/DGSP_Arbeitskreis_Pflege_Denkanstoesse_ zur_Pflegebildung_2019__August_2019_.pdf HIS Hochschul-Informations-System GmbH (2012). ANKOM Arbeitsmaterialien Nr. 2. Verfahren und Methoden der pauschalen Anrechnung. 2. Auflage. Verfügbar unter: http://ankom. dzhw.eu/know_how/anrechnung/material KMK (2002). Anrechnung von außerhalb des Hochschulwesens erworbenen Kenntnissen und Fähigkeiten auf ein Hochschulstudium Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 28.06.2002. Verfügbar unter http://www.akkreditierungsrat.de/fileadmin/ Seiteninhalte/KMK/Vorgaben/KMK_Anrechnung_ausserhoch schulisch_I.pdf Kohlesch, A., Ambach, H., Feigl, M., Mützel, A. & Steeb, I. (2014). Empfehlung zur Formulierung von Lernergebnissen in modularisierten Weiterbildungen. Verfügbar unter https://www.frankfurt-univer sity.de/fileadmin/de/FRA-UAS/MainCareer/Publikationen/QA_ Weiterbildung/Empfehlung_zur_Formulierung_von_Lernergeb nissen_in_Weiterbildungen_0614.pdf Müskens, W. & Gierke, W.B. (2009). Gleichwertigkeit von beruflicher und hochschulischer Bildung. Report – Zeitschrift für Weiterbildungsforschung, 32 (3), 46 – 54. Müskens, W. & Eilers-Schoof, A. (2012). Teilergebnisse des Querschnittsbereiches Kompetenzerfassung und -anrechnung. Verfügbar unter https://www.uni-oldenburg.de/fileadmin/user_ upload/anrechnungsprojekte/Teilergebnisse_Anrechnung.pdf Schädle-Deininger, H. (2015). Entwicklungen in der Pflegebildung – Einige unfrisierte Gedanken zur Pflegebildung in Deutschland. PADUA, 10 (3), 192 – 196. Schädle-Deininger, H., Luft, L., Kohlesch, A. & Schmidt, M. (2016). Auf dem Weg hin zur Akademisierung in der Pflege – Verknüpfung pflegerischer Weiterbildung mit dem Studium. Verfügbar unter http://www.dgsp-ev.de/fileadmin/dgsp/pdfs/Wissenschaftliche_ Artikel/Akamisierung_in_der_Pflege-AEnderungen.pdfS Schädle-Deininger, H. & Behrens, J. (2018). Pflegerische Bildung, Akademisierung und Qualifizierung – Möglichkeiten der Verknüpfung von beruflicher und hochschulischer Bildung am Beispiel der Psychiatrischen Pflege. Pädagogik der Gesundheitsberufe, 5 (3), 172 – 181. TH Wildau (o. J.). Leitfaden zur Äquivalenzprüfung Modulverantwortliche TH Wildau. Verfügbar unter http://www.thwildau.de/ fileadmin/dokumente/esf/dokumente/Leitfaden_fuer_Modul verantwortlichen_zur_AEquivalenzueber-pruefung.pdf

Hilde Schädle-Deininger Dipl.-Pflegewirtin (FH), Lehrerin für Pflegeberufe, Fachkrankenschwester in der Psychiatrie, freie Dozentin schaedle-deininger@t-online.de

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Hinfallen, Aufstehen, Weitergehen! Margaret McAllister / John B. Lowe

Resilienz und Resilienzförderung bei Pflegenden und Patienten Widerstandsfähiger werden trotz widriger Umstände Deutsche Ausgabe herausgegeben von Jürgen Georg / Robert Weller. 2., überarb. u. erg. Aufl. 2019. 288 S., 8 Abb., 9 Tab., Kt € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85949-1 Auch als eBook erhältlich Das Praxishandbuch für Pflegepraktiker und -leitungen macht Pflegende in der rauer werdenden Berufspraxis widerstandfähiger und hilft, eine positive, entwicklungsorientierte Pflegekultur zu schaffen. Das Praxishandbuch zur Resilienzförderung stärkt die Kompetenz durch gezieltes Beobachten positiver Rollenmodelle, begünstigt effektive Kommunikation, präsentiert wichtige Erholungsstrategien und beschreibt in aktualisierter Form alle Pflegediagnosen zur Resilienz.

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In der zweiten Auflage wurden resilienzbezogenen Problemen, Risiken und Entwicklungschancen von Patienten ausführlicher beschrieben und in ein pflegerisches Resilienzmodell eingebettet. Eine aktualiserte Fassung der NANDA-I-Pflegediagnosen zur Resilienz wurde sowie eine Skala zur Einschätzung der persönlichen Resilienz wurden ergänzt. Der Begriff der "Antifragilität" wurde vertieft und die Literaturlisten zum betrieblichen Gesundheitsmanagement und zur Resilienz wurden erweitert und ergänzt.


Die Aufnahme der generalistischen Pflegeausbildung in die Schulgesetze der Länder – Ein Werk ahnungsloser Kultusbürokraten oder Ausdruck gesellschaftlicher Anerkennung? Frank Arens

Die Niedersächsische Landesregierung beabsichtigt die Aufnahme der neuen Pflegeausbildung in das Niedersächsische Schulgesetz, wie dies bereits für die Altenpflegeausbildung seit Jahrzehnten erfolgreich praktiziert wird. Damit bietet sich die große Chance einer schulrechtlichen und schulfachlichen Gleichstellung innerhalb der beruflichen Bildung und hierüber gesellschaftliche Anerkennung. Die Auswirkungen sind für eine zukunftsorientierte Berufsbildung produktiv aufzugreifen.

Die Schwierigkeit einer zukunftsorientierten Pflegeausbildung Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe hat im März 2019 zu seiner 9. Fachtagung für pflegeberufliche Bildung in der Reihe Pflegepädagogik im Diskurs nach Düsseldorf eingeladen. Die Fachtagung stand unter dem Motto: Das Pflegeberufegesetz – Chancen für die Pflegebildung. Eröffnet wurde die Fachtagung von Frank Weidner mit dem spannenden Vortrag: Wie ist es zum Pflegeberufegesetz gekommen? Warum es so schwierig ist, die Berufsausbildung zukunftsorientiert zu gestalten. Hieran anschließend wurde durch die Erklärung eines Tagungsteilnehmers einer Pflegeschule aus Niedersachsen das ganze Dilemma der von Weidner vorgetragenen Schwierigkeit einer zukunftsorientierten Berufsausbildung deutlich. Der Teilnehmer problematisierte, dass die Niedersächsische Landesregierung die generalistische Pflegeausbildung in das Schulgesetz aufnehmen wolle. Dies brächte jedoch erhebliche Probleme mit sich, insbesondere die Aufnahme eines berufs©2020 Hogrefe

übergreifenden Unterrichts in Form von Deutsch, Englisch, Politik und Religion. Der Tagungsteilnehmer ereiferte sich in seiner mehrminütigen Erklärung, dass berufsübergreifender Unterricht im Umfang von 280 Stunden in einer generalistischen Pflegeausbildung unverhältnismäßig sei, hierdurch die praktische Ausbildungszeit gekürzt würde, die Aufnahme der Pflegeberufe in das Schulgesetz von Unkenntnis im Niedersächsischen Kultusministerium über die Besonderheiten der generalistischen Pflegeausbildung zeuge und dieser Unterricht von Dozenten mit Masterabschluss beispielsweise in Germanistik erteilt werden müsse. Es folgte Gelächter im sehr gut besetzten Hörsaal des Universitätsklinikums Düsseldorf. Was nun den Spaß an der Rede ausmachte, wurde nicht deutlich. Was allerdings diese Erklärung und die Reaktionen über das berufs- und wirtschaftspädagogische Selbstverständnis in Teilen der Zuhörerschaft auf einer Fachtagung für pflegeberufliche Bildung zum Ausdruck bringt und warum dies als geradezu exemplarisch für die Schwierigkeit einer zukunftsfähigen Berufsbildung verstanden werden kann, soll nun problematisiert werden.

Zumutungen eines Berufsübergreifenden Unterrichts Die Erklärung und das Gelächter können als deutliche Ablehnung der Aufnahme der Pflegeausbildung in das Schulgesetz gedeutet werden. Sie können sogar als Ausdruck von Zumutung, möglicherweise sogar von impertinenter Zumutung, verstanden werden. Dieser Deutung folgend, können die Lernenden insbesondere den berufsübergreifenden Unterricht als Zumutung verstehen, da diese sich neben der pflegeberuflichen KompetenzentPADUA (2020), 15 (1), 51–55 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000535

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wicklung in der Ausbildung nun auch noch mit Deutsch, Englisch, Politik und Religion befassen müssen. Dabei haben sie dies doch schon mindestens zehn Jahre in den allgemeinbildenden Schulen getan und sollten sich nun lieber auf die Entwicklung pflegeberuflicher Handlungskompetenz konzentrieren. Die Zumutung für die Dozenten könnte darin bestehen, neben einem Masterstudium der Pflegepädagogik nun auch noch einen Masterabschluss in einem allgemeinbildenden Unterrichtsfach erwerben zu müssen, wobei das gefordert Masterstudium in Pflegepädagogik bzw. Berufspädagogik der Gesundheitsberufe schon kaum zu realisieren ist. Für die Leiter der Pflegeschulen könnte die Zumutung darin bestehen, das ohnehin schon komplizierte Gefüge von festangestellten und zahlreichen Dozenten auf Honorarbasis noch um Dozenten für den berufsübergreifenden Unterricht in der Ausbildungsplanung bereichern zu müssen. Die Träger der praktischen Ausbildung könnten die Integration der Pflegeausbildung ins Schulgesetz als Zumutung erleben, da die Lernenden nun zusätzlich neben den zahlreichen Pflichteinsätzen auch noch wegen des berufsübergreifenden Unterrichts weniger einsetzbar sind und deren Arbeitskraft damit immer weniger verwertbar ist. Die Träger der Schulen könnten eine generalistische Pflegeausbildung im Schulgesetz ebenfalls als Zumutung erachten. Dies würde nämlich bedeuten, dass die öffentlichen berufsbildenden Schulen die Pflegeausbildung ebenfalls durchführen können, neben den Pflegeschulen als vermeintlich natürlichen Partnern der Krankenhäuser in der Pflegeausbildung seit Anton Mais Krankenpflegeschule in Mannheim im Jahre 1782. Zudem wären die Pflegeschulen dann Teil der Schulgesetze und müssten sich nun mit schulfachlichen und schulrechtlichen Anforderungen auseinandersetzen – und dies alles nach jahrzehntelanger Regelungsabstinenz des Staates. Möglicherweise sind die thesenartig zugespitzten Ausführungen aber auch Ausdruck eines noch entwicklungsbedürftigen berufs- und wirtschaftspädagogischen Selbstverständnisses in Teilen der Zuhörerschaft einer Fachtagung für pflegeberufliche Bildung. Auf jeden Fall stehen sie exemplarisch für die Schwierigkeit, eine zukunftsfähige Berufsausbildung der Pflegeberufe zu gestalten.

Berufsübergreifender Unterricht als Teil eines umfassenden Bildungsauftrags Der berufsübergreifende Unterricht in der Berufsausbildung ist eine Errungenschaft, die insbesondere mit der Entwicklung der Berufsbildenden Schulen verbunden ist. Insbesondere sollte – historisch betrachtet – mit ihm die Förderung der so genannten unterprivilegierten Jugend und das Recht auf Schul- und Berufsbildung auch für Frauen realisiert werden (Pahl, 2014). Der berufsübergreifenPADUA (2020), 15 (1), 51–55

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de Unterricht soll die Trennung von allgemeiner und damit höherer Bildung sowie der vermeintlich niederen beruflichen Bildung überwinden helfen. Nach umfangreichen gesellschaftlichen Diskussionsprozessen, die auch unterstützt wurden durch fachliche Diskurse zur Berufsbildungstheorie der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, formulieren die Schulgesetze der Bundesländer heute einen umfassenden Bildungsauftrag an die allgemeinbildenden und die berufsbildenden Schulen. So heißt es beispielsweise in § 2 des Niedersächsischen Schulgesetzes (2018) zum Bildungsauftrag der Schule: „Die Schule soll im Anschluss an die vorschulische Erziehung die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln. Erziehung und Unterricht müssen dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und der Niedersächsischen Verfassung entsprechen; die Schule hat die Wertvorstellungen zu vermitteln, die diesen Verfassungen zugrunde liegen. Die Schülerinnen und Schüler sollen fähig werden, • die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen, die sich daraus ergebende staatsbürgerliche Verantwortung zu verstehen und zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beizutragen, • nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten, • ihre Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz sowie der Gleichberechtigung der Geschlechter zu gestalten, • den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere die Idee einer gemeinsamen Zukunft der europäischen Völker, zu erfassen und zu unterstützen und mit Menschen anderer Nationen und Kulturkreise zusammenzuleben, • ökonomische und ökologische Zusammenhänge zu erfassen, • für die Erhaltung der Umwelt Verantwortung zu tragen und gesundheitsbewusst zu leben, • Konflikte vernunftgemäß zu lösen, aber auch Konflikte zu ertragen, • sich umfassend zu informieren und die Informationen kritisch zu nutzen, • ihre Wahrnehmungs- und Empfindungsmöglichkeiten sowie ihre Ausdrucksmöglichkeiten unter Einschluss der bedeutsamen jeweiligen regionalen Ausformung des Niederdeutschen oder des Friesischen zu entfalten, • sich im Berufsleben zu behaupten und das soziale Leben verantwortlich mitzugestalten. Die Schule hat den Schülerinnen und Schülern die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln. Dabei sind die Bereitschaft und Fähigkeit zu fördern, für sich allein wie auch gemeinsam mit anderen zu lernen und Leistungen zu erzielen. Die Schülerinnen und Schüler sollen zunehmend selbständiger werden und lernen, ihre Fähigkeiten auch nach Beendigung der Schulzeit weiterzuentwickeln. Die Schule soll Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern den Erfahrungsraum und die Gestaltungsfreiheit bieten, die zur Erfüllung des Bildungsauftrags erforderlich sind.“ ©2020 Hogrefe


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Einige der Fähigkeiten des Bildungsauftrags sind bereits heute und auch künftig in der pflegeberuflichen Ausbildung Gegenstand, so beispielsweise nach ethischen Grundsätzen handeln oder Konflikte lösen. Der Bildungsanspruch die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen, die sich daraus ergebende staatsbürgerliche Verantwortung zu verstehen und zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beizutragen dürfte in Teilen des Berufsfelds Pflege bislang nur unzureichend erreicht sein, wie dies vielfach in der Literatur belegt ist und auf der Fachtagung auch verdeutlicht wurde. Zu einem umfassenden Bildungsauftrag in der Berufsausbildung gehört also zusammenfassend die Vermittlung beruflicher Handlungskompetenz und die Erweiterung allgemeiner Bildung (KMK, 2018, S. 9). Mit diesem umfassenden Bildungsanspruch in einer generalistischen Pflegeausbildung sind weitreichende Chancen verbunden, die unseres Erachtens ernsthaft zu diskutieren sind und nicht im Gelächter einer Fachtagung für pflegeberufliche Bildung untergehen sollten.

Berufsübergreifender Unterricht als Chance für die Pflegebildung Die Aufnahme einer generalistischen Pflegeausbildung in das Niedersächsische Schulgesetz bedeutet, dass in dieser Ausbildung ebenso regelhaft berufsbezogener und berufsübergreifender Unterricht erteilt wird, wie dies für die Ausbildung in der Berufsschule (z. B. Tischler, Einzelhandelskauffrauen, Medizinische Fachangestellte, Friseure), in den Berufsfachschulen (z. B. Altenpflege, Pflegeassistenz) sowie den Fachschulen (z. B. Agrarwirtschaft, Sozialpädagogik oder Heilerziehungspflege) jeden Tag in Niedersachsen erfolgreich praktiziert wird. Der berufsbezogene Unterricht zielt auf die Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz und der berufsübergreifende Unterricht erweitert und vertieft insbesondere die allgemeine Bildung (KMK, 2018, S. 9). Dabei ist der berufsübergreifende Unterricht mit seinen allgemeinbildenden Fächern berufsbezogen zu planen und durchzuführen (Leitlinie SchuCu-BBS: MK, 2019; MK, 2020, S. 4). Eventuelle Befürchtungen, wonach in einer generalistischen Pflegeausbildung vollkommen losgelöst von der Entwicklung pflegeberuflicher Handlungskompetenz beispielsweise im Deutschunterricht Grammatikanalysen, Gedichtinterpretationen oder die Werke von Brentano, Hesse, Goethe und Schiller behandelt werden, sind unbegründet. Die Lehrerinnen und Lehrer an berufsbildenden Schulen verfügen im Regelfall über das Studium einer beruflichen Fachrichtung und eines allgemeinbildenden Unterrichtsfachs, welches es ihnen ermöglicht, den berufsübergreifenden Unterricht je nach Berufsfeld berufsbezogen erteilen zu können. Damit werden die berufsübergreifenden Fächer in den Dienst der beruflichen Bildung gestellt, ohne jedoch ihre Eigenständigkeit zu ©2020 Hogrefe

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verlieren oder diese wohlmöglich aufzugeben! Dafür stehen den Lehrerinnen und Lehrern Rahmenrichtlinien der allgemeinbildenden Unterrichtsfächer für die schulinterne Curriculumentwicklung und die vielfältigen Lehrbücher der Schulbuchverlage zur Verfügung. Zudem bietet gerade die deutsche Literatur eine Fülle an Möglichkeiten auch für die Auseinandersetzung mit Lerngegenständen in der Pflegausbildung, wie dies beispielsweise Matthias Reinecke (2008) zur Vorbereitung auf das Arbeitsfeld Psychiatrie am Beispiel von Döblins Erzählung Die Ermordung einer Butterblume verdeutlicht. Der umfassende Bildungsauftrag als Vermittlung beruflicher Handlungskompetenz und Erweiterung allgemeiner Bildung wird somit durch den berufsübergreifenden und den berufsbezogenen Unterricht eingelöst und bietet damit einer generalistischen Pflegeausbildung erhebliche Chancen, denn: eine solchermaßen konzipierte Berufsbildung versteht sich als umfassende Persönlichkeitsentwicklung, nicht als Zurichtung auf einen Beruf oder gar Ausbeutung in einer Ausbildung, wie dies für die Pflegeausbildung seit Jahrzehnten umfassend in der Literatur und auch auf der genannten Fachtagung problematisiert wird. Da im Pflegeberufegesetz als Mindestanforderung zur Zulassung der beruflichen Pflegeausbildung eine zehnjährige Schulbildung vorgesehen ist, wird mit dem berufsübergreifenden Unterricht diesen Lernenden in Niedersachsen ein höherwertiger Schulabschluss am Ende der Berufsausbildung eröffnet. Sie erhalten damit die Chance, einen erweiterten Sekundarabschluss I – Realschulabschluss – zu erwerben, um dann eine Fachoberschule mit Schwerpunkt Gesundheit-Pflege besuchen zu können. Dort können sie die allgemeine Fachhochschulreife erlangen und im Anschluss ein Studium aufnehmen. Diese Chance setzt allerdings einen entsprechend umfangreichen berufsübergreifenden Unterricht voraus und ist keine beliebige Manövriermasse oder gar ein unzumutbarer Störfaktor pflegeberuflicher Bildung. Darüber hinaus können die beruflichen Schulen nach Niedersächsischem Schulgesetz einen Ergänzungsunterricht in allgemeinbildenden Fächern bereits während der Berufsausbildung erteilen und damit die Fachhochschulreife in die Berufsausbildung integrieren (EB-BbS, 2019, Abschnitt 2.14). Hierfür benötigt es keine Modellversuche, sondern eine Aufnahme in das Schulgesetz des Landes! Allerdings muss auch dieser Unterricht in entsprechendem Umfang, analog dem berufsübergreifenden Unterricht in der Fachoberschule erteilt werden und ist nicht beliebig kürzbar. Die Lernenden in der generalistischen Pflegeausbildung erhalten mit dem berufsübergreifenden Unterricht die gleichen Chancen, wie alle Lernenden der beruflichen Bildung. Hierdurch besteht für die generalistische Pflegeausbildung die vollständige Durchlässigkeit im Bildungssystem und damit Bildungsgerechtigkeit. Dies alles trägt zum grundgesetzlich verbrieften Recht auf Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland bei – auch keine Kleinigkeit. Der in den 1960iger Jahren entwickelte gesellPADUA (2020), 15 (1), 51–55


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schaftliche Konsens für die berufliche Bildung wird damit auch für die generalistische Pflegeausbildung erfüllt und entspricht dem großen gesellschaftlichen und individuellen Interesse nach höherwertigen Schulabschlüssen sowie dem damit verbundenen Anspruch nach sozialem Aufstieg durch Bildung. Diese Chance wurde bereits in den vergangenen fünfzig Jahren vielfach auf pflegeberuflichen Fachtagungen sowie in einschlägigen Publikationen gefordert und auch in einigen Modellversuchen zur Weiterentwicklung der Pflegeausbildung erprobt (beispielsweise Ammende et al., 2010; Zeuner, 2003). Daneben könnte der berufsübergreifende Unterricht einen Beitrag zur Reduzierung von Ausbildungsabbrüchen in der Pflegeausbildung leisten. Für Rheinland-Pfalz hat beispielsweise das Institut für Sozialökonomische Strukturanalyse Berlin (2016, S. 11) belegt, dass eine Überforderung mit dem Lehrstoff, unzureichende soziale Kompetenzen sowie eine als unzureichend erachtete Schul- und Allgemeinbildung zu den ersten sechs Hauptgründen für einen Ausbildungsabbruch in den Pflegeausbildungen gehören, neben persönlichen Ursachen, unrealistischen Erwartungen an den Beruf sowie gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Auch dies wurde auf der Fachtagung durch Teilnehmende als ernstzunehmendes Problem thematisiert. Der berufsübergreifende Unterricht wird in Niedersachsen nicht – wie der Redner auf der Fachtagung behauptet – zu Lasten des berufsbezogenen Unterrichts oder gar der praktischen Ausbildung gehen! Der berufsübergreifende Unterricht erfolgt zusätzlich zum theoretischen und praktischen Unterricht und zur praktischen Ausbildung. Dieses Vorgehen hat sich in der Altenpflegeausbildung in Niedersachsen bewährt, die schon seit Jahrzehnten im Schulgesetz verankert ist, vergleichbar auch in Baden-Württemberg oder Sachsen-Anhalt (Arens / Brinker-Meyendriesch 2018, S. 54). Damit bietet sich für die generalistische Pflegeausbildung die Chance, die bereits für die Altenpflegeausbildung langjährige Wirklichkeit darstellt. So gesehen verfügen das Niedersächsische Kultusministerium und die nachgeordnete Niedersächsische Landesschulbehörde bereits über umfangreiche schulfachliche und schulrechtliche Expertise auch im Berufsfeld Pflege und nicht, wie der Redebeitrag in Düsseldorf vermuten lassen könnte, über vollkommene Ahnungslosigkeit zu den Besonderheiten pflegeberuflicher Ausbildung. Die „These von der Besonderheit der Krankenpflegeausbildung“ (Wittneben, 1995, S. 266) wurde zudem bereits in den 1980iger Jahren als ideologisch und vielfach brüchig entlarvt. Sie gehört heute zum historischen Bestand einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik mit Schwerpunkt Gesundheit (Arens & Brinker-Meyendriesch, 2018). Die vollständige Auflösung von Pflegeschulen an Krankenhäusern ist ebenfalls nicht zu befürchten, da das Niedersächsische Schulgesetz Schulen in öffentlicher und Schulen in freier Trägerschaft kennt (Arens & Brinker-Meyendriesch, 2018, S. 52). Der Niedersächsische Landtag hat bereits in der Vergangenheit hierdurch die Möglichkeit geschaffen, dass sich sowohl die öffentlichen berufsbildenden Schulen als PADUA (2020), 15 (1), 51–55

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auch die freien Träger an der Altenpflegeausbildung beteiligen können. Damit ist auch dies bereits Wirklichkeit in Niedersachsen und kann den jährlich aktualisierten Adresslisten der Schulen auf den Internetseiten des Niedersächsischen Kultusministeriums entnommen werden. Dies alles entspricht dem gesellschaftlichen Interesse, die Ausbildungskapazitäten in der Pflegeausbildung insgesamt zu erhöhen, um den Bedarf an Fachkräften decken zu können und zugleich den Lernenden ein Wahlrecht zu ermöglichen (BMFSFJ, 2019, S. 3). Mit der Integration einer generalistischen Pflegeausbildung in das Niedersächsische Schulgesetz wird eine langjährige Forderung nach Gleichwertigkeit der Pflegeausbildung mit der gesamten beruflichen Bildung und zugleich eine Angleichung an die Standards der Altenpflegeausbildung vollzogen. Dieses Vorgehen ist damit keine Zumutung, sondern eine große Chance für die generalistische Pflegeausbildung, die als Ausdruck gesellschaftlicher Anerkennung verstanden werden kann!

Gesellschaftliche Anerkennung der Pflegeausbildung Die gesellschaftliche Anerkennung der Pflegeberufe – die immer wieder als fehlend beklagt ist – wird durch die Aufnahme der Pflegeausbildung in das Niedersächsische Schulgesetz gewährt. Damit erfolgt eine Gleichstellung mit der beruflichen Bildung in Niedersachsen. Sie zeigt sich auch darin, dass in Niedersachsen erhebliche finanzielle Mittel für die Durchführung eines berufsübergreifenden Unterrichts in der Pflegeausbildung aufgewendet werden sollen, wie dies eine Selbstverständlichkeit auch für alle anderen Berufsfelder ist. Damit verbunden werden mit dem Lehramtsstudiengang der beruflichen Fachrichtung Pflegewissenschaft an der Universität Osnabrück seit über zwanzig Jahren umfangreiche Ressourcen bereitgestellt, um Lehrkräfte mit einer beruflichen Fachrichtung Pflege, einschließlich einer einschlägigen Berufsausbildung und einem allgemeinbildenden Unterrichtsfach an der Universität sowie in fünf Studienseminaren auszubilden. Diese werden anschließend an den öffentlichen berufsbildenden Schulen als Beamtinnen und Beamte unter anderem in der Berufsfachschule Altenpflege und künftig in einer generalistischen Pflegeausbildung eingesetzt (Arens, 2016). Mehr gesellschaftliche Anerkennung dürfte kaum erwartbar sein! Wer all dies dennoch für eine impertinente Zumutung erachtet, sollte mit guten Argumenten aufwarten und überzeugend erklären, warum das, was für die kaufmännischverwaltende, gewerblich-technische, hauswirtschaftliche oder sozialpädagogische Berufs- und Lehrerbildung seit Jahrzehnten gesellschaftlich anerkannt wird, für die berufliche Pflegeausbildung und die damit verbundene Lehrerbildung jedoch keine Gültigkeit haben kann und auch nicht haben soll. ©2020 Hogrefe


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Literatur Ammende, R., Darmann-Finck, I. & Luther, B. (2010). Generalistische Pflegeausbildung mit integrierter Fachhochschulreife. Abschlussbericht. Verfügbar unter http://www.public-health. uni-bremen.de Arens, F. (2016). Vorbereitungsdienst in den Berufsfeldern Gesundheit und Pflege als Zugang zu den öffentlichen Schulen. In: Brinker-Meyendriesch, E. & Arens, F. (Hrsg.). Diskurs Berufspädagogik Pflege und Gesundheit. Wissen und Wirklichkeiten zu Handlungsfeldern und Themenbereichen (S. 50 – 77). Berlin: wvb. Arens, F. & Brinker-Meyendriesch, E. (2018). Spektrum Lehrerbildung Pflege und Gesundheit. Zeitzeugen einer Disziplinentwicklung. Berlin: wvb. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2019). Ausbildungsoffensive Pflege (2019 – 2023). Vereinbarungstext Ergebnis der Konzertierten Aktion Pflege / AG1. Berlin. EB-BbS (2019). Ergänzende Bestimmungen für das berufsbildende Schulwesen (EB-BbS). RdErl. d. MK v. 10.6.2009-41-80006/5/1 (Nds. MBl. Nr. 24 / 2009 S. 538). Fassung vom 25.1.2019. Verfügbar unter http://www.nds-voris.de Institut für Sozialökonomische Strukturanalysen Berlin (2016). Landesprojekt Theorie-Praxis-Transfer in der Ausbildung in den Pflegeberufen. Abschlussbericht. Im Auftrag des Ministeriums für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie des Landes Rheinland-Pfalz. Berichte aus der Pflege, Nr. 28 – Mai 2016. Kultusministerkonferenz (KMK) (2018). Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe. 14. Dezember 2018, Berlin. Nds. Kultusministerium (MK) (2019): Leitlinie schulisches Curriculum Berufsbildende Schulen (SchuCu-BBS). Version 0.5.7. Verfügbar unter https://schucu-bbs.nline.nibis.de/ Nds. Kultusministerium (MK) (2020). Informationen zur Neuordnung der Pflegeausbildung (Umsetzung in Niedersachsen). MK-Ref 45Az:80009/10/4/3 Stand: 08.01.2020. Verfügbar unter http:// www.niedersaechsische-landesschulbehoerde.de/themen/ berufe-im-gesundheitswesen Pahl, J.-P. (2014). Berufsbildende Schule. Bestandsaufnahme und Perspektiven. 2. Auflage. Bielefeld: wbv. Reinecke, M. A. (2008). Man lerne von Döblin. Die Erzählung „Die Ermordung einer Butterblume“ als Zugangsmedium zum Arbeitsfeld der Psychiatrie. Psych Pflege, 14, 29 – 33. Wittneben, K. (1995). Zur Situation der Weiterbildung von Pflegekräften zu Pflegelehrkräften in Deutschland von 1903 – 1993. In: Mischo-Kelling, M., Wittneben, K. (Hrsg.). Pflegebildung und Pflegetheorien (S. 252 – 291). München u. a.: Urban & Schwarzenberg. Zeuner, M. (2003). Integrative Ausbildung für Pflegefachberufe mit gleichzeitiger Vorbereitung auf die Fachhochschulreife. Pflege & Gesellschaft, 8 (3), 118 – 122.

Nutzerorientierte digitale Gesundheitstechnologien

André Posenau / Wolfgang Deiters / Sascha Sommer (Hrsg.)

Nutzerorientierte Gesundheitstechnologien Im Kontext von Therapie und Pflege 2019. 296 S., 12 Abb., 11 Tab., Kt € 49,95 / CHF 65.00 ISBN 978-3-456-85884-5 Auch als eBook erhältlich

Interdisziplinär und anwendungsbezogen verknüpft das Fachbuch relevante theoretische Konzepte mit konkreten gesundheitstechnologischen Beispielen und aktuellen Erkenntnissen aus der pflegerischen und therapeutischen Praxis. Die Verfasser setzen sich kritisch und konstruktiv mit dem Konzept der Nutzerorientierung in Therapie und Pflege auseinander.

Frank Arens Dipl.-Pflegelehrer, Osnabrück www.hogrefe.com bwp-gesundheit@web.de

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Gut vorbereitet für schwierige Gespräche

Viviana Abati / Stiftung Swisstransplant (Hrsg.)

Gespräche mit hohem Belastungsfaktor in der Medizin Praxislehrbuch für die Kommunikation mit Angehörigen 2019. 192 S., 33 Abb., 63 Tab., Kt € 39,95 / CHF 48.50 ISBN 978-3-456-85922-4 Auch als eBook erhältlich

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Ärzte und andere Fachpersonen müssen im klinischen Alltag mit Angehörigen oft Gespräche führen über lebensbedrohliche Verletzungen, Prognose von Krankheiten oder die Mitteilung über den Tod eines Familienmitgliedes meist ohne darauf vorbereitet worden zu sein. Dieses Buch vermittelt aufbauend auf wissenschaftlich relevanten Konzepten (u. a. aus der Notfallpsychologie) die hierfür notwendige Kommunikations-Kompetenz.

Das Werk beschreibt in didaktisch durchdachter und praxisorientierter Form, in welchen psychischen Ausnahmesituationen sich Angehörige von Patienten befinden, wie dadurch ihre Kommunikationsfähigkeiten eingeschränkt sind und wie die Fachpersonen konkret und professionell damit umgehen können. Zahlreiche Boxen und Übungen zur Anwendung und Selbstreflexion unterstützen und überprüfen den eigenen Lernerfolg.


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Gesprächszeit für belastete Angehörige Renate Kunz Krankenhäuser sind für viele Menschen Orte, die nicht nur mit der Hoffnung auf Heilung, gute Pflege und Fürsorge verbunden sind, sondern auch mit starken Gefühlen der Angst und Ohnmacht. Nirgendwo sonst erleben Menschen sich so unmittelbar und unvermeidbar konfrontiert mit existentiellen Lebensthemen wie Krankheit und Leid, Sterben und Tod. Insbesondere die Angehörigen schwerstkranker Patienten fühlen sich oft überfordert und allein gelassen. „Ich stand auf dem leeren Flur vor dem Zimmer meiner Frau und die Welt ging unter. Wie und warum sollte ich weiterleben?“ (Zitat Angehörigengespräch)

Persönliche Geschichte Mein Name ist Renate Kunz, ich bin 58 Jahre alt. Vor genau 40 Jahren begann ich meine Ausbildung zur Krankenschwester. Diese Zeit, in der ich „Krankenschwester wurde“, hat mich für mein gesamtes Leben auf eine wesentliche und bedeutende Art geprägt. Leider reagierte ich allergisch auf die damals üblichen Desinfektionsmittel, die oft Formaldehyd enthielten. Der Betriebsarzt riet mir schließlich, zur Sicherheit eine zweite Berufsausbildung anzustreben. Nach der Ausbildung studierte ich daraufhin Sozialarbeit in Köln. Nach erfolgreicher Beendigung des Studiums heiratete ich und gründete mit meinem Mann eine Familie. Als unser jüngster Sohn zwei Jahre alt war, wünschte ich mir den beruflichen Wiedereinstieg als Krankenschwester. Die Allergie war kein Hinderungsgrund mehr, da Formaldehyd kaum noch verwendet wurde. Schnell fand ich eine Teilzeitstelle auf der Geburtshilfestation in der Universitätsfrauenklinik Bonn.

Heute: Arbeit in der Psychosomatik Mittlerweile bin ich als Stationsleitung auf einer großen Therapiestation in der Psychosomatischen Uniklinik Bonn ©2020 Hogrefe

tenn e i t Pa ation eduk (UK Bonn) beschäftigt. Berufsbegleitend habe ich mich in den vergangenen Jahren zunächst mit einer zweijährigen, pflegerischen Fachweiterbildung zur „Verhaltenstherapeutischen Co-Therapeutin“ und dann zusätzlich durch ein Masterstudium „Counseling, Psychosoziale Beratung“ qualifiziert. Um die Masterqualifikation in meinem pflegerischen Tätigkeitsfeld in der Klinik sinnvoll einsetzen zu können, beschäftigte ich mich in meiner Masterthesis mit dem Thema: „Psychosoziale Beratung von Angehörigen schwerstkranker und sterbender Menschen“. Seitens unserer Pflegedirektion werde ich sehr bewusst darin unterstützt, im Rahmen eines pflegerischen Leistungsangebotes mit belasteten Angehörigen sprechen zu können. Um dieses besondere Beratungsangebot auf unserem großen Klinik-Campus publik zu machen, informiere ich in regelmäßigen Abständen die Kolleginnen und Kollegen, sowohl in pflegerischen als auch in interdisziplinären Besprechungen. Ich habe dafür eine ansprechende Power Point Präsentation erstellt, um die Dringlichkeit der Aufgabe verständlich zu machen. Zudem gibt es auf vielen Stationen Poster und Flyer über die „Gesprächszeit für Angehörige“. Darin erfahren auch die Angehörigen, dass sie eigeninitiativ die Möglichkeit haben, das Pflegepersonal oder ihren Stationsarzt anzusprechen und um ein Angehörigengespräch zu bitten. Oder sie können mir eine E-Mail schreiben. Von dieser Möglichkeit machen mittlerweile viele Angehörige Gebrauch. Während meiner Dienstzeit überprüfe ich in einem speziellen Anforderungsterminal der elektronischen Patientendokumentation, ob eine Station ein „Angehörigengespräch“ angefordert hat. Dies kann sowohl durch Stationsärzte als auch durch Pflegekräfte erfolgen. Ich bemühe mich dann, flexibel zu reagieren und so bald wie möglich mit den betroffenen Angehörigen einen Gesprächstermin zu vereinbaren. Im Durchschnitt führe ich zwei bis drei Angehörigengespräche in der Woche, meist mit Einzelpersonen, aber auch als Paar- oder Familiengespräch. Von dieser Beratungsstätigkeit möchte ich erzählen. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass es neben meinem Beratungsangebot in unserer Klinik seit vielen Jahren ein „innerklinisches Kriseninterventionsteam“ gibt. Die professionell geschulten, ehrenamtlichen Mitarbeiter des „KIT“ können in akuten Notfallsituationen Tag und Nacht für zu betreuende Angehörige gerufen werden. PADUA (2020), 15 (1), 57–62 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000536

Informiert sein und Handeln

Angebot einer Pflegeexpertin am Universitätsklinikum Bonn


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Informiert sein und Handeln

Berufliche Rahmenbedingungen

Persönliche Profession:

Ich absolvierte in den vergangenen Jahren zunächst eine zweijährige Fachweiterbildung zur „Verhaltenstherapeutischen Co-Therapeutin“ am Institut für Klinische Verhaltenstherapie (IFKV). Für die Fachweiterbildung beim IFKV in Bad Dürkheim können sich alle interessierten Menschen aus der Pflege mit einer dreijährigen Ausbildung bewerben. Anschließend studierte ich berufsbegleitend 8 Semester in einem postgradualen Studiengang (das heißt, aufbauend auf einem vorherigen Studienabschluss, in meinem Falle das Diplom als Sozialarbeiterin) das Fach „Counseling; Psychosoziale Beratung; Einzel-, Paar- und Familienberatung“. Ich wurde jeweils von unserer Pflegedirektion gefördert, sowohl finanziell als auch durch zusätzlichen Sonderurlaub. Im Gegenzug musste ich alle Prüfungen mit guten Noten bestehen und mich als Mitarbeiterin an das UKBonn binden, was ich gerne getan habe. Dabei wurde mein Wunsch, mit Hilfe der Expertise des Studiums ein innerklinisches Angebot als akademische Pflegeexpertin für belastete Angehörige aufzubauen, ebenfalls von meinen Vorgesetzten engagiert unterstützt. Da das Studium einen vorausgegangenen Studienabschluss benötigt, zum Beispiel ein Diplom, Staatsexamen oder einen Master, haben akademisierte Pflegekräfte gute Voraussetzungen, um sich zu bewerben. Das Studium „Counseling“ für Arbeitsfelder im sozialen Bereich wird mittlerweile an vielen Hochschulen angeboten. Interessierte können sich in ihrem Umfeld informieren und die jeweiligen Zulassungsbedingungen erfragen.

Mir persönlich ist es eine wichtige und wertvolle Aufgabe, auch für die Angehörigen unserer schwerkranken Patienten „da zu sein“. Ich möchte systemisch die betroffenen Familien in ihren Bewältigungsstrategien begleiten und meine Kompetenzen als Beraterin aus dem Pool der Pflege einbringen. Ich versuche, die häufig in hoher Arbeitsverdichtung arbeitenden Kolleginnen und Kollegen auf den Akutstationen in ihrer Fürsorge für die Angehörigen zu unterstützen und zu entlasten. Meine Tätigkeit als APN sehe ich als fachliche Ergänzung im Behandlungsteam aufgrund einer zusätzlich erworbenen Expertise. Ich erlebe meine Arbeit in der Angehörigenberatung als eine berufliche Bereicherung und freue mich über die Rückmeldung, hilfreich zu sein. Aber natürlich höre ich viele „traurige Geschichten“ und nehme nach einem Gespräch manche seelische Belastung mit zurück auf meine Station. Meine Kolleginnen haben dann ein offenes Ohr für mich. Zur vertiefenden Entlastung und Selbstreflektion nutze ich Supervision. Diese wird monatlich für das „KIT“, dessen Mitglied ich bin, angeboten. Regelmäßige Supervision ist für meine eigene Psychohygiene und zur Qualitätssicherung einer professionellen Beratungstätigkeit eine Notwendigkeit. Nicht selten sprechen die Angehörigen auch ein großes Lob an unsere Klinik aus: „Ich hätte nicht gedacht, dass eine Uniklinik so eine Unterstützung bereithält. Vielen Dank! Es ist gut, dass es Ihr Gesprächsangebot hier gibt …“.

Ermutigung zur transparenten „Karriereplanung“ Ich habe im Vorfeld mit meinen Vorgesetzen konkret besprochen und vereinbart, wie ich meine Qualifizierung durch das Studium sinnvoll in der Klinik einbringen werde. Meine Offenheit in der beruflichen Planung und mein deutliches Interesse, weiterhin im Bereich der Pflege „im Haus“ zu bleiben, hat sicherlich dazu beigetragen, dass ich viel Unterstützung und Wertschätzung erfahren habe. Hierzu gehört auch, dass ich das Vertrauen genieße, meine Arbeitszeit kreativ zu gestalten und aufzuteilen, um sowohl die Aufgaben als Stationsleitung, als auch diejenigen einer APN (Advanced Practise Nurse) für Angehörigenberatung, gut zu erfüllen.

Kollegiale Unterstützung Die Kolleginnen und Kollegen aus meinem Pflegeteam unterstützen und befürworten von Anfang an meine zusätzliche Tätigkeit. Sie geben mir positive Rückmeldungen über den Sinn und die Wichtigkeit der Beratung für Angehörige. Viele von ihnen haben sich privat selbst schon in der Rolle „eines Angehörigen in Not“ erlebt. PADUA (2020), 15 (1), 57–62

Psychosoziale Angehörigengespräche Viele Angehörigengespräche beginnen mit meiner Ermutigung zum Erzählen der aktuellen Belastungssituation. Die Menschen werden dann oft von ihren Gefühlen bewegt, die sie bisher unterdrückt haben, um zu funktionieren. Diesen Gefühlen wie Verzweiflung, Traurigkeit und Angst, aber auch Ärger, Wut und Enttäuschung wird meinerseits bewusst Raum gegeben. Nach einer Weile beginnen die Angehörigen von ihrer Geschichte und ihrem Kummer zu erzählen. Sie erfahren dabei von mir Mitgefühl, Wertschätzung und die heilsame Wirkung des aktiven Zuhörens. Jedes Angehörigengespräch gestaltet sich unterschiedlich. Es gehört zu meinen Kompetenzen in der Gesprächsführung, – so wie ja von allen professionell Pflegenden überhaupt –, mich immer wieder neu auf mein jeweiliges Gegenüber einzustellen und einzulassen. Jeder Mensch und jedes Familiensystem ist anders und geht mit Krankheit, mit Leid, mit Fragen nach Sinn, Tod und Sterben anders um. Jeder muss eigene Antworten und den eigenen Weg finden. In diesem „den eigenen Weg finden“ kann der Angehörige in unserer Klinik einfühlsame Begleitung und professionelle Beratung erhalten. ©2020 Hogrefe


Informiert sein und Handeln

Zu Beginn der Gespräche erhebe ich möglichst unauffällig eine „psychosoziale Kurzdiagnostik“, um die aktuelle Krisensituation des Angehörigen so gut wie möglich zu verstehen und mein Beratungshandeln zu strukturieren. „Wie dramatisch gestaltet sich der Krankheitsverlauf? Steht der baldige Tod des Familienmitgliedes bevor? Wieviel Unterstützung gibt es im sozialen Umfeld und gibt es Konflikte im Familiensystem? Haben gendergeprägte weibliche oder männliche Bewältigungsstrategien stabilisierend ihren Sinn? Welche Charaktereigenschaften sind vorherrschend und ressourcenorientiert zu stärken? Gibt es Vertrauen in das Behandlungsteam oder ist der Angehörige voller Angst, Kritik und Misstrauen?“ Viele Angehörige leiden unter inneren, ethischen Konflikten und wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Sie verurteilen sich für Gedanken, in denen sie dem Kranken Erlösung wünschen und sich eingestehen, dass sie selbst am Ende sind. Angehörige sind unsicher, haben viele Fragen. Sollen sie mit dem Kranken über den nahenden Tod sprechen? Ihn fragen, ob er Angst hat? Muss alles ausgesprochen werden oder kann es auch richtig sein, nicht über Konflikte oder über den Tod zu reden? Muss man den Kindern oder den alten, den dementen Eltern die Wahrheit sagen? Und wenn ja, wie? Dürfen sie selbst weinen am Bett des Kranken? Dürfen sie für ein paar Stunden das Krankenzimmer verlassen und die schlimme Situation einmal vergessen? Dürfen sie sich wünschen, dass auch einmal jemand fragt: „Und wie geht es dir?“. Normalerweise dauert ein Beratungsgespräch maximal 70 Minuten und ich achte darauf, dieses Zeitfenster im Auge zu behalten und das Gespräch nicht abrupt zu beenden. Viele Angehörige suchen Möglichkeiten, etwas „Gutes“ tun zu können, sie fühlen sich dann etwas weniger ohnmächtig und hilflos, das Kohärenzgefühl wird ein wenig gestärkt. „Ich kann etwas tun, das macht Sinn“. Ein gemeinsames Nachdenken in diese Richtung kann das Gespräch abschließen und zurückführen auf eine eher sachliche, handlungsorientierte Ebene und so den Angehörigen stabilisieren. Bei hohem Bedarf, bei längerfristigen Krankheitsverläufen und Sterbeprozessen, können die Angehörigen auch mehrmals ein Gespräch in Anspruch nehmen. Ich dokumentiere die Beratungsgespräche in der elektronischen Patientenakte. Dort sind sie als pflegerische Leistung „Angehörigengespräch“ mit dem entsprechenden, zeitlichen Umfang, erfasst. Da die Angehörigengespräche in einer vertrauensvollen Atmosphäre und unter Zusage meiner Schweigepflicht geführt werden, beschreibe ich jedoch keine Inhalte. Ich möchte nun einige Beratungsgespräche wiedergeben, damit ein Eindruck von ihrer Vielfältigkeit entstehen kann.

Beratungsgespräch: Kinder besuchen die sterbende Großmutter Eine onkologische Station fordert ein Angehörigengespräch an. Vor Ort erfahre ich, dass es sich um eine pallia©2020 Hogrefe

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tive Situation handelt und die Patientin in den kommenden Tagen sterben wird. Das Gespräch findet auf Wunsch des angehörigen Ehemannes im Patientenzimmer und im Beisein seiner schläfrigen Ehefrau statt. Ihr Ehemann zeigt sich schweigsam und traurig. Nach einer Weile stellt sich durch mein vorsichtiges Fragen heraus, dass die 51jährige Patientin vier Enkelkinder hat. Ihr Mann und auch die erwachsene Tochter der Patientin hatten das Verbotsschild „Für Besucher unter 14 Jahren ist der Zutritt auf den Stationen untersagt“ gelesen. Sie zogen darum nicht in Erwägung, die Enkelkinder zur Verabschiedung zur Oma zu bringen. Auf mein weiteres Nachfragen wird deutlich, dass die Kinder eine enge Bindung an ihre Großmutter haben. Sie leben gemeinsam in einem Haus und haben viel Zeit miteinander verbracht. Die Kinder haben ihre Oma zu Hause als schwerkrank miterlebt und der Großvater weiß zu berichten, dass sie enttäuscht und unglücklich sind, weil sie nicht zu Besuch kommen dürfen. Ich erkläre daraufhin, dass die Besuchsregelung für Kinder durchaus Ausnahmen erlauben würde. Auf die Frage an die momentan wache und ansprechbare Patientin, ob sie sich freuen würde, wenn die Enkelkinder sie besuchen dürften, antwortete diese mit einem Lächeln, „ja“ und nickte bekräftigend. Ich führe daraufhin kurze Gespräche mit den diensthabenden Pflegekräften und anschließend mit dem behandelnden Ärzteteam. Alle sind mit einem Besuch der Kinder einverstanden und auch meiner Bitte, die Geschwister gemeinsam in das Patientenzimmer zu lassen und ihnen so ein verbindendendes Abschiednehmen und geschwisterlichen Beistand zu ermöglichen, wird entsprochen. Auf meine Frage nach hygienischen Einschränkungen teilen die Ärzte mir nach erneuter Beratung mit, dass nichts dem entgegen spräche, wenn die Kinder die Oma berühren, umarmen und auch ein Küsschen geben. Der Ehemann, die Tochter und die Patientin sind sehr dankbar, als ich ihnen die Nachricht der Besuchsmöglichkeit überbringe. Die Kinder werden nun von ihrer Mutter auf den Besuch vorbereitet und am kommenden Vormittag ihre Oma besuchen.

Beratungsgespräch: Abschied für eine Familie Ich werde telefonisch von der Stationsärztin einer onkologischen Station gebeten, einen Angehörigen darin zu unterstützen, die Realität des nahenden Sterbens seiner Frau zu akzeptieren. Vielleicht könne ich ihn dann auch ermutigen, ehrlich mit seinen Kindern zu sprechen und so auch ihnen ein Abschiednehmen zu ermöglichen. Dies sei bisher nicht möglich gewesen. Alle im Team seien verunsichert, wie offen mit der Familie gesprochen und wie die Sterbebegleitung kommuniziert werden könne. Der Ehemann wirkt auf mich erschöpft und wie versteinert. Er berichtet langsam und stockend, seine 36- jährige Frau liege, nachdem sie vor eineinhalb Jahren schwer onkologisch erkrankt sei, nach Aussagen der Ärzte nun im PADUA (2020), 15 (1), 57–62


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Sterben. Es gebe keine Heilung mehr. Er könne das nicht begreifen. Er erlebe alles wie in einem Albtraum. Sie hätten zwei Kinder, 4 und 7 Jahre alt. Die Kinder wüssten nicht, dass ihre Mutter sterben werde und er könne ihnen das auch nicht sagen. Er glaube es ja selbst noch nicht. Auch seine Frau habe niemals über ihren eventuellen Tod gesprochen. Sie habe bis zuletzt allen gesagt, sie käme wieder nach Hause. Nun sei plötzlich seine Frau seit zwei Tagen kaum mehr bei Bewusstsein. Er wisse nicht, was er tun solle und ob er seine Kinder morgen in Schule und Kindergarten bringen solle oder hier auf die Station. Er habe Sorge, dass der Sohn in der Schule durch sein Fehlen etwas Wichtiges versäumen würde, da eine Projektwoche beginne. In meiner psychosozialen Kurzdiagnostik erlebe ich den Ehemann wie in einer traumatischen Erstarrung. In dieser besteht eine seelische Überforderung in Verbindung mit einer herabgesetzten Entscheidungs- und Handlungskompetenz. Darum setze ich mir in der Beratung das Ziel, systemisch die vierköpfige Familie in dem von beiden Eltern noch nicht akzeptierten und dennoch stattfindenden Abschiedsprozess zu unterstützen. Hierbei nehme ich die mehrfach geäußerte Sorge des Mannes in Bezug auf den Schulbesuch „etwas Wichtiges zu versäumen“ auf und stelle diese Sorge in einen anderen Sinnzusammenhang; denjenigen in Bezug auf die Akzeptanz der bitteren Realität des Sterbens und die aktive Gestaltung eines Abschiedes der Kinder von ihrer Mutter und auch des eigenen Abschiedes von seiner Frau. Das ErnstNehmen dieser Sorge „Etwas Wichtiges zu versäumen“ erlaubt mir, offen von Sterben, Tod und Trauer zu sprechen. Ich thematisiere und wertschätze sein Bemühen „es richtig und gut zu machen“, sowie seine Angst vor Versagen und Schuld. So gibt es einen Grund und ein Ziel, um die lähmende Erstarrung zu lösen. Herr A. kann nun von mir nach gemeinsamen Überlegungen zu kleinen Aktivitäten angeregt werden. Ziel ist es, der Familie Abschiedsmomente und bedeutende Erinnerungen für die Trauer und das Weiterleben zu ermöglichen. So kam es dazu, dass der Vater sich vornahm, von heute an mit den Kindern am Sterbebett seiner Frau ein Abendlied zu singen; ein Lied, das die Mutter den Kindern auch oft vorgesungen und selbst sehr gern gemocht hatte. Die Kinder, die während des Gespräches von den Pflegenden betreut worden waren, wurden dann vom Vater herbeigeholt und angeregt, ein „Ich habe dich lieb Bild“ für ihre Mama zu malen. Wie zuvor besprochen fragte nach einer Weile der Vater seinen Sohn, ob er morgen in die Schule gehen oder lieber bei der Mama sein wolle. Der Junge, der ernst und ahnungsvoll wirkte, wollte „bei der Mama sein“. Herr A. nahm beide Kinder an den folgenden Tagen, bis zum Tod der Patientin, mit in die Klinik. Das Team der Station gab mir eine positive Rückmeldung über den Sterbe- und Abschiedsprozess, soweit dies unter den traurigen Umständen so benannt werden kann. Durch die Beratung konnte es gelingen, dass der Ehemann einen Handlungssinn finden konnte in einer bePADUA (2020), 15 (1), 57–62

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wussten Abschiedsgestaltung. Durch die Lösung aus seiner Erstarrung kam er wieder in einen emotionalen und fürsorglichen Kontakt zu seinen Kindern. Er konnte gestärkt werden in seinem Wunsch, ein guter Ehemann und Vater zu sein. Eine Schuldproblematik „Etwas Wichtiges zu versäumen“ konnte mindestens verringert werden, dies hat Bedeutung für die Zeit der Trauer. Auch die Kinder konnten jetzt ehrlich informiert, in das Geschehen einbezogen werden und Hilfestellungen für ihren Abschied bekommen.

Beratungsgespräch: Unterstützung der Paarbeziehung Die 50jährige Angehörige Frau B. wurde seitens der Pflege mit dringendem Gesprächsbedarf vermittelt. Sie erzählte mir dann emotional sehr aufgewühlt, dass bei ihrem Partner, gerade zu dem Zeitpunkt, als ihre Ehe eine einzige Katastrophe war und sie entschieden habe, sich von ihrem Mann zu trennen, bei diesem ein inoperabler Hirntumor diagnostiziert worden sei. Er werde in den nächsten Wochen oder auch Monaten sterben. Ihr Mann verändere sich von seinem Wesen her. Vor ein paar Tagen habe er sie mit den Worten: „Was willst du denn schon wieder hier“ begrüßt und nur beschimpft. Er werde immer unberechenbarer, sei ruppig und ungerecht. Er mache unangenehme, sexuelle Bemerkungen. Das alles deprimiere sie völlig. Sie habe niemanden mit dem sie sprechen könne, denn sie schäme sich sehr. Sie sei hin und her gerissen zwischen Mitleid, Sorge und wütenden und ablehnenden Gefühlen gegenüber ihrem Mann. Manchmal könne sie seinen Anblick kaum noch ertragen, wolle nur noch weg und nie wiederkommen. Dann fühle sie sich schlecht und schuldig. Es erschüttere sie zunehmend, ihren Mann so elend und todkrank zu sehen, sie habe auch großes Mitleid. Gleichzeitig habe sie Angst es nicht zu schaffen, ihn bis zu seinem Tod zu begleiten. Sie stünde unter ständiger Anspannung und könne kaum noch schlafen. Bei der Arbeit schaffe sie nur das Nötigste. Meine psychosoziale Kurzdiagnostik erfasst Frau B. als akut krisenhaft belastet durch die lebensbedrohliche und wesensverändernde Erkrankung ihres Mannes, bei gleichzeitig bestehender Trennungsproblematik. Es drohen eine schwere Erschöpfung und psychische Überforderung der Ehefrau. Die Kurzschlussreaktion eines Beziehungsabbruches steht im Raum. In unseren folgenden drei Beratungsgesprächen fand die Angehörige einen bewertungsfreien Raum, in denen sie ihren Gefühlen Ausdruck geben konnte. Sie weinte viel, konnte aber auch mit Galgenhumor auf ihre Lebenssituation blicken. Frau B. konnte zunehmend die eigenen Kränkungen, die sie durch ihren Mann erlebte, ernst nehmen und tröstende Worte für sich selbst finden. Sie fand eine Lösung für ihren inneren, ethischen Konflikt: Zwischen dem Wunsch nach Trennung und Distanz einerseits und ihrem Verantwortungsgefühl aus alter Liebe andererseits. ©2020 Hogrefe


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Frau B. entschied sich, ihren Mann weiterhin täglich zu besuchen, die Besuche aber zeitlich zu verkürzen. Sie griff meine Anregung auf, zur Entlastung und Selbstreflektion Tagebuch zu schreiben. Auch überwand sie ihre Scham und erzählte zwei Freundinnen von ihrer Situation. Da ihr Mann noch mehrere Monate weiterlebte und viel Kraft beanspruchte, erlaubte Frau B. sich schließlich, zwei Wochen in Urlaub zu fahren. Einige Wochen nach unserem letzten Gesprächskontakt erhielt ich die Todesanzeige des Patienten. Die Angehörige hatte mir einige Zeilen dazu geschrieben und sich für die Gespräche bedankt.

Beratungsgespräch: Deeskalation zwischen Angehöriger und Team Die Mitarbeiterin des Pflegeteams einer Intensivstation nimmt telefonisch Kontakt zu mir auf und berichtet von einer sehr anstrengenden Angehörigen. Frau C. sei ständig präsent, sie kritisiere, sei laut und vorwurfsvoll, nerve und überfordere das gesamte Team. Jeder mache einen Bogen um sie und heute Morgen habe man sie sogar des Zimmers verweisen müssen, da sie störe. Gleichzeitig sei allen bewusst, wie sehr diese Angehörige als Mutter unter der sich verschlechternden Situation ihres Sohnes leide. Ihr sei nun ein Angehörigengespräch nahegelegt worden und sie habe sich einverstanden erklärt. Die Angehörige erzählt mir in dem kurz darauf stattfindenden Gespräch sehr laut und aufgeregt von der Erkrankung ihres Sohnes und seinem jahrelangen Leidensweg. Vor ein paar Tagen sei er nun in ein künstliches Koma gelegt worden und seitdem habe sie den Eindruck, man habe ihren Sohn aufgegeben. Sie könne seinen Anblick, wie er daliege „als sei er schon tot“ kaum ertragen, sie verstehe das Handeln der Ärzte nicht und habe kein Vertrauen mehr in die Klinik. Sie fühle sich allein und unverstanden und merke sehr deutlich, dass sie von allen auf der Station gemieden werde und als störend erlebt werde. Im Beratungsgespräch, das in diesem Fall beinahe zwei Stunden benötigt, kann Frau C. ihren Ärger, ihre Vorwürfe und schließlich dahinterliegend auch ihre großen Ängste und ihre Verzweiflung aussprechen. Sie spricht eigene Schuld- und Versagensgefühle aus: „Ein Kind darf doch nicht vor seiner Mutter sterben“ und „Ich stehe an seinem Bett und kann nichts für ihn tun“. Meine psychosoziale Kurzdiagnostik erfasst eine verzweifelte Mutter, die nach jahrelanger Pflege durch den nahenden Tod ihres Kindes auch den eigenen Lebenssinn verliert. Es besteht eine Vertrauensproblematik gegenüber Ärzten, von der die Angehörige erzählen kann, dass sie diese biographisch bedingt auch kennt. Das Selbstwertgefühl der Angehörigen als Mutter wird durch die Zurückweisung des behandelnden Teams und ihr Gefühl „zu stören“ sehr angegriffen. In ihrer wichtigsten Rolle als fürsorgliche Mutter erfährt sie keine Wertschätzung mehr. In dem Gespräch gelingt es zunehmend, dass die Mutter Selbstachtung und Würde zurückgewinnt und sich inner©2020 Hogrefe

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lich aufrichtet: „All die Jahre war ich hilfreich für meinen Sohn da. Er konnte sich immer auf mich verlassen“. Schließlich kann sie aussprechen, dass ihr Sohn sich in dieser Klinik sicher fühlte und seine Therapiebeendigung mit dem Professor schon vor längerer Zeit vertrauensvoll besprochen hat. Aus Liebe und aus Respekt zu ihm möchte Frau C. versuchen, diese Entscheidung ihres Sohnes zu akzeptieren. Sie möchte zurück auf die Station gehen und versuchen, „für ihn“ verträglichere Umgangsformen zeigen. Damit sie am Bett nicht ununterbrochen auf ihren Sohn blickt und von ihrer Verzweiflung über seinen schon empfundenen und real nahenden Tod überflutet wird, überlegen wir gemeinsam, was ihr helfen könnte, die Situation auszuhalten. Es entsteht die Idee, ihrem Sohn aus einem alten Lieblingsbuch vorzulesen. Ich ermutige sie sehr und Frau C. kann sich schließlich vorstellen, damit etwas Gutes und Trostreiches für den Sohn zu tun. Auf diese Weise erhält Frau C. eine Handlungsoption, die sowohl den Ausdruck ihrer mütterlichen Liebe ermöglicht und ihren Selbstwert stärkt, indem sie dem Sohn auch jetzt noch etwas geben kann. Gleichzeitig wirken das Tätig-sein, das sinnvolle Da-Sein und die Umlenkung ihrer Aufmerksamkeit, auch dem eigenen seelischen Zusammenbruch der Mutter am Sterbebett des eigenen Kindes, entgegen. Als ich einige Tage später auf der Station anrufe, um mich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen, höre ich, dass der Patient kurz zuvor friedlich gestorben sei und es mit der Mutter „ganz gut geklappt habe“.

Resümee Anhand dieser Beispiele, die ich stellvertretend für die Inhalte der Beratungsgespräche aus meinem beruflichen Alltag geschildert habe, geht eindrücklich hervor, in welcher Belastung Angehörige schwerstkranker Menschen stehen. Angehörige begleiten unsere Patienten, sie sind in Liebe mit ihnen verbunden, sind immer für sie da. Sie bedeuten für den Patienten die wichtigste seelische Ressource in der Krankheitsbewältigung oder im Sterbeprozess. Angehörige sind darum Mitbetroffene von Krankheit, von Leiden und Sterben. Angehörige sind selbst durch den erlittenen Diagnoseschock, durch viele belastende Gefühle und Gedanken und durch den Anspruch zu helfen, extrem beansprucht. Sie befinden sich in einer überfordernden und anstrengenden Doppelrolle, denn sie sind wichtigste Unterstützer des Kranken und gleichzeitig maximal Selbst-Betroffene. Sie funktionieren bis zuletzt, stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück, ertragen ambivalente Gefühle und eigene, ethische Konflikte: „Hätte mein Mann das so gewollt? Er hat doch immer betont niemals ein Pflegefall werden zu wollen …“. Schließlich nehmen Erschöpfung, existentielle Ängste und häufig eine innere Einsamkeit bei den Angehörigen so PADUA (2020), 15 (1), 57–62


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Informiert sein und Handeln

zu, dass bei vielen von ihnen psychische oder psychosomatische Erkrankungen auftreten. Angstzustände, Depressionen, Schmerz-, Schlaf- und Essstörungen, oder ein posttraumatisches Stresssyndrom können diagnostiziert werden. Aufgrund dieser Kenntnisse und Erfahrungen wird deutlich, dass das Angebot psychosozialer Beratungsgespräche für Angehörige in jeder Klinik mit schwerkranken Menschen vorhanden sein sollte. Dann erfahren auch die Angehörigen unserer Patienten aktive Gesundheitspflege und professionelles Mitgefühl. Sie können selbst das erleben, was sie sich für ihr krankes Familienmitglied wünschen: „In dieser Uniklinik, auf dieser Station, an diesem Ort gut aufgehoben zu sein“.

Literaturempfehlungen Abilgaard, P. (2013). Stabilisierende Psychotherapie in akuten Krisen. Stuttgart: Klett-Cotta. Borasio, G. (2013). Über das Sterben. 10. Auflage. München: dtv. Heintel, P., Krainer, L., Ukowitz, M. (2006). Beratung und Ethik. Berlin: Leutner Verlag. Fröhlich, G. (2014). Theorie der Ethischen Beratung im Klinischen Kontext. Würzburg: Königshausen & Neumann. Reddemann, L. (2008). Würde – Annäherung an einen vergessenen Wert in der Psychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Steinebach, C. (2006). Handbuch Psychologische Beratung. Stuttgart: Klett-Cotta. Teufel, R. (2013). Angehörige von sterbenden Menschen begleiten. Saarbrücken: Akademiker Verlag.

Abbildung 1. Auszug aus dem Flyer für Angehörigengespräche.

Renate Kunz Krankenschwester, Dipl. Sozialarbeiterin, Counseling MA. Uniklinik Bonn renate.kunz@ukbonn.de

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Pflegefachkräfte und Mediziner im Fokus

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PADUA (2020), 15 (1), 57–62

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Service Lernwelten 2020 Call for Abstracts Am 2. – 3. September 2020 findet der 20. internationale wissenschaftliche Kongress für Pädagogik der Pflege- und Gesundheitsberufe an der Universität Frankfurt, Campus Westend, IG-Farbenhaus statt. Unter dem Motto „Der Blick zurück und nach vorn – 20 Jahre Lernwelten“ soll der Wandlungsprozess analysiert werden. Autor_innen sind aufgerufen, ein Abstract zum Kongressthema einzureichen. Diese können z. B. zu folgenden Themenbereichen sein: 1. Der Blick zurück: Erfahrungen, Evaluationsergebnisse und „Lessions-Learned“ aus durchgeführten Projekten /  Studien (z. B. Curricula, Implementationsprojekte, Schulentwicklung, Professionalisierung und Akademisierung der Lehrer_innenbildung und Praxislehrenden historische Berufsbildungsforschung im Bereich der Gesundheitsberufe etc.) 2. Der Blick nach vorn: Herausforderungen an die Pflegebzw. Berufspädagogik der anderen Gesundheitsberufe in den kommenden Jahren (z. B. Generalistik, Parallelwelten der Lehrer_innenbildung an Hochschulen und Universitäten, Praxisanleiter_innen vs. Praxislehrende, berufliche und wissenschaftliche Ausbildungen, Heterogenität der Auszubildenden, digitale Kompetenzen, Weiterentwicklung der domänespezifischen Didaktiken etc.) 3. Sonstige Themen Einreichungen sind als Abstract (Deutsch) bis 20.3.2020 möglich. Einreichungen zu folgenden Kategorien im Zu-

sammenhang mit dem Kongressthema sind möglich und herzlich willkommen: 1. Wissenschaftliche / Methodische Vorträge 2. Praxisprojekte (im Sinne von Vernetzung von Wissenschaft, Forschung und / oder Lehre) 3. Sonstige Formate wie Science Slam, Qualifikationsarbeiten, Speakers Corner und Poster Die Einreichung ist ausschließlich online über die Abstractzentrale unter www.lernwelten.info möglich. Weitere Informationen: https://www.lernwelten.info/118-news/ 12165-call-for-abstracts

Neuer Masterstudiengang bildet Fachleute für Palliative Care aus Berufsbegleitendes Programm an der FH Münster startet zum Sommersemester 2020. Es gibt kaum Studiengänge, die auf eine Tätigkeit in der Palliativversorgung oder in der Forschung vorbereiten, doch gerade solche Fachleute werden immer mehr gesucht. An der FH Münster wurde deshalb den Masterstudiengang Palliative Care initiiert. Das berufsbegleitende, sechssemestrige Programm startet erstmals zum Sommersemester 2020 und ist – abgesehen von den Semestergebühren – kostenlos. Wer sich für den Studiengang interessiert, kann sich ab dem 14. November 2019 bis zum 29. Februar 2020 bewerben. Ausführliche Informationen zum Programm und zum Bewerbungsverfahren finden sich unter www.fhms.eu/ palliative-care.

Termine 12. bis 13. März 2020

Geschichtswelten. 4. Interdisziplinäre Tagung für Geschichte

Irsee

www.geschichtswelten.Info

12. bis 14. März 2020

Deutscher Pflegetag

Berlin

https://www.deutscher-pflegetag.de/

16. März 2020

Menschen mit Demenz im Akutkrankenhaus

Heidelberg

https://www.nar.uni-heidelberg.de/ veranstaltungen/kongress/

20. März 2020

Hot eHealth topics make nursing visible

St. Pölten

http://www.acendio.net/congresses-events/

25.bis 26. März 2020

16. Trendtage Gesundheit Luzern

Luzern

https://www.trendtage-gesundheit.ch/

24. bis 25. April 2020

8. interprofessioneller Gesundheitskongress

Dresden

https://www.gesundheitskongresse.de/ dresden/2020/

06. bis 08. Mai 2020

Bremer Pflegekongress Deutscher Wundkongress

Bremen

https://www.bremer-pflegekongress.de/ Teilnehmer_allgemeine_Informationen_p

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PADUA (2020), 15 (1), 63 https://doi.org/10.1024/1861-6186/a000537

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Meldungen · Neuheiten · Termine


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Vorschau

Vorschau PADUA 2/2020 Erscheint im April 2020

Schwerpunkt Herausforderungen im Schul- und Ausbildungsalltag Weitere Themen in PADUA 2 / 2020 Gewalt in der Pflege Erkenntnisse und Ergebnisse szenischer Bildungsarbeit Lernbegleitung auf einer Interprofessionellen Ausbildungsstation Lungen·Krebs – Was nun? – Eine Broschüre in Leichter Sprache

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Palliative Care Heinz Hinse / Karl-Horst Möhl

Wer bis zuletzt lacht, lacht am besten Humor am Krankenbett und in der Palliative Care 3., erg. Aufl. 2019. 96 S., 60 Abb., Kt € 12,95 / CHF 16.90 ISBN 978-3-456-85945-3 Auch als eBook erhältlich Humor ist eine wichtige Coping-Ressource, wenn es um Leben und Tod geht. Der Theologe Heinz Hinse und der Redakteur und Cartoonist Karl-Horst Möhl hatten sich zusammengesetzt, um dem Sterben und Tod mit Tusche und schwarzen Humor die Stirn zu bieten. Ihr Cartoonband bietet hoch belasteten Mitarbeitern und Begleitern in der Palliative Care ein Ventil, um den Berufsalltag zu bewältigen.

Christoph Gerhard

Palliativdienst Handbuch zur Integration palliativer Kultur und Praxis im Krankenhaus Bearbeitet von Michael Herrmann. 2017. 320 S., 11 Abb., 18 Tab., Kt € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85070-2 Auch als eBook erhältlich

Erika Schärer-Santschi (Hrsg.)

Trauern

Trauernde Menschen in Palliative Care und Pflege begleiten 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl. 2019. 328 S., 2 Abb., 5 Tab., Kt € 39,95 / CHF 48.50 ISBN 978-3-456-85887-6 Auch als eBook erhältlich Trauern ist eine menschliche Erfahrung im Umgang mit Verlusten. Dieses ansprechend gestaltete Praxishandbuch führt verständlich in die Arbeit mit trauernden Menschen ein. – Die zweite Auflage bietet Neues zu den Themen Selbstfürsorge der Fachpflegenden, Trauer und Resilienz, Trauer der Angehörigen von Menschen mit Demenz, Trauer bei assistiertem Suizid sowie Trauer in der palliativen Geriatrie.

Barbara Steffen-Bürgi et al. (Hrsg.)

Lehrbuch Palliative Care 3., überarb. u. erw. Aufl. 2017. 976 S., 71 farbige Abb., 54 farbige Tab., Gb € 69,95 / CHF 89.00 ISBN 978-3-456-85354-3 Auch als eBook erhältlich

22.03.17 11:30

Der erfahrene Palliativmediziner Christoph Gerhard zeigt, wie ein Palliativdienst – unterstützt durch eine palliative Kultur, ein Schmerz- und Symptommanagement, eine auf Autonomie zielende Ethikberatung, eine Versorgungsplanung und Advance Care Planning – die Versorgungsrealität im Krankenhaus positiv verändern kann.

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Das erfolgreiche und praxisorientierte Lehrbuch für Pflege- und Gesundheitsberufe, um schwer kranke und sterbende Menschen kompetent zu pflegen und zu begleiten bis zuletzt. Es avancierte in kürzester Zeit zum Standardwerk für alle, die sich in „Palliative Care“ fort- und weiterbilden oder ein Studium absolvieren.


Wege zur werteorientierten Pflege

Derek Sellman

Werteorientierte Pflege Was macht eine gute Pflegende aus? Grundlagen ethischer Bildung für Pflegende Deutsche Ausgabe herausgegeben von Diana Staudacher. Übersetzt von Sabine Umlauf-Beck. 2017. 152 S., 1 Abb., Kt € 29,95 / CHF 39.90 ISBN 978-3-456-85665-0 Auch als eBook erhältlich

„Was zeichnet eine gute Pflegefachperson aus?“ – Diese Frage steht am Anfang von Derek Sellmans Fachbuch für Pflegepraktiker und -lehrer, das zentrale Werte und Tugenden der Pflege klärt.

27.09.17 11:03

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Das Buch versteht sich als ein Gegenentwurf zu einem ökonomisierten, ergebnisorientierten Pflegeverständnis. Der Autor definiert Pflege auf patientenorientierte Weise, als Antwort auf die besondere Verletzlichkeit des erkrankten Menschen. Patienten legen Wert darauf, dass Pfle-

gende nicht nur fachkompetent sind, sondern auch über ethische Tugenden wie Vertrauenswürdigkeit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Mut und Offenheit verfügen. Deshalb plädiert Derek Sellman dafür, pflegerische Ethik auf professionelle Tugenden zu gründen, statt auf Regeln und Normen. Das einleitende Essay betrachtet Derek Sellmans philosophische Fundierung der pflegerischen Praxis und Ausbildung im Licht europäischer Forschungsdiskurse.


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